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Eigentlich fängt alles ganz harmlos an: Fünf Jugendliche fahren in ein Haus auf dem Land, um dort fürs Abi zu lernen. Auf dem Weg nehmen sie einen jungen Anhalter mit, der ihnen schon bald auf die Nerven geht. Kurzerhand lassen sie ihn an der nächsten Tankstelle stehen, seine Tasche werfen sie später einfach aus dem Fenster. Ein verhängnisvoller Fehler. Denn am nächsten Morgen steht der Anhalter plötzlich vor ihrer Tür – in Begleitung zweier junger Männer. Sie dringen ins Haus ein und fangen an, die Jugendlichen zu tyrannisieren. Ein perfides Spiel um Macht, Gewalt und Angst beginnt …
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Inhalt
Manuel hat versucht zu vermitteln.
Selin hat versucht sich zu wehren.
Knut hat versucht den Fehler zu korrigieren.
Philipp hat versucht Hilfe zu holen.
Esther hat versucht zu fliehen.
Vergeblich.
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Nachwort
Vita
Content Note
Dieses Buch enthält Elemente, die triggern können: Blut, physische und psychische Gewalt.
Georg: Warum tun Sie das?
Paul: Warum nicht?
Funny Games
Franklin: I don’t think I’m gonna be able to take it.
The Texas Chainsaw Massacre
Die Zentralverriegelung öffnete sich mit einem Klacken. Knut nahm das Gepäck und ging damit zum Bus. In den Staub auf der Tür hatte jemand in krakeligen Buchstaben etwas geschrieben. Die Nachbar-Kids fanden es gerade witzig, ›Wasch mich!‹, Strichmännchen oder Pimmelbilder an die Autos zu malen. Auf der Tür stand das Wort »Opfer«. Knut zog die Augenbrauen hoch. »Opfer« – In einer Gegend, wo eigentlich nur Privilegierte wohnten, hatte das schon eine gewisse Komik.
Knut fiel ein, wie er früher vor dem Einschlafen oft gedacht hatte, dass er sich bei Gott bedanken müsse. Dafür, dass er oder das Schicksal es so gut mit ihm gemeint hatte. Wie naiv das gewesen war. Heute war Knut sich voll bewusst, dass er in der Lotterie des Lebens einfach das große Los gezogen hatte. Als Kind einer intakten Akademikerfamilie, als weißer, nichtbehinderter, heterosexueller Mitteleuropäer, aufgewachsen in einem behüteten Reihenhausviertel wie diesem.
Die Heckklappe schwang auf. Knut verstaute sein Gepäck im Laderaum. Den Rucksack und die Tasche mit den Büchern, die Kreilich als Pflichtlektüre genannt hatte. Kant, Aristoteles, Utilitarismus … das waren die Prüfungsthemen. Kreilich wollte immer, dass sie mit den Originaltexten arbeiteten und nicht nur mit Auszügen. Knut bereute es nicht, dass er Ethik gewählt hatte. Die Klarheit im Denken, das war etwas, was ihn wirklich interessierte.
Er stieg ein und startete den Motor. Vorsichtig steuerte er den VW-Bus aus dem Carport vor dem Reihenhaus. Knut hatte den Führerschein erst seit vier Monaten, pünktlich zum Achtzehnten. Vier Monate, in denen er den Wagen bei jeder Gelegenheit genutzt hatte. Seine Eltern waren da zum Glück ganz entspannt. Sie fanden, dass er möglichst schnell möglichst viel Fahrpraxis sammeln sollte. Es passte, dass sie gestern zu einem Kongress nach Brüssel geflogen waren und der Bus das ganze Wochenende frei war.
Knut öffnete die Playlist. Die Bässe wummerten aus der Anlage. Vorfreudig trommelte Knut dazu auf dem Lenkrad. Er würde es locker schaffen, pünktlich um zwölf am Europaplatz zu sein, um die anderen abzuholen.
Esther stand am Küchentresen und packte den Proviant ein. Die Frischhalteboxen bestanden zu 60 Prozent aus recyceltem Meeresplastik. Es war Esther wichtig, ein Wertesystem zu haben. Zu wissen, was gut war und was schlecht. Es war schlecht, dass die reichen Länder den Planeten zerstörten. Es war schlecht, dass ein Zehntel der Erdbevölkerung hungern musste. Es war schlecht, dass in vielen Regionen Krieg und Gewalt herrschten. Gut war, dass es immer mehr Leute gab, die etwas dagegen tun wollten. Dazu zählte sie sich selbst.
Ein dumpfer Schlag ließ Esther zusammenzucken. Sie kannte das Geräusch und eilte zu dem großen Panoramafenster im Wohnzimmer. Auf der Dachterrasse davor lag eine junge Amsel.
Esther beugte sich über sie. Benommen und mit verdrehtem Kopf zuckte der Vogel hilflos mit den Flügeln. Sein glänzendes Auge starrte Esther an, während sich die kleine Brust hektisch hob und senkte. Esther spürte, wie es ihr den Hals zuschnürte. Sie konnte nicht hinschauen. Trotz der Habichtsilhouetten, die sie an die Scheiben geklebt hatten, passierte es immer wieder, dass Vögel dagegen flogen und sich das Genick brachen. Normalerweise übernahm Lars die Entsorgung, aber er und Annette waren längst aus dem Haus. Esthers Eltern arbeiteten beide Vollzeit in der Agentur. Sie hatten ihr am Abend den Schlüssel zum Ferienhaus auf den Tisch gelegt, dazu 150 Euro zum Aufstocken der Vorräte.
Esther überlegte, was sie machen sollte. Der Vogel atmete immer noch. War er verletzt oder stand er nur unter Schock? Sie streckte vorsichtig die Hand aus. Als sie ihn berührte, zuckte er, als hätte er einen elektrischen Schlag bekommen. Esther schreckte zurück. Wild flatternd torkelte der Vogel über den Boden, bis es ihm gelang abzuheben. Er flog über die Terrassenbrüstung und tauchte dahinter ab.
Esther sah ihm nach, konnte ihn aber zwischen den dichten Laubkronen der Straßenbäume nicht mehr entdecken. Sie kehrte erleichtert in die Küche zurück und packte schnell die Sachen ein. Sie musste sich beeilen.
Wieder hatte er die ganze Nacht wach gelegen und sich gewälzt. Als es hell wurde, war er aufgestanden und hatte sich in die Küche gesetzt. Es schmerzte und schmerzte und schmerzte. Nicht mal Kiffen half. Die Gedanken kreisten wie in einer Endlosschleife. Manuel hoffte, dass das Wochenende mit den anderen ihn irgendwie rausreißen würde. Aus diesem schwarzen Loch.
Er konnte es einfach nicht fassen, dass Leonie es getan hatte. Einfach so! Wie konnte sie? Wie konnte ihr das, was sie hatten, von einem Moment auf den anderen nichts mehr bedeuten? Vor drei Tagen hatten sie sich noch zusammen auf das Wochenende in Rehberg gefreut. Gemeinsam lernen, gemeinsam chillen, gemeinsame Zukunft, blablabla. Und am Abend kam dann ihre Textnachricht: manu, wir haben es immer wieder versucht, aber es geht einfach nicht mehr für mich.
Manuel spürte eine Welle der Wut in sich aufsteigen: Für dich? Und was ist mit mir?! Ich hasse, dich, Leonie. – Nein, Scheiße, ich liebe dich. Immer noch. Ich kann nicht ohne dich leben. Leonie, warum hast du alles kaputt gemacht?
es ist aus. Nach allem, was du für mich warst, was wir füreinander waren, was ich für dich getan habe. Du hast gesagt: Wir sind wie ein Zwillingsstern mit einem doppelten Kraftfeld.
manu, wir haben es immer wieder versucht … Wieder und wieder ging er die Textnachricht Wort für Wort durch, als könne sich der Sinn dadurch doch noch verändern. … aber es geht einfach nicht mehr …
Überhaupt: Beziehungsende per Textnachricht – wie billig war das denn?!
ich weiß jetzt, dass ich frei sein will. bitte melde dich nicht. bitte schreib mir keine nachrichten mehr. das macht es für uns beide nur schwerer. ich hoffe, dass wir irgendwann freunde sein können. mach es gut. leonie.
Freunde sein können – er könnte kotzen. Fick dich, Leonie! Er würde sie und alle Erinnerungen an sie aus seinem Herzen schneiden. Sie hatte jemanden wie ihn überhaupt nicht verdient.
Ich wünsche dir, dass du für immer und ewig unglücklich wirst! Manuel entfuhr ein Schluchzen und er fand sich selbst lächerlich. Ihm war zum Heulen, aber aus ihm kam keine Träne. Nicht mal das ging. Verdammt, Leonie. Es war ein Fehler. Komm zurück, komm bitte zurück.
Sie saß eingeklemmt auf dem Sitz am Fenster, den Rucksack vor sich auf dem Schoß. Der Mann neben ihr hatte die Beine weit gespreizt. Bei jedem Rucken der Straßenbahn spürte Selin, wie sein Knie ihren Oberschenkel berührte. »Können Sie sich mal ein bisschen weniger breitmachen?« Ihre Stimme klang scharf. Der Mann zog eilig seine Beine zusammen und nuschelte etwas Unverständliches.
Selin atmete tief durch. Als Kind war sie für ihre Wutanfälle berüchtigt gewesen. Das Gefühl, dass etwas ungerecht war, hatte sie explodieren lassen wie eine Bombe. Sie schrie und wälzte sich auf dem Boden. Zum Glück ihrer Eltern hatte sich die Phase irgendwann gelegt und die Anfälle waren seltener geworden. Geblieben war aber, dass Selin bis heute jede Form von Ungerechtigkeit nur schwer ertragen konnte. Sich dagegen zu wehren war wie ein innerer Zwang.
Ihr Sitznachbar stand auf, um auszusteigen. Selin atmete auf. Seit der Pandemie fand sie die Nähe zu Fremden oft beklemmend. Dazu kam die Hitze in dem Straßenbahnwagen. Der Rucksack drückte auf ihre Beine und sie spürte, wie das T-Shirt an ihrem Rücken klebte. Beim Packen hatte Defne sie mit ihren neugierigen Fragen gelöchert. »Warum nimmst du das ganze Schminkzeug mit, wenn du eigentlich nur zum Lernen fährst?«
Selin war erleichtert gewesen, als die Tür mit dem Salzteigschild »Hier wohnt Familie Yildiz« hinter ihr ins Schloss fiel. Erleichtert, dass sie rauskam aus der Enge der Dreizimmerwohnung, die sie mit ihren Eltern und ihren Geschwistern Defne und Bilge teilte. Ihre Eltern waren schon okay. Das war nicht der Punkt. Aber sie hatten einfach ganz andere Erwartungen. Sie dachten, dass sie gleich nach dem Abi studieren und Karriere machen würde. Jura, BWL oder noch besser Medizin. Aber Selin wollte nicht studieren. Sie hatte genug von dem ewigen Lernen. Politik, Geschichte, Ethik … Das meiste war einfach nur Hirnwichserei alter weißer Männer. Sie brauchte kein Studium, um zu wissen, dass die Menschheit am Arsch war. Die Gesellschaft musste sich verändern, und zwar radikal.
Selin wollte sich nicht anpassen. Sie wollte ihr eigenes Leben leben, sich engagieren, helfen. Mit oder ohne Philipp. Der überlegte schon seit Ewigkeiten, was er machen solle, und konnte sich nicht entscheiden. Selin hatte sich als Volunteer in einem Geflüchtetencamp in Griechenland beworben. Vor einer Woche kam die Zusage, dass sie im August anfangen könne. Philipp hatte einfach Schiss, aus seiner Komfortzone rauszukommen.
Wer von ihnen war eigentlich auf die Idee gekommen, den Europaplatz als Treffpunkt auszuwählen? Das Einzige, was man sich hier holen konnte, war eine Feinstaublunge.
Philipp scannte den Verkehrsstrom und hielt nach dem VW-Bus Ausschau. Seine Mutter hatte ihn auf dem Weg zur Arbeit hier abgesetzt und er war viel zu früh. Er saß auf dem kleinen Rollkoffer und checkte die Nachrichten auf seinem Handy, während die Passanten an ihm vorbeihasteten.
»Do you need help?« Eine Frau mit Rastalocken und Regenbogenhalstuch war stehen geblieben und lächelte ihn an. Philipp schüttelte den Kopf. »Alles gut. Ich komm klar.«
Im Gruppenchat poppte eine neue Nachricht auf. Von Knut: +10 wg stau. Philipp schaute auf die Uhr: 11.52 h. Er freute sich auf das Wochenende. Auch wenn sie sich schon länger kannten, vor allem Knut und er, als Gruppe waren sie erst in der Oberstufe so richtig zusammengekommen. Und es hatte trotz – oder wegen – der Pärchennummer bisher immer gut funktioniert. Also, mehr oder weniger. Dass Leonie mit Manuel Schluss gemacht hatte, war natürlich Scheiße. Erst große Liebe und dann von einer Sekunde auf die andere alles vorbei. Aber Manuel würde schon drüber hinwegkommen. Nur schade, dass Leonie damit raus war. Zwischen Knut und Esther lief es auch gerade nicht so super. Sie machte dauernd Druck wegen der Zeit nach dem Abi, ihrem Praktikum in New York und sagte, dass Knut auch mal planen müsse. Aber Knut wusste selbst nicht so genau, wie es für ihn weitergehen sollte. Studieren? Jobben? Reisen? Philipp ging es ähnlich und vielleicht würden sie beide ja auch erst ein bisschen um die Welt ziehen. Afrika, Asien, Lateinamerika.
»Wollten wir uns nicht auf der anderen Seite treffen?« Philipp drehte sich um. Hinter ihm stand Selin. Mit dem großen Rucksack auf dem Rücken sah sie irgendwie ganz klein aus.
»Schon möglich, dass du recht hast.« Philipp ging zu ihr und sie küssten sich. »Hi.«
»Hab ich.« Selin deutete auf den Verkehr. »Stadtauswärts gehts in die Richtung. Und Manu ist auch schon da.«
Jetzt erst bemerkte Philipp Manuel, der auf der anderen Seite der Kreuzung stand. Hatte er etwa auch schon die ganze Zeit dort gewartet? Er trat von einem Fuß auf den anderen und rauchte.
»Hey, Manu!«, rief Philipp und winkte. Aber durch den Verkehrslärm hörte Manuel ihn nicht. Vielleicht hatte er auch Kopfhörer drin.
Als Knut den Europaplatz erreichte, standen die anderen schon alle da. Er hupte zweimal kurz, setzte den Warnblinker und hielt auf der rechten Spur.
Manuel, der blass und übernächtigt aussah, witzelte: »Mann, Alter, wir dachten schon, wir müssen laufen.«
Knut und Manuel klatschten sich durchs Fenster ab. »Sorry. Auf dem Ring war ein Unfall. Alles dicht. Ich musste einen Umweg fahren.«
Philipp hatte schon die Heckklappe geöffnet und lud das Gepäck ein.
Esther kletterte auf den Sitz neben Knut, umarmte ihn und drückte ihre Lippen auf seinen Mund. »Auf gehts, Leute, ab ins Boot-Camp!«
Selin rüttelte an der Schiebetür und bekam sie nicht auf.
»Drücken und zur Seite ziehen!«, rief Knut.
Manuel wollte helfen, aber da hatte Selin die Tür schon auf und stieg ein. Lautes Hupen schreckte sie auf. Hinter ihnen drängelte ein Linienbus, der an die Haltestelle fahren wollte. Knut sah im Rückspiegel, wie der Fahrer wild gestikulierte.
»Bin ja schon weg. Reg dich nicht auf, du Arsch!«
Philipp sprang in den Bus und schob schnell die Tür zu. Knut gab Gas, fuhr mit quietschenden Reifen los und fädelte sich in den Verkehr ein. »Alle an Bord?«
Die Antwort von der Rückbank: »Yallah!«
Knut hob grinsend den Daumen und drehte die Musik lauter. Manuel klatschte wie ein durchgeknallter Animator im Takt.
Der Bus fuhr über die Landstraße. Esther hielt den Kopf in den warmen Fahrtwind, der durchs offene Seitenfenster blies. Sie hatten die Stadt hinter sich gelassen. Wald, Felder und Wiesen säumten die Straße. Esther freute sich auf Rehberg, auf das Haus, auf die Zeit mit den anderen. Nur Manuel tat ihr ein bisschen leid. Als Janik, ihre erste große Liebe, sie vor zwei Jahren verlassen hatte, dachte sie, die Welt ginge unter. Sie drehte sich zu Manuel um. »Hat Leonie sich noch mal gemeldet?«
»Nee.« Manuel, der zwischen Philipp und Selin auf der Rückbank saß, schüttelte abfällig den Kopf. »Ist auch besser so.«
Philipp nahm einen Schluck aus seiner Club-Mate. »Schon irgendwie krass. Ihr habt immer so harmonisch gewirkt.« Er warf einen schnellen Seitenblick zu Selin.
Manuel grinste schief. »Waren wir ja auch. Dachte ich. Aber eben nur bis vorgestern.«
»Vielleicht überlegt Leo es sich ja noch mal«, sagte Knut. »Sie ist immer bisschen impulsiv.«
Manuel verzog das Gesicht. »Weiß nicht, ob ich das überhaupt wollen würde. So, wie sie Schluss gemacht hat …«
Selin schaltete sich ein. »Es ist immer Scheiße, wenn man verlassen wird. Aber ein harter Schnitt ist trotzdem besser, als lange drumrumzulabern. Das ist wie Milch, bei der das Mindesthaltbarkeitsdatum abgelaufen ist. Wenn du dir die noch in den Kaffee kippst, wird alles sauer. Besser gleich weg damit.«
Philipp fühlte sich durch Selins Bemerkung selbst angepikst. »Das ist jetzt bestimmt supertröstlich für Manu.«
Esther war es unangenehm, dass das Gespräch sich so entwickelt hatte und plötzlich so eine Spannung da war.
Aber Manuel winkte ab. »Passt schon. Lasst uns einfach nach vorne schauen. Wir haben gesagt, wir machen uns ’n schönes Wochenende. Und das machen wir auch.«
Eine Weile fuhren sie schweigend. Knut konzentrierte sich auf die Straße. Ihm fiel auf, wie viele tote Tiere am Rand lagen. Auf den wenigen Kilometern hatte er schon zwei Katzen, einen Fuchs und ein bis zur Unkenntlichkeit deformiertes Fellbündel gezählt, das ihm seltsam groß erschienen war. Das Navi zeigte an, dass er sich an der nächsten Abzweigung rechts halten sollte.
»Gleich musst du rechts«, sagte Esther.
Knut, der nur darauf gewartet hatte, nickte. »Hab ich im Blick.«
Esther lächelte und legte kurz die Hand auf seinen Oberschenkel. Knut mochte die Art, wie sie ihn berührte. Er mochte es, dass Esther ihre Zuneigung auch körperlich zeigen konnte. Er selbst war da eher gehemmt. In seiner Familie waren sie alle so. Er konnte sich nicht erinnern, wann seine Eltern sich das letzte Mal vor seinen Augen berührt hatten. Kein Kuss, keine Umarmung, keine zärtliche Berührung der Hände. Als Kind hatte seine Mutter ihm manchmal den Kopf gekrault und das Gefühl hatte ihm wohlige Schauer über den Rücken gejagt. Aber irgendwann hatte sie den Körperkontakt eingestellt. Eine kurze Umarmung zur Begrüßung und zum Abschied war das höchste Maß an Intimität. Sein Vater neutralisierte die Geste zudem meist mit einem robusten Klopfen auf die Schulter: ›Machs gut, Junge.‹ Und danach waren alle erleichtert, wieder auf Abstand gehen zu können. Knut empfand sich in seinem eigenen Körper oft als fremd und ungelenk. Als gehöre der eigentlich nicht zu ihm, sondern sei so etwas wie ein Außenposten. Und manchmal hatte er die Sorge, dass er Esther körperlich nicht genug bieten könne. Sie war seine erste Freundin. Esther hatte vor ihm schon andere Beziehungen gehabt. Sie sagte, nur Affären. Aber Knut fühlte sich ihr deswegen trotzdem irgendwie unterlegen. Die Vorstellung, dass sie einen Vergleich hatte, er aber nicht, quälte ihn.
Er nahm die Ausfahrt. Nach ein paar Hundert Metern kam eine Parkbucht. In der Einfahrt stand ein Anhalter und streckte den Daumen raus.
Knut deutete auf ihn. »Sollen wir den mitnehmen?«
Die anderen reckten die Köpfe.
»Nur, wenn er gut aussieht«, scherzte Esther.
Alle Blicke gingen auf den Anhalter. Ein junger Typ in Trainingsjacke und Cargo-Hosen mit einer schwarzen Tasche über der Schulter.
»Ich weiß ja nicht …«, meinte Philipp unschlüssig.
Aber da hatte Knut schon das Steuer rumgerissen. Der Bus bog in letzter Sekunde in die Parkbucht ein und bremste ab.
Der Anhalter hatte dünnes strähniges Haar. Seine Gesichtshaut sah blass und durchlässig aus, wie Porzellan. Selin fand ihn auf Anhieb unsympathisch. Nachdem er gefragt hatte, in welche Richtung sie fuhren, öffnete er die Seitentür. Selin machte ihm Platz und wechselte nach vorne zu Esther. Der Anhalter setzte sich neben Manuel und Philipp auf die Rückbank. »Cool, dass ihr mich mitnehmt.«
»Kein Ding.« Knut fuhr aus der Parkbucht zurück auf die Straße.
Selin öffnete das Seitenfenster ein Stück weiter. Ihr war, als könne sie den Atem des Anhalters in ihrem Nacken spüren. Er beugte sich vor und kramte etwas aus der Tasche zwischen seinen Füßen. Eine Dose Monster Energy. Als er sie öffnete, spritzte die Flüssigkeit heraus und tropfte auf den Sitz. Selin sah, wie Knut in den Rückspiegel schaute und missbilligend die Stirn runzelte.
»Und du willst also nach Frankfurt?« Manuel versuchte Konversation zu machen.
»Ich hab nicht gesagt, dass ich nach Frankfurt will«, sagte der Anhalter. »Ich hab gesagt: ›Richtung Frankfurt.‹«
Erneutes Schweigen. Nur unterbrochen von dem lauten Schlürfen, das der Typ beim Trinken machte. Selin schaute zu Esther. Sie sah ihr an, dass ihr die Situation ebenfalls unangenehm war.
Schließlich verzog der Anhalter das Gesicht zu einer schiefen Grimasse: »Und ihr? Wo fahrt ihr hin?«
»Sagt dir Rehberg was?«, fragte Esther.
Ende der Leseprobe