Wein Zeit Mensch - Uwe Geilert - E-Book

Wein Zeit Mensch E-Book

Uwe Geilert

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Beschreibung

Der Mensch hat es weit gebracht, seit er das Jagen und Sammeln an das Horn einer Trophäe hängte und sich einen festen Wohnsitz nahm. Hier beginnt die Geschichte des Weins, denn ohne Sesshaftigkeit gäbe es ihn nicht. Doch ein Wanderer ist der Mensch geblieben, als Entdecker, Eroberer, Flüchtling, Gastarbeiter, Krieger, Landnehmer, Missionar, Pilger oder Vertriebener. Den Wein nahm er mit, von seinem Ursprung im Zweistromland in den Mittelmeerraum, nach Europa und nach Übersee. Die Rebe hat es weit gebracht. Sie wurde verbreitet, vermehrt, veredelt, gekreuzt und geklont Sie erkrankte lebensgefährlich durch Schädlingsbefall, wurde gehegt und gepflegt. Ihr Anbaugebiet dehnte sich aus und schrumpfte mit den klimatischen Veränderungen. Mensch und Wein bilden eine Symbiose. Sie gehören zusammen.

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Der Mensch hat es weit gebracht, seitdem er das Jagen und Sammeln an das Horn einer Trophäe hängte und sich einen festen Wohnsitz nahm. Hier beginnt die Geschichte des Weins, denn ohne Sesshaftigkeit gäbe es ihn nicht. Doch ein Wanderer ist der Mensch geblieben, als Entdecker, Eroberer, Flüchtling, Gastarbeiter, Krieger, Landnehmer, Missionar, Pilger oder Vertriebener. Den Wein nahm er mit, von seinem Ursprung im Zweistromland in den Mittelmeerraum, nach Europa und nach Übersee.

Die Rebe hat es weit gebracht. Sie wurde verbreitet, vermehrt, veredelt, gekreuzt und geklont. Sie erkrankte lebensgefährlich durch Schädlingsbefall, wurde gehegt und gepflegt. Ihr Anbaugebiet dehnte sich aus und schrumpfte mit den klimatischen Veränderungen.

Mensch und Wein bilden eine Symbiose.

Sie gehören zusammen.

für Ute mit ganz liebem Dank für Unterstützung und Nachsicht, Geduld und fachfraulichen Rat.

Inhalt

Kapitel 1

Höhlenmenschen in der »Vor-Weinzeit«

Klimawandel

Der Zeitstrahl

Die Zeitrechnung

Wanderung

Der ganz besondere Saft

Kapitel 2 Die Antike

Der Ursprung

Zum Wein

Kapitel 3 Verbreitung des Weins

Persien

Die nördliche und die südliche Route

Die Levante

Ägypten

Kreta

Griechenland

Neuordnung im Mittelmeerraum

Die große griechische Kolonisation

Etrurien

Rom und der Ausbruch des Vesuvs

Hispania

Gallien

Ausbreitung des Weinbaus, Karte

Tabelle: Geschichte des Weinbaus

Rebsorten der Antike

Kelterung und Werkzeuge

Hefe und Gärung

Weinkonsum im alten Rom

Mythologische Bedeutung

Schnitt

In Vino Veritas

Kapitel 4 Das Mittelalter

Das Mittelalter, was ist das?

Der Übergang von der Antike zum Mittelalter

Christianisierung

Karl der Große

Die Klöster

Weltliche Fürsten

Sozialstruktur

Ausweitung von Produktion und Handel

Zinsverbot

Essgewohnheiten

Das Bier

Weinbaugebiete im nördlichen Europa

Zeiten des Mangels

Ritter und Kreuzzüge

Der Heilige Gral

Der Übergang zum Spätmittelalter

Das Spätmittelalter

Kapitel 5 Die Neuzeit

Die kleine Eiszeit

Frankreich

Bordeaux

Dijon und die Bourgogne

Die Champagner Story

Alsace - Elsass

Touraine

Gascogne

Italien

Marsala und Sizilien

Apulien

Toskana

Piemont

Lombardei

Venetien und Friaul

Südtirol

Spanien

Jerez de la Frontera

Málaga

Der Osborne Stier

Cava

Logroño

Toledo

Portugal

Die Korkeiche

Portwein

Die Balkanhalbinsel

Weinbau in Südosteuropa

Österreich

Griechenland

Retsina

Zypern

Malta

Schweiz

Türkei

Deutschland

Nürnberg

Regensburg

Landshut

Der Bauernkrieg

Die Mosel und der Riesling

Die Besenwirtschaft

Kapitel 6 Verbreitung des Weins nach Übersee

1504 - Mexiko

1516 - Argentinien

1532 - Brasilien

1541 - Chile

1547 - Peru

1562 - Vereinigte Staaten von Amerika

Transcontinental Railway

Zinfandel

Prohibition

1650 - Uruguay

1652 - Südafrika

»Schwarzer Wein« für das Weiße Haus

1788 - Australien

1819 - Neuseeland

Kapitel 7 Europa

Weinrecht von der Antike bis zur EU

Die Reblauskatastrophe

Weinflaschen

Flaschenverschlüsse

Kapitel 8 Welt

Stammbaum der Weinrebe

Autochthone Reben

Koscherer Wein

Weinhefen

Edelstahltanks

Weinetiketten

Terroir

Fliegende Önologen

Nachhaltiger Weinbau

CO

2

Fußabdruck

Sammeln und Lagern

Synthetischer Wein

Wein in unserem Körper

Die Weinwelt in Zahlen

Ende der Zeitreise

Kapitel 1

Bedeutsame Veränderungen im sozialen Verhalten erfolgen nicht in Zeiten der Fülle, sondern des Mangels.

Höhlenmenschen in der »Vor-Weinzeit«

»Diesen Spanier musst du probieren!«

Meine Frau reicht mir ein Glas Rotwein, den sie just aus einem Karton gezapft hatte, einer »Bag-in-Box«. Ich stecke meine Nase in das Glas und studiere über seinen Rand hinweg die Angaben. Rebenreiner Monastrell aus Murcia mit 14% Alkohol, Bio-Anbau mit europäischem und spanischem Ökologie-Zertifikat, bestätigte Herkunft. Sattes Rubin.

Dann stutze ich. Die Dekoration auf dem Karton kommt mir bekannt vor. Eine Jagdszene im Stil der Höhlenmaler. Links zielen drei Männer mit Pfeil und Bogen auf Antilopen. Ich blättere durch meine Bücher und werde fündig. Das Motiv ist einer Felszeichnung in der Altamira-Höhle verblüffend ähnlich. Eine kreative Idee des Etikettendesigners.

Das Original ist weit über 10 000 Jahre alt. Will uns der Winzer weismachen, die spanische Weintradition reiche bis in die Zeit der Steinzeitmenschen zurück, bevor die Iberer und Kelten auftauchten? Sicher nicht, denn geologische Funde haben solches nicht bestätigt. Zumal Murcia im Süden Spaniens liegt, zwischen Valencia und Andalusien, Altamira jedoch an der kühlen und stürmischen Biskayaküste, mehr als 800 km nördlich, nicht wirklich eine Weingegend.

Die Höhle liegt nicht weit von Santander und war fünftausend Jahre lang von unseren Vorfahren benutzt worden, wahrscheinlich von etwa 16 000 v. Chr. bis 11 000 v. Chr. Dann muss der Eingang eingestürzt sein. So sagt die Wissenschaft. Seitdem war sie vergessen. Ein Jäger entdeckt den verschütteten Höheneingang erst 1868 durch den Zufall, dass sein Hund verschwunden war und er nach ihm suchte.

Heute steht sie auf der Welterbeliste der UNESCO. Leider ist sie Touristen seit 1979 nicht mehr zugänglich, weil die feuchtwarme Atemluft der Besucher und eingeschleppte Mikroorganismen auf den Felsbildern Schimmel und Beschädigung verursachten. Als Ausgleich wurde ein Teil der Höhle neben dem ursprünglichen Eingang in einer Halle für die Besichtigung rekonstruiert.

Es wird angenommen, dass der Einsturz des Höhleneingangs auf den zurückgehenden Permafrost in der kantabrischen Kordillere zurückzuführen ist, denn diese Epoche fällt zusammen mit dem Ende der großen Eiszeit. Eine bedeutsame Klimaänderung auf unserem blauen Planeten lässt die Temperaturen allgemein steigen. In ganz Europa befindet sich die Gletscherschmelze auf ihrem Höhepunkt.

Von nun an verbessern sich die Lebensumstände für Flora und Fauna. Die Kultur der Jäger und Sammler blüht auf, ihre Anzahl wird allmählich größer, ebenso ihr Nahrungsbedarf. Stetig müssen sie ihre Jagd- und Sammelreviere ausdehnen. Schließlich werden sie so zahlreich, dass der Bedarf an Zeit und Energie für die Beschaffung von Nahrung zu groß wird, um noch genügend Lebensmittel in die Höhlen zu bringen und den wartenden Anhang füttern zu können. Man muss sich etwas einfallen lassen.

Im Vergleich zu reinen Pflanzen- und Fleischfressern hat sich der Primat Mensch in seiner Entwicklung auf Mischkost eingestellt. Das Angebot ist breiter und krisensicherer. Aufgrund seiner größeren Population ist die Krise nun doch eingetreten. Er spürt das eherne Naturgesetz: Nur wer sich anpasst, überlebt. In der neuen, ungewohnten Mangelsituation entwickelt der Steinzeitmensch zwei Strategien.

1. Die Nomaden

In der Halbwüste Kalahari (Südafrika, Botswana, Namibia) traf ich auf Buschmänner, das Völkchen der San. Diese stolzen und freiheitsliebenden Menschen eröffneten mir einen winzigen Blick in unsere Vergangenheit. Die Verwandtschaft der San mit uns ist durch DNA-Analysen gesichert.

Drei Stärken haben ihr Überleben ermöglicht:

ihre Begabung zur Ausdauerjagd,

ihre tiefe Kenntnis der Natur und ihr Respekt vor ihr,

ihre hoch entwickelte Erzählkunst.

Sie folgten dem Wild auf seinen großen Wanderungen zu den besseren Weidegründen, beobachteten es genau und jagten soviel wie sie gerade benötigten. Kam die Zeit zum Weiterziehen, packten sie ihre einfachen Zelthütten aus Tierhäuten zusammen und machten sich auf den Weg. Archäologische Funde beweisen, dass sich ihr Lebensraum vom Kap bis nach Ostafrika erstreckte. Auch hier im südlichen Afrika erzählen die Höhlen, in denen sie Schutz fanden, von ihrem Leben. Sie sind mit Malereien geschmückt, die auf bis zu 26 000 Jahren Alter datiert werden.

In Südafrika können beispielsweise im Oranje-Freistaat und in den Cederbergen zahlreiche Höhlenmalereien besichtigt werden. Sie befinden sich völlig ungeschützt im Hügelland, in Tälern oder auf dem Gelände von Farmen. Dem günstigen Klima sei gedankt, dass die Höhlen so gut erhalten sind, dass man sofort einziehen könnte.

Nach dem Ende der letzten Eiszeit dehnen sich die tropischen Regionen Afrikas allmählich weit nach Norden aus. Die Sahara ist fruchtbare Savanne mit reichhaltiger Flora und Fauna. Jäger und Sammler folgen dem Angebot an Beute. Immer wieder halten sie ihre Erlebnisse in Bildern fest. Felszeichnungen, Ritzungen und Gravuren stellen alle uns bekannten afrikanischen Wildtiere von der Giraffe bis zum Krokodil dar. Dazwischen finden sich Selbstdarstellungen bei der Jagd oder beim Tanz ums Lagerfeuer.

Es muss ihnen gut gegangen sein. Wild, Wasser und Früchte waren ausreichend vorhanden, mehr als nur zu überleben. Sie hatten sogar die Muße, ihre Farben aus Tierblut, Holzkohle, Tierfett und Wasser zuzubereiten und ihre Wohnhöhlen zu dekorieren.

Durch spätere Klimaschwankungen gehen die Niederschläge wieder zurück, die Lebensgrundlage ist weg, und sie verlassen ihre Höhlen. Ein Teil von ihnen zieht sich nach Süden zurück, darunter die San, die sich dank ihrer Zähigkeit anderen Stämmen gegenüber bis zur Kolonisierung des südlichen Afrikas behaupten.

Der andere Teil zieht nach Norden und Osten. Viele schaffen es bis an den Nil. Vermutlich wird daraufhin der Bevölkerungsdruck dort so groß, dass Gruppen von ihnen dem Strom flussabwärts folgen und in Richtung Vorderasien trecken.

Einige von ihnen kommen nach dem derzeitigen Stand der Erkenntnisse schließlich ins fruchtbare Zweistromland zwischen Euphrat und Tigris. Sie müssen die Bedingungen von Land und Klima so einladend gefunden haben, dass sie sesshaft werden. Sie waren »angekommen«. Es könnte sein, dass sich der Begriff »Paradies« von da an ins menschliche Tiefenbewusstsein eingegraben hat.

Von den San sind heute in Afrika nur noch Splittergruppen übrig. Sie werden ab dem 2. Jahrtausend v. Chr. von den Völkern der Bantu, deren Urheimat im heutigen Nigeria liegt, nach Südafrika, Botswana, Namibia, Angola, Sambia und Simbabwe zurückgedrängt.

Heute bilden sie kleine Minderheiten, meist Farmarbeiter. Die wenigen, die bis heute ihre ursprüngliche Lebensform beibehalten, dienen häufig dem Tourismus als Sehenswürdigkeit. Ihre archaischen Lebensräume sind durch Eisenbahnen, Straßen, Siedlungen und eingezäuntes Farmland auf ein Minimum reduziert. Ihren Traditionen wird heute eher musealer Wert zuerkannt. Die jeweiligen Regierungen bemühen sich, sie mehr oder weniger druckvoll in unsere moderne Gesellschaft zu integrieren, was häufig misslingt. Sie scheinen hier keinen Platz mehr zu haben, im doppelten Sinn des Wortes.

Die San und ihre Verwandten in anderen Erdteilen gehören eindeutig in die »Vor-Weinzeit«. Alkoholische Getränke waren nicht auf ihrem Speiseplan - bis der weiße Mann kam und ihr Leben gründlich umkrempelte. Alkohol dient den Ureinwohnern heute oft dazu, die ihnen freundlicherweise aufgedrängten »Segnungen« des weißen Mannes im Rausch zu ertränken. Eines Tages werden wir uns nur noch im Museum oder in der Literatur an sie erinnern können, an die freien Jäger und Sammler.

Sie sind die ältesten, noch lebenden Zeugen für die großen Wanderungsbewegungen in allen Kontinenten. Ihre Verwandten im Norden Afrikas sind es, die zusammen mit anderen den Grundstein zur Sesshaftigkeit und damit zum Weinbau legen.

2. Die Sesshaften

Wie gesagt: Das bisherige Sammeln und Jagen reicht nicht mehr zur Ernährung. Wo die Umstände besonders günstig sind, greift die andere Strategie, die ab ca. 10 000 v. Chr. einen Epochenwechsel einleitet. Die Sesshaften ziehen nicht mehr der Nahrung hinterher, sondern setzen sich mit ihrem Umfeld auseinander. Sie beginnen mit Ackerbau und Viehhaltung und entwickeln es zum Erfolgsmodell. Der australische Archäologe Vere G. Childe prägt dafür 1936 den Begriff der »Neolithischen Revolution«. Ein großes Wort. Es klingt fast wie Umsturz, Aufstand. Warum bei Jupiter vergehen dann aber noch über 5000 Jahre bis zur ersten Herstellung von Wein?

Der Wandel vollzieht sich eher sehr langsam. Schritt für Schritt bessern die ersten Sammler und Jäger ihren Speiseplan durch eigenen Anbau auf. Sie beobachten, lernen und üben. Es gibt Rückschläge. Die richtigen Werkzeuge fehlen ihnen, da muss improvisiert werden, denn Baumärkte mit Abteilung Gartenbau sind noch eine ganze Weile hin.

Das Verhältnis von Viehhaltung und Anbau zu Jagen und Sammeln verschiebt sich nur allmählich, je nach der Ergiebigkeit und dem Klima der Umgebung, maßgeblich in der fruchtbaren Gegend Mesopotamiens. Die ersten Gesellschaften geben bald die Wildbeuterei völlig auf. Sie wählen Siedlungsplätze und erwerben ihren Lebensunterhalt überwiegend durch Ackerbau, Viehzucht und Hirtenwesen. Die Sterblichkeit geht zurück, die Bevölkerung nimmt zu, und der Nahrungsbedarf steigt. Da braucht man regelmäßige Versorgung mit Lebensmitteln. Jetzt dient die Jagd nur noch zur Ergänzung des Speiseangebots.

Der Weinbau ist eine Zugabe der Natur, quasi die Nachspeise, doch vorerst nur im vorderen Orient. Denn die Ur-Rebe, die Ahnin der vitis vinifera ist nur im Gebiet des südlichen Kaukasus belegt. Von hier aus nimmt ihre erstaunliche Verbreitung ihren Anfang.

Fast gleichzeitig findet der Wandel zur Sesshaftigkeit auch in Südchina und Mittelamerika statt, während Süd- und Mitteleuropa erst ab 7 000 v. Chr. folgen. In einigen Gebieten Mittelamerikas setzt diese Entwicklung sogar erst ab etwa 5 000 v. Chr. ein.

Allerdings fällt die Neolithische Revolution nicht überall auf unserem Planeten auf »fruchtbaren Boden«. In arktischen Regionen, in Nordrussland und im Tropenwald-Gürtel treffen wir noch heute auf Jäger und Sammler.

Klimawandel

Wetter ist nicht Klima! Während der Meteorologe mit seiner Lupe Blick in die nächste Woche blinzelt, guckt der Klimaforscher mit dem Fernglas tausende von Jahren zurück, um eine intelligente Prognose für die nächsten hundert Jahre zu erstellen. Mit Hilfe der Radiokarbonmethode, der Analyse von Eisbohrkernen und Fossilien, Blütenpollen und Muschelschalen werden Temperaturmodelle entworfen. Je nach Gesichtspunkt weichen die stark von einander ab. Sie sind nicht für den gesamten Planeten einheitlich gültig, sondern variieren von Kontinent zu Kontinent und nach jeweiliger geografischer Breite.

Filtert man die örtliche Grundtemperatur heraus, ergibt sich eine Rekonstruktion der Temperaturschwankungen, der Veränderung rauf oder runter, zum Angenehmen oder zum Unangenehmen für den jeweils betroffenen Lebensraum.

Es ist ein Unterschied, ob sich ein bestimmtes Lebensumfeld anhaltend von zum Beispiel zwölf auf zehn Grad abkühlt oder von zwanzig auf zweiundzwanzig Grad erwärmt. Für den Menschen, der von seiner unmittelbaren Umgebung abhängig ist, können anhaltend fallende Temperaturen sogar Anlass sein, seinen Wohnort zu verlassen. Die Wanderung in Warmgebiete wird zur Überlebensstrategie. Die große Keltenwanderung ab dem 5. Jh. v. Chr. und die europäische Völkerwanderung ab ungefähr dem 4. Jh. n. Chr. lassen sich damit teilweise erklären. Die Welt ist noch dünn besiedelt. Reisepässe, Landesgrenzen mit Passkontrollen gibt es nicht. Man zieht einfach los. Und heute? Stellen wir uns vor, unser heimisches Klima würde sich um zwei Grad abkühlen ... Wohin dann?

Fort zu ziehen ist immer eine große Entscheidung. Beginnende Not, wachsender Hunger und zunehmende Kälte über längere Zeit sind Antrieb genug. Auf ihrem Weg treffen die Migranten in ihren Durchzugsgebieten auf den Widerstand derer, die geblieben sind. Es kommt zu Verdrängung, Kampf und Raub, siehe die Plünderung Roms 410 durch die Goten, die - einst im Ostseeraum zuhause - mit Kind und Kegel, Rind und Schaf und ihrer gesamten Habe nach Süden zogen,.

Die Liste der wandernden Völker ist lang: Hunnen, Sueben, Langobarden, Vandalen, Franken, Alemannen, Sachsen, Boier, Angeln, Alanen, Markomannen und andere mehr. Manche Völker wandern geschlossen. Oft sind es kleine Gruppen, die sich anderen anschließen. Verbände bilden sich und lösen sich wieder auf. Einige entscheiden sich, zu bleiben, andere ziehen weiter, wieder andere gehen in ihren Gastgesellschaften auf und ihre Spur verliert sich völlig.

Das angenehme Gegenteil ist die Erwärmung des Klimas. Der Mensch genießt den Überfluss der Natur. Die elementare Ernährung erfordert weniger Zeit. Er beginnt, die Natur zu beobachten, seine Gebrauchsgegenstände zu verzieren, seine Höhle zu schmücken und er schafft sich Annehmlichkeiten. Es ist die Geburtsstunde der Kunst und der Ansammlung von Erfahrung und Wissen.

Der Kalender

Wandern wir noch einmal in die Altamira-Höhle zurück. Ihr Speiseplan enthält, was den jagenden Männern vor Pfeil und Bogen kommt und was die sammelnden Frauen an Beeren und Früchten von den wilden Stauden und Büschen pflücken. Wein ganz sicher nicht. Im Winter essen sie Getrocknetes und zehren die in der üppigen Jahreszeit angefutterten Reserven ihres Körpers auf. Sie haben bereits Macht über das Feuer und können sich in ihrer Höhle wärmen. Im flackernden Halbdunkel beginnen sie, Bilder an die Felswände zu malen, die uns von der Jagd und Beutetieren berichten. Allerdings, von Hunger, Kälte, Krankheit und dem vorzeitigen Tod ihrer Kinder erzählen die Bilder nichts.

Sie waren unsere Urahnen, unsere sehr fernen Verwandten. Was wir heute tun, baut auf ihre Erfahrungen, ihre Fehlern und ihre Erfolge. Sie leben auf demselben Zeitstrahl wie wir heute, der mit dem Urknall beginnt und sich im Unendlichen verliert. Gibt es die »Unendlichkeit«? Gegebenenfalls für die kleinen, dummen Atome. Alles ist endlich, selbst unser Universum. Doch das Ende können wir nicht einmal erahnen. Astronomen erwarten, dass große Teile unseres Universums dereinst in ein Schwarzes Loch gesaugt werden und sich auf die Größe eines Tennisballs verdichten. Dann ist alles vorbei. Bis der Tennisball wieder explodiert. Dann beginnt alles von vorn.

Wir Menschen versuchen, uns durch Religionen Antworten auf die Frage nach dem Ende der Welt zu geben. Da ist der Begriff des Jüngsten Gerichts, des Tages der großen Abrechnung. Einige erwartet dann angeblich das ewige Leben, anderen droht das ewige Fegefeuer. Doch astrophysisch gesehen müsste die Veranstaltung mit Präsident, Beisitzern, Angeklagten, Klägern und Verteidigern dereinst im Schwarzen Loch verschwinden. Jetzt wird es philosophisch.

Wenden wir uns einmal dem Anfang zu. Entsprechend dem Standardmodell der Kosmologen beginnt alles mit dem Urknall vor 14 Milliarden Jahren, dem Big Bang. Unser Tennisball aus Materie explodiert, und in der sich schnell ausdehnenden Gaswolke bildet sich wieder Materie. Es formen sich Moleküle, Mineralbrocken, die Metalle, Sterne, Galaxien, Sonnen und Planeten ganz unterschiedlicher Größe, die in Gravitationsfeldern umeinander wirbeln.

In diesem Zusammenspiel ist unsere Erde etwas ganz besonderes. Langsam kühlt sich der Mantel ihres schmelzflüssigen Kerns ab. Beharrlich kreist sie um ihren Heizkörper Sonne, ohne ihm zu nahe zu kommen und sichert sich dadurch eine mittlere Temperatur von 15° Celsius, bei der sich biologisches Leben bilden kann. Im ansonsten lebensfeindlichen Universum ist das eine Rarität!

Das allerbeste jedoch ist unser Trabant. Die Erde und der Mond ziehen einander an. Da sie aber umeinander kreisen, hält sie die Fliehkraft auf Distanz, und der Mond stürzt nicht auf die Erde. Wie ein Tanzpaar auf dem Eis, das sich an den Händen hält, drehen sie ihre ewige Pirouette um die Sonne. Ihre gemeinsame Drehachse ist dabei leicht geneigt und taumelt nicht unkontrolliert im Raum. Dabei wendet die Erde der Sonne stets den Äquator zu, genau gesagt, den Streifen zwischen den beiden Wendekreisen. Durch dieses Phänomen entstehen die stabilen Klimazonen von den vereisten Polkappen bis zu den warmen Zonen am Äquator. Weil der Massenschwerpunkt des Mondes nicht im Zentrum der Mondkugel liegt, zieht die Erde die schwerere Seite an, und er zeigt uns immer sein »Gesicht«. Das bedeutet, der Mond rotiert einmal pro Erdumdrehung um seine eigene Achse, eine weitere Stabilisierung des Brummkreisels.

Die Rotation der Erde um ihre eigene Achse lässt Tag und Nacht aufeinander folgen, und die Schrägstellung der Erdachse um 23° zur Umlaufbahn um die Sonne beschert uns die vier Jahreszeiten.

Das biologische Leben auf unserem Planeten pulsiert also. Die drei Rhythmen 24 Stunden, 29 Tage und 365 Tage überlagern sich und bestimmen die Evolution. In der Natur bilden sich die Phasen des Wachstums, der Blüte, der Vermehrung, der Reife, des Verzehrs, des Rückbaus, der Ruhe und des Aufbrauchens von Reserven aus. Was keine Reserven hat, stirbt. Knallharte biologische Auswahl.

Für uns Menschen ist der Mond der scheinbar größte sichtbare Himmelskörper. Er strahlt kein eigenes Licht aus, sondern reflektiert das Sonnenlicht ins schwarze Weltall. Nur einmal in etwa 29 Tagen strahlt sein voller Durchmesser, wenn nämlich die Erde zwischen Mond und Sonne steht. Dann ist Vollmond. Für die steinzeitlichen Jäger ist der Mond mit seinen monatlichen Phasen sicher von großer Bedeutung für die nächtliche Jagd, für die Küstenbewohner sind es die täglichen Gezeiten für den Fischfang.

Mit Beginn des Ackerbaus werden allerdings die genauen Termine für Aussaat und Ernte wichtiger als die Mondphasen. Die Himmelsbeobachtung fokussiert sich daher auf die Sonne, denn aus ihrer Höhe über dem Horizont lassen sich die Jahreszeiten einteilen. Die Heliometrie unternimmt erste zaghaft Gehversuche und gewinnt langsam an Präzision. Durch Peilen und Zählen wird der Kalender entwickelt.

Ein paar Beispiele:

Auf etwa 3000 v. Chr. wird der Baubeginn der Anlage von Stonehenge datiert, der »hängenden Steine«. Ihre Positionen sind nach der Sonnenwende und der Tagundnachtgleiche angeordnet.

Die Sonnenscheibe von Nebra in Sachsen-Anhalt stammt aus der Bronzezeit um 2000 v. Chr. und wurde vermutlich auf die höchste Erhebung der Gegend ausgerichtet, den Brocken im Harz. Durch das Anpeilen der Sonne beim Durchschneiden des Horizonts ergeben sich feste Daten im Jahresablauf.

Aus der gleichen Zeit, nämlich um 1400 v. Chr., entstehen der Sonnenwagen im dänischen Trundholm und die Sonnenscheibe von Moordorf im ostfriesischen Torfgebiet.

Im 13. Jh. v. Chr. lässt Ramses II. an der Grenze zum tributpflichtigen Nubien (etwa Sudan) nahe dem heutigen Dorf Abu Simbel am Westufer des Nils einen Respekt heischenden Tempel tief in den Fels treiben. Zweimal im Jahr findet das »Sonnenwunder« von Abu Simbel statt. Um den 21. Februar und den 21. Oktober strahlt das Sonnenlicht für etwa 20 Minuten bis in die hinterste Kammer der Tempelanlage und beleuchtet dort aufgestellte Statuen. Diese beiden Daten markieren den altägyptischen Frühlings- und Herbstbeginn.

Einen Tagesausflug mit der Bahn von Cuzco entfernt liegt die von den Inka vermutlich um 1440 unserer Zeit in 2400 Metern Höhe errichtete Bergstadt Machu Picchu. Auf einem freien Platz mitten in der Anlage steht der Sonnestein, den sie Intihuatana nennen, und mit dem sie durch Anpeilung bestimmter Landmarken den Sonnenstand bestimmen können.

Die Germanen nennen unseren Trabanten Mond (dt.), Månen (dän.), Maand (ndl.), Moon (engl.) oder Mâne (mhd.) und leiten den Begriff Monat von ihm ab. In den romanischen Sprachen heißt er luna. Von Neumond zu Neumond braucht unser Trabant 29,53 Tage. Zwölf Umläufe bringen also 354 Tage, elf Tage weniger als das Sonnenjahr! Die Jahreszeiten, also auch Aussaat und Ernte hängen jedoch von der Sonne ab. Es erscheint unverständlich, dass es den Lunarkalender heute noch gibt, wie im Islam. Mohammeds erlässt diese Verordnung, als die Juden bereits seit langem den kombinierten Lunisolarkalender und die Christen ihren reinen Solarkalender benutzen. Zu erklären ist das wohl nur mit der besonderen Funktion eines Wegweisers für das tägliche Leben.

Zahlreiche esoterische Veröffentlichungen suggerieren sogar eine Verbindung zwischen den vier Mondphasen und bestimmten Lebensabläufen wie Schlaf, Haarwachstum, Gang zum Friseur, Fruchtbarkeit, Geburten, Examina, Unfallhäufung und andere. Sie beabsichtigen damit gewissermaßen, die Existenz eines »Lunaren Biorhythmus« zu belegen. Doch Gemach! Keine dieser Behauptungen ist durch Studien nachgewiesen worden, sie gelten ergo als wissenschaftlich widerlegt. Sie gehören in den Bereich der Horoskopschreiber.

Die Zeitrechnung

Zurück zum Anfang! Die Galaxie, zu der wir gehören, wird mit dem Urknall vor 14 Mrd. Jahren geboren. Richtigerweise sollte es der »Urblitz« heißen. Im All gibt es keinen Schall. Es fehlt die Luft, um die Schwingungen fortzutragen. Seit dieser »Stunde Null« tickt unsere Uhr, läuft die Zeit, die sich im Unendlichen verliert, von der wir aber nicht wissen, wie lange sie noch dauert.

Auf diesem Zeitstrahl entfaltet sich irgendwann die Epoche menschlichen Lebens. Sie misst etwa ein Millionstel der Zeitstrecke bis heute und wäre auf einem Maßband nur mit Mühe wiederzufinden. Man könnte die Zeitspanne unserer Existenz mit einem kleinen Falter vergleichen, der durch den Lichtstrahl fliegt, kurz aufleuchtet und wieder verschwindet.

Mit der Entstehung der Hochkulturen bildet sich bei den Zeitgenossen ein Geschichtsbewusstsein, das Gefühl, zu etwas zu gehören, das man mitprägt. Vor dem Dunkel der Vergangenheit hebt sich die gelebte Gegenwart Jahr für Jahr, Generation für Generation sichtbar und messbar ab. Das Geschehen wird dokumentiert, kommentiert und verglichen. Wir entwickeln die Zeitrechnung, die sich in Epochen wiederfindet. Der Beginn einer Epoche ist häufig ein Ereignis, eine Reichsgründung, eine Religionsstiftung oder gar eine Revolution. Große Epochen legen sich eine eigene Zeitrechnung zu.

Hier ein Vergleich:

2014 ist das Jahr, in dem meine Tastatur klappert.

5774 ist dieses Jahr in der Jüdischen Zeitrechnung,

2766 schrieben die Römer, existierte das Imperium noch.

1730 ist jetzt das Jahr der Kopten.

1436 heißt dieses Jahr im Islam und

222 wäre das Jahr im französischen Revolutionskalender.

Zeitrechnungen entstanden und verschwanden. Die christlichabendländische Zeitrechnung hat sich allen anderen gegenüber weltweit durchgesetzt. Man schaue nur auf Datum und Jahr rechts unten auf der Fußleiste des Bildschirms. Globalisierung administrativ!

Da wir hier über Wein reden, schaffen wir uns einen eigenen Zeitstrahl. Kühn wählen wir das Ende der Eiszeit und den Beginn der »Neolithischen Revolution« 10 000 v. Chr. als unser »Ereignis«, das den Weinbau ursächlich erst möglich machte.

Und schon haben wir ein Dilemma. Die Entwicklung ist alles andere als Synchronschwimmen. In Mesopotamien werden bereits am Beginn unseres Zeitstrahls landwirtschaftliche Tätigkeiten archäologisch nachgewiesen. Dennoch vergehen bis zum Anbau von Reben noch 5000 Jahre. Es entstehen bedeutende Städte. Aus Vorkulturen entsteht das Reich der Sumerer. Am Nil erscheint um 4000 v. Chr. die älteste bekannte Kultur mit sesshafter Lebensweise, die Badari-Kultur. An sie schließt sich die Naqada-Kultur an, die Vorläuferin des späteren Ägyptischen Reiches. Die verschiedenen Völker entwickeln eigene Methoden der Beobachtung der Himmelskörper und der Festlegung der Jahreszeiten.

In Mitteleuropa mit seinem kühleren Klima ist der Fortschritt geruhsamer. In Sachsen-Anhalt wird »erst« um das Jahr 1600 v. Chr. eine metallene Scheibe zur Beobachtung der Gestirne benutzt, die bereits erwähnte Sonnenscheibe von Nebra. In Skandinavien entsteht auf den eisfreien Flächen eine neue Flora und Fauna. Bewaldung setzt ein, wodurch vermehrt Brennmaterial verfügbar ist, was auch die Herstellung von Tongefäßen begünstigt. Kleineres Wild als zur Eiszeit erfordert neue Jagdtechniken. Pfeilspitzen aus Stein und Steinmesser kommen auf.

Das Auftauchen der Bandkeramik kennzeichnet in Mitteleuropa um 5000 v. Chr. den Übergang zur Jungsteinzeit (Neolithikum). Ab ca. 3000 v. Chr. spricht man von der Metallzeit. Unser Hauptzeuge ist Herr Ötzi, der ein perfekt erhaltenes Kupferbeil bei sich trug.

Die neolithische Revolution hat eine weitere Bedeutung für das Ökosystem Erde. Der Mensch löst sich aus der Umklammerung der Natur. Durch Brandrodung schafft er sich neue Lebensräume, deren Regeln er mehr und mehr zu bestimmen beginnt. Er schafft sich Enklaven in der ihn umgebenden wilden, oft feindlichen Natur.

Heute dagegen - 12 000 Jahre später - schafft er Reservate innerhalb der von ihm beherrschten Umgebung, um die Natur zu erhalten. Natur als lebendes Museum. Es gehört zum guten Ton eines modernen Staates, Nationalparks großer Namen einzurichten und zu pflegen. Serengeti, Tsavo, Mara Mara, Yellowstone, Krüger Nationalpark, Hohe Tauern, Iguazú, um nur wenige zu nennen. Die meisten liegen jedoch außerhalb der landwirtschaftlich nutzbaren Flächen in steinigen, alpinen, trockenen, semiariden oder urwaldähnlichen Landschaften, so dass das echte Problem damit gar nicht angegangen wird.

Denn der Anfang unseres Zeitstrahls markiert ebenfalls den Beginn des menschlichen Eingriffs in den Karbonkreislauf unseres Planeten. Brandrodung und Verheizung organischer Stoffe erzeugen das Kohlendioxyd (CO2), vermehrte Tierhaltung das Methan (CH4). Beide sind »Klimagase« oder »Treibhausgase«. Das Verschwinden großer Waldflächen durch Rodung reduziert ferner die Regeneration von Sauerstoff (O2) aus dem Kohlendioxyd.

Es beginnt alles sehr langsam, denn damals leben auf der Erde geschätzt dreieinhalb Millionen Menschen. Heute zählen wir ungefähr sieben Milliarden, das 2000-fache, Tendenz noch steigend.

Dies wird überlagert von der Entdeckung fossil gespeicherter Energie in Form von Torf, Braunkohle, Steinkohle, Erdgas und Erdöl. Sie alle bestehen ursprünglich aus organischer Materie, die unser blauer Planet vor Millionen von Jahren einlagerte. Alles irdische Leben verbraucht auf seine Weise, was Mutter Erde anzubieten hat. Nur wir Menschen sind klüger und tun das virtuos. Wirklich?

Wanderung

Unsere Höhle von Altamira war Wohnort einer Gruppe, einer Sippe, einer oder mehrerer Familien. Vermutlich wanderten sie weiter, und neue Mieter zogen ein. Das erklärt die Malereien in verschieden Stilen und Techniken. In der Höhle sehen wir sie eng beieinander, zeitlich liegen sie jedoch weit auseinander. Manchmal hunderte von Jahren. Sesshaftigkeit und Migration wechseln sich ab.

Gibt es den sesshaften Menschen? Ja und Nein! Sesshaftigkeit ist die Lebensform aller höheren Lebewesen. Denken wir nur an die Primaten, die sich ein Revier erobern und es verteidigen. Der moderne Mensch (was immer das auch ist) zigeunert nicht herum, er hat einen festen Wohnsitz. Juristen nennen es in ihrem Latein domicilium citandi et executandi, also den Ort, an dem man erreichbar ist.

Und dennoch: Gewandert wurde und wird immer. Ein sesshafter Mensch begibt sich dann auf Wanderschaft oder zieht um, wenn sich sein Umfeld zu seinem Nachteil verändert oder wenn er sich am neuen Standort bessere Lebensbedingungen erhofft. Die Gründe können Übervölkerung sein, klimatische Veränderungen, Verfolgungen, Bedrohungen, die »falsche« Religion, die unerwünschte ethnische Zugehörigkeit oder der Verlust des Arbeitsplatzes. Das Spektrum der Migration reicht vom Umzug einer einzigen Familie an einen anderen Ort bis hin zu den großen Völkerwanderungen der Kelten, Goten, Alemannen, Juden, Hugenotten und anderer Gruppen.

Derzeit wandern viele verarmte und verfolgte Afrikaner in Richtung Europa oder versuchen es zumindest. Stichwort Lampedusa, die kleine italienische Insel im Mittelmeer in der Nähe von Malta. Bei der Wanderung wird manchmal sogar der Kontinent gewechselt, wenn man ihn denn lebend erreicht.

Weitere Motive sind Eroberungsdrang und Gier, wie uns der Einfall der Hunnen, die Landnahme der Slawen, die Besetzung der iberischen Halbinsel durch die Mauren und die conquista der Neuen Welt durch die Portugiesen und Spanier offenbaren.

Landwirtschaft, Viehzucht und Weinbau sind Ergebnis und Zeuge der Sesshaftwerdung des Menschen. Um Agrarprodukte zu lagern und zu veredeln, sind nun einmal ortsfeste Anlagen notwendig. Getreide, Reben und Rüben müssen geplant angebaut und sorgsam gepflegt werden. Das gilt insbesondere für Wein. Für die Herstellung von Wein müssen die Trauben gelesen und gepresst, der Saft vergoren und das Endprodukt aufbewahrt werden. Dabei bedient sich der Winzer in seinem Umfeld ansässiger ergänzender Handwerke wie denen der Töpfer, Zimmerleute, Küfer, Böttcher und vieler Hilfskräfte. Das Schlüsselwort ist Arbeitsteilung und Spezialisierung. Kenntnisse und Erfahrungen der Winzer werden erst von Generation zu Generation weitergegeben. Heute sind dies Ausbildungsberufe bis hin zum wissenschaftlich geprägten Önologen.

Das Wissen beginnt sich zu mehren, vorerst vornehmlich innerhalb der Sippen, Siedlungen und Dörfer. Erst die Erfindung der Schrift macht die Verbreitung über die Dorfgrenzen hinaus möglich. Wandern Menschen aus ihrem Umfeld aus, nehmen sie dieses Wissen mit und tragen so zu seiner Verbreitung bei. Wir werden einige Beispiele kennenlernen, die für den Weinbau von Bedeutung sind.

Die Wanderung des Weins ist immer identisch mit der Wanderung des Menschen.

Der ganz besondere Saft

Der Saft der Weintraube ist eine kostbare Ware. Biologisch ist die Frucht zum Anlocken von Tieren gedacht. Sie reizt zum Beispiel Vögel, das süße, saftige Fruchtfleisch mitsamt Kernen zu verschlingen und nach Ablauf der Verdauung zur Vermehrung und Verbreitung der Rebpflanzen beizutragen.

Archäologische Funde von Lagerstätten unserer Vorfahren, der jagenden und sammelnden Hominiden, enthalten Traubenreste und belegen, dass auch sie sich diesem Genuss nicht verschlossen. Sie erkoren die süßen Beeren zur willkommenen Nahrungsergänzung. Was sie nicht wissen konnten: die Trauben enthalten bereits geringe Mengen Alkohol. Ob sich unsere frühen Vorfahren beim Verzehr bereits gärender Beeren gelegentlich einen Rausch »angegessen« haben, ist aber nicht überliefert.

Wie bei allen anderen Früchten steht die wunderbare Süße der Traube nur für die kurze Zeit der Reife zur Verfügung. Erst der sesshafte homo sapiens ergründet durch genaue Beobachtungen, dass er die Traube zur Rosine trocknen oder zu Wein vergären kann. Erfinderisch erzeugt er Produkte, die ihm viele Vorteile bieten. Sie sind schmackhaft, belebend und haltbar. Wein wird zum Gegenstand der Vorratswirtschaft und kann das ganze Jahr über verzehrt werden. Der Mensch hat den ursprünglichen Weg des Saftes im Kreislauf der Natur zu seinen Gunsten unterbrochen, verzögert.

Irgendwann bekommt der Wein neben seiner Geltung als Nahrungsmittel und Getränk auch einen Wert als Handelsgut. Man kann ihn transportieren und gegen andere Waren tauschen. Sein Ansehen verbreitet sich stetig über viele Länder, weckt Begehrlichkeiten und den Wunsch seiner Käufer, den Anbau im eigenen Land Kosten sparend zu nachzuahmen. Der Wein beginnt seinen Siegeszug in die damals bekannte Welt.

Heute ist es ganz normal, in einem Weingeschäft des vorderen Orient – sagen wir in Beirut oder Tel Aviv – eine Flasche Chardonnay aus Südafrika, Cabernet Sauvignon aus Chile, Shiraz aus Kalifornien oder Merlot aus Australien in der Hand zu halten. Diese Weine, in fernen Kellereien hergestellt, kehren praktisch nach Hause zurück. Hier beginnt alles. Der Nahe Osten ist in der frühen Antike Ausgangspunkt und Drehscheibe des Weinbaus und des Weinhandels. Die damals bekannte Welt besteht aus den Ländern um das Mittelmeer bis hin zum Zweistromland. Die großen Entdeckungen lassen noch auf sich warten. Kolumbus ist viertausend Jahre weg.

Heute ist die Kelterung von Wein im Nahen Osten kaum anzutreffen. Die Gründe hierfür mögen klimatische Veränderungen mit geringeren Niederschlägen sein, aber auch die politische Situation und religiöse Überzeugungen in islamisch geprägten Staaten. Die Länder Palästina, Jordanien, Libanon, Syrien, Irak und Iran sind heute Erzeugerländer von hervorragenden Tafeltrauben. Eine Vorrangstellung im Weinmarkt haben sie schon lange nicht mehr.

Wir wollen versuchen, die verschlungenen Wege des Weins von hier nach Afrika, Europa, Amerika und Australien und zurück nach Afrika zu durchleuchten.

Kapitel 2

Die Antike

Sie wandern an der Mosel und betrachten die Stützmauern der terrassierten Steillagen, die sich wie kleine Festungen in die Hänge klammern.

Sie fragen sich, wie lange Wein schon so angebaut wird. Sie denken an die Winzer und ihre Helfer. Sie stellen sich vor, wie mühsam es gewesen sein muss, das Baumaterial da hinaufzuschaffen. Wie beim Bau der Pyramiden. Und dann geht Ihnen Napoleons Ansprache an seine Soldaten durch den Kopf, vor der Schlacht bei den Pyramiden im Jahr 1798, um Ägypten den Engländern zu entreißen.

»Songez que du haut de ces monuments quarante siècles vous contemplent.«

»Denkt daran, dass von diesen Monumenten 40 Jahrhunderte auf euch herabblicken«

Nun, hier liegt Napoleon nur fast richtig. Denn es sind 500 Jahre mehr. Doch wir wollen mit dem großen Feldherrn nicht allzu pingelig sein. Offen bleibt allerdings bis heute, wer der Sphinx die Nase abgeschossen hat. War es die Artillerie des Korsen oder doch der Gallier Obelix?

Sie schauen noch einmal hinauf zu den Weinrispen an den Rebstöcken und freuen sich auf einen guten Jahrgang. Und wir wissen, Wein ist viel älter ist als die Pyramiden!

Als zwischen 2650 und 2500 v. Chr. das Aufeinanderstapeln der Pyramidenblöcke bei Gizeh beginnt, keltert man ganz in der Nähe im Nildelta schon 500 Jahre lang Wein.

Es ist ein übermütiges Vorhaben, die Geschichte des Weins aufzuschreiben. Dies Büchlein soll ein Brevier werden. Jedenfalls ist das meine Anfangsabsicht. Das Wort stammt von breve, kurz. Und darin liegt schon die Herausforderung. Denn das Phänomen Wein ist so vielgestaltig und seine Geschichte so lang und umfangreich wie der Weinbau alt ist.

Schon lange vor der klassischen Antike ist der Wein ein Menschheitsbegleiter, ein kostbares Kulturgut. Seine Anwendungen umfassen göttliche Trankopfer, Messwein, Tafelwein, Wundreinigung und vieles mehr. Heute erinnert er uns an fröhliche Abende in geselliger Runde, an gutes Kochen, festliche Anlässe, rituelle Handlungen, Linderung körperlichen Unbehagens und an seelische Erhebung.

Drei Dinge bewogen mich, irgendwann in die Geschichte des Weins einzutauchen:

Die Faszination eines gefüllten Weinregals in einem Fachgeschäft, besonders die fantasiereiche grafische Gestaltung der Tausende von Etiketten auf den Flaschen.

Die handwerklichen Fähigkeiten der Winzer und Önologen, die den gepressten Most zu einem einzigartigen, unwiederholbaren Produkt verwandeln.

Der Entschluss meiner Frau, in unserem Wohnort ein Weinfachgeschäft zu eröffnen und die hieraus folgernden Planungen und Diskussionen, gemeinsamen Besichtigungen von Kellereien, Gespräche mit Winzern, Messebesuche und – last but not least – die Verkostungen vieler interessanter Gewächse.

Es beginnt 2009. Was ich bisher über Wein weiß, geht über den kultivierten Genuss kaum hinaus. Von da an betrachte ich die Dinge von »hinter dem Tresen« und muss dazulernen. Und was habe ich dazugelernt? Je mehr ich weiß, desto mehr weiß ich, wie wenig ich weiß.

Der Ursprung

Funde von wilden Rebsamen stammen aus dem Übergang von der Kreidezeit zum Tertiär. Das war vor ungefähr 70 Millionen Jahren. Aus dem Tertiär (vor 65 bis 2,5 Millionen Jahren) stammen versteinerte wilde Rebpflanzen.

In den Abfallhaufen in Höhlen und Siedlungen der Steinzeit vor rund 10 000 Jahren fanden Archäologen reichlich Traubenkerne. Demnach müssen Weintrauben zur Nahrung dieser Menschen gehört haben.

Auch im heutigen Süddeutschland wurden fossile Wildreben gefunden. Klimatische Kaltzeiten drängten die Reben jedoch immer wieder in den Mittelmeerraum zurück. Wohlgemerkt, wir sprechen immer von Trauben, noch nicht von Wein.