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»Du bist auf dem besten Weg. Du spürst es selbst, nicht wahr? Lass dir Zeit und hab Vertrauen, dann kommt alles so, wie es gut ist.«
Marie ist als Reisebloggerin ständig unterwegs, aber Weihnachten verbringt sie seit Jahren in Dänemark bei ihrer Großmutter, ihrer einzigen noch lebenden Verwandten. Doch diesmal kommt alles anders. Anfang Dezember verstirbt ihre Oma überraschend. So schnell sie kann, reist Marie nach Snaptun, um die Beerdigung zu organisieren. Dort muss sie sich nicht nur ihrer Trauer stellen. Die Bäckerei und das Café ihrer Großmutter sind für den kleinen Hafenort unverzichtbar und müssen um jeden Preis am Laufen gehalten werden. Ohne lange zu zögern, stellt sich Marie dieser Aufgabe.
Unterstützung erhält sie dabei von Lars, dem smarten Bäcker aus Leidenschaft. Dass Marie im Betrieb tatkräftig mit anpackt, überrascht ihn nicht nur, sondern sorgt dafür, dass sie sich mit jedem Tag tiefer in sein Herz schleicht.
Als sich bei der Testamentseröffnung herausstellt, dass Dagmar ganz eigene Pläne für ihre Enkelin und ihren Lieblingsbäcker hatte, wird es richtig kompliziert. Wie sollen die reiselustige Marie, die keinen Begriff von Heimat hat, und der bodenständige, auf Sicherheit bedachte Lars die gestellte Aufgabe bewältigen? Und was wird aus den zärtlichen Gefühlen, die sich bei Zimtduft, Gløgg und Smørrebrød entwickeln?
Alle Teile der Magic-Christmas-Reihe können unabhängig voneinander gelesen werden.
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Ingrid Fuchs
Über das Buch:
»Du bist auf dem besten Weg. Du spürst es selbst, nicht wahr? Lass dir Zeit und hab Vertrauen, dann kommt alles so, wie es gut ist.«
Marie ist als Reisebloggerin ständig unterwegs, aber Weihnachten verbringt sie seit Jahren in Dänemark bei ihrer Großmutter, ihrer einzigen noch lebenden Verwandten. Doch diesmal kommt alles anders. Anfang Dezember verstirbt ihre Oma überraschend. So schnell sie kann, reist Marie nach Snaptun, um die Beerdigung zu organisieren. Dort muss sie sich nicht nur ihrer Trauer stellen. Die Bäckerei und das Café ihrer Großmutter sind für den kleinen Hafenort unverzichtbar und müssen um jeden Preis am Laufen gehalten werden. Ohne lange zu zögern, stellt sich Marie dieser Aufgabe.
Unterstützung erhält sie dabei von Lars, dem smarten Bäcker aus Leidenschaft. Dass Marie im Betrieb tatkräftig mit anpackt, überrascht ihn nicht nur, sondern sorgt dafür, dass sie sich mit jedem Tag tiefer in sein Herz schleicht.
Als sich bei der Testamentseröffnung herausstellt, dass Dagmar ganz eigene Pläne für ihre Enkelin und ihren Lieblingsbäcker hatte, wird es richtig kompliziert. Wie sollen die reiselustige Marie, die keinen Begriff von Heimat hat, und der bodenständige, auf Sicherheit bedachte Lars die gestellte Aufgabe bewältigen? Und was wird aus den zärtlichen Gefühlen, die sich bei Zimtduft, Gløgg und Smørrebrød entwickeln?
Jeder Teil der Magic-Christmas-Reihe kann unabhängig von den anderen Teilen gelesen werden.
Die Autorin:
Ingrid Fuchs ist eine österreichische Autorin, die seit 2016 mit ihrem Mann, einem Hund und einem Kater auf Mallorca lebt.
Ihre Wohlfühlromane sind geprägt von der tiefen Sehnsucht nach harmonischen, liebevollen Beziehungen. Sie handeln sehr oft von Menschen mit Lebenserfahrung, die sich trotz allem die Hoffnung bewahrt haben oder wieder für sich entdecken. Sie möchte ihre Leserschaft unterhalten, sie aus dem Alltag entführen und mit Worten wie in eine warme, kuschelige Decke einhüllen.
Die Autorin liebt die Natur und ihren Garten. Ihre bevorzugten Hobbies sind Stricken, Lesen und Malen.
Weitere Pseudonyme der Autorin sind Isabella Lovegood (Liebesromane mit erotischem Prickeln) und C.P. Garrett (erotische Romane).
Mehr über die Autorin auf ihrer Webseite https://www.isabella-lovegood.at
Ingrid Fuchs
Magic Christmas 4
Liebesroman
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
November © 2023 Empire-Verlag
Empire-Verlag OG, Lofer 416, 5090 Lofer
Carolin Wenner
https://www.die-zeilenschleiferei.de/
Korrektorat: Heidemarie Rabe
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Cover: Chris Gilcher
https://buchcoverdesign.de/
Illustrationen: Adobe Stock ID 438771716, Adobe Stock ID 281923508, Adobe Stock ID 316881867
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Marie
Gleich kam der Moment, auf den sich Marie gefreut hatte, seit sie zu dem kleinen Ort im österreichischen Salzkammergut aufgebrochen war. Sie blickte wie gebannt aus dem Seitenfenster des Postbusses, um ihn nicht zu versäumen. Nun erreichte das Fahrzeug die höchste Stelle der Straße, die die Funkelpasse genannt wurde. Da! Vor ihr öffnete sich der Blick auf den malerischen Ort, der eingebettet zwischen verschneiten Bergen am Ufer eines Sees lag. Das war Funkelstein.
Marie war schon einmal hier gewesen, das war sieben Monate her. Damals hatte sie über den Frühlingsmarkt und eine beispiellose Hilfsaktion berichtet, die die Bewohnerinnen und Bewohner auf die Beine gestellt hatten.
Ein junger Familienvater war bei Waldarbeiten tödlich verunglückt. Eine Frau, selbst früh verwitwet, hatte den Entschluss gefasst, mit einem Benefizstand Spendengelder für die Betroffenen zu sammeln, die durch den tragischen Verlust auch finanziell in Schwierigkeiten geraten waren. Ihr Aufruf, Selbstgebasteltes zur Verfügung zu stellen, löste eine unglaubliche Welle der Solidarität aus, die über das ursprüngliche Ziel weit hinausschoss.
Nicht nur diese bewundernswerte Aktion, auch die Atmosphäre des kleinen Ortes hatte Marie fasziniert und sie hatte sich fest vorgenommen, auch dem Weihnachtsmarkt einen Beitrag auf ihrem Reiseblog zu widmen.
Endlich war sie da. Zumindest beinahe. Noch trennten sie einige enge Kurven vom Talboden.
Marie freute sich darauf, Hanna wiederzusehen. Ihr gehörte ein kleiner Laden, in dem sie Wolle und daraus gefertigte Kleidungsstücke und Geschenkartikel anbot. Sie hatte ihr geraten, rechtzeitig ein Zimmer in der Pension Seeblick zu buchen, was sie schon vor Wochen erledigt hatte. Die Pension lag zentral. Das war Marie wichtig.
Immer im Zentrum des Geschehens, das war ihr Motto und ihre zahlreichen Follower wussten das zu schätzen.
Der Bus erreichte den Hauptplatz und Marie raffte wie alle anderen Fahrgäste ihre Habseligkeiten zusammen. Eilig schlüpfte sie in ihren warmen knielangen Steppmantel, stülpte die Mütze über ihr kurzes braunes Haar und wickelte sich den flauschigen Schal um den Hals. Er stammte aus Hannas Wollstadl und bestand aus feinster Alpakawolle.
Maries Rucksack war im Gepäckabteil im unteren Bereich des Busses untergebracht und sie wartete, bis der Fahrer es öffnete und ihn herauszog.
»Was hast du denn da drin? Ziegelsteine?« Kopfschüttelnd und mit einem Ächzen stellte er ihn vor sie hin. »Der ist doch viel zu schwer für ein so zartes Mädel!«
»Ich bin daran gewöhnt.« Sie schenkte ihm ein beruhigendes Lächeln, dann schulterte sie mit geübten Bewegungen den großen Trekkingrucksack. Der Mann konnte nicht ahnen, dass er beinahe ihr gesamtes Hab und Gut enthielt. Manchmal kam sie sich wie eine Schnecke vor, die ihr Haus auf dem Rücken trug. Im Gegensatz zu dieser war sie schneller unterwegs und konnte sich bei Bedarf nicht einfach zurückziehen, selbst wenn sie sich das hin und wieder wünschte.
Neugierig sah sie sich um. Wie im Frühling war auch jetzt der Hauptplatz mit kleinen Holzhütten vollgestellt. Doch im Unterschied zu ihrem letzten Besuch schmückte keine österliche Deko die Firste und Verkaufspulte, sondern Lichterketten, die heimeliges Licht in diesen wolkenverhangenen Tag brachten.
Bevor sie sich genauer umsah, wollte sie ihr Zimmer beziehen und den schweren Rucksack loswerden.
Zügig marschierte sie zwischen den Ständen hindurch. Trotzdem sog sie die Atmosphäre auf und freudige Erwartung erfasste sie. Die Menschen um sie herum erschienen ihr so entspannt, als ob die gemütliche Stimmung die Hektik des Alltags aufzulösen vermochte. Ein wenig waren daran möglicherweise auch Zimtwaffeln und Lebkuchen beteiligt, die ihr süß-würziges Aroma verheißungsvoll verbreiteten.
Marie freute sich darauf, die Vielfalt der angebotenen Waren und die Atmosphäre mit ihrer Kamera einzufangen.
Köstliche Düfte kitzelten ihre Nase und ließen ihren Magen verlangend knurren. Als Erstes würde sie sich etwas Feines zu essen besorgen. Ob es wohl besondere regionale Schmankerl gab, die sie präsentieren konnte? Das kam immer gut an und brachte jede Menge Likes.
Sie schmunzelte in Vorfreude auf die zwei Tage, die sie sich hier aufhalten würde, bevor sie nach Salzburg weiterfuhr, um den Advent bei ihrem Patenonkel zu verbringen. Sie war gerne unterwegs, doch die drei bis vier Wochen, die sie jedes Jahr bei Onkel Manfred in dessen gemütlicher, wohlig beheizter Wohnung verbrachte, waren ein Highlight für sie. Oft genug erwarteten sie auf ihren Reisen zugige Warteräume und nur mäßig warme Unterkünfte.
Marie erreichte die Pension Seeblick und betrat das parkähnliche Grundstück auf dem sorgfältig vom Schnee befreiten Weg. Schon das Gebäude selbst war ein Foto wert. Es war eine alte Villa im Stil der Jahrhundertwende, die gepflegt und liebevoll instandgehalten wurde.
Sie trat ein und für einen Augenblick hielt sie überrascht den Atem an. Der Eingangsbereich wirkte durch den schönen alten Mosaikboden, der in tadellosem Zustand war, sehr edel und einladend. So viel Klasse hatte sie in einem kleinen ländlichen Ort wie Funkelstein nicht erwartet.
An der Rezeption aus massivem dunklem Holz, das auf Hochglanz poliert war, lächelte ihr eine rothaarige Frau freundlich entgegen. Marie ging auf sie zu und zog ihren Rucksack von den Schultern, während sie sich vorstellte.
»Hallo, ich heiße Marie Klinger und habe ein Zimmer reserviert.«
»Servus, ich bin Susanne Pettersson, eine der Besitzerinnen der Pension. Wir haben dich schon erwartet. Ich darf doch du sagen?«
»Klar, gern.« Marie kramte ihren Reisepass aus dem Innenfach ihres Rucksacks und legte ihn auf den Tresen. Susanne legte ihr ein Gästeblatt vor und kopierte Maries Ausweis. Marie war so viel unterwegs, dass die Anmeldeformalitäten reine Routine waren.
»Frühstück bieten wir von halb acht bis zehn Uhr an.« Susanne wies mit der Hand auf eine offene Tür, die zum entsprechenden Raum führte.
»Danke! Eine Frage … Gibt es hier irgendwelche typischen Speisen, die ich unbedingt in meinem Reiseblog erwähnen muss?«
»Ach, na dann hoffe ich, du wirst mit deinem Aufenthalt hier zufrieden sein! Nicht, dass du uns verreißt.« Diese Aussage kam nur halb im Scherz und Marie schüttelte den Kopf.
»Das mache ich niemals. Ich konzentriere mich immer auf das Positive in einer Situation und die schönen Erlebnisse. Ich entscheide selbst, was ich schreibe und was nicht. Das ist das Angenehme an meiner Arbeit, wenn man es so nennen will.«
Dafür erntete sie von ihrem Gegenüber ein überraschtes und auch anerkennendes Lächeln. »Das ist eine tolle Einstellung. Nun, an einem der Stände bekommt man Bratwürste aus Lammfleisch. Etwas ganz Besonderes, das ausschließlich von Tieren aus unserer Region stammt und von einem Betrieb im Ort hergestellt wird. Und was du unbedingt probieren musst, ist die Funkelsteiner Torte, die Julie im Café Fröhlich anbietet.« Sie zog überlegend die Augenbrauen zusammen. »Hoffentlich erwischst du noch eine. Soll ich für dich anrufen und eine reservieren lassen?«
Marie freute sich über das Angebot. »Das wäre sehr nett! Ich treffe mich um drei Uhr mit Hanna Hammerl dort, das würde also ganz toll passen.«
»Perfekt. Ich reserviere gleich drei Stücke, Hanna hat neuerdings mächtig Appetit.« Susanne grinste vielsagend und griff nach dem Telefonhörer.
Mit dem Schlüssel in der Hand stieg Marie erwartungsvoll über eine wundervolle geschwungene Holztreppe in den ersten Stock hinauf.
Der Raum war gemütlich und funktionell und Marie hatte auch hier den Eindruck, als wäre alles erst vor Kurzem renoviert worden. Die Wände präsentierten sich fleckenlos und der Parkettboden hatte nicht den kleinsten Kratzer. Die Einrichtung bestand aus einem gekonnten Mix aus liebevoll restaurierten alten und einigen neuen Möbeln. Beim Anblick des Badezimmers entfuhr ihr ein erfreuter Laut. Dieser Raum war topmodern. Die frei stehende Badewanne war ein Blickfang und Marie trat näher, um an dem kleinen Fläschchen zu riechen, das auf ihrem Rand stand. Ein zarter, unaufdringlicher Duft wie von Wiesenblumen streichelte ihre Nase. Wunderbar! Da war am Abend auf jeden Fall ein Schaumbad fällig.
Marie kehrte ins Schlafzimmer zurück und trat ans Fenster. Zwischen den kahlen Bäumen konnte sie den zugefrorenen See erkennen, auf dem Eisläufer aller Altersstufen ihren Spaß hatten. Sie nahm sich nicht allzu viel Zeit, den Ausblick zu bewundern. Ihr nagendes Hungergefühl drängte sie, zum Hauptplatz zurückzukehren.
Eine Lammbratwurst mit Kren, Senf und einer Scheibe kräftigem Bauernbrot wurde von ihr zuerst auf einem Foto festgehalten, anschließend mit Genuss verspeist. Natürlich würde sie in ihrem Blogbeitrag erwähnen, dass es sich bei Kren um Meerrettich handelte. Sie nannte gern auch die regionalen Ausdrücke. Das machte ihre Berichte authentischer.
Marie sah auf die Uhr. Bis zum Treffen mit Hanna hatte sie noch eine gute Stunde Zeit.
Entspannt schlenderte sie über den Christkindlmarkt, wie er hier genannt wurde. Es gefiel ihr, wie liebevoll alles arrangiert und dekoriert worden war. Schon im Frühling hatte sie gespürt, dass jeder mit Herzblut bei der Sache war.
Es überraschte sie, dass es auch diesmal einen Benefizstand gab. Diesmal wurden Kekse und Lebkuchen verkauft, deren Erlös notleidenden Familien der Region zugutekam. Neugierig trat sie näher. Schon beim Anblick der süßen Kleinigkeiten lief ihr das Wasser im Mund zusammen. Unschlüssig betrachtete sie die verlockende Auswahl. »Ich hätte bitte gern diesen hier.« Sie wies auf einen großen Teller, der mit vielen verschiedenen Keksen dekorativ belegt war.
»Da sind alle Sorten drauf. Wenn du magst, kannst du auch für deinen Favoriten abstimmen.« Die ältere Frau wies auf einen Stapel Zettel, der windsicher in einem Ständer steckte. »Am Christtag wird der Gewinner gekürt. Na ja, eher die Gewinnerin. Es haben natürlich wieder einmal nur Frauen mitgemacht. Die Männer naschen eben lieber, als zu backen.« Sie lachte laut.
Marie stimmte nicht mit ein, sondern zog aus ihrem Portemonnaie zwei Fünfeuroscheine, obwohl das Preisschild acht Euro aufwies. »Das passt schon so. Für den guten Zweck gebe ich gern mehr.«
Die Verkäuferin strahlte. »Danke schön! Diese Aktion gibt es schon seit vielen Jahren.«
»Eine wunderbare Tradition. Da könnt ihr Funkelsteiner stolz darauf sein.«
»Das sind wir auch!«
Es musste schön sein, mit einem Ort so verbunden zu sein. Das war etwas, das sich Marie nicht einmal vorstellen konnte.
Erst als sie den mit Zellophan abgedeckten Pappteller in Empfang nahm, fiel ihr ein, dass sie diesen in ihrer Umhängetasche schlecht transportieren konnte. Aber es half nichts, also schob sie ihn schräg hinein und hoffte, dass die hübschen Kekse diese raue Behandlung überlebten. Sonst würde sie sich eben die Krümel schmecken lassen. Das wäre zwar schade, aber auf ihren Reisen hatte sie schon ganz anderes gegessen als zerbröselte Kekse. Es gab auch in Europa gewöhnungsbedürftige Speisen. Mit Schaudern dachte sie an den in süßer Soße eingelegten Hering, den ihre in Dänemark lebende Oma so mochte. Oder den Kanincheneintopf in Spanien, der voller Knochensplitter gewesen war, weil die Fleischteile samt den Knochen zerhackt wurden. Solche No-Gos würden sie hier nicht erwarten, dessen war sie sicher. Österreich war nicht umsonst für seine delikate Küche bekannt.
Entspannt schlenderte sie bis zum Ende der Reihe der Verkaufsstände. Dort fiel ihr Blick auf den riesigen kahlen Laubbaum, auf dem zwischen Lichterketten rote Geschenkpäckchen baumelten. Das sah herrlich verspielt aus und sie fotografierte und filmte ihn von allen Seiten. Auch die Häuser rund um den Hauptplatz waren liebevoll geschmückt und wurden in Videos verewigt.
Von ihrem letzten Besuch wusste sie noch, dass sich das Café Fröhlich auf halber Höhe des großen beinahe rechteckigen Platzes befand. Ein Blick auf die Uhr verriet Marie, dass es Zeit wurde, sich dorthin zu begeben. Lieber war sie zu früh als zu spät. Diesmal ging sie an der Häuserzeile entlang und betrachtete die Schaufenster der kleinen Läden.
Sie positionierte sich neben dem Eingang des Cafés und beobachtete die Menschen, die vorübergingen. Das war eine ihrer Lieblingsbeschäftigungen. Manche schlenderten, andere hasteten vorbei, ohne nach links und rechts zu schauen. Es machte ihr Spaß, Vermutungen anzustellen, wohin sie wohl so eilig wollten. Hatten sie zu tun oder waren sie unterwegs zu einem Date? Wartete daheim der oder die Liebste? Vielleicht aber auch nur ein Korb Bügelwäsche, ein ungekochtes Abendessen, ein mürrischer Mitbewohner …
Eine hochschwangere Frau erregte Maries Aufmerksamkeit. Das musste Hanna sein. Sie hatte ihr geschrieben, dass sie demnächst Zwillinge erwartete. Du lieber Himmel! Noch nie hatte sie einen so dicken Babybauch gesehen. Neben ihr gingen zwei weitere, deutlich schlankere Frauen, von denen eine einen Buggy mit einem Kind darin vor sich herschob.
Die drei so ungleichen Gestalten erreichten Marie und Hanna machte mit ausgebreiteten Armen einen weiteren Schritt auf sie zu. »Marie, wie schön, dich wiederzusehen.«
So gut es möglich war, umarmten sie sich und begrüßten einander mit Wangenküssen, wobei Marie den Hals lang strecken musste.
»Hast du mich als Walross überhaupt erkannt?«
»Vielleicht gerade deshalb«, warf die schlanke Frau mit dem Kinderwagen grinsend ein und streckte Marie die Hand zum Gruß hin. »Hallo, ich bin Bianca, Hannas Schwester. Und das ist mein Sohn Tobias.« Sie wies auf den Jungen, der Marie neugierig beäugte, während er an seinem Schnuller nuckelte. »Und meine Freundin und Mitbewohnerin Emma«, stellte sie weiter vor.
»Lasst uns hineingehen. Ich brauche dringend eine Toilette und was Süßes.« Hanna wandte sich zur Tür und Marie beeilte sich, sie für sie zu öffnen und aufzuhalten, bis alle eingetreten waren, bevor sie ihnen folgte. Drinnen roch es nach Vanille, Zimt und frischem Kuchen und ihr lief das Wasser im Mund zusammen.
Ein Mann in ihrem Alter kam mit einem einladenden Lächeln auf sie zu. »Hallo, da seid ihr ja. Ich bin Raphael und du musst Marie sein. Willkommen. Da drüben ist euer Tisch. Ich hatte zwar nur mit zwei Personen gerechnet, aber ihr habt bestimmt Platz.« Auf Hannas verblüfften Blick hin erklärte er: »Susanne hat ihn euch zusammen mit drei Stücken Funkelsteiner Torte reservieren lassen.«
Hanna grinste. »Ich werde sie in mein Gute-Nacht-Gebet einschließen. Für mich bitte eine heiße Schokolade.« Daraufhin verschwand sie eilig in die Richtung, in der sich offenbar die Toiletten befanden.
Marie wandte sich an Raphael: »Ich nehme bitte einen Cappuccino.«
Bianca stimmte zu. »Da schließe ich mich an. Und könnte ich für Tobias bitte eine kleine Portion warmen Kakao haben?«
Raphael nickte. »Geht klar.« Er sah Emma fragend an, die sich ebenfalls für Cappuccino entschied.
Marie schlüpfte aus ihrem Mantel und sah zu, wie Bianca ihren Sohn von seiner Kapuzenjacke befreite. Erst danach zog diese sich selbst ihre Winterbekleidung aus und setzte sich zu ihr.
»Du bist also die Bloggerin, die so eifrig die Werbetrommel für den Wollstadl gerührt hat?«
»Genau. Ich bin immer auf der Suche nach Geheimtipps für meine Follower. Das, was eure Familie da produziert, angefangen mit der Alpaka- und Schafzucht bis zur Strickwolle und dem fertigen Kleidungsstück, finde ich einfach phänomenal!« Die Begeisterung durchflutete sie wie eine warme Welle. Wo auch immer sie unterwegs war, achtete sie auf nachhaltige regionale Erzeugnisse und machte diese mit ihren Möglichkeiten publik.
Hanna kam von der Toilette zurück und ließ sich schwerfällig auf einen Stuhl niedersinken. »Dein Blogbeitrag war enorm hilfreich, vielen Dank noch mal.«
Marie lächelte sie herzlich an. »Das habe ich wirklich gern gemacht und wenn ihr mal wieder einen Schubs braucht oder ein neues Produkt bekannt machen möchtet, melde dich einfach!«
Verlegen streifte sich Hanna eine Haarsträhne hinters Ohr. »Wir haben tatsächlich etwas, aber das ist nicht der Grund für dieses Treffen, das will ich klarstellen.« Sie lächelte und Marie spürte, dass sie es ehrlich meinte.
»Erzähl!«
»Wir haben eine neue Methode ausprobiert, mit der die Wolle ganz unregelmäßig eingefärbt wird. Das ergibt tolle Effekte. Schau!« Hanna griff nach ihrem Schal und legte ihn auf den Tisch. »Wenn du magst, zeige ich dir die Knäuel nachher noch am Stand.«
Marie strich über das flauschige Strickstück. »Sehr schön! Da würde ich ja fast Lust bekommen, ebenfalls zu stricken. Aber eben nur fast.« Sie zwinkerte den Schwestern lachend zu, dann zückte sie das Handy und machte ein Foto.
»Vorsicht!« Raphael balancierte ein Tablett und stellte es auf den Rand des Tisches. »Einmal heiße Schokolade, dreimal Kaffee, ein warmer Kakao für den jungen Mann. Und natürlich die Torten.«
Kurz waren sie vollauf damit beschäftigt, die ersten Bissen zu genießen und vom Kaffee zu kosten. Marie wandte sich an Hanna. »Wie geht es dir?«
Diese winkte mit einer leidvollen Grimasse ab. »Frag lieber nicht. Wir sind alle drei gesund, das ist es, was zählt. Der Rest erledigt sich von selbst.«
Marie beobachtete, wie Bianca den Kleinen, der vergnügt auf Emmas Schoß thronte, mit einem Löffelchen Torte fütterte. Sie fing ihren Blick auf und lächelte ihr zu. »Wie kommt es, dass ich dich hier im Frühling nicht kennengelernt habe?«
»Ich bin nur zu Besuch in Funkelstein. Normalerweise lebe ich mit Tobi in Wien, weil ich dort studiert habe.« Sie biss sich auf die Lippe, als hielte sie etwas zurück. Daher ermunterte sie Bianca mit einem fragenden Blick weiterzusprechen.
»Mein Chef will mich nach Norwegen schicken, aber ich bin nicht sicher, ob es das Richtige für mich ist.«
»Warum? Ich kann nur sagen, Skandinavien ist wunderschön. Superentspannte Menschen und tolle Landschaften.«
Bianca verzog unglücklich den Mund. »Es ist so weit weg. Von Wien hierher brauche ich drei Stunden, das ist machbar, aber von Norwegen? Da sehen Tobias und ich unsere Familie nicht mehr oft.«
»Das stimmt natürlich.« Marie beschloss, hier nicht weiter ungefragt ihre Meinung kundzutun. Sie hatte keine Erfahrung damit, für jemanden Verantwortung zu tragen, und auch ihre spärlichen Familienbande waren mehr als lose.
Hanna schien ebenfalls einen Themenwechsel anzustreben, indem sie ihr eine Frage stellte: »Was ist dein nächstes Ziel?«
»Ich bleibe noch bis morgen hier, dann verbringe ich drei Wochen in Salzburg, bevor ich kurz vor Weihnachten nach Dänemark fahre, um mit meiner Oma zu feiern.«
»Deine Großmutter lebt in Dänemark?«
Marie lachte über Biancas erstauntes Gesicht. »Ja, ich offiziell auch, nur bin ich selten da.« Eigentlich viel zu selten, schoss es ihr durch den Kopf und die Sehnsucht nach ihrer einzigen noch lebenden Verwandten verursachte einen gleichermaßen ziehenden wie überraschenden Schmerz in ihrer Brust. Im nächsten Jahr besuche ich sie öfter und bleibe länger.
»Kannst du Dänisch?«
»Ja, aber das wäre gar nicht unbedingt nötig. In den skandinavischen Ländern sprechen viele Menschen Deutsch. Und mit Englisch kommst du auch überall durch.«
Emma warf eine Frage dazwischen: »Wenn du so oft auf Reisen bist, wie verständigst du dich da?«
»Ich spreche auch Spanisch, Englisch und ein wenig Italienisch.« Marie zuckte mit den Schultern, als wäre das nichts Besonderes. »Wenn man von klein auf ständig unterwegs ist, bekommt man das mit.« Das war tatsächlich einer der wenigen Vorteile, die sie aus ihrer rastlosen Kindheit mitgenommen hatte.
»Wow, das finde ich faszinierend.«
Das Talent für Sprachen hatte Marie von ihrer Mutter geerbt, doch auch das war kein Thema, das sie in diesem Rahmen aufrühren wollte. Stattdessen sagte sie mit einem strahlenden Lächeln: »Ich freue mich unheimlich, hier zu sein. Deshalb werde ich nachher die abendliche Stimmung einfangen und genießen. Und morgen den Sonnenaufgang am See.«
»Vielleicht kannst du die Eisschnitzer bei der Arbeit beobachten. Sie fangen allerdings immer erst am Vormittag an. Man hört, dass sie abends gern die Funkelbar besuchen und dort recht lange hängen bleiben.« Hanna stieß einen gespielt bedauernden Seufzer aus. »Hach, waren das noch Zeiten. Damit ist es jetzt vorbei.« Sie strich demonstrativ über ihren prallen Babybauch.
»Willkommen im Klub!« Bianca stupste ihre Schwester in die Seite. »Aber du wirst sehen, Mutter zu sein, lohnt alle Entbehrungen.«
Der liebevolle Blick, mit dem sie anschließend ihren Sohn bedachte, erschien Marie fast intim. Solche Empfindungen konnte sie schwer nachvollziehen. Bei ihren Eltern hatte sie meist das Gefühl gehabt, ein lästiges Anhängsel zu sein, das sie daran hinderte, ihren Lebensstil voll zu genießen. Vor allem für ihren Vater. Energisch schob Marie diese tristen Gedanken beiseite. Nein, sie wollte nicht an ihre Eltern denken.
»Den Markt werde ich auch genauer begutachten. Bisher habe ich noch nicht viel davon gesehen, aber ich bin sicher, da gibt es jede Menge Interessantes zu sehen.«
Emma nickte zustimmend. »In Wien haben wir ja auch einige wirklich schöne Christkindlmärkte, aber Funkelstein ist schon etwas Besonderes.«
Die Schwestern lächelten stolz und Hanna meinte zu Marie gewandt: »Ich begleite dich zum Wollstadl-Stand und zeige dir die Wolle, von der wir gesprochen haben.«
»Gern und jetzt erzähl mir, wie es dir als Jungverheiratete geht.«
Hanna hatte im Mai Hochzeit gefeiert und das Strahlen auf ihrem Gesicht sagte mehr aus, als es tausend Worte hätten ausdrücken können.
Lars
»Mette, bist du sicher, dass du shoppen gehen willst? Ausgerechnet heute?« Lars warf einen prüfenden Blick durch das Fenster. In Jütland schneite es selten so heftig, doch soeben fielen dichte Flocken vom Himmel und bedeckten schon nach wenigen Minuten den Asphalt. Er wandte sich zu seiner Freundin um, die eifrig nickte.
»Auf jeden Fall! Es ist das erste Adventswochenende und ich habe noch keine Deko.«
Lars seufzte innerlich. Er hatte wenig Lust, bei diesem Wetter ins Auto zu steigen. Außerdem hatte er seit drei Uhr morgens in der Backstube gestanden und war hundemüde. Es war eigentlich gar nicht vereinbart gewesen, dass Mette zu ihm kam, doch jetzt war sie nun einmal da, und so wie es aussah, musste er die nötige Erholung noch eine Weile aufschieben.
Mette hängte sich an seinen Arm. »Es wird auch gar nicht lange dauern. Wir laufen einmal schnell durch den Laden und schon kannst du dich auf deiner geliebten Couch ausruhen.«
Er glaubte, einen leicht spöttischen Zug um ihren Mund wahrzunehmen, was ihn ärgerte. Im Unterschied zu ihm hatte sie letzte Nacht frei gehabt und war ausgeschlafen.
Sie hätte auch allein fahren können. Schließlich besaß sie ein Auto und einen Führerschein. Trotzdem verkniff er sich eine entsprechende Antwort. Es war einfacher, ihr ihren Willen zu lassen, als sich durchzusetzen und dafür das ganze Wochenende ihr Schmollen zu spüren zu bekommen.
Mette war ein Schmusekätzchen, wenn alles so lief, wie sie es wollte. Wenn er in den Genuss ihrer Anschmiegsamkeit kommen wollte, für ihn der Hauptgrund, warum er überhaupt mit ihr zusammen war, war es klüger nachzugeben. Das hatte ihn die Erfahrung gelehrt. Schließlich war es bei seinen Arbeitszeiten nicht so einfach, eine Beziehung zu führen. Mette arbeitete in einer Bar, die erst am Abend öffnete, und hatte deshalb auch tagsüber frei. Das war praktisch.
Lars unterdrückte ein weiteres Seufzen, das sich den Weg aus seiner Brust heraus bahnen wollte, und legte ihr den Arm um die Taille. »Dann lass uns losziehen, bevor es uns noch einschneit.«
Diese Befürchtung war nicht so weit hergeholt. Für die Fahrt von Snaptun nach Horsens, die normalerweise in zwanzig Minuten zu bewältigen war, brauchten sie eine dreiviertel Stunde. In ihrer Gegend schneite es selten ergiebig, aber ausgerechnet an diesem Wochenende überquerte eine Kaltfront Dänemark.
Der neue Laden, auf den es Mette abgesehen hatte, war in dem Einkaufszentrum untergebracht, in dem auch Lars gern seine Besorgungen erledigte. Es gab einen großen Parkplatz, auf den er jetzt einbog und der nur zur Hälfte belegt war. Offenbar hatten viele ihre Einkäufe aufgrund des Wetters verschoben.
Sehnsüchtig dachte er daran, wie gemütlich er es jetzt hätte, wäre Mette nicht uneingeladen bei ihm aufgekreuzt. Oder wenn er sich gegen ihre Pläne durchgesetzt hätte.
Missmutig folgte er ihr durch das Zwielicht des Schneegestöbers zu dem Gebäude, das mit Licht und Wärme lockte. Wenigstens war es hier trocken und geschützt.
Das Geschäft befand sich auf der oberen Etage. Schon von der Rolltreppe aus war es wegen der blinkenden Lichterketten deutlich zu erkennen. Lars verzog missbilligend die Lippen. Wenigstens waren sie nicht so bunt wie in diesen amerikanischen Filmen.
Als sie den Shop erreichten, öffneten sich die automatischen Türen. Mette stieß einen entzückten Schrei aus, der Lars unangenehm in den Ohren gellte.
»Ist das nicht fantastisch? Komm!« Sie zerrte ihn am Ärmel in das Innere des Geschäfts.
Sie schritt so eilig die Regale entlang, dass er sich fragte, ob sie überhaupt erkennen konnte, was es hier alles gab. Er fand das Angebot jedenfalls überwältigend und kam aus dem Schauen nicht heraus.
Ihm reichte als Weihnachtsdeko eine Kalenderlys, die auf seinem Esstisch stand. Die ersten zwei der vierundzwanzig Teilstriche der Kerze waren bereits heruntergebrannt. Rundherum tummelten sich ein paar kleine Nisser. Diese Weihnachtswichtel besaß er schon seit seiner Kindheit und jedes Jahr begleiteten sie ihn durch den Advent.
Doch hier kam es ihm so vor, als gäbe es Baumschmuck in allen möglichen Varianten. Zugegeben, die Glaskugeln, bei denen ein Schild verkündete, dass sie mundgeblasen und handbemalt waren, sahen schon sehr festlich aus. Auf manchen waren schneebedeckte Landschaften und Tannenbäumchen abgebildet, andere zeigten Sterne, Engel oder filigrane Ornamente.
Mette nahm eines der zerbrechlichen Kunstwerke aus seinem Fach und hielt es hoch. »Ist die nicht fantastisch? Die wird wundervoll auf unserem Baum aussehen!«
Lars brauchte einen Moment, bis die Bedeutung ihrer Worte bis zu ihm durchgedrungen war. Er zog überrascht die Augenbrauen hoch. »Auf unserem Baum? Auf deinem meinst du wohl.«
»Aber ich dachte …« Mette sah ihn mit ihren blauen Kulleraugen an und zog einen Schmollmund.
Lars schüttelte den Kopf. Er würde Weihnachten wie jedes Jahr mit seiner Mutter und ihrem Mann feiern und sie vermutlich mit ihrer eigenen Familie.
Mette verzog das Gesicht, als hätte sie auf eine Zitrone gebissen. Ihre schnippische Antwort auf seine Weigerung unterstrich, dass für sie das letzte Wort noch nicht gesprochen war. »Ich nehme die Kugel auf jeden Fall mit. Und die hier auch.« Sie hielt Lars den Korb hin. »Trägst du ihn mir?«
Damit hatte er kein Problem. Bald kamen zu den beiden Kugeln drei weitere sowie eine Schachtel mit Kerzen und eine Lichterkette hinzu. Danach ein großer Karton mit einem Wichtel, den er sich unter den Arm klemmen musste, weil dieser im Korb keinen Platz hatte. Lars kam sich wie ein Packesel vor und als er zu einem Regal mit lustigen bunten Wichteln kam, hatte er keine Hand frei, um sie sich genauer anzusehen.
Die freundliche Stimme eines Mannes ließ Lars herumfahren. »Hier bitte schön, das ist praktischer, nicht wahr?« Der Karton mit dem Wichtel geriet ins Rutschen. Der als Weihnachtsmann verkleidete Fremde erwischte ihn gerade noch, bevor die Schwerkraft ihre Wirkung entfalten konnte, und legte ihn in den Einkaufswagen, den er für Lars herangeholt hatte.
»Vielen Dank, das war knapp.« Er lächelte den Verkäufer erleichtert an.
»Gern geschehen. Dafür bin ich ja da, nicht wahr?« Blaue Augen funkelten ihn vergnügt über den Rand der halbrunden Brillengläser an. »Manchmal lässt man sich so vieles aufladen, dass man für das, was man selbst will, keine Hand mehr frei hat.«
Lars hatte das unbestimmte Gefühl, dass der Herr mit dem gepflegten weißen Bart nicht nur die Waren meinte, die er sorgfältig Stück für Stück vom Korb in den Wagen legte. Dann wandte er sich zu dem Regal, vor dem sie gerade standen.
»Diese Julenisser sind etwas Besonderes.« Um die Lippen des älteren Mannes spielte ein liebevolles Lächeln. »Sie stammen aus einer Werkstatt, in der Menschen beschäftigt sind, die nicht so ganz in unsere gesellschaftlichen Normen passen und es deshalb schwer haben.« In seiner Stimme klangen Ärger und Enttäuschung über diese Klassifizierung mit. »Aber sie haben all ihre Liebe und Sorgfalt da hineingelegt. Du hast das gespürt, nicht wahr?«
Lars zuckte mit den Schultern. »Das weiß ich nicht, aber sie sprechen mich an.«
Der Weihnachtsmann schmunzelte wohlwollend. »Genau das tun sie. Aber sie sind ganz leise und nicht jeder nimmt sie wahr.« Sein Blick folgte Mette, die weitergegangen war und gar nicht zu bemerken schien, dass Lars stehen geblieben war. Wahrscheinlich würde sie erst darauf aufmerksam werden, wenn sie etwas in den Korb legen wollte. Dann wandte er sich wieder Lars zu und fixierte ihn mit ernstem, eindringlichem Blick.
»Von manchen Dingen sollten wir uns beizeiten trennen, um die Hände für die Richtigen frei zu haben, wenn sie unseren Weg kreuzen.«
Lars lief ein leichter Schauer über den Rücken. Wie konnte dieser Verkäufer in wenigen Minuten erkennen, was er schon seit einiger Zeit empfand und aus Bequemlichkeit, wie er sich selbst eingestand, immer wieder zu verdrängen versuchte? Seine bisherigen, eher halbherzigen Versuche, Mette loszuwerden, waren an ihrer Hartnäckigkeit gescheitert. Deshalb hatte er sich eingeredet, dass die Vorteile ihres Arrangements doch überwogen.
Der ältere Mann wurde noch deutlicher: »Wenn du dich nach der perfekten Partnerin sehnst, darfst du dich nicht mit einem faulen Kompromiss blockieren. Wünsche erfüllen sich nur, wenn man dafür bereit ist.«
Das war leicht gesagt. Diejenige, in die er seit Jahren heimlich verliebt war, kam für ihn nicht infrage. Und in seinem Umfeld war die Anzahl der ledigen Frauen begrenzt. Lars wollte den Mund zum Widerspruch öffnen, doch der Bärtige schüttelte mit einem milden Lächeln den Kopf. »Du musst Vertrauen haben. Vertrauen ist der Schlüssel zum Glück.«
Nur mit Mühe unterdrückte Lars ein respektloses Schnauben. Das klang für ihn zu sehr nach Kalenderweisheit, als dass er es ernst nehmen konnte. Aber mit einem hatte der seltsame Weihnachtsmann recht: Das mit Mette hatte keine Zukunft und je eher er es beendete, umso besser für sie beide. Das wurde ihm noch klarer, als sie nach ihm rief und ihre Stimme in seinem Magen ein Gefühl von Unbehagen hervorrief.
Erneut war ihm, als könnte der Julemand in ihm lesen wie in einem aufgeschlagenen Buch, als er die buschigen Augenbrauen wie zur Bestätigung hochzog und ihm aufmunternd zuzwinkerte. Dann wandte er sich ab und bog um eine Ecke.
Statt Mette hinterherzueilen, rief Lars zurück. »Ich bin hier drüben.« Er betrachtete die Wichtel eingehend. Die ungefähr zehn Zentimeter großen Männchen waren aus verschiedenfarbiger Wolle gestrickt und weich ausgestopft. Sie trugen weiße Bärte, die bei manchen aus Wollfäden bestanden, bei anderen aus Plüsch. Allen gemeinsam waren Zipfelmützen, die nach oben standen, weil sie ebenfalls ausgestopft waren. Sie hatten lustige Knollennasen. Bei vielen ruhte die Mütze auf der Nase, sodass ihr Gesicht nur aus dieser und dem Bart bestand. Bei anderen war es frei und kleine schwarze Perlen waren als Augen aufgenäht oder mit Wolle eingestickt.
Die Julenisser sahen alle so ansprechend aus, dass sich Lars kaum entscheiden konnte. Schließlich wanderten fünf verschiedene der kleinen Gesellen in den Einkaufswagen.
Mette kam um die Ecke geschossen. »Hier bist du! Was treibst du denn so lange?« Sie hatte ein paar Kartons auf ihrem Arm gestapelt, die sie unachtsam in den Wagen fallen ließ. Dabei ging eine der zarten Glaskugeln zu Bruch. »Ach, verflixt.« Sie biss sich auf die sorgfältig geschminkten Lippen. »Die müssen wir verschwinden lassen.« Sie sah sich hektisch um.
»Ganz sicher nicht.« Lars richtete den Blick fest auf seine Noch-Freundin. »Du hast sie kaputtgemacht, also musst du sie auch bezahlen. Der Weih… der Verkäufer hat sie in unserem Einkaufswagen gesehen.«
»Ich könnte sie doch zurückgelegt haben.« Sie schob schmollend die Unterlippe vor.
»Mette, tut mir leid, aber das macht man einfach nicht. Werd mal erwachsen.«
Ihre Augen wurden groß. »Sag mal, was ist denn mit dir los? Lass deine schlechte Laune nicht an mir aus.«
Was hatte ihn bloß geritten, fast ein halbes Jahr mit dieser Frau zusammenzubleiben? Na ja, im Prinzip wusste er das ganz genau. Sie hatten im Bett ihren Spaß miteinander, doch wenn er ehrlich war, ging sie ihm schon länger einfach nur noch auf die Nerven. Nun war endgültig Schluss. Wortlos ergriff Lars den Wagen und steuerte ihn in Richtung Kasse. »Wir fahren jetzt zurück, mir ist die Lust endgültig vergangen.« Er ignorierte Mettes Gezeter, dass sie doch noch gar nicht alles gesehen hätte.
Seine fünf Wichtel erhielten die Poleposition auf dem Förderband, mit gebührendem Abstand kam Mettes Einkauf. Vor einer Woche hätte er ihre Rechnung ohne viel Aufhebens übernommen. Ihr Gesichtsausdruck verriet, dass sie das auch jetzt erwartet hatte. Ihre Augen verengten sich und sie kniff die Lippen zu einem Strich zusammen, als sie begriff, dass es diesmal nicht so laufen würde.
Wenigstens hatte sie den Anstand, sich für die zerbrochene Kugel zu entschuldigen, und bedachte den Verkäufer mit ihrem strahlendsten Lächeln, als er sie ihr nicht verrechnete.
Glücklicherweise hatte es zu schneien aufgehört. Der Matsch spritzte unter den Reifen, als sie zurück nach Snaptun fuhren.
»Setzt du mich bitte bei meinem Auto ab? Es steht gleich bei der Schule. Ich habe heute keine Lust, mit zu dir zu kommen. Dann kannst du in Ruhe ausschlafen.«
Natürlich entging ihm ihr schnippischer Unterton nicht, doch damit hatte er gerechnet.
»Das hatte ich ohnehin vor. Aber zuerst fahren wir bei mir vorbei und du suchst deine Sachen zusammen.«
Das war zwar die harte Tour, doch anders würde sie es nicht begreifen. Beim letzten Mal, als er angedeutet hatte, dass es besser wäre, die Beziehung zu beenden, hatte sie alle ihr zur Verfügung stehenden Mittel eingesetzt, um ihn umzustimmen. Noch einmal würde er ihr die Gelegenheit nicht geben, ihn zu manipulieren, auch wenn das damals durchaus angenehm geendet hatte.
Mette starrte ihn verblüfft an. »Machst du gerade mit mir Schluss?«
»Es ist besser so. Wir passen nicht zusammen, das musst du doch auch merken.«
»Oh, letztens hat es noch ganz gut gepasst.« Sie schnurrte die Worte und legte ihm ihre Hand auf den Oberschenkel. Die Wärme drang durch seine Jeans und ohne es beeinflussen zu können, reagierte sein Körper darauf. Ihre Fingerspitzen wanderten nach oben.
»Mette, lass das. Lenk mich nicht vom Verk… vom Fahren ab.« Ein zweideutig zu interpretierendes Wort würde sie sofort aufgreifen und er wollte sich keinesfalls wieder einwickeln lassen.
»Ach komm, schlaf dich mal aus und morgen ist die Welt wieder in Ordnung. Tut mir leid, dass ich dir heute nicht deine wohlverdiente Ruhe gelassen habe.« Ihre Stimme nahm einen fürsorglichen Klang an und Lars wurde richtiggehend übel. Er hasste dieses manipulative Verhalten!
»Ich will das nicht mehr, begreif das doch! Es ist aus.«
»Du kannst nicht so knapp vor Weihnachten mit mir Schluss machen!« Bei ihrem weinerlichen, anklagenden Tonfall krampfte sich Lars’ Magen zusammen.
»Das Julfest ist erst in vier Wochen. Bis dahin hast du längst Ersatz für mich gefunden.« Er wagte einen Blick in ihre Richtung. Mit verbissenem Gesichtsausdruck starrte die hübsche Blondine durch die Seitenscheibe in die Dunkelheit hinaus.
Sie wandte sich ihm zu. »Du bist so ein Arsch!«
Nächste Stufe: Beschimpfungen. Jetzt waren sie bald durch. »Damit kann ich leben.«
»Was hab ich dir denn getan, dass du mich so kalt abservierst?«
Okay, er hatte sich geirrt, sie zog bereits das nächste Register: Eine Träne lief über ihre Wange. Dumm für sie, dass sie ihm einmal an einem feuchtfröhlichen Abend demonstriert hatte, diese Reaktion ohne jede Emotion hervorrufen zu können. Lars seufzte abgrundtief, um ihr zu zeigen, wie sehr ihn ihr Verhalten nervte.
»Mette, bitte lass das. Ich weiß genau, dass du mich genauso wenig liebst wie ich dich. Wir hatten eine schöne Zeit, aber jetzt mag ich nicht mehr. Das wirst du akzeptieren müssen.«
Den Rest der Fahrt saß sie stumm und mit zusammengepressten Lippen neben ihm, während er es kaum erwarten konnte, sie mitsamt ihren paar Kleidungsstücken, ihrer Zahnbürste und dem parfümierten Duschgel bei ihrem Wagen abzusetzen.
Marie
Schon als sie als Zehnjährige hierher in die Geburtsstadt ihres Vaters gekommen war, hatte sich Marie in Salzburg verliebt. Sie mochte die schönen alten Häuser, die lebendige Atmosphäre, die unterschiedlichen Menschen, denen man in den Gassen begegnete, das viele Grün und die Festung Hohensalzburg, die wie ein Schloss aus dem Märchen über der Stadt thronte.
Davor hatten sie in London, Madrid und einigen anderen Städten gelebt, die aufgrund der Kürze ihres Aufenthalts oder ihrer mangelnden Atmosphäre so wenig Eindruck hinterlassen hatten, dass sie sich kaum daran erinnerte.
In Salzburg hatte sie zum ersten Mal das Gefühl gehabt, anzukommen und willkommen zu sein. Was vielleicht auch daran lag, dass sie ganze vier Jahre hier gelebt hatten. Ein Rekordzeitraum in ihrem jungen Leben.
Marie streckte die Beine aus und blickte durch die mit aufgeklebten Glitzersternen dekorierte Fensterscheibe der Café-Konditorei hinaus auf die Straße. Dick vermummte Menschen liefen an ihr vorbei, die meisten allein oder zu zweit. Als sie die letzten beiden Stunden durch die Altstadt gestreift war und die verschiedenen Weihnachtsmärkte besucht hatte, war es noch angenehm gewesen, doch nun schneite es heftig und der Wind war stärker geworden. Von ihrem bequem gepolsterten und kuschelig warmen Sitzplatz aus sahen die wild durcheinandertanzenden Flocken ganz zauberhaft aus.
Marie hatte es nicht eilig und wollte abwarten, ob sich das Wetter etwas beruhigte. Onkel Manfred war bis siebzehn Uhr in seiner Anwaltskanzlei beschäftigt. Sie kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass er sie ihretwegen früher verlassen wollte, denn normalerweise kam er nie vor achtzehn oder neunzehn Uhr nach Hause.
»Darf ich Ihnen noch etwas bringen?« Wie aus dem Nichts war der junge Kellner neben ihr aufgetaucht. Marie fand es ein wenig befremdlich, dass er sie siezte, obwohl sie ungefähr gleich alt waren, doch in diesem traditionellen Kaffeehaus war es wohl nicht üblich, die Gäste zu duzen.
»Einen Cappuccino mit Schlagobers, bitte.«
In den rehbraunen Augen des Mannes blitzte es interessiert auf. Sie hatte bewusst in den Salzburger Dialekt gewechselt und zusammen mit der österreichischen Bezeichnung für Schlagsahne hatte sie ihn offenbar überzeugt.
Er blickte sich schnell um, dann beugte er sich kaum merklich zu ihr hinunter. »Bist du von hier? Ich hab dich noch nie gesehen.« Sein Lächeln war von unverbindlich-freundlich in den Flirtmodus gewechselt und auf seinen Wangen zeigten sich Grübchen.
»Nicht direkt. Ich habe einige Jahre hier gelebt, aber jetzt bin ich nur zu Besuch in Salzburg.«
»Wie schade. Vielleicht hast du ja trotzdem mal Lust, mit mir ins Nachtleben abzutauchen? Da hat die Stadt einiges zu bieten, wenn man sich auskennt.« Sein Blick versank in ihren Augen und das verschmitzte Lächeln gefiel Marie. Sie erwiderte es mit einem Zwinkern.
»Wer weiß? Schreibst mir halt deine Telefonnummer hinten auf die Rechnung.« Sie wies auf den Bon, der gemeinsam mit den bestellten Speisen und Getränken an den Tisch gebracht wurde.
Ein älterer Kellner schritt eilig durch den Raum und sein junger Kollege schrak ertappt zusammen. »Dann bringe ich dir mal deinen Cappuccino.«
Marie sichtete die Fotos, die sie tagsüber geschossen hatte. Was unscharf oder aus einem anderen Grund nicht so gelungen war, löschte sie, die brauchbaren Bilder speicherte sie über das kostenlose WLAN des Lokals in sorgfältig beschrifteten Ordnern in ihrer Cloud. Sie fotografierte immer viel und diese Vorgehensweise war ihr in Fleisch und Blut übergegangen, damit sie nicht nach ein paar Tagen in der Bilderflut erstickte und den Überblick verlor. Sie war so in ihr Tun vertieft, dass sie das Werbeblatt auf ihrem Tisch erst entdeckte, als sie das Handy weglegte. Jemand musste es von ihr unbemerkt hingelegt haben.
Neugierig nahm sie es zur Hand. Ein Weihnachtsladen. Wer brauchte in einer Stadt, in der es auf mehreren Plätzen Christkindlmärkte gab, auch noch ein Geschäft speziell für weihnachtliche Deko?
Ein Weihnachtsmann im traditionellen roten Anzug mit weißem Plüschbesatz, schwarzem Gürtel und ebensolchen Stiefeln war abgebildet. Marie hob erstaunt eine Augenbraue. Soweit sie mitbekommen hatte, brachte hier seit jeher das Christkind die Geschenke. Sie war viel herumgekommen und fand es wichtig, dass jede Nation ihre eigenen Traditionen hochhielt und pflegte. In Frankreich kam Papa Noël, den spanischen Kindern brachten die Heiligen Drei Könige am Vorabend des sechsten Januars die Geschenke. Im anglikanischen Raum war der Weihnachtsmann fest verankert, in Skandinavien erhielt er Unterstützung durch die Weihnachtswichtel.
Obwohl sie im Allgemeinen viel Wert auf Regionalität legte, fühlte sich Marie von dem Laden angezogen. Sie hatte noch mehr als eine Stunde Zeit und beschloss, ihm einen Besuch abzustatten. Sie war sicher, ihre Fans würden es lieben, wenn sie darüber berichtete. Weihnachtsdeko war sogar für diejenigen interessant, die das restliche Jahr nichts dafür übrig hatten.
Sie winkte den jungen Kellner herbei, der, wie sie bereits wusste, Niko hieß. Seine Telefonnummer hatte sie in ihrem Handy eingespeichert. »Ich möchte bitte zahlen. Hast du mir das hergelegt?« Sie wies auf den bunten Werbezettel.
Niko schüttelte den Kopf. »Nein, hab ich noch nie gesehen.«
Das war mehr als seltsam, zumal offenbar nur auf ihrem Tischchen ein solcher gelandet war. Das schürte ihre Neugier nur noch mehr.
Es war deutlich kälter geworden, doch es schneite nur noch leicht. Mithilfe von Google Maps fand sie das Geschäft auf Anhieb. Es lag in einer unscheinbaren Seitengasse, trotzdem schien es gut besucht zu sein. Als sie eintreten wollte, strömte eine Gruppe junger Mädchen heraus, die aufgeregt durcheinander schnatterten. Marie verstand kaum ein Wort, doch die begeisterte Stimmung spürte sie auch so.
Eine ältere Frau, die einen Kinderwagen schob, kam heran und bedankte sich, als sie ihr die Tür aufhielt. Erst dann wurde Marie von der wohligen Wärme und einem angenehm weihnachtlichen Duft umhüllt.
Die Melodie von »Morgen Kinder wird's was geben …« verstummte beim Schließen der Tür.
Erstaunt und auch ein wenig überwältigt von dem Anblick blieb Marie stehen. Überall glitzerte es. Bemalte und kunstvoll verzierte Glaskugeln hingen an großen Tannenzweigen. Diese waren mit beinahe unsichtbaren Fäden an Deckenhaken befestigten und sahen täuschend echt aus. Doch das konnte natürlich nicht sein. Bei der herrschenden kuscheligen Raumtemperatur wären sie innerhalb von ein paar Tagen vertrocknet.
Auf großen, leicht schrägen Pulten mit unzähligen quadratischen Fächern waren weitere, besonders kostbar wirkende Kugeln ausgestellt. Marie konnte sich nicht sattsehen. Jede für sich war ein kleines Kunstwerk.
In flachen Körben gab es einfachere Kugeln in allen Farben, doch auch sie waren mit ihren Ornamenten in Gold- und Silberglitzer ein echter Hingucker.
An den kahlen Zweigen eines Deko-Laubbaumes waren mit Klemmen kleine, bunt bemalte Vögel aus feinstem mundgeblasenem Glas angebracht, die Marie ein Lächeln ins Gesicht zauberten. Mit der Fingerspitze strich sie vorsichtig über seidig schimmernde Nylonfäden, die den Schwanz eines Vögelchens bildeten, das sie an ein Rotkehlchen erinnerte. Ob sie es schaffte, so ein filigranes Tierchen heil nach Dänemark zu bringen? Ihre Oma bevorzugte zwar die traditionelle skandinavische Deko, aber dem Charme dieses Vogels konnte sie bestimmt nicht widerstehen.
Hinter ihr erklang eine tiefe, doch gleichzeitig sanfte männliche Stimme. »Es wird kein Problem sein, wenn ich es besonders sorgfältig einpacke, nicht wahr?«
Marie drehte sich verblüfft um. Da stand der Mann von dem Werbeblatt. Jedenfalls sah er exakt so aus. Sein Anzug bestand aus kirschrotem Samt. Die Mütze, der Kragen und die Manschetten waren mit schneeweißem Plüsch besetzt. Goldene Knöpfe, ein schwarz glänzender breiter Gürtel mit goldener Schnalle und perfekt polierte schwarze Stiefel rundeten seine Erscheinung ab. Sein weißer Vollbart war echt und sorgfältig getrimmt. Blaue Augen blickten sie verschmitzt über den Rand seiner halbrunden Brillengläser an. Er wirkte vertrauenerweckend und sympathisch. Wie hatte er erraten, dass sie sich gerade darüber Gedanken gemacht hatte, wie sie das Vögelchen heil zu ihrer Oma bringen konnte? Er ließ ihr keine Zeit, der Frage auf den Grund zu gehen, sondern stellte ihr selbst noch eine:
»Und was wünschst du dir für dich selbst?«
»Sie meinen, von den vielen schönen Sachen hier?« Obwohl sie sonst schnell beim Du war, entlockte ihr seine Ausstrahlung einen gewissen Respekt, der sie automatisch die Höflichkeitsform benutzen ließ. Auch wenn ihr klar war, dass er ein gewöhnlicher Mensch war, der in diesem edel wirkenden Kostüm steckte.
»Nicht unbedingt. Du hast dir ja noch gar nicht alles angesehen. Ich meinte, was du dir von Herzen ersehnst. Schließlich ist Weihnachten die Zeit der Wünsche.«
Marie fühlte sich überrumpelt und wollte lässig mit den Schultern zucken, wie sie es tat, wenn ihr jemand eine Frage stellte, die ihr zu nahe ging. Sie setzte zu der gewohnten Erwiderung an, dass sie wunschlos glücklich und zufrieden sei. Doch etwas in ihr machte sich selbstständig und platzte förmlich aus ihr heraus: »Beständigkeit. Ich wünsche mir einen Platz, wo ich hingehöre, und einen Menschen, der mir Halt gibt.«
Erschrocken schlug sie sich die Hand vor den Mund. Hatte sie das tatsächlich laut gesagt? Wie kam sie dazu, ihren heimlichsten Wunsch vor diesem wildfremden Mann auszubreiten? Das war etwas, das sie nicht einmal vor sich selbst so richtig eingestehen wollte.
Der Weihnachtsmann wurde ernst, als ahnte er, was er ihr soeben entlockt hatte. »Das dachte ich mir. Es ist gut, dass du es ausgesprochen hast. Dadurch bekommen Wünsche noch mehr Gewicht und Nachdruck, nicht wahr?« Um seine Augen vertieften sich die Fältchen, als sich ein väterliches Lächeln auf seinem Gesicht ausbreitete. »Hab Vertrauen, Marie, es wird sich alles finden. Vielleicht nicht ganz so, wie du es erwartest, aber für die besten, wertvollsten Dinge muss man manchmal auch schwere Phasen bewältigen.« Sein Blick senkte sich tief in Maries Augen und sie hatte das seltsame Gefühl, als würde er in ihrer Seele lesen. »Doch damit bist du ja vertraut, nicht wahr?«
Sie nickte überwältigt. Woher wusste er so viel über sie? Der Typ sollte ihr unheimlich sein. Stattdessen fühlte sie sich unerklärlicherweise geborgen.
»Und jetzt schau dich in Ruhe weiter um. Wenn du Fotos machen willst, kannst du das gerne tun. Ein bisschen Werbung kann nie schaden, vor allem auf einem so ehrlichen Blog wie dem deinen.« Er zwinkerte ihr noch einmal zu, wandte sich um und ging in den vorderen Bereich des Ladens, wo zwei Frauen vor dem Kassenpult auf ihn warteten.
Verblüfft sah ihm Marie nach. Kannte er sie von ihrem Blog? Es schien so, doch es war trotzdem keine Erklärung für die Dinge, die er von ihr wusste. Sie gab darin wenig von sich selbst preis, sondern konzentrierte sich auf die Gegenden und Erlebnisse, über die sie berichtete.
Am Ende erstand sie das Vögelchen für ihre Großmutter und für ihren Patenonkel hatte sie einen eleganten Kerzenständer gefunden.
Als sie Onkel Manfreds Wohnung betrat, stand er in einer grün-weiß karierten Schürze am Herd. In einer Pfanne brutzelten Steaks und Marie lief das Wasser im Mund zusammen. Auf ihren Reisen war sie auf der Suche nach den landestypischen Speisen und aß bevorzugt dort, wo auch die Einheimischen ihre Mahlzeiten einnahmen.
Oft hatte sie das Glück, rasch Anschluss zu finden und von ihren neuen Bekannten zu sich nach Hause eingeladen zu werden. Sie empfand es als Privileg, Einblicke in die Wohnsituation zu bekommen und Anteil an ihrem Privatleben nehmen zu dürfen.
Ähnlich erging es ihr auch mit Manfred. Er war ein Jugendfreund ihres Vaters und sie hatte ihn auf Anhieb gemocht. Ihre Mutter hatte sie oft ermahnt, nicht wie eine Klette an ihm zu hängen, doch er hatte darüber nur gelacht. Während andere kleine Mädchen verkündeten, später ihren Papa heiraten zu wollen, war ihr geliebter Onkel Manfred der Mann ihrer Mädchenträume gewesen.
Als Marie jetzt zu ihm trat und er sie mit einem Lächeln begrüßte, stieg in ihr das gleiche Gefühl hoch, das sie in seiner Gegenwart immer verspürt hatte: willkommen zu sein. Etwas, das für sie niemals selbstverständlich sein würde.
»Hallo, Marie! Wir können gleich essen.«
»Es duftet ganz wunderbar. Warst du so sicher, dass ich pünktlich komme?«
Sein Lächeln vertiefte sich. »Natürlich, das bist du doch immer. Hättest du es nicht geschafft, wäre eine Nachricht von dir gekommen.«
Das stimmte. So sehr sie ihre Freiheit liebte, Termine nicht einzuhalten, war für Marie undenkbar.
»Ich wasche mir schnell die Hände und decke den Tisch.«
»Das hat Michael schon gemacht. Er holt nur rasch eine Flasche Wein aus seinem Kühlschrank.«
Die beiden lebten zwar in benachbarten Wohnungen, waren jedoch abgesehen davon ein perfektes, harmonisches Paar. Oder genau deshalb, wie Manfred gerne mit einem liebevollen Lächeln feststellte. »Wir geben einander den Freiraum, den jeder braucht, damit wir uns nicht auf die Nerven gehen.« Wie weit sich diese Freiheit erstreckte, hatte Marie nie ganz durchschaut, aber das war auch nicht ihre Angelegenheit.
Jetzt freute sie sich auf einen gemütlichen Abend mit den beiden Männern, auf ein liebevoll zubereitetes Essen und anregende Gespräche.
Lars
Lars wischte sich mit dem Unterarm den Schweiß von der Stirn. Seit drei Uhr morgens stand er in der Backstube.
Nach einem automatischen Kontrollblick zur Wanduhr wunderte er sich, dass Dagmar noch immer nicht aus ihrer Wohnung im Obergeschoss heruntergekommen war. Normalerweise half sie am Morgen mit, damit das Brot und Gebäck sowie die süßen Teilchen rechtzeitig fertig wurden. Seit sein Kollege Olaf und der Gehilfe Ingmar vor ein paar Wochen überraschend gekündigt hatten, war die Arbeit kaum zu bewältigen. Das wusste sie natürlich, doch sie war die Chefin, also konnte er ihr schlecht Vorwürfe machen, wenn sie dazu mal keine Lust hatte. Dennoch sah es ihr gar nicht ähnlich. Die Bäckerei war ihr Lebenswerk und schon während seiner Lehrzeit hatte sie ihm eingetrichtert, dass in ihrem Team alle zusammenhielten.
Immerhin hatte er es auch allein beinahe zeitgerecht geschafft. Nur mit Feingebäck und Kuchen war er noch nicht ganz fertig. Glücklicherweise öffneten sie während der kalten Jahreszeit erst um sieben Uhr. Allerdings war es in einer Viertelstunde soweit und im Laden war nichts vorbereitet.
Jemand öffnete die Hintertür und Sekunden später schaute seine Kollegin in die Backstube. Gyda war für den Verkauf und das daran angeschlossene kleine Café verantwortlich.
»Godmorgen, Lars. Verdammt kalt ist es heute!« Schon während sie die Handschuhe abstreifte und sich den Schal vom Hals wickelte, blickte sie sich überrascht um. »Wo ist denn Dagmar? Vorne ist auch noch alles dunkel, habe ich gesehen.«
Er schob den Bartschutz herunter, den er aus Hygienegründen tragen musste. »Ich weiß es nicht. Vielleicht hat sie verschlafen?« Er sah seine Kollegin ratlos an. »Könntest du bitte rasch nach ihr sehen? Ich kann hier nicht weg.«
Wie um seine Worte zu unterstreichen, ertönte ein Signal. Er wandte sich um und griff nach den Schutzhandschuhen, um die fertigen Wienerbrød mit Marzipanfülle aus dem Backofen zu holen. Er schob die nächste Sorte der beliebten Plunderteigteilchen hinein – diesmal welche mit Schokoladenfüllung – und programmierte den Timer erneut auf zweiundzwanzig Minuten.
Während Gyda nach oben ging, fing er an, im Verkaufsraum und im Café alles für die Kunden und Gäste vorzubereiten. Normalerweise machte das Dagmar und Gyda half ihr, sobald sie da war. Doch heute lief alles aus dem Ruder. Er schaltete die Lichter und den Kaffeeautomaten ein. Die Körbe mit den Broten hatte er bereits in die Regale gestellt, nun schob er die Tabletts mit dem Feingebäck in die Vitrinen. Dabei kreisten seine Gedanken. Wo blieb denn Gyda? Hoffentlich war Dagmar nicht krank. Gestern war davon jedenfalls noch nichts zu merken gewesen. Jemand klopfte an die Glastür und Lars beeilte sich, sie aufzusperren.
»Godmorgen, min søn.« Seine Mutter Erene war fast immer ihre erste Kundin, wenn sie frisches Frühstücksgebäck für sich und ihren Mann holte.
»Guten Morgen! Geht es dir gut? Nimmst du dasselbe wie immer?«
Sie lachte. »Ja zu beidem! Bist du heute allein? Du klingst so gehetzt.«
In diesem Moment kam Gyda zurück. Sie war kreidebleich und wandte sich sichtlich erleichtert an Lars' Mutter: »Hol Peter! Schnell! Dagmar ist …« Sie klammerte sich haltsuchend an die Verkaufstheke. »Ich glaube, sie ist tot.«
Ohne ein Wort zu verlieren, holte Erene ihr Handy aus der Tasche und rief ihren Mann, Snaptuns einzigen Arzt, an. Gleichzeitig wandte sie sich zur Tür, die ins Treppenhaus führte. »Bring mich zu ihr.« Lars stupste Gyda an, die sich daraufhin aus ihrer Erstarrung löste und Erene vorausging.
Lars klammerte sich innerlich daran, dass er sich um den Laden und seine Backwaren kümmern musste. Er fühlte sich wie betäubt, wollte das Gehörte nicht glauben. Das konnte einfach nicht sein. Wie sehr wünschte er sich, die drei Frauen würden lachend herunterkommen und sich für den bösen Scherz entschuldigen, den sie mit ihm getrieben hatten.
Im tiefsten Inneren ahnte er jedoch, dass etwas Schlimmes passiert war, auch wenn sein Verstand es nicht akzeptieren wollte.
Rasch packte er wie jeden Morgen die Bestellung für eine betagte gehbehinderte Stammkundin zusammen, die gleich abgeholt werden würde: Ein helles Brötchen mit Mohn, ein Roggenbrötchen und ein zartknuspriges Plunderteiggebäck. Diesmal steckte er Svea ein Wienerbrød mit Himbeermarmelade in das Papiersäckchen. Die mochte sie besonders gern und es war bereits ausreichend abgekühlt.
Erst jetzt fiel ihm auf, dass Sveas riesiger schwarzer Hund bereits draußen saß und geduldig wartete. Lars öffnete die Tür und begrüßte das Tier, indem er ihm über den Kopf strich und es ein wenig hinter dem Ohr kraulte, wie er es immer machte. »Hej, Thor, guter Junge. Hier ist das Frühstück für dein Frauchen.« Er sprach mit ruhiger Stimme mit ihm, während er die beiden Tüten in den Taschen verstaute, die der Neufundländer an einem Geschirr befestigt beidseitig auf dem Rücken trug.
Ein junges Paar drängte sich an ihm vorbei in den Laden. Es kaufte ein Rugbrød und die Frau wunderte sich, dass es sich in ihren kalten Fingern noch lauwarm anfühlte, als sie es von der Theke nahm und in ihren Korb legte.
»Es ist ganz frisch. Das Roggenbrot backe ich jeden Morgen als Erstes, denn es braucht am längsten.« Lars erteilte die Auskunft mechanisch, während er auf Geräusche aus dem Obergeschoss lauschte. »Sonst noch etwas?«
»Zwei Zimtschnecken und zwei Wienerbrød mit Vanillecreme, bitte.«
Er steckte die süßen Teilchen in einen Papiersack. Während er kassierte, öffnete sich erneut die Tür zum Laden.
Peter kam herein, rief ihm einen kurzen Gruß zu und verschwand eilig durch die Verbindungstür ins Treppenhaus, das zu Dagmars Wohnung führte. Lars folgte ihm bis zur ersten Stufe und lauschte angespannt nach oben, doch außer leisem Gemurmel hörte er zunächst nichts. Dann glaubte er, ein verhaltenes Schluchzen zu vernehmen, und sein Herz zog sich angstvoll zusammen. Stimmte es also wirklich? Er war drauf und dran, hinaufzugehen, als ihn das Signal des Backofens zurück an die Arbeit rief.
Er konnte ohnehin nichts für Dagmar tun. Sie war bei Peter in den besten Händen, sofern ihr noch zu helfen war.
Lars holte die fertigen Teilchen heraus und schob die Teigplatte für die Himbeerschnitten in den Ofen, die er bereits vorbereitet hatte. Fast hätte er in dem Durcheinander vergessen, ein anderes Backprogramm zu wählen.
Jetzt hätte der Drømmekage, der Traumkuchen, auf dem Programm gestanden, doch Lars zögerte, damit zu beginnen. Das Rezept erforderte, dass es zügig fertiggestellt wurde. Nein, erst musste er wissen, was tatsächlich passiert war.
Doch statt hinaufzugehen, hatte er Kundschaft zu bedienen, und wenn er ehrlich war, kam es ihm sogar gelegen. Solange er im Ungewissen war, bestand noch Hoffnung. Es fiel Lars schwer, sich nichts anmerken zu lassen. Die meisten, die zu so früher Stunde in die Bäckerei kamen, waren Stammkunden, die seit Jahren bei ihnen kauften. Doch was hätte er ihnen sagen können?
Schließlich konnte er es nicht mehr aufschieben. Er hängte das »Komme gleich«-Schild an die Ladentür, schloss ab, holte das Blech mit den Himbeerschnitten aus dem Rohr und schaltete es aus.
Langsam, als könnte er das Unausweichliche damit hinauszögern, schlich er die Treppe hinauf. Jemand weinte. Vermutlich Gyda, denn seine Mutter war durch ihren Beruf als Arzthelferin zu sehr Profi, um sich jetzt gehen zu lassen. Sein Herz klopfte so laut, dass es die Stimmen beinahe übertönte. Er folgte ihnen und blieb ihm Türrahmen stehen. Seine Kollegin sah ihn aus verweinten Augen an und schüttelte stumm den Kopf.
Nun bemerkten auch seine Mutter und Peter seine Anwesenheit. »Dagmar ist im Schlaf gestorben. Ich gehe davon aus, dass ihr Herz aufgehört hat zu schlagen.«
Lars traute seine Ohren kaum. »Einfach so? Wie kann das sein?« Er trat noch zwei Schritte näher und wagte einen Blick zum Bett. Sie sah friedlich aus. Blass, aber fast so, als ob sie nur fest schlief.
»Das kommt bei einem Herzklappenfehler leider vor. Dagmar wollte nicht, dass jemand davon erfährt und sie in Watte packt.« Die einfühlsame Stimme des Arztes beruhigte Lars. Seine Worte passten zu ihr.
Tränen brannten ihm in den Augen. Er musste den Drang niederkämpfen, einfach wegzulaufen. Weg von der vertrauten Gestalt, die doch nur noch eine leere Hülle war. Weg vom leisen Schluchzen, das ihn verführte, sich auf den Boden sinken zu lassen und ebenfalls zu weinen. Eine zarte Berührung holte ihn aus seiner Erstarrung und im nächsten Moment fand er sich in den tröstenden Armen seiner Mutter wieder. Seine Tränen bahnten sich doch einen Weg unter den fest geschlossenen Lidern hervor.
Er hatte Dagmar sein ganzes Leben lang gekannt, bei ihr seinen Beruf erlernt und mehr als fünfzehn Jahre mit ihr gemeinsam gearbeitet. Und jetzt war alles vorbei. Von einem Tag auf den anderen, ohne Vorwarnung.
Lars konnte es nicht fassen, nicht begreifen, und hatte Angst, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Es dauerte eine Weile, bis er es schaffte, sich aus der mütterlichen, Halt schenkenden Umarmung zu lösen.
»Was machen wir denn jetzt?« Seine Stimme war nur ein tonloses Flüstern, als er sich an Gyda wandte. Sie war die Ältere von ihnen beiden, mehr als zehn Jahre. Sie würde wissen, was zu tun war.
Sie schien sich tatsächlich gefangen zu haben. »Erst mal machen wir weiter wie bisher. Das wäre in Dagmars Sinne, meinst du nicht auch?«
Er nickte. »Ja, bestimmt.« Die Bäckerei war ihr Lebensinhalt … gewesen.
»Wir müssen ihre Enkelin verständigen«, kam seine Mutter auf das Naheliegende. Lars machte eine abwehrende Bewegung. Er konnte es Marie nicht sagen. Irgendwann würde er sich ihrer Trauer stellen müssen, aber nicht jetzt und auf diese Weise.
Es war Peters ruhige, feste Stimme, die ein wenig Ordnung in das Chaos in Lars’ Inneres brachte. »Das mache ich. Aber ich brauche ihre Kontaktdaten. Hatte Dagmar ein Notizbuch? Wo ist denn ihr Handy?« Er blickte sich suchend um.
Lars schauderte. »Normalerweise hat sie es über Nacht in der Küche aufgeladen. Sie wollte es nicht auf dem Nachttisch haben. Denkst du, sie könnte noch am Leben sein, wenn sie es griffbereit gehabt hätte?«
Peter legte ihm tröstend den Arm um die Schultern, während sie gemeinsam in die Küche gingen, um das Handy zu suchen. »Ich glaube nicht. Meiner Meinung nach hat sie es gar nicht mitbekommen. Du hast ihre friedliche Miene gesehen.«
Dagmar hätte sich einen solchen Abgang gewünscht, schoss es Lars durch den Kopf. Doch es war viel zu früh passiert. Sie war mit ihren siebenundsechzig Jahren noch viel zu jung zum Sterben gewesen. Ob der Stress der letzten Wochen schuld war? Der Schmerz presste ihm die Brust zusammen und er bemühte sich, tief zu atmen, um nicht erneut die Fassung zu verlieren. Er zog das Ladekabel aus dem Telefon und rief die Kontakte auf. Erst als er Peter die Nummer von Marie hinhielt, merkte er, dass Gyda ihm gefolgt war.
»Komm mit hinunter. Es wird uns guttun, uns in die Arbeit zu stürzen. Peter und Erene kümmern sich um alles.«