Weiß ich, wann es Liebe ist - Auður Ava Ólafsdóttir - E-Book

Weiß ich, wann es Liebe ist E-Book

Auður Ava Ólafsdóttir

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Beschreibung

Weiß man, wann es Liebe ist? Arnljotur könnte diese Frage nicht beantworten. Er weiß nur, dass er sich mit ein paar Rosenstöcklingen seiner verstorbenen Mutter auf die Reise begeben muß, um in einem alten, einst weltberühmten Klostergarten eine seltene Rose zu züchten. Das ist sein Traum. Sein altes Leben in Island läßt er hinter sich: seinen Vater und seinen Zwillingsbruder, seine kleine Tochter Flora Sol und deren Mutter Anna, mit der ihn wenig verbindet. Es wird eine Reise zu sich selbst, bei der die Gespräche mit einem gebildeten und weisen Mönch eine wichtige Rolle spielen. Dabei geht es immer wieder um Sex, Tod und Liebe - Fragen menschlicher Existenz –, die sich so theoretisch und abstrakt nicht lösen lassen. Da bekommt Arnljotur unerwarteten Besuch – von Anna und Flora Sol. Plötzlich weiß er, daß es Liebe ist, die ihn mit seinem Kind, der Mutter des Kindes verbindet.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 337

Veröffentlichungsjahr: 2011

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Auður Ava Ólafsdóttir

Weiß ich, wann es Liebe ist?

Roman

Aus dem Isländischen von

Angelika Gundlach

Suhrkamp

Die Originalausgabe erschien 2007 unter dem Titel

Afleggjarinn

bei Salka – Reykjavík – 2008

© Auður Ava Ólafsdóttir 2007

Umschlagfoto: Regina Göllner

Der Verlag dankt Bókmenntasjóður/Icelandic Literature Fund

für die Förderung der Übersetzung.

Suhrkamp eBook Berlin 2011

Deutsche Erstausgabe

© der deutschen Ausgabe

Suhrkamp Verlag Berlin 2011

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag: Göllner, Michels

eISBN 978-3-518-74790-2

www.suhrkamp.de

Gewidmet

meiner Mutter

»Sehet da, ich habe euch gegeben allerlei Kraut, das sich besamt, auf der ganzen Erde, und allerlei fruchtbare Bäume, die sich besamen, zu eurer Speise.«

(1. Mose, 1,29)

Eins

Jetzt, wo ich dabei bin, das Land zu verlassen, und es schwer zu sagen ist, wann ich zurückkomme, will mein siebenundsiebzigjähriger Vater, daß uns die letzte Abendmahlzeit in Erinnerung bleibt, und etwas nach Mamas handgeschriebenen Rezepten zubereiten, etwas, das Mama möglicherweise zu einem solchen Anlaß auch zubereitet hätte.

– Ich hatte die Idee, sagt er, panierten, gebratenen Schellfisch zu machen und danach Kakaosuppe mit Schlagsahne. Ich hole Jósef in dem siebzehn Jahre alten Saab im Heim ab, während Papa versucht, das mit der Kakaosuppe hinzukriegen, Jósef steht schon lange auf dem Trottoir parat und freut sich offensichtlich, mich zu sehen. Er ist sonntäglich gekleidet, weil ich abreisen werde, er trägt das Hemd, das Mama ihm zuletzt gekauft hat, blauviolett mit Schmetterlingsmuster.

Während Papa die Zwiebeln brät und die Fischstücke in der Panade bereitliegen, gehe ich ins Treibhaus hinaus, um die Rosenschößlinge zu holen, die ich mitnehmen will. Papa ist mir auf den Fersen, die Schere in der Hand, um Schnittlauch zu holen, den er auf den Schellfisch streuen will. Jósef folgt ihm still, er kommt jedoch nicht ins Glashaus, nachdem er die Glasscherben auf dem Boden gesehen hat, weil durch den Februarsturm so viele Scheiben zerschlagen worden sind, statt dessen steht er draußen an der Schneewehe und verfolgt, was wir tun. Er und Papa haben dieselbe Art Weste an, nußbraun mit gelben Rhomben.

– Deine Mutter hat den Schellfisch gewöhnlich mit Schnittlauch serviert, sagt Papa, und ich nehme ihm die Schere aus der Hand und strecke mich zu dem immergrünen Büschel in der Ecke des Treibhauses, schneide die Spitzen des Schnittlauchs ab und reiche sie ihm. Ich bin Alleinerbe von Mamas Treibhaus, woran mich Papa regelmäßig erinnert, nicht daß man von Anbau in großem Stil reden könnte, hier geht es nicht um dreihundertfünfzig Tomatenpflanzen und fünfzig Gurkenpflanzen, die von Mutter zu Sohn vererbt werden, eigentlich geht es nur um die Rosen, die von allein wachsen, ohne daß sie besonders gepflegt werden müßten, und vielleicht zehn Tomatenpflanzen, die noch da sind. Papa will sie gießen, während ich weg bin.

– Ich war nie sehr für Gemüse, Lobbi, es war das Hobby deiner Mutter. Ich selbst könnte höchstens eine Tomate in der Woche essen. Was meinst du, wie viele Tomaten trägt so ein Stock?

– Dann versuch, sie zu verschenken.

– Ich kann nicht dauernd bei den Nachbarn mit Tomaten anklopfen.

– Was ist mit Bogga?

Ich sage das, obwohl ich vermute, daß Mamas Freundin über die Jahrzehnte denselben Geschmack angenommen hat wie Papa.

– Du willst doch nicht, daß ich Bogga jede Woche mit drei Kilo Tomaten besuche? Sie würde vorschlagen, daß ich zum Abendessen bleibe. Ich ahne, was er als nächstes sagen wird.

– Ich hätte das Mädchen und das Kind eingeladen, fährt er fort, aber ich wußte genau, daß du es nicht willst.

– Ja, ich will es nicht, wir sind kein Paar und sind es nie gewesen, das Mädchen, wie du sie nennst, und ich, obwohl wir ein Kind miteinander haben. Es war ein Unfall.

Ich habe längst vor meiner eigenen Tür gekehrt, und Papa sollte allmählich wissen, daß das Kind die Frucht eines gedankenlosen Augenblicks ist, die Beziehung zwischen seiner Mutter und mir beschränkt sich auf ein Viertel einer Nacht, vielleicht auch nur ein Fünftel.

– Deine Mutter hätte keine Einwände gehabt, Mutter und Tochter zum letzten Abendessen einzuladen. Jedesmal, wenn Papa es nötig hat, seinen Worten mehr Gewicht zu verleihen, ruft er Mama zur Unterstützung aus dem Grab herauf.

Mir ist ziemlich seltsam zumute, jetzt, wo ich mich, wenn ich das sagen darf, direkt am Schauplatz der Befruchtung befinde, mit meinem bejahrten Vater neben mir und meinem geistig behinderten Zwillingsbruder direkt draußen vor der Scheibe.

Papa glaubt nicht an Zufälle, zumindest nicht, wenn es um die wichtigsten Begebenheiten des Lebens, Geburt und Tod, geht, Leben entsteht und erlischt nicht einfach so aus Zufall, sagt er. Er hat kein Verständnis dafür, daß eine Befruchtung auf dem Zufall einer einzigen Begegnung beruht, daß es einem Mann ohne weiteres passieren kann, mit einer Frau zu schlafen, und er hat auch kein Verständnis dafür, daß der Tod durch Nässe oder losen Kies in einer Kurve verursacht sein soll, wenn man ihn auch durch Zahlen und statistische Berechnungen erklären kann. Papa denkt anders darüber, die Welt hängt durch Zahlen zusammen, sie sind der innerste Kern des Schöpfungswerkes, und aus Daten kann man eine tiefsinnige Wahrheit und Schönheit herauslesen. Was ich einen Zufall oder eine Gelegenheit nenne, je nach dem, ist für Papa Teil eines komplizierten Systems. Zu viele Zufälle haben keinen Bestand, vielleicht einer, aber nicht drei, nicht wiederholtes Aneinanderreihen von Zufällen, sagt er: Mamas Geburtstag, der Geburtstag seiner Enkelin und Mamas Todestag, alles an ein und demselben Datum, am siebten August. Ich selbst verstehe Papas Berechnung nicht, meine Erfahrung ist, daß gerade dann, wenn man annimmt, daß etwas ganz Bestimmtes passiert, etwas ganz anderes passiert. Ich habe nichts gegen den Zeitvertreib eines Elektrikers im Ruhestand, solange seine Berechnungen nichts mit meiner Nachlässigkeit beim Gebrauch von Verhütungsmitteln zu tun haben.

– Du läufst doch nicht vor etwas weg, lieber Lobbi?

– Nein. Ich habe mich gestern von Mutter und Tochter verabschiedet, füge ich hinzu. Er kommt an dieser Stelle nicht weiter, deshalb wechselt er das Gesprächsthema.

– Du hast wohl keine Ahnung, wo deine Mutter das Rezept für Kakaosuppe versteckt hat, ich habe Schlagsahne gekauft.

– Nein, aber wir können vielleicht versuchen, es zusammen rauszufinden.

Zwei

Als ich aus dem Treibhaus komme, sitzt Jósef am Tisch, die Hände im Schoß, aufrecht, mit rotem Schlips zu dem blauvioletten Hemd. Mein Bruder legt viel Wert auf Kleidung und Farben und trägt häufig einen Schlips wie Papa. Papa hat zwei Kochplatten voll aufgedreht, unter dem Kartoffeltopf und unter der Bratpfanne, er scheint das Kochen nicht ganz im Griff zu haben, vielleicht ist er nervös, weil ich abreise. Ich husche an ihm vorbei und gieße Öl in die Pfanne.

– Deine Mutter hat immer Margarine verwendet, sagt er.

Keiner von uns ist besonders geschickt im Kochen, meine Rolle in der Küche beschränkte sich darauf, die Deckel von den Rotkohlgläsern zu schrauben und mit dem Dosenöffner die Dosen mit den grünen Bohnen zu öffnen. Zwar ließ Mama mich abwaschen und stellte Jósef zum Abtrocknen an. Er beschäftigte sich unendlich lange mit jedem Teller, schließlich nahm ich ihm das Geschirrtuch weg und erledigte den Rest.

– Aller Wahrscheinlichkeit nach wirst du in nächster Zeit keinen Schellfisch bekommen, lieber Lobbi, sagt Papa. Ich will ihn nicht verletzen, indem ich sage, daß es mir nach vier Monaten Erfahrung mit Fischschleim auf See ziemlich egal ist, wenn ich nie wieder einen Fischschwanz esse.

Weil Papa seinen Jungen etwas Gutes tun will, überrascht er uns mit Currysauce.

– Ich habe sie nach einem Rezept von Bogga gemacht, sagt er.

Die Sauce sieht eigentümlich grün aus, im Grunde wie zitterndes Gras nach einem Regenschauer im Frühling. Ich frage ihn nach der Farbe.

– Ich habe Curry und grüne Speisefarbe verwendet, erklärt er. Ich sehe, daß er das Glas Rhabarbermarmelade herausgenommen und neben meinen Teller gestellt hat.

– Das ist das letzte Glas, das von deiner Mutter übrig ist, sagt er, und ich betrachte seine Schultern, während er im Saucentopf rührt, in der braunen Weste mit Rhombenmuster.

– Du willst doch nicht die Rhabarbermarmelade zum Fisch essen?

– Nein, mir fiel nur ein, daß du das Glas vielleicht auf die Reise mitnehmen willst.

Mein Bruder Jósef ist still, und Papa redet auch nicht viel bei Tisch, insgesamt sagen wir nicht viel, Vater und wir. Ich helfe meinem Zwillingsbruder und zerschneide die zwei Kartoffeln für ihn. Die grüne Sauce beachtet er nicht, vorsichtig kratzt er die Haut des Fisches ab und schiebt sie auf dem Teller zur Seite. Ich betrachte meinen braunäugigen Bruder, der einem bekannten Filmschauspieler ähnelt, es ist unmöglich, dahinterzukommen, was in seinem Kopf vorgeht. Zum Ausgleich nehme ich mir reichlich von Papas Sauce. Da spüre ich zum ersten Mal die Hexerei im Magen.

Nach dem Essen, während ich abwasche, macht Jósef Popcorn, das tut er immer, wenn er auf Wochenendbesuch kommt. Er nimmt immer denselben dickbödigen Topf aus dem Schrank, mißt genau drei Eßlöffel Öl ab und streut vorsichtig Mais aus der Tüte, bis gelbe Körner den Boden bedecken. Danach legt er den Deckel auf den Topf und stellt die Platte vier Minuten auf die höchste Stufe. Wenn das Fett heiß ist, dreht er die Hitze herunter. Er nimmt die Glasschale und das Salzfaß und weicht nicht von dem Topf, bis alles fertig ist. Danach sehen wir drei zusammen die Wochenschau, mein Bruder hält auf dem Sofa meine Hand, die Glasschale mit dem Popcorn steht auf dem Tisch. Es sind noch keine zwei Stunden vergangen, seit mein Zwillingsbruder zu seinem üblichen Wochenendbesuch eingetroffen ist, schon reicht er mir die Platte mit Liedern, jetzt ist es Zeit zu tanzen.

Drei

Sonst nehme ich nicht viel mit, und Papa wundert sich darüber, daß ich so wenig Gepäck habe. Ich wickle nasse Zeitungen um die Schößlinge und packe sie in die vordere Tasche des Rucksacks. Wir fahren mit dem Saab, den Papa schon hat, seit ich denken kann. Jósef sitzt schweigend auf dem Rücksitz. Papa hat immer die Baskenmütze auf, wenn er längere Strecken fährt, aus der Stadt hinaus. Er bleibt weit unter der gesetzlichen Höchstgeschwindigkeit, seit dem Unfall fährt er nicht schneller als vierzig Kilometer. Er fährt so langsam durch die unebenen Lavafelder, daß ich die Vögel betrachten kann, die sich in dem bleiernen Morgengrauen in regelmäßigen Abständen auf den blauvioletten Lavaspitzen aufreihen, soweit das Auge reicht, Note für Note wie ein wehmütiges Musikstück, das immer lauter wird. Papa ist kein geübter Fahrer, meistens ist Mama gefahren. Es ist eine lange Schlange Autos hinter uns und ständig versucht jemand, uns zu überholen. Das bringt meinen Vater aber nicht aus der Ruhe. Ich habe auch keine Angst, meinen Flug zu verpassen, denn Papa kommt immer rechtzeitig an.

– Soll ich fahren, Papa?

– Nein, aber vielen Dank, lieber Lobbi. Genieß jetzt einfach das Land, von dem du dich verabschieden wirst, aller Wahrscheinlichkeit nach wirst du in der nächsten Zeit nicht durch Lavafelder fahren.

Wir schweigen beide eine Weile, während ich das Land genieße, von dem ich mich verabschieden werde. Als wir an der Abzweigung vorbeigekommen sind, die hinaus zum Leuchtturm führt, will Papa aber ein bißchen über meine Zukunftspläne reden, was ich mit meinem Leben anfangen will. Es gefällt ihm nicht, daß ich mich für Gärtnerei interessiere.

– Du mußt entschuldigen, lieber Lobbi, daß dich dein alter Vater einfach nach deinen Zukunftsplänen fragt. Ich tue es nicht aus Neugier und meine es auch nicht böse.

– Ist schon in Ordnung.

– Hast du für dich entschieden, was du studieren willst?

– Ich habe mich entschieden, Gärtner zu werden.

– Ein Mann mit deinen Fähigkeiten muß studieren.

– Fang nicht damit an, Papa.

– Ich finde, du gehst schlecht um mit deinen guten Gaben, lieber Lobbi.

Es ist schwierig, Papa zu erklären, daß der Garten und die Rosen im Treibhaus Mamas und mein gemeinsames Hobby waren.

– Mama hätte mich verstanden.

– Ja, deine Mutter fand im großen und ganzen alles gut, was du gemacht hast, sagt er. Sie hätte trotzdem nichts dagegen gehabt, daß du an die Universität gehst.

Als wir in das neue Viertel zogen, gab es kaum Bewuchs, kahle Erdflächen und Felsböden, windgepeitschte Kiesbänke hier und da. Überall waren Neubauten oder Grundstükke für Häuser, auf denen gelbe Pfützen standen. Die Büsche kamen viel später. Das Viertel war zum Meer hin offen, oft blies ein starker Wind, und in den Gärten gab es keinen Windschutz, die Leute hatten es aufgegeben, Stiefmütterchen in Beete zu pflanzen. Mama war die erste, die im Viertel versuchte, Bäume zu pflanzen, und das galt in den ersten Jahren als exzentrisch. Während andere sich damit begnügten, einen Rasen anzulegen und bestenfalls eine Hecke zwischen den Gärten zu pflanzen, um an drei Tagen eines Sommers im Wind ein Sonnenbad zu nehmen, pflanzte sie Goldregen,Ahorn, Esche und blühende Büsche in den Windschatten am Haus. Sie gab nicht auf, obwohl sie die Pflanzen in den nackten Felsboden stecken mußte.

Im zweiten Sommer baute Papa südlich vom Haus das Treibhaus. Wir brachten die Pflanzen zuerst im Treibhaus unter und setzten sie dann in der ersten oder zweiten Woche im Juni, wenn es keinen Nachtfrost mehr gab, in den Garten. Zunächst wollten wir sie nur den Hochsommer über draußen lassen und sie danach wieder ins Treibhaus nehmen, aber dann kam wohl ein guter Herbst, und wir verlängerten den Aufenthalt im Freien um einen weiteren Monat. Und eines Winters ließen wir unsere Pflanzen unter einer zwei Meter hohen Schneewehe kuscheln. Am Ende gedieh bei Mama alles im Garten, alles wuchs unter ihren Händen. Nach und nach verwandelte sich der Grund in einen Märchengarten, der Verwunderung und Aufmerksamkeit erregte. Seit Mamas Tod haben die Nachbarsfrauen manchmal mich um Rat gefragt.

– Es braucht nur ein wenig Sorgfalt und vor allem Zeit, so lautete Mamas Anbauphilosophie in aller Kürze.

– Du und deine Mutter, ihr hattet eure eigene Welt, zu der Jósef und ich nicht gehörten, vielleicht haben wir sie nicht verstanden. Papa hat in letzter Zeit angefangen, von Jósef und sich als Einheit zu sprechen, Jósef und ich, sagt er.

Mama ging manchmal in hellen Sommernächten hinaus, um im Garten ordentlich zuzupacken oder sich im Treibhaus zu beschäftigen, es war, als brauchte sie nicht so viel Schlaf wie andere Menschen, besonders nicht im Sommer. Wenn ich nachts nach Hause kam, nachdem ich mit den Freunden unterwegs gewesen war, stand Mama mit einem roten Plastikeimer und rosa Gartenhandschuhen draußen auf dem Beet, während Papa schlief. Wie zu erwarten, war niemand sonst auf den Beinen, und es war unglaublich still. Mama begrüßte mich und guckte mich an, als wisse sie etwas über mich, von dem ich selbst keine Ahnung hatte. Dann setzte ich mich eine Viertelstunde oder länger zu ihr ins Gras und jätete nur so zum Schein ein bißchen Unkraut, um ihr Gesellschaft zu leisten. Vielleicht hatte ich eine halbe Flasche Bier in der Hand, die ich in das Stiefmütterchenbeet steckte, um mich dann hinzulegen, einen Ellenbogen unter dem Kopf, und zuzusehen, wie die Wattewolken vorbeischwebten. Wenn ich mit Mama allein sein wollte, ging ich zu ihr ins Treibhaus hinaus, oder in den Garten, dann konnten wir miteinander reden. Manchmal wirkte sie zerstreut, dann fragte ich sie, woran sie gerade dachte, und sie antwortete, ja, ja, mir gefällt, was du sagst. Und sie lächelte zustimmend und ermunternd.

– Für einen, der zum Studieren so begabt ist wie du, gibt es doch keine Zukunft in der Gärtnerei.

– Ich glaube nicht, daß ich zum Studieren besonders begabt bin.

– Auch wenn du einen alten Vater hast, lieber Lobbi, ist er noch lange nicht senil. Zufällig habe ich all deine Prüfungszeugnisse aufbewahrt. Zwölf Jahre und der Beste in der Klasse. Sechzehn Jahre und der Beste des Jahrgangs,Abitur und Klassenprimus.

– Ich kann nicht glauben, daß du darauf immer noch Wert legst. Die waren doch längst in einer Kiste im Schuppen. Schmeiß den Kram weg, Papa.

– Zu spät, lieber Lobbi, Thröstur vom Fotogeschäft ist dabei, es für mich einzurahmen.

– Das ist nicht dein Ernst?

– Du denkst also nicht über ein Universitätsstudium nach?

– Nein, vorläufig nicht.

– Was ist mit Botanik?

– Nein.

– Biologie?

– Nein.

–Aber Pflanzenbiologie oder Pflanzengenetik, mit Schwerpunkt Pflanzenbiotechnologie?

Papa hat sich Informationen beschafft. Er hält mit beiden Händen das Lenkrad umklammert und weicht mit dem Blick nicht von der Straße.

– Nein, es interessiert mich nicht, Wissenschaftler oder Hochschullehrer zu werden.

Ich fühle mich besser in feuchter Erde, es ist etwas anderes, lebendige Pflanzen berühren zu können, den Duft von Gras nach einem Regen riecht man nicht in einem Labor. Es ist schwer, Mamas und meine Welt für Papa in Worte zu fassen. Mein Interesse gilt dem, was aus der fruchtbaren Erde wächst.

– Ich will trotzdem, daß du weißt, daß ich einen kleinen Fonds für dich angelegt habe, von dem du profitieren kannst, wenn du dich weiterbilden und an die Universität gehen willst. Das hat nichts mit dem Erbe deiner Mutter zu tun. Jósef ist da, wo er ist, zufrieden, fügt er hinzu. Ich will natürlich dafür sorgen, daß es ihm an nichts fehlt.

– Danke.

Ich diskutiere das Thema Gartenbau nicht mehr mit Papa. Ich kann auch meinem Vater nicht sagen, daß ich nicht immer weiß, was ich will, daß es manchmal schwer ist, so etwas zu einem bestimmten Zeitpunkt im Leben ein für allemal zu entscheiden.

– Leute kommen nicht weit mit ihren Träumen, lieber Lobbi, würde Papa sagen.

– Man muß seinen Träumen folgen, hätte Mama gesagt. Und danach hätte sie aus ihrem Küchenfenster gesehen, als würde sie weit über ihre Grundbesitztümer blicken, als wären es nicht nur ein paar Meter zum Treibhaus und ein paar mehr zum Lattenzaun, als wäre der Garten ein einziges blühendes Beet und als sähe man vor lauter farbenprächtigen Stauden, Bäumen und anderem Bewuchs nicht bis zum Lattenzaun, und als erwarte sie Gäste von ganz weit her. Dann würde sie Backpflaumen in die Schale schütten, sie unter den Wasserhahn stellen und Wasser darüberfließen lassen.

– Es ist selbstverständlich besser, als auf einem Kutter seekrank zu werden, monatelang, sagt Papa schließlich.

Vier

Wir fahren schweigend weiter durch die Lavafelder. Ich spüre immer noch die Abschiedsmahlzeit im Magen, und ich habe ein Gefühl, als wäre die Hexerei, die ihren Ursprung wahrscheinlich in der grünen Sauce hatte, dabei, sich in einen anhaltenden Schmerz zu verwandeln, hier im Auto, mitten im Lavafeld, nicht weit von der Stelle, wo Mama mit dem Auto umgekippt ist. Ich erkenne die Kurve, wo das Auto von der Straße abgekommen ist, da ist eine kleine Senke mit Gras, mir ist, als sähe ich die Stelle, wo Mama aus dem Wrack geschnitten wurde, sehr deutlich.

– Deine Mutter hätte nicht vor mir fortgehen sollen, die Ärmste, sechzehn Jahre jünger, sagt Papa, als wir an der Stelle vorbeifahren.

– Nein, sie hätte nicht vor dir fortgehen sollen.

Mama hatte immer solche Ideen wie beispielsweise an ihrem Geburtstag Beeren zu sammeln, sehr früh am Morgen an irgendeiner geheimnisvollen Lieblingsstelle, um dorthinzukommen, mußte sie durch die Lava fahren. Danach hatte sie uns, ihre Jungens, wie sie Papa, mich und Jósef nannte, zu Waffeln mit Schlagsahne und den frischgepflückten Blaubeeren einladen wollen. Ich sehe jetzt, daß es für sie oft schwer gewesen sein mußte, lauter Männer im Haus zu haben, keine Tochter zu haben.

Ich nehme mir Zeit, bevor ich mich Mama im Auto, das umgekippt in einer grasbewachsenen Senke im Lavafeld liegt, nähere. Ich lasse mir Zeit, um die Natur zu beobachten, kreise lange um die Stelle, wie ein Fotograf, der auf einem Filmset Bilder von einem Kran aus macht, bevor ich zu Mama komme, der Schauspielerin, die die Hauptrolle innehat und um die sich alles dreht. Es ist der siebte August, ich habe beschlossen, daß der Herbst früh gekommen sein muß. Deshalb sehe ich viel Rotes und flammend Gelbes in der Natur, ich sehe lauter Varianten von Rot am Schauplatz des Unfalls: rostrotes Beerenreisig, den blutroten Himmel, die rotvioletten Blätter an ein paar Bäumchen in der Nähe, das goldene Moos. Mama selbst trug eine weinrote, geknöpfte Strickjacke, und das getrocknete Blut war erst zu sehen, als Papa die Jacke zu Hause in der Badewanne spülte. Indem ich bei den Nebensachen des Bühnenbildes verweile, wie man zuerst den Hintergrund eines Gemäldes genau betrachtet, bevor man zum Motiv selbst kommt, schiebe ich Mamas Todesstunde auf, ziehe die Zeit in die Länge bis zum Unvermeidlichen, der Stunde des Abschieds. Dann komme ich zu der Szene, wo Mama noch im Autowrack ist, oder gerade herausgeschnitten und auf die Erde gelegt worden ist. Ich beschließe, daß es in der grasbewachsenen Senke im Lavafeld eine kleine Ebene gibt, als hätte jemand zwei Hügelchen abgeschnitten und dann Samen in die Wunden gesät, dort legen sie sie unendlich vorsichtig hin. Nach meiner Vorstellung gibt sie entweder noch Lebenszeichen oder ist tot. Papa fährt so langsam, daß ich den Baum sehen kann, er steht noch dort, wo ich ihn in die Erde gesteckt habe, eine Zwergkiefer, ein Versuch von Waldanbau mitten in dem unebenen Lavafeld, ein einzelner Baum in dem sparsam bewachsenen Felsboden, so setzte ich Mama an dieser Stelle ein Denkmal.

– Ist dir kalt? fragt Papa und stellt die Heizung auf die höchste Stufe. Es ist glühend heiß im Auto.

– Nein, mir ist nicht kalt.

Ich habe Schmerzen im Bauch, das sage ich jedoch Papa nicht. Seine Sorge erschlägt einen, Mama war auf andere Weise besorgt, sie hat mich verstanden.

– Jaja, lieber Lobbi, bald sind wir da, die Maschinen sind schon zu sehen.

Während wir uns dem Flughafen nähern, hebt sich ein schwarzer Vorhang von der Bergkette, zuunterst ist der erste Streifen Tageslicht wie ein hellblauer Rauchschleier zu sehen, die waagerechte Februarsonne bringt schmutzige Autoscheiben zum Vorschein.

Vater und Sohn begleiten mich in den Terminal.

Papa reicht mir ein Paket in Geschenkpapier, als wir uns verabschieden.

– Du machst es auf, wenn du gelandet bist, sagt er. Dann denkst du vielleicht an deinen alten Vater, wenn du dich schlafen legst.

Als ich mich von Papa verabschiede, drücke ich ihn fest an mich, aber nicht sehr lange, umarme ihn schnell und klopfe ihm auf den Rücken, wie es Männer tun. Danach mache ich das gleiche mit meinem Bruder Jósef, er stellt sich sofort zu Papa und nimmt seine Hand. Dann zieht Papa einen dicken Umschlag aus der Gesäßtasche und reicht ihn mir.

– Ich war auf der Bank und habe ein paar Scheine für dich geholt, man weiß nie, was im Ausland alles passieren kann.

Ich gucke ein letztes Mal über die Schulter und sehe Papa und meinen Zwillingsbruder zusammen aus dem Flughafengebäude gehen, Papas Brieftasche ragt halb aus der Gesäßtasche. Vater und Sohn haben beide die kurzen grauen Jacken an, die Papa neulich gekauft hat, es ist nicht festzustellen, wer von ihnen besser gekleidet ist. Jósef ist im Aussehen das vollkommene Gegenteil von mir, klein gewachsen, braunäugig und mit dunkler Haut, als wäre er gerade von einem Sonnenstrand zurückgekehrt. Wäre da nicht die Farbzusammenstellung der Kleidung, könnte mein geistig behinderter Zwillingsbruder Pilot sein, so gut gekleidet und soigniert sieht er aus. Ich beschließe, mir das Bild von ihm in dem blauvioletten Hemd mit dem Schmetterlingsmuster einzuprägen. Wenn es richtig Tag wird, werde ich den braunen Schneematsch hinter mir gelassen haben, das Salz von der Erde wird höchstens noch als ein weißer Rand auf den Spitzen der Schuhe sitzen.

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