Weißbuch Freitodbegleitung -  - E-Book

Weißbuch Freitodbegleitung E-Book

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Beschreibung

Seitdem das BVerfG festgestellt hat, dass es zum Persönlichkeitsrecht eines jeden Menschen gehört, über den Zeitpunkt und die Art und Weise seines Lebensendes freiverantwortlich selbst zu verfügen und dazu auch Hilfe von Dritten in Anspruch nehmen zu können, hat die Deutsche Gesellschaft für Humanes Sterben (DGHS) sich entschlossen, ihren Mitgliedern durch entsprechende Vermittlung eine ärztliche Freitodbegleitung zu ermöglichen. Mit diesem Weißbuch legt die DGHS eine umfassende Dokumentation, der durch sie vermittelten und in den Jahren 2020 und 2021 erfolgten Freitodbegleitungen vor. Zu diesem Zweck wurde ein hoher Sicherheitsstandard entwickelt, der von den mit der DGHS kooperierenden Ärzten und Juristen im Rahmen eines Vieraugenprinzips zwingend einzuhalten ist. Die nach jeder Freitodbegleitung hinzugezogene örtlich zuständige Kriminalpolizei sowie die involvierten Staatsanwälte bewerten diesen Sicherheitsstandard, der auch eine umfangreiche Dokumentation des Freitodverfahrens beinhaltet, als hoch professionell. Das Buch stellt diese Standards vor und wertet die Motive und die beruflichen sowie gesundheitlichen Vorgeschichten der Sterbewilligen aus.

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Inhalt

Cover

Titelei

Vorwort

Teil I Vorgeschichte und Hintergründe

1 Zur Vorgeschichte

2 Begrifflichkeiten in der Diskussion um den assistierten Suizid

3 Die Vermittlung einer Freitodbegleitung

4 Die Durchführung einer Freitodbegleitung

5 Vermittlung von Freitodbegleitungen und die ergebnisoffene Suizidversuchspräventionsberatung

6 Doppelbegleitungen

7 Umgang mit psychiatrischen Erkrankungen und Diagnosen

8 Lebenssattheit als Motiv für den Freitod

9 Kosten

Teil II Falldokumentationen

10 Fallschilderungen

10.1 Alle Fälle aus dem Jahr 2020

10.2 Alle Fälle aus dem Jahr 2021

11 Fallbeschreibungen

11.1 Zehn exemplarische Anträge

11.2 Zwei Beispiele in einer vollständigen Dokumentation

11.2.1 Erster Beispielfall in einer Komplett-Dokumentation/Falldokumentation Doppel-Freitodbegleitung Sch.

11.2.2 Zweiter Beispielfall in einer Komplett-Dokumentation/Falldokumentation Freitodbegleitung T.

12 Fallstatistiken

Teil III Anhang

13 Unsere Arbeit. Unsere Ziele.

Die Autoren, die Autorin

Der Herausgeber

Deutsche Gesellschaft für Humanes Sterben e. V., Sitz in Berlin. Der Verein DGHS setzt sich seit seiner Gründung im Jahr 1980 dafür ein, die Bedingungen für Schwerstkranke und Sterbende in Deutschland zu verbessern und deren Menschenwürde und Selbstbestimmung beim Sterben zu erhalten.

Deutsche Gesellschaft für Humanes Sterben e. V. (Hrsg.)

Weißbuch Freitodbegleitung

2020/2021

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

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1. Auflage 2023

Alle Rechte vorbehalten© W. Kohlhammer GmbH, StuttgartGesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:ISBN 978-3-17-042436-4

E-Book-Formate:pdf: ISBN 978-3-17-042437-1epub: ISBN 978-3-17-042438-8

Vorwort

Faust:Und so ist mir das Dasein eine Last,

Der Tod erwünscht, das Leben mir verhasst.

Mephistopheles:Und doch ist nie der Tod ein ganz willkommener Gast.(Johann Wolfgang von Goethe, Faust. Der Tragödie erster Teil)

Wer beschäftigt sich schon gerne mit dem Gedanken an die eigene Endlichkeit? Vage haben wir eine Vorstellung, dass wir im Kreis unserer Lieben in der gewohnten Umgebung einen letzten Atemzug tun. Aber nur den wenigsten Menschen ist ein solcher Abschied vergönnt. Statistiken weisen aus, dass die meisten Menschen in Krankenhäusern und Pflegeheimen versterben, oftmals nach langer schwerer Krankheit, mitunter unter Anwendung von den Sterbeprozess verlängernden medizinischen Maßnahmen, teilweise selbst dann, wenn die Patientenverfügung etwas anderes vorgesehen hat. Indessen: Wer sein Leben weitestgehend selbstbestimmt verbracht hat, will sein Lebensende nicht in hilfloser Abhängigkeit und inmitten sinnloser Qualen und weitgehend fremdbestimmt verbringen – und doch zeigt sich, dass eine solche Autonomie in der letzten Lebensphase nicht wie selbstverständlich gegeben ist und respektiert wird.

Mit einem Grundsatzurteil, das fraglos eine Zäsur bedeutet, hat das Bundesverfassungsgericht am 26. Februar 2020 unmissverständlich festgestellt, dass der Einzelne über sein Leben auch mit Blick auf dessen Ende verfügen und dafür Hilfe, auch professionelle Hilfe, in Anspruch nehmen kann. Aus diesem Verdikt hat die Deutsche Gesellschaft für Humanes Sterben die Konsequenz gezogen und vermittelt nunmehr ihren Mitgliedern auf deren Antrag hin professionelle Hilfe bei ihrem beabsichtigten Freitod. Umgehend und mit großem Kraftaufwand wurden Sicherheitsstandards und Sorgfaltskriterien entwickelt sowie eine Infrastruktur aufgebaut, die es ermöglichte, dass im Mai 2020 bereits das erste Mitglied selbstbestimmt und mit Hilfe von professionellen Freitodbegleitern sicher und human versterben konnte. Die größte Herausforderung beim Aufbau der Infrastruktur bestand darin, geeignete Ärzt*innen und Jurist*innen zu finden, die bereit waren, in regional tätigen Teams, bestehend aus jeweils einem Arzt/einer Ärztin und einem Juristen/einer Juristin, die Freitodbegleitungen vor Ort, also im Lebensumfeld des Freitodwilligen, durchzuführen.

Es ist in diesem Zusammenhang ausdrücklich zu betonen, dass die DGHS keine Sterbehilfeorganisation ist und es auch nicht werden will. Die DGHS will aber jedem freitodwilligen Mitglied die Möglichkeit vermitteln, unter Einhaltung hoher medizinischer und juristischer Sicherheitsstandards einen sicheren, schmerzfreien und humanen ärztlich begleiteten Freitod durchführen zu können. Dies ist jedoch lediglich ein Leistungselement einer ganzheitlichen Lebensend-Vorsorge durch die DGHS, neben einer umfassenden Gesundheits-‍, Pflege- und Vorsorgeberatung, insbesondere durch unsere lokalen Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartner, Beratung zur Erstellung einer von der DGHS entwickelten Patientenverfügung und diversen Vorsorgevollmachten, die Zurverfügungstellung eines IT-gestützten Notfall-Ausweises und vieles mehr. Wir bieten somit unseren Mitgliedern ein breites, umfassendes und hochprofessionelles Beratungs- und Versorgungsangebot an.

In den letzten zweieinhalb Jahren nach dem Grundsatzurteil des Bundesverfassungsgerichts erreichten die Geschäftsstelle der DGHS eine zunehmende Zahl von Anträgen, die zu weiteren fachlich ausführlich reflektierten und auf Basis von Sicherheitskriterien geprüften Vermittlungen von Freitodbegleitungen und dem damit einhergehenden Ausbau der Infrastruktur führten. Derzeit vermittelt die DGHS ihre freitodwilligen Mitglieder bundesweit an zwölf hochprofessionell tätige Teams. Über alle diese Begleitungen, die die DGHS in den Jahren 2020 und 2021 an die mit ihnen kooperierende Ärzt*innen und Jurist*innen vermittelt hat, legt dieses Weißbuch nun umfänglich und detailliert Zeugnis ab.

Im Jahre 2020 haben wir 18 und im Jahre 2021 120 Freitodbegleitungen vermittelt. Dabei sind die Beweggründe sehr unterschiedlich (siehe hierzu die Grafik in Kapitel 12, ▶ Abb. 1). Die Hauptmotive für einen Wunsch nach einer Freitodbegleitung sind Krebs, neurologische Erkrankungen, ein Mix aus verschiedenen Erkrankungen und insbesondere bei hochaltrigen Menschen Lebenssattheit.

Die DGHS hat acht Doppelbegleitungen (jeweils Ehepaare) vermittelt. Dieser überdurchschnittliche Anteil an Doppelbegleitungen liegt unseres Erachtens in der Tatsache begründet, dass die DGHS relativ viele Ehepaare als langjährige Mitglieder hat, die sich seit vielen Jahren mit ihrem selbstbestimmten Lebensende auseinandergesetzt haben und deren Wunsch, gemeinsam zu gehen, in völligem Einklang mit ihrem Selbstbild und ihrem Selbstverständnis sowie ihrem Verständnis eines selbstbestimmten und würdevollen Lebens und Sterbens steht.

Nicht unerwähnt lassen möchte ich, dass im Berichtszeitraum 24 Antragsteller*innen während des Antragserfahrens an ihren Erkrankungen verstorben sind (natürlicher Tod). Zwei Antragsteller haben einen sog. harten Suizid begangen. In fünf Fällen konnte die Freitodbegleitung in einem Pflegeheim durchgeführt werden. In sieben Fällen mussten die Antragsteller*innen auf deren ausdrücklichen Wunsch zum Zweck der Freitodbegleitung aus einer stationären Einrichtung in die Wohnung eines Angehörigen verbracht werden. Darunter waren zwei Antragstellerinnen, die sich bereits seit einigen Wochen in einem Hospiz befunden haben. Elf Anträge auf Vermittlung einer Freitodbegleitung wurden abgelehnt (neun Anträge wegen einer schweren psychischen Erkrankung, ein Antrag wegen einer über das Anfangsstadium hinausgehende Demenz, ein Antrag wegen fehlender Freiverantwortlichkeit). Diese Zahlen belegen, dass unsere hohen Sicherheitsstandards funktionieren. Insbesondere haben sich das juristische Erst- und das ärztliche Zweitgespräch mit den Antragstellern bewährt.

An dieser Stelle möchte ich der immer wieder, auch von Sterbehilfebefürwortern, kolportierten Aussage widersprechen, die besagt, dass die DGHS sich einerseits vehement gegen eine gesetzlich geregelte Beratungspflicht ausspricht, andererseits jedoch in unserem Sicherheitskonzept implizit eine Beratungspflicht enthalten sei. Dies ist unzutreffend. Sowohl das juristische Erst- als auch das ärztliche Zweitgespräch dienen primär des einander Kennenlernens, der Feststellung der Einsichts- und Urteilsfähigkeit sowie der Erkundung des sozialen und familiären Umfelds des Freitodwilligen, damit eventuelle juristisch relevante Mängel wie Irrtum, Zwang, Drohung oder Täuschung weitestgehend ausgeschlossen werden können. Im Rahmen des ärztlichen Zweitgespräches findet selbstredend eine umfassende ärztliche Aufklärung über medizinisch-pflegerische Alternativen statt, insbesondere über eine palliativmedizinische oder eine ambulante bzw. stationäre pflegerische Versorgung. Darüber hinaus wird in diesen Gesprächen über den konkreten Ablauf der Freitodbegleitung informiert. Diese Gespräche sind somit keine Beratungsgespräche im Sinne (einer Suizidpräventionsberatung) der vorliegenden Gesetzentwürfe. Dies schließt jedoch nicht aus, dass eine Beratung auf Wunsch des Freitodwilligen erfolgen kann.

Wie bereits oben festgestellt, variieren die Beweggründe der Menschen ebenso wie ihr Alter oder ihr sozialer und familiärer Hintergrund. Ihnen gemeinsam ist jedoch die Entschlossenheit, nun, da die Möglichkeit einer Inanspruchnahme von professioneller Hilfe verfassungsrechtlich bestätigt und praktisch umsetzbar geworden ist, ihre Rechte nicht nur abstrakt zu besitzen, sondern diese auch als letzte Option wahrzunehmen. Jedenfalls ist der Einzelne weder dem Staat noch der Gesellschaft und auch nicht gegenüber seinen Angehörigen zum Leben verpflichtet.

Nicht wenige Gegner der professionellen Freitodhilfe berufen sich vieldeutig und teilweise kryptisch auf den Würdebegriff unseres Grundgesetzes. Der Begriff der Menschenwürde kann jedoch in einer säkularen und pluralistischen Gesellschaft nichts anderes bedeuten, als die Ermöglichung der Fähigkeit, das eigene Leben nicht nur zu haben, sondern es im Lichte eigener Werte, Normen und Ziele zu führen und zu gestalten. Diese Fähigkeit ist Kernbestandteil der personalen Autonomie, auf der die Würde des Menschen wesentlich beruht.

Dieser Autonomiegedanke, den wir der Aufklärung verdanken und der das Recht zur Selbstbestimmung zum Inhalt hat, schließt auch das Recht auf einen selbstbestimmten Tod ein. In einer freien, säkularen, pluralen und sozialen Gesellschaft muss jeder Mensch im Bedarfsfall das Recht auf eine adäquate ärztliche und pflegerische Versorgung haben, und ebenso das Recht, eine geplante oder bereits begonnene Behandlung abzulehnen. Wenn ein unheilbar erkrankter oder schwer leidender, aber entscheidungsfähiger Patient durch therapeutische Maßnahmen nur eine Lebensspanne gewinnen kann, die er und nur er für nicht mehr lebenswert erachtet, so hat niemand das Recht, geschweige denn die Pflicht, ihm diese Selbstbestimmung zu verweigern und ihm das nicht mehr gewollte Leben durch ärztliche Maßnahmen aufzuzwingen. Dies setzt natürlich eine freie Entscheidung des vollständig informierten, d. h. über seinen Zustand aufgeklärten Patienten voraus. Es ist das Recht eines schwerkranken Patienten oder eines lebenssatten alten Menschen, dem herannahenden Ende mit der Würde des Wissenden entgegenzutreten. Es ist sein Recht auf einen selbstbestimmten Tod, welches auch die professionelle Freitodbegleitung einschließt, das dem Recht auf Leben komplementär ist.

Lassen Sie mich zum Abschluss noch kurz auf die derzeit vorliegenden drei Gesetzentwürfe zur Regelung der Suizidhilfe eingehen: Die DGHS begrüßt grundsätzlich die fraktionsübergreifenden Gesetzentwürfe der Abgeordneten Helling-Plahr/Sitte et al. sowie der Abgeordneten Künast/Keul et al., die beide diskutabel sind. Mit Entschiedenheit lehnt die DGHS den Gesetzentwurf von Castellucci/Heveling et al. ab, denn dieser stellt einen § 217 Strafgesetzbuch 2.0 dar und ist ebenso verfassungswidrig wie sein Vorgänger.

Für die DGHS ist ganz klar: Es darf kein neues Strafgesetz geben, das professionell Helfende kriminalisiert. Es darf keine Beratungspflicht geben, wo keine Beratung gewünscht wird. Es darf keine pauschalen Wartefristen geben, denn diese würden das Leid und die Schmerzen der Freitodwilligen unnötig verlängern. Es darf keine Verpflichtung geben, zwei psychiatrische Untersuchungen nachweisen zu müssen, die dem Freitodwilligen bestätigen, dass er einsichts- und urteilsfähig ist, denn dies wird in unserem Rechtssystem bei jedem erwachsenen Menschen unterstellt. Nur dort, wo konkrete Anhaltspunkt dafür vorliegen, dass die Einsichts- und Urteilsfähigkeit möglicherweise nicht mehr gegeben ist, ist eine fachärztliche Untersuchung angezeigt und verhältnismäßig.

Berlin, im August 2022

Robert RoßbruchPräsident der Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben e. V. (DGHS)

Teil IVorgeschichte und Hintergründe

1 Zur Vorgeschichte

In den mehr als 40 Jahren ihrer Existenz hat die Deutsche Gesellschaft für Humanes Sterben durchaus eine wechselvolle Geschichte durchlaufen. Einige Konstanten bleiben jedoch. Bereits auf der ersten Seite der ersten Ausgabe des Vereinsorgans »Humanes Leben – Humanes Sterben« im Jahr 1981 wird der Bericht zu einer Pressekonferenz des Vereins in München mit der Überschrift »Selbstbestimmung bis zur letzten Minute.« versehen. Allen Entwicklungen, allen – oft notwendigen – Veränderungen zum Trotz ist die DGHS von dieser Grundüberzeugung über die Jahrzehnte keinen Deut abgerückt.

Natürlich verändern sich mit der Zeit gewisse konkrete Zielsetzungen darüber, was es bedeutet, diese Selbstbestimmung bis zur letzten Minute in der gesellschaftlichen und politischen Realität umzusetzen. Lange hat sich auch die DGHS etwa für eine gesetzliche Anerkennung der Verbindlichkeit von Patientenverfügungen eingesetzt. Sie hat maßgeblich zur gesetzlichen Implementierung der Patientenverfügung im Jahre 2009 in das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) beigetragen. Damit ging eine rechtliche Klärung der so genannten »passiven Sterbehilfe« einher. Das Recht gilt für Patient*innen, die diesen Wunsch (oder den Wunsch nach maximaler Versorgung) für Fälle von Erkrankungsverläufen, in denen sie ihrem Willen nicht mehr bewusst Geltung verschaffen konnten, schriftlich festgelegt hatten. Fraglos ein Meilenstein in der Geschichte der Patientenrechte in Deutschland. Zu dieser Zeit waren andere europäische Länder bereits längst an Deutschland vorbeigezogen, was die rechtlich kodifizierte Ausgestaltung der Patient*innenautonomie betraf.

Eine umgekehrte Richtung, nämlich die eines äußerst konservativen und restriktiven Rückschlages, nahm der gesetzgeberische Prozess, als im Jahre 2015 das sogenannte Verbot der »geschäftsmäßigen Suizidhilfe« verabschiedet wurde. Der außerhalb des juristischen Fachdiskurses leicht missverständliche Begriff der »Geschäftsmäßigkeit«, der keineswegs vermeintliche Gewinnabsichten impliziert, sondern sich darauf bezieht, dass eine Tätigkeit auf ihre Wiederholung angelegt ist, bedeutete in seiner Einbettung im Rahmen des neu geschaffenen § 217 StGB, dass Sterbehilfeorganisationen, aber auch Patientenschutzorganisationen wie die DGHS, keinen freitodwilligen Menschen in irgendeiner Weise bei der Vermittlung und möglichen Durchführung einer Freitodbegleitung Unterstützung zukommen lassen durften. Bereits im Vorfeld der sich entspinnenden Gesetzgebung hatte die DGHS öffentlichkeitswirksam auf die Verfassungswidrigkeit des § 217 StGB hingewiesen und den Widerstand dagegen zu keinem Zeitpunkt aufgegeben. So gab es bereits seit Anfang 2013 eine Vielzahl von Stellungnahmen, Publikumsveranstaltungen, direkte Anschreiben an Bundestagsabgeordnete und 2014/2015 die Kampagne »Letzte Hilfe«, die von Prominenten öffentlichkeitswirksam unterstützt wurde. Eine gemeinsame Resolution von 141 Strafrechtshochschullehrer*innen aus dem April 2015 bekräftigte die Einschätzung der Verfassungswidrigkeit eines neuen Strafrechtsparagraphen. Trotz vieler kritischer Argumente, die in den Fachausschüssen des Deutschen Bundestages u. a. von Ärzt*innen, aber auch von Jurist*innen wie Robert Roßbruch vorgetragen wurden, entschied sich eine Mehrheit des Parlaments im Herbst 2015 für die Einführung eines § 217 StGB (Verbot der Förderung der geschäftsmäßigen Unterstützung der Selbsttötung).

Daher bedeutete das wegweisende Urteil des Bundesverfassungsgerichtes (BVerfG) vom 26. 2. 2020 nach Verfassungsbeschwerden von Betroffenen nichts weniger als ein fundamentaler Befreiungsschlag, der von vielen Menschen, die sich für die Selbstbestimmung am Lebensende einsetzen, erhofft und freudig begrüßt wurde. Zugleich stellte sich für die DGHS und ihr Präsidium die Frage, welche Konsequenzen dieses Urteil für die vielen Mitglieder haben sollte, die seit langem insbesondere ausweislich solcher Überzeugungen, nämlich dem Recht von Menschen, ihr eigenes Leben freiverantwortlich und im Vollbesitz der geistigen Kräfte zu einem von ihnen selbst gewählten Zeitpunkt friedlich und schmerzlos beenden zu können, dem Verein angehört und ihn unterstützt hatten. Das Präsidium war sich in der Bewertung der Lage schnell einig: Es durfte nicht sein, dass das Recht auf Selbstbestimmung am Lebensende zwar verfassungsrechtlich klargestellt wurde, sich für die Mitglieder der DGHS aber keine konkreten Veränderungen ergaben, was die Unterstützung durch die Deutsche Gesellschaft für Humanes Sterben anbetraf. Indessen bestand ebenfalls Einigkeit, dass die DGHS keine Sterbehilfeorganisation war und es – nach wie vor – auch nicht werden will.

So entstand das inzwischen – wie den zahlreichen Fallbeschreibungen dieses Weißbuches zu entnehmen ist – nachhaltig implementierte Konzept der Vermittlung von Freitodbegleitungen. Die DGHS bleibt Patientenschutz- und Bürgerrechtsorganisation, die aber nunmehr, nach entsprechender durch die Delegiertenversammlung vom 07./08. 11. 2020 legitimierter notwendiger Satzungsänderung1 unter bestimmten Bedingungen, primär der Applikation ihrer umfangreichen Sicherheitsstandards, Mitgliedern Freitodbegleitungen vermitteln kann, die durch mit der DGHS zusammenarbeitenden Jurist*innen und Ärzt*innen vorbereitet und durchgeführt werden. Kern dieses Sicherheitskonzepts ist das sog. Vier-Augen-Prinzip. Dies bedeutet, dass mit Eingang des Antrags auf Vermittlung einer Freitodbegleitung bis zu deren Durchführen immer zwei Personen mit der entsprechen beruflichen Expertise in die Vermittlung respektive die Durchführung involviert sind. Bei der Vermittlung sind dies regelmäßig zwei Psychologen*innen bzw. ein*e Psychologe*in und bei der Vorbereitung und Durchführung der Freitodbegleitung ein*e Jurist*in und ein*e Arzt*Ärztin. Dieses Sicherheitskonzept ist nach unserem Kenntnisstand einzigartig auf der Welt.

Die DGHS hat also in den Jahren 2020/2021 die Konsequenzen aus dem Karlsruher Urteil gezogen und ihr Angebot erweitert, gemäß den Grundsätzen der ersten Stunde, sodass es auch heute nach wie vor heißt: »Selbstbestimmung bis zur letzten Minute.«

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts und dessen Auswirkung

Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat am 26. Februar 2020 entschieden, dass § 217 Strafgesetzbuch (StGB), der bis Anfang 2020 die geschäftsmäßige Suizidhilfe verbot, verfassungswidrig und nichtig ist.

Es gibt ein Recht auf Selbstbestimmung über das eigene Lebensende. Es darf Hilfe angeboten werden und diese Hilfe darf angenommen werden.

Das Recht darauf, selbstbestimmt seinem Leben ein Ende zu setzen und dafür Hilfe anzunehmen, besteht in »jeder Phase menschlicher Existenz«. Dieses Selbstbestimmungsrecht steht also nicht nur unheilbar Kranken, sondern jedem zu: Jederzeit – uneingeschränkt. Auch Menschen, die in Seniorenheimen wohnen. Es gibt keine Beschränkung auf bestimmte, schwere Krankheiten oder das Lebensalter. Der Einzelne entscheidet das entsprechend seinem Verständnis von Lebensqualität und Sinnhaftigkeit.

Das bedeutet, der Staat darf die Hilfe zum Suizid nicht unter Strafe stellen, sondern muss dem Einzelnen ausreichend Raum zur Entfaltung und zur Umsetzung des Suizids geben. Einziges Kriterium ist die Freiverantwortlichkeit und Nachhaltigkeit der Entscheidung, sein Leben zu beenden. Dazu gehört auch, dass die Person über Alternativen informiert ist.

Der Staat darf die freie Willensentscheidung des Einzelnen vor den Einflüssen Dritter durch Regelungen und Gesetze schützen.

Verfassungsgemäße Berufsordnungen der Ärzte

Nach dem Urteil des BVerfG dürfen Sterbehilfevereine wieder tätig werden. Ohne geschäftsmäßige Suizidhilfe wäre den Sterbewilligen ein Zugang zu Hilfsangeboten kaum möglich, da eine große Zahl von niedergelassenen Ärzten von sich sagt, zur Suizidhilfe nicht bereit zu sein.

Die Musterberufsordnung der Ärzte wurde auf dem Deutschen Ärztetag im Mai 2021 geändert. Der seit 2011 darin enthaltene Satz »Sie dürfen keine Hilfe zur Selbsttötung leisten.« ist in der Empfehlung für die Landesärztekammern nicht mehr enthalten. Ärzt*innen leisten diese Hilfe freiwillig und sind nicht dazu verpflichtet.

Arzneimittelrecht/Betäubungsmittelgesetz muss geändert werden

Das BVerfG hält in seiner Urteilsbegründung »nicht nur eine konsistente Ausgestaltung des Berufsrechts der Ärzte und der Apotheker sondern möglicherweise auch Anpassungen des Betäubungsmittelrechts« für erforderlich (Urteil BVerfG vom 26. 2. 2020, Rdn. 341). Natrium-Pentobarbital ist das für die Suizidhilfe am besten geeignete Medikament. Deshalb ist dafür zu sorgen, dass es für diesen Zweck zugänglich ist.

Spielraum des Gesetzgebers

Der Gesetzgeber kann die Suizidhilfe neu regeln, muss dabei jedoch die Vorgaben des BVerfG beachten. Er kann z. B. die Suizidhilfe nicht auf bestimmte Krankheitsphasen beschränken (Suizidhilfe nur für unheilbar Kranke mit einer nur noch begrenzten Lebenserwartung).

Der Gesetzgeber kann Regelungen beschließen, die das Kriterium der Freiverantwortlichkeit und der Nachhaltigkeit der Entscheidung, sein eigenes Leben zu beenden, sicherstellen und den Einfluss Dritter ausschließen.

Regelungen des Gesetzgebers könnten Folgendes berücksichtigen:

·

Unüberlegte, spontane Suizide, z. B. indem ggf. Wartezeiten einzuhalten sind.

·

Suizide, die auf fehlender Urteils- und Einsichtsfähigkeit beruhen, z. B. bei Demenz oder verschiedenen psychischen Erkrankungen. In diesen Fällen wird die Urteils- und Einsichtsfähigkeit durch ein psychiatrisches Fachgutachten zu überprüfen sein.

·

Entscheidungen auf Grund falscher Einschätzung der eigenen Situation, z. B. durch fehlende Aufklärung oder falsche Informationen. Dies kann durch Beratung und Aufklärung verhindert werden.

·

Suizide, die aufgrund von Druck seitens anderer Personen vorgenommen werden.

Wer Suizidhilfe leistet, muss kompetent, sorgfältig und transparent vorgehen. Dies beinhaltet Beratung, Aufklärung, Aufzeigen von Alternativen, ggf. Überprüfung der Urteils- und Einsichtsfähigkeit, Ausschließen von Druck durch Dritte.

2 Begrifflichkeiten in der Diskussion um den assistierten Suizid

Der Begriff der Freitodbegleitung wird von der DGHS und ihren Kooperationspartnern in der Vermittlung solcher Freitodbegleitungen keineswegs willkürlich und zumeist an Stelle des ebenfalls häufig angeführten Terminus assistierter Suizid verwendet. Nachfolgend soll skizziert werden, warum dieser Begriff anderen begrifflichen Alternativen bewusst vorgezogen und mit einem spezifischen Inhalt verbunden wird.

Im alltäglichen Sprachgebrauch können zunächst auf einer präreflexiven Ebene Termini wie Selbsttötung, Freitod, Suizid oder auch Selbstmord in vielen Fällen als Synonyma verstanden werden, die dasselbe Phänomen bezeichnen, schlicht gesprochen: Ein Mensch tut etwas, durch das sein eigenes Leben endet. Moralische Wertungen können diffus mitschwingen, ohne ausdrücklich expliziert zu werden; bisweilen lässt erst ein umfassenderer Kontext eines Gespräches eine solche Wertung, positiv oder negativ getönt, erkennen. Andererseits ist es nicht zwingend, dass mit der begrifflichen Wahl zugleich eine wertende Perspektive eingenommen wird – viele Menschen sprechen beispielsweise vom Selbstmord, ohne damit aktiv eine persönliche Abwertung des betreffenden Phänomens zu beabsichtigen.

Sobald jedoch eine bewusste, reflexive oder gar wissenschaftlich geprägte Auseinandersetzung mit dem Signifikat erfolgt, erscheint es nicht mehr ohne weiteres möglich, die verschiedenen angeführten Signifikanten als gleichberechtigte Synonyme zu verwenden. Wir sind dann gut beraten, eine deskriptive von einer wertenden Ebene zu unterscheiden. Gemeinhin fallen in Fachdiskursen aus Philosophie, Recht, Politik, Psychologie, Psychiatrie und Medizin Selbstmord und Freitod fort, da mit ihnen eine negative respektive positive moralische Bewertung des bezeichneten Phänomens assoziiert wird. Vorgezogen werden häufig die mutmaßlich neutraleren Bezeichnungen Selbsttötung oder Suizid.

Allerdings kann mit gutem Recht bezweifelt werden, ob dem Begriff Suizid nach wie vor in allen seinen Verwendungen die deskriptive Natur zukommt, die vorgeblich mit ihm verbunden wird. Die wörtliche Bedeutung aus dem lateinischen sui caedere – seiner selbst niederzuschlagen bzw. zu töten – ist für sich genommen nicht problematisch. Doch häufig tritt diese Begriffswahl in einem psychopathologischen Kontext auf, indem entweder die Suizidalität als eine Konsequenz einer psychischen Erkrankung oder die Suizidalität selbst als pathologische Manifestation gesehen wird. Kulturgeschichtlich ist es ein Fortschritt, wenn ein Suizid nicht mehr als »Sünde« oder »diabolische Besessenheit«, sondern als Ausdruck von Krankheit und Leiden gesehen wird. Zugleich bedient die oft genug im Raum schwebende – freilich nicht immer offen artikulierte – Interpretation der Suizidalität als pathologisch eine zu schlichte Konklusion, die Fachpersonal die Intervention nahelegt, weitere Behandlung zu empfehlen, eine Selbsttötung aber auf jeden Fall zu vermeiden. Selbst wenn die These, Suizidalität sei pathologisch, nicht als universelle Aussage formuliert wird, so scheint es doch eine große Zahl von Professionellen in den entsprechenden Bereichen zu geben, die dies als für die meisten Fälle zutreffend erachten. Von seiner eigentlichen Bedeutung her kann der Terminus im Deutschen synonym mit Selbsttötung gebraucht werden, von seiner empirischen Verwendung her hingegen haftet ihm leider in Teilen eine einseitig pathologische Färbung an. Aus diesem Grund ist der Begriff Suizid in mancherlei Hinsicht nicht ideal, um eine freiverantwortliche Beendigung des eigenen Lebens zu bezeichnen. Es sprechen daher gute Gründe dafür, eine andere Begrifflichkeit für eine freiverantwortliche, nicht-pathologische Beendigung des eigenen Lebens zu verwenden.

Anders verhält es sich zumindest im deutschsprachigen Raum mit der Begriffswahl der Selbsttötung. Es mag keine nennenswerte Bedeutungsdifferenz zu dem Begriff Suizid bestehen, jedoch kann man durchaus von einer Verwendungsdifferenz sprechen. In dieser Verwendung beschreibt die Selbsttötung schlechthin dasjenige, was sich ereignet, wenn sich ein Mensch eigenhändig das Leben nimmt, und worin die irreversible Konsequenz besteht, ohne dabei notwendig eine moralische Wertung oder einen pathologischen Kontext zu implizieren. Somit handelt es sich hier um eine recht eindeutig deskriptive begriffliche Variante, die sich daher auch als Oberbegriff für alle Handlungen eignet, in denen ein Mensch sich durch eigenes Handeln das Leben nimmt, ob pathologisch oder nicht, assistiert oder nicht usw.

Von Selbstmord zu sprechen, erscheint indessen nicht allein aus einer ethischen Perspektive fragwürdig, sondern auch aus einer juristischen und letztendlich auch einer logischen Warte, wie schon häufiger in entsprechender Fachliteratur thematisiert wurde. Ein Mord kann de facto nur als Mord an einer anderen Person verstanden werden, insofern als – vereinfacht gesprochen – Merkmale des Tatmotivs wie besonders niedrige und verwerfliche Beweggründe oder Heimtücke, die eine zentrale Rolle bei der Begehung spielen. Es erscheint schwer vorstellbar, wie eine Person diese Merkmale bei einer sich selbst zugefügten Tat aufweisen können soll, und somit geradewegs widersprüchlich: Wenn der Charakter der Handlung beinhaltet, dass A sie plant bzw. in irgendeiner anderen Weise von ihr Bewusstsein hat, und B als Opfer der Handlung dieses Bewusstsein seinerseits nicht hat, kann es sich bei B nicht um A handeln (oder anders gesagt: A und B können nicht personenidentisch sein), da A nicht das tatbezogene Unwissen aufweisen kann, das bei B vorliegt.

Vordergründig mag wiederum der Begriff Freitod als gegensätzliches Pendant zum Begriff Selbstmord erscheinen, insofern als ersterer in ähnlichem Maße zur positiv wertenden, euphemistischen Seite hin ausschlagen könnte wie letzterer zur negativ wertenden, pejorativen. Doch die nähere Betrachtung lässt Zweifel an dieser Gegenüberstellung aufkommen und legt nahe, dass es sich um eine falsche Äquivalenz (false equivalence) handeln dürfte. Insbesondere ist dem Frei-Tod nicht dieselbe inhärente Widersprüchlichkeit zu eigen wie dem Selbst-Mord. Denn sofern wir überhaupt dem Menschen eine Kapazität für einen freien Willen und damit auch für freie Handlungen zubilligen wollen, ist es auch denkbar, aus freien Stücken den eigenen Tod zu wählen und etwas zu unternehmen, dass diesen Entschluss in die Tat umsetzt. Die philosophische Debatte, ob es einen freien Willen gibt oder ob das menschliche Handeln durchweg kausal determiniert ist, kann hier nicht angeschnitten und schon gar nicht beantwortet werden. Wir müssen uns hingegen damit bescheiden, dass wir im gesellschaftlichen Handeln rechtlich, politisch und auch im alltäglichen Umgang kognitiv nicht in entsprechender Weise eingeschränkten Menschen eine freie Willensbildung zugestehen und daher auch, aufgrund dieser freien Willensbildung frei zu handeln. Wenn hier von »frei« gesprochen wird, ist damit keineswegs »gänzlich unbeeinflusst von allem und jedem« gemeint. Es ist keinem Menschen möglich, über sein gesamtes Leben ganz und gar isoliert und unbeeinflusst von seinem familiären, sozialen, ökonomischen und kulturellen Umfeld und dessen Wertvorstellungen zu sein – sei es in der Übernahme, der kritischen Auseinandersetzung mit oder eben der Ablehnung von diesen Wertvorstellungen. Eine autonome Entscheidung ist etwas, das in Relation und einem Maß von Abgrenzung zu Anderen (und deren Vorstellungen, Wünschen etc.) gebildet und vertreten wird. Ich behaupte mich mit meiner freien Entscheidung gegenüber Mitmenschen oder Institutionen, die anderes wollen. Das freie Urteil entsteht in der Distanzierung von möglichem äußeren Druck, unter Einbeziehung verschiedener Alternativen, in Antizipation möglicher Konsequenzen usw. »Frei« heißt hier primär, dass das Individuum Reflexionszentrum mit Urteils- und Einsichtsfähigkeit über die eigenen Handlungen und Übernahme von Verantwortung für die daraus entstehenden Konsequenzen ist.

Es ist nicht ersichtlich, warum es eine freie Entscheidung zur Berufswahl, zur Eheschließung oder zu einem Immobilienankauf geben können soll, aber keine freie Entscheidung, das eigene Leben zu beenden. Wir haben es somit nicht mit der Frage zu tun, ob es einen Freitod geben kann, sondern der, unter welchen Bedingungen die Beendigung des eigenen Lebens einen Freitod darstellt.

Vorangestellt sei ferner, dass die DGHS keineswegs einer romantisierenden Konzeption, die gelegentlich mit dem Begriff Freitod verbunden wird, das Wort redet, auch wenn dies von Gegnern einer Selbstbestimmung am Lebensende behauptet werden mag. Vielmehr handelt es sich um eine nüchterne Betrachtungsweise, bestimmte Fälle, in denen sich Menschen zu einer Beendigung ihres eigenen Lebens entschließen, zu kategorisieren. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes vom 26. 02. 2020 erweist sich mit dem Verständnis des Freitodes von Seiten der DGHS im Übrigen als vollauf kompatibel.

Wenn nämlich eine Person in ihrer Urteils- und Einsichtsfähigkeit uneingeschränkt ist und in der Beurteilung ihrer Lebenssituation und der ihr realistisch zur Verfügung stehenden Alternativen rational geprägt zu dem Entschluss gelangt, ihr Leben selbst beenden zu wollen und auf dieser Grundlage geeignete Wege verfolgt, diese Entscheidung durch eigenes bewusstes Tun umzusetzen, so handelt es sich um einen Freitod.

Es kann also, diesem Verständnis folgend, ausgesagt werden: Jeder Freitod ist eine Selbsttötung, aber nicht jede Selbsttötung stellt automatisch einen Freitod dar. Dementsprechend wird deutlich, dass die von der DGHS auf Antrag hin geprüften und unter bestimmten Bedingungen vermittelten ärztlichen Freitodbegleitungen eine qualitativ besondere Form eines assistierten Suizids repräsentieren. Die von der DGHS in Ergänzung zu den durch das Bundesverfassungsgericht geforderten Bedingungen sich selbst auferlegten Sicherheitskriterien bewirken, dass diese Form der assistierten Selbsttötung eine partikuläre Bezeichnung verdient, was einen der Gründe darstellt, warum sie sich für die Bezeichnung der Freitodbegleitung entschlossen hat. Denn die Begleitung repräsentiert ebenfalls einen wichtigen Aspekt des Gesamtprozesses: Den freitodwilligen Menschen wird nicht schlicht ein Medikament zur Verfügung gestellt, sondern ihnen stehen während des Antragsprozesses und nach der Vermittlung zunächst in der Geschäftsstelle und späterhin in Person der kooperierenden Jurist*innen und Ärzt*innen Ansprechpartner*innen zur Verfügung, die organisatorische, formale, rechtliche und medizinische Fragen beantworten können. Bei diesem Prozess handelt es sich ausdrücklich nicht um eine »Beratung« im Sinne einer psychosozialen oder gar prototherapeutischen Intervention, sondern eben um eine Begleitung: