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Diese Entgiftungskur ist reines Gift. Ein Guru der Detox-Szene wird beschuldigt, einen wohlhabenden Geschäftsmann vergiftet zu haben – doch die Faktenlage ist widersprüchlich und die Lebensgeschichte des Toten sorgt für Irritationen. Die junge Apothekerin Maja Ursinus will den Fall nutzen, um sich als Expertin zu profilieren. Aber dabei unterläuft ihr ein entscheidender Fehler: Viel zu spät begreift sie, wie brisant der Fall wirklich ist und dass jemand ihre Nachforschungen um jeden Preis verhindern will. Jemand, den Maja nur allzu gut kennt ... Nach »Schwarzer Nachtschatten« und »Rote Belladonna« der neue Fall für die Apothekerin und Giftpflanzenexpertin Maja Ursinus, hochspannend und hervorragend recherchiert von SPIEGEL-Bestsellerautor Jürgen Seibold!
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© Piper Verlag GmbH, München 2021
Redaktion: Annika Krummacher
Covergestaltung: FAVORITBUERO, München
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Cover & Impressum
Was für ein…
1 – Es herrschte Erkältungswetter…
2 – Es war eine…
3 – Michael Ursinus hatte…
4 – Alfons Kinner schnaubte…
5 – Veit Rappesteyn hatte…
6 – Die Pizzeria war…
7 – Maja wurde am…
8 – Maja beobachtete durch…
9 – Veit Rappsteyn betrat…
Danksagung
Was für ein Tod! In der eigenen Wohnung vergiftet zu werden, und der Mörder schaut seelenruhig zu, bis einem der Atem vergeht. Noch benommen von der Narkose hatte er sich nicht wehren können, als ihm die Nase zugehalten und so lange Whisky in den Mund geschüttet wurde, bis er schlucken musste, um nicht zu ersticken. Der Alkohol hatte widerwärtig geschmeckt, und er hatte schon bald erkannt, welcher Giftstoff darin aufgelöst worden war.
Ganz langsam würde sich die Lähmung, die er schon in den Beinen spürte, in seinem Körper ausbreiten, würde höher und höher steigen, und ganz am Ende würde er aufhören zu atmen. Er würde verlöschen wie das Licht einer heruntergebrannten Kerze. Wobei dieses Bild schöner war als das Ende, das ihn erwartete.
Dabei hatte er noch immer nicht verstanden, warum er sterben musste. Der Mann vor ihm ließ ihn nicht aus den Augen. Er hatte ihm viel erzählt, aber nichts davon erklärte, warum er ihn vergiftete und warum er sich an seinem elenden Sterben weidete.
Irgendwann hatte sein Mörder noch gesagt, dass es etwas Besonderes sei, zu sterben wie der berühmte Philosoph Sokrates. Und dass es doch geradezu eine Verbeugung vor ihm, seinem Opfer, sei, dass er für den Schierlingsbecher Whisky genommen habe, den er doch lieber möge als den Wein, in dem Sokrates das Gift aufgelöst hatte.
Es war schlimm, auf diese Weise zu sterben, aber in manchen Momenten fand er es fast noch schlimmer, nicht in Ruhe gehen zu dürfen, sondern sich obendrein das unerträgliche Gerede seines Mörders anhören zu müssen.
Jetzt immerhin hielt dieser den Mund und sah ihn noch aufmerksamer an. Beugte sich zu ihm und schaute ihm tief in die Augen. War es jetzt so weit? Sein Atem ging nur noch flach, Angst flackerte empor, große Angst. Er riss den Mund auf, brachte jedoch keinen Schrei mehr zustande.
Es herrschte Erkältungswetter, draußen fiel Nieselregen, die Temperaturen lagen knapp über dem Gefrierpunkt, und ein kalter Wind strich durch Münchens Straßen. Jedes Mal, wenn neue Kundschaft die Dachstein-Apotheke im Stadtteil Laim betrat, ließ die Glastür einen Schwall feuchtkalter Luft herein. Maja Ursinus hatte an diesem Dienstag Ende Januar zahlreiche Triefnasen, gerötete Augen und heisere Kehlen vor sich, und zum Glück hatten sich inzwischen sogar die Rücksichtslosesten angewöhnt, in die Armbeuge zu husten oder zu niesen. Sie nahm Rezepte in Empfang, gab Arzneien aus und beantwortete Fragen zu passenden Hausmitteln. Auch die Kollegin neben ihr arbeitete schnell und effizient, und genau wie Maja fand sie zwischendurch immer noch Zeit für ein Lächeln und ein nettes Wort.
Christiane Adamek, die Inhaberin der Apotheke, kam nach vorn und winkte Maja mit dem Mobilteil des Telefons. Maja verabschiedete noch rasch ihre Kundin, dann ließ sie sich das Telefon geben, eilte in den Aufenthaltsraum, nahm den Hörer ans Ohr und meldete sich. Sie wusste zwar noch nicht, wer am anderen Ende auf sie wartete, aber vielleicht hatte es mit ihrem Bruder Michael zu tun, um den sie sich gerade große Sorgen machte.
»Mein Name ist Rappsteyn«, sagte eine sonore Männerstimme.
»Worum geht’s, bitte?«
»Ich bin Anwalt und rufe im Auftrag eines Mandanten an. Es geht um ein bevorstehendes Verfahren am Landgericht Mannheim.«
Als der Name der Stadt fiel, horchte Maja auf, denn in der Nähe von Mannheim hatte ihr Bruder vor etwa einem Jahr eine neue Anstellung gefunden. Über die unverhoffte zweite Chance für einen Pharmazeuten, der im Studium erst geglänzt, sich dann aber vor allem um den Verkauf und Verbrauch selbst hergestellter Betäubungsmittel gekümmert hatte, war Michael ganz aus dem Häuschen gewesen. Er hatte zu diesem Zeitpunkt schon probiert, von den Drogen wegzukommen, doch das Jobangebot war der Anschub gewesen, den er brauchte. Er schaffte den Entzug recht schnell und arbeitete seither in der Apotheke der Fastenklinik Birkner, einer privaten Einrichtung, die vor zehn, fünfzehn Jahren zu einer Institution des Heilfastens geworden war.
Damals hatte Hans Birkner Fernsehsendungen moderiert, in denen Patienten mit Übergewicht, Diabetes und Bluthochdruck durch eine von ihm entwickelte Fastenkur von ihren gesundheitlichen Problemen befreit werden konnten. Das Medienecho war so groß, dass Birkner die Gunst der Stunde nutzte und eine pleitegegangene Privatklinik kaufte und renovierte. Seither sah man Birkner zwar nicht mehr regelmäßig im Fernsehen, aber er schaltete Anzeigen in allen gängigen Frauenzeitschriften, in denen er seine Fastenklinik bewarb. Maja erinnerte sich an einen dünnen, fröhlich lächelnden Mann von fünfzig Jahren mit klaren Augen hinter der randlosen Brille und einer hohen Stirn, über der das blonde Resthaar schon schütter wurde.
»Frau Ursinus?«, kam es vom anderen Ende der Leitung.
»Entschuldigen Sie bitte, ich war kurz in Gedanken. Ich erwarte tatsächlich einen Anruf aus Mannheim, aber nicht gerade von einem Anwalt.« Dann erschrak sie. »Ihr … Ihr Mandant ist nicht mein Bruder Michael, oder?«
»Michael Ursinus? Ich habe zwar vor Kurzem mit ihm gesprochen, aber nein: Der Mann, den ich vertrete, ist Hans Birkner. Er ist des Mordes angeklagt, und ich wollte Sie um ein Gutachten bitten.«
Von draußen war Stimmengemurmel zu hören, und Christiane Adamek, die Maja am Tresen vertrat, streckte den Kopf zur Tür herein. Mit einer Geste gab Maja ihrer Chefin zu verstehen, dass sie gleich in den Verkaufsraum zurückkommen werde.
»Können wir das vielleicht heute Abend besprechen? Ich muss jetzt wieder nach vorn, hier ist gerade ziemlich viel los. Erkältungswetter …«
»Natürlich, natürlich, entschuldigen Sie bitte, dass ich Sie während der Arbeit störe. Wann kann ich Sie denn erreichen?«
»Um sieben. Nein, lieber erst ab halb acht. Ginge das?«
»Aber sicher doch. Ich bin ja froh, dass Sie sich überhaupt Zeit für mich nehmen. Möchten Sie mir Ihre Handynummer geben?«
Maja nannte sie ihm, und während er sich verabschiedete, fiel ihr ein, was sie den Anwalt unbedingt noch hatte fragen wollen.
»Können Sie mir sagen, was mit Michael ist? Ich erreiche ihn seit …«
Sie verstummte. Der Anwalt hatte aufgelegt. Einen Moment lang erwog sie, die Rückruftaste zu drücken, dann beschloss sie, dass ihre Frage noch bis heute Abend warten konnte. Bis zum Ladenschluss hatte sie auch keine ruhige Minute mehr, um auch nur einen Gedanken an Michael und den Mannheimer Anwalt zu fassen.
Die Justizvollzugsanstalt Mannheim lag still in der fortschreitenden Dämmerung. Das Licht der Straßenlaternen spiegelte sich in den Pfützen vor dem Torgebäude, das sich mit seinen Türmen trotzig gegen das widrige Wetter zu stemmen schien, und die nassen Mauersteine in ihren Braunschattierungen wirkten am Abend noch abweisender als tagsüber.
Hans Birkner lag auf seinem Bett und starrte an die Decke. Er sah den Sterbenden vor sich, erinnerte sich an die verzweifelten Stunden nach dem Tod des Mannes und die vergebliche Suche nach einem Ausweg.
Sein Anwalt war ein Ass, aber Birkner hatte kaum Hoffnung, dass das reichen würde, um ihm und seinem Fahrer Maxim, den ein anderer Anwalt aus Rappsteyns Kanzlei vertrat, eine Haftstrafe zu ersparen. Zu erdrückend wirkte das, was die Polizei an Indizien zusammengetragen hatte. Und in Verbindung mit dem Gutachten des Heidelberger Professors würde ihn niemand vom Vorwurf des Mordes freisprechen. Birkner war nicht einmal sicher, ob Rappsteyn noch an seine Unschuld glaubte. Die Gespräche mit ihm waren zuletzt eigenartig gewesen. Auch von dem zweiten Gutachten, das sein Anwalt erstellen lassen wollte, versprach er sich nicht viel. Wie sollte jemand etwas anderes herausfinden als Professor Fogl? Galt der nicht als der führende Experte auf seinem Gebiet?
Birkner lachte freudlos in sich hinein. Ausgerechnet Fogl hatte das Gutachten verfasst, einer von der alten Garde, von denen, die ihn als Pharmazeuten nie für voll genommen hatten und ihm den wirtschaftlichen Erfolg mit seiner Variante des Heilfastens nicht gönnten. Aber er hatte sich mit dem Gegenwind arrangiert, der ihm als Pharmazeut ins Gesicht blies, und einen neuen Weg eingeschlagen. Mittlerweile erinnerte er sich nur noch selten daran, wie abschätzig die lieben Kollegen über ihn gedacht und gesprochen hatten.
Auch auf seine jetzige Situation hatte er sich erstaunlich schnell eingestellt. In den Nächten tat er zwar manchmal kein Auge zu, weil ihm die Wände zu eng beieinanderstanden, weil durch das Fenster zu wenig Licht in den Raum fiel, weil er durch jedes Geräusch aufgeschreckt wurde, das im Gang vor seiner Zellentür ungewohnt laut widerhallte. Aber er ließ sich durch den monotonen Tagesablauf treiben, selbst an das Essen hatte er sich gewöhnt. Die Gefängnismitarbeiter behandelten ihn korrekt, einige sogar freundlich.
Den im Tagesplan vollmundig »Spaziergang« genannten Rundgang über den Gefängnishof hatte er in den ersten Tagen noch als bedrückend empfunden, inzwischen sog er die Luft draußen begierig ein und störte sich auch nicht an Regen oder Schnee. Sein Fahrer Maxim Frank, der ebenfalls hier untergebracht war, kam vermutlich noch besser als er mit der U-Haft zurecht. Er hatte schon mehrmals hier eingesessen, und seine geradezu furchterregende Statur bewahrte ihn davor, dass andere Häftlinge Streit mit ihm suchten.
Maxim war ein guter Kerl, treu, loyal bis zur Selbstaufgabe. Aber seine Prognosen standen schlecht wegen seiner Vorstrafen, die auf die ihm vorgeworfene Tat passten wie die Faust aufs Auge. Birkner hätte ihm gern Mut gemacht, aber sie wurden voneinander ferngehalten.
Von einem Wärter hatte er erfahren, dass sich Maxim freiwillig für die Arbeit in der Gefängnisschlosserei gemeldet hatte. Birkner fand das gut. Es war zwar lange her, dass sein Fahrer seine Lehre abgeschlossen und einige Jahre im erlernten Beruf gearbeitet hatte, aber alles konnte er nicht vergessen haben, und er würde zupacken, sich körperlich verausgaben können. Das half ihm sicher dabei, seine Aggressionen im Griff zu behalten.
Was aber sollte Birkner gegen seine eigene innere Unruhe in den Nächten hinter Gittern unternehmen, gegen dieses Gefühl des Eingesperrtseins, das ja leider nicht nur ein Gefühl war? Kurz hatte er erwogen, sich für den Küchendienst zu melden, und er hatte halb gespannt, halb amüsiert darüber nachgedacht, ob das wohl jemandem gestattet wurde, dem die Staatsanwaltschaft Giftmord vorwarf. Doch weder hatte er Talent fürs Kochen, noch hatte er Lust, sich in dieser Einrichtung an irgendetwas zu binden, sich für irgendetwas zu engagieren, bevor er dazu gezwungen sein würde.
Und so hatte er sich für stilles Ausharren entschieden.
Die Wohnung war klein, aber praktisch geschnitten. Neben einem Bad und einem Schlafzimmer gab es ein geräumiges Wohnzimmer, in dem eine Küchenecke mit einer Theke abgetrennt war. Durch die bodentiefen Fenster und die Terrassentür blickte man in den Park, der die Klinik und die Wohngebäude umschloss. Diese Glasfront sorgte dafür, dass die Wohnung sehr hell war. Das machte sich sogar jetzt im Januar bemerkbar, wenn die Sonne früh unterging, weil dann die Laternen draußen im Park die Räume in ein sanftes gelbliches Licht tauchten.
Die meisten Apartments hatten denselben Grundriss, allerdings verfügten die Wohnungen in den oberen Geschossen über einen Balkon statt einer Terrasse. Jedes Wohngebäude bot außerdem zwei größere Wohnungen, die zusätzlich mit einem Kinderzimmer ausgestattet waren, sowie eine großzügige Penthouse-Wohnung, die für die Führungskräfte der Klinik reserviert war.
Von dort oben konnte man bis zu dem Haus schauen, in dem Dr. Birkner lebte. Michael Ursinus war die Sicht auf Birkners Heim durch einen der sanften Hügel versperrt, die das weitläufige Gelände der Fastenklinik prägten. Auch von seinem Labor aus, das im Untergeschoss der Klinik eingerichtet war, konnte er das Gebäude nicht sehen. Aber er war schon dort gewesen, an einem der Abende, an denen der Chef seine Mitarbeiter zu kleinen Feiern versammelte. Und auch den Blick aus einer der Penthouse-Wohnungen hatte er schon genießen dürfen: Dr. Florian Holsten, der als Chefarzt der Klinik fungierte und Birkner im Tagesgeschäft den Rücken freihielt, lud regelmäßig Gruppen von Mitarbeitern zu sich ins Penthouse von Gebäude vier ein, um der Stimmung in den Teams nachzuspüren, wie er es ausdrückte.
Michael hatte es gut getroffen mit seinem Job. Überwiegend nette Kollegen, interessante Aufgaben, und außer der Betriebswohnung bekam er dafür auch noch ein anständiges Gehalt. Natürlich hatten Holsten und die kaufmännische Leiterin Mariana Rombach für alle Beschäftigten nur beruhigende Worte, wenn es um die Zukunft des Unternehmens ging. Aber für den Fall, dass Birkner als Mörder verurteilt wurde, sah Michael schwarz für die Fastenklinik. Und wer würde ihm dann Arbeit geben? Wer außer Birkner würde über seine Drogensucht hinwegsehen, die er erst vor einem Jahr überwunden hatte?
Er lächelte traurig. Sein Blick streifte die kleine Plastikdose auf seinem Couchtisch, dann schob er sie etwas von sich weg. Noch ging es ohne. Stattdessen schenkte er sich großzügig Whisky nach und hielt das Glas in die Höhe. Es war kein besonders hochwertiger Whisky, aber immerhin beruhigte ihn der Alkohol ein wenig. Durch die golden schimmernde Flüssigkeit hindurch wirkte das Licht der Laternen draußen im Park wie gedämpft. Einen Moment war es ihm, als schiebe sich ein Schatten zwischen den Whisky und die Laterne, die seiner Terrasse am nächsten stand. Doch als er das Glas zur Seite nahm, war draußen niemand zu sehen.
Michael lehnte sich zurück, prostete dem leeren Zimmer zu und ließ einen großen Schluck durch seine Kehle rinnen.
Der Nieselregen hatte inzwischen aufgehört, und Maja ging auf einem Umweg nach Hause. Ihre Wohnung lag keine zweihundert Meter von der Apotheke entfernt, was für den Weg zur Arbeit zwar praktisch war, nach Feierabend aber nicht ausreichte, um den Kopf freizubekommen. Und so streifte sie noch eine Weile durch kleine Grünanlagen und leidlich ruhige Nebenstraßen, bevor sie das Haus betrat, in dem sie schon während des Studiums gelebt hatte. Im ersten Stock befand sich die WG, deren Hauptmieterin sie war. Unterwegs hatte sie eine Textnachricht von ihrem Freund Markus Brodtbeck erhalten, der in der Wohnung gegenüber lebte. Er würde noch eine Zeit lang im Kommissariat bleiben müssen und erst gegen halb neun heimkommen. Sie hatten inzwischen natürlich den Schlüssel für die Wohnung des jeweils anderen, aber Maja fühlte sich ohne Markus in dessen Räumen nicht wohl, also beschloss sie, auch diesmal in der WG auf ihn zu warten.
Im Wohnzimmer saßen ihre Mitbewohner beisammen und schöpften Suppe in ihre Teller. Es roch seltsam, und alle bedienten sich eher sparsam und nahmen dafür viel Brot. Daniel trug noch die Schürze, was alles erklärte. Er war ein begeisterter, aber lausiger Koch, und die anderen brachten es nicht immer übers Herz, ihm zu sagen, wie sehr ihm seine Gerichte missrieten.
»Setz dich, Maja«, sagte er und deutete strahlend auf den dampfenden Kochtopf. »Es ist noch genügend da, ich hol dir schnell einen Teller.«
In diesem Moment klingelte ihr Handy, und Maja war sehr dankbar für diese Möglichkeit, Daniels Einladung zu entkommen. Sie hielt das Telefon in die Höhe, machte eine entschuldigende Miene und verschwand in ihrem Zimmer.
»Rappsteyn hier«, meldete sich der Anwalt, nachdem sie es ein paarmal hatte klingeln lassen. »Rufe ich ungelegen an?«
»Nein, gar nicht.«
»Ich hatte schon erwähnt, dass ich Hans Birkner vertrete und dass er des Mordes angeklagt ist.«
»Mein Bruder arbeitet für Ihren Mandanten.«
»Ich weiß.«
»Und ich erreiche ihn seit einiger Zeit nicht mehr. Hat das womöglich mit Ihrem Fall zu tun? Und können Sie mir sagen, ob es Michael gut geht?«
»Ich habe vorgestern mit ihm gesprochen, aber er hat nichts mit der Anklage gegen meinen Mandanten zu tun. Zumindest habe ich bisher keine Hinweise in diese Richtung bekommen. Wie es ihm im Moment geht … ich fürchte, die Geschichte um Herrn Birkner hat ihn sehr mitgenommen.«
»Ich dachte, er hat nichts mit der Mordanklage zu tun?«
»Das nicht, aber … wie soll ich es sagen? Ihr Bruder und die anderen Beschäftigten der Fastenklinik machen sich Sorgen um ihre Arbeitsplätze. Wenn Herr Birkner verurteilt wird und ins Gefängnis muss, ist die Zukunft der Klinik ungewiss, um es vorsichtig auszudrücken. Und selbst wenn er freigesprochen wird: Diese Anklage ist ganz sicher nicht die Form von Öffentlichkeit, die einer solchen Einrichtung zuträglich ist.«
»Das kann ich mir vorstellen. Sie sagten, dass das alles meinen Bruder sehr mitgenommen hat. Was genau wollten Sie damit andeuten?«
»Ich kenne Ihren Bruder nicht näher, aber als ich mit ihm gesprochen habe, machte er auf mich einen sehr verzweifelten Eindruck. Und ich könnte mir vorstellen, dass ihn die Angst um seinen Arbeitsplatz … aus der Bahn werfen könnte.«
Maja wusste nur zu gut, wie Michael in den vergangenen Jahren mit Belastungen umgegangen war. Sie versank in Gedanken, bis Rappsteyn sie wieder in die Gegenwart zurückholte.
»Ich hatte erwähnt, dass ich Sie gern mit einem Gutachten beauftragen würde.«
»Im Zusammenhang mit der Mordanklage?«
»Ja. Der Mann, der zu Tode gekommen ist, starb an einem Wirkstoff, der aus Schierling gewonnen wird.«
»Aus welcher Art?«
»Geflecktem Schierling.«
»Oh, das ist kein schöner Tod«, entfuhr es Maja. »Das Coniin verursacht Lähmungen, die sich allmählich von den Füßen nach oben ausbreiten. Man stirbt am Ende durch Atemlähmung, und der Tod tritt bei vollem Bewusstsein ein.«
»So habe ich es auch verstanden. Sokrates soll sich mit einem Schierlingsbecher selbst hingerichtet und während seines Sterbens bis zum Schluss mit seinen Schülern gesprochen haben.«
»Na ja, da sollten Sie die Schilderung von Platon nicht allzu wörtlich nehmen. Er wollte das Sterben seines Lehrers sicher möglichst ästhetisch beschreiben, da hätten verzerrte Gesichtszüge und einige unappetitliche Begleiterscheinungen das positive Bild nur gestört. Ich hätte an Sokrates’ Stelle lieber Wasserschierling genommen. Das Cicutoxin, das darin am stärksten wirkt, sorgt wenigstens dafür, dass der Sterbende während der schlimmsten Krämpfe und ganz am Ende das Bewusstsein verliert.«
»Freut mich zu hören, dass ich die Richtige angerufen habe«, bemerkte der Anwalt.
»Ich vermute, dass Sie sich gründlich über mich informiert haben und deshalb wissen, dass ich über pflanzliche Wirkstoffe promoviert habe.«
»Natürlich. Und auch wenn ich an Ihrer Arbeit nicht alles verstanden habe, scheinen Sie sehr gut über die Wirkung der Stoffe Bescheid zu wissen, auch über die Zeiträume, in denen sich diese Wirkung entfaltet. Und genau darauf würde ich Sie bitten, in Ihrem Gutachten das hauptsächliche Augenmerk zu richten. Gesetzt den Fall, Sie würden den Auftrag annehmen. Hätten Sie denn überhaupt Zeit?«
»In den vergangenen Monaten hätte ich, was das betrifft, sofort zugesagt. Aber ich habe morgen ein wichtiges Gespräch, und wenn das positiv verläuft, könnte es sein, dass mich mein Beruf in der nächsten Zeit zu sehr in Anspruch nimmt.«
»Wollen Sie wieder in die Forschung zurück?« Maja stutzte, und lachend fügte der Anwalt hinzu: »Die Apotheke, in der Sie arbeiten, hätte Sie in den vergangenen Monaten nicht gehindert, den Auftrag anzunehmen – das haben Sie gerade selbst gesagt. Bleibt meines Erachtens nur der Wechsel in eine Forschungsabteilung, vielleicht ja sogar wieder an der LMU, wo Sie früher schon geforscht hatten.«
Rappsteyns Annahmen irritierten sie, aber er hatte recht: Wer ihren Werdegang recherchiert hatte, musste diese Schlussfolgerung ziehen. Tatsächlich hatte sie morgen einen Bewerbungstermin an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität, an der sie früher geforscht hatte und wo nun die Leitung einer neuen Forschungsgruppe zu besetzen war.
»Gut geraten, Herr Rappsteyn. Vermutlich gibt es vor Gericht leichtere Gegner als Sie. Herr Birkner wird froh sein, Sie als Anwalt zu haben.«
»Danke für die Blumen, Frau Ursinus. Aber ich kann vor Gericht argumentieren und plädieren, wie ich will: Wenn es die Indizien, die Zeugenaussagen und die Gutachten nicht hergeben, stehe auch ich auf verlorenem Posten.«
»Was müsste mein Gutachten denn hergeben?«
»Das kann ich Ihnen natürlich schlecht vorschreiben. Ich würde nur gern zu einem ganz bestimmten Punkt eine zweite Meinung einholen – denn genau in diesem Punkt kommt das Gutachten eines anderen Sachverständigen aus Sicht meines Mandanten leider zu einem sehr ungünstigen Ergebnis.«
»Ach, es gibt schon ein Gutachten?«
»Ja, von Professor Hubert Fogl aus Heidelberg.«
»Den kenne ich natürlich. Hinter mir im Regal steht ein Lehrbuch von ihm, ein Standardwerk in meinem Fach. Ich habe einige seiner Vorlesungen besucht, als er mal Gastdozent an der LMU war. Fogl ist eine Koryphäe in der Pharmazie, und gerade zu pflanzlichen Wirkstoffen hat er viel geforscht. Nur …«
»Nur?«
»Nun, manche meiner Kollegen berauschen sich mit den Jahren an ihrer Arbeit und gehen neue Projekte nicht mehr hinreichend offen an.«
»Wie meinen Sie das?«
»Sie als Anwalt kennen die Gesetze und müssen Ihre Argumentationen manchmal an Gesetzesänderungen oder neue Auslegungen durch die Gerichte anpassen – aber letztendlich leben Sie von der Gewissheit, Ihr Fachgebiet durchdrungen zu haben. Und je klarer Sie Ihren Standpunkt vertreten, je unerschütterlicher Sie auftreten und je selbstbewusster Sie sich für Ihre Mandanten einsetzen, umso besser.«
»So könnte man es ausdrücken. Ist das in Ihrem Bereich wirklich so viel anders?«
»Wissenschaftliches Arbeiten heißt vor allem, Zweifel zuzulassen, einmal gefasste Meinungen immer wieder zu überprüfen und Ergebnisse auch mal über Bord zu werfen, wenn sie sich als falsch erweisen. In der Wissenschaft sollte es kein Problem sein, sich zu irren, weil niemals irgendjemand alles über ein Fachgebiet weiß. Vieles bleibt im Fluss, und viele Überzeugungen, die jahrzehntelang als richtig galten, können sich durch neue Erkenntnisse als falsch herausstellen. Dafür muss man offen bleiben, und daran kann einen ein allzu ungetrübtes Selbstbewusstsein hindern.«
»Wenn Sie Ihr Gespräch morgen ähnlich engagiert führen, sollte Ihnen die gewünschte Stelle sicher sein. Ich drücke Ihnen die Daumen, auch wenn es für mich eher schlecht wäre. Ich hatte mir viel von Ihrer Expertise versprochen.«
»Welcher Punkt an Fogls Gutachten bereitet Ihnen denn so großen Kummer?«
»Es ist genau so, wie Sie eben sagten: Er hat in einem Punkt keine Zweifel, während zum Beispiel der Bericht der Rechtsmedizin auch andere Schlüsse zulassen würde.«
»Sie hatten vorhin erwähnt, dass es um den Zeitraum geht, in dem Stoffe wirken. Inwiefern ist das wichtig für Ihren Mandanten?«
Rappsteyn lachte leise. »Sollte es Ihre Zeit zulassen, hätte ich Sie jetzt am Haken, stimmt’s?«
»Stimmt«, gab sie zu und hatte fast das Gefühl, der Anwalt konnte am anderen Ende hören, wie sie grinste.
»Darf ich Ihnen etwas vorschlagen?«, fragte er.
»Kommt drauf an.«
»Ich könnte Ihnen Fogls Gutachten mailen, dazu den Bericht der Rechtsmedizin und einige Unterlagen, aus denen die Begründung für die Mordanklage gegen meinen Mandanten hervorgeht. Sie schauen sich das Material an, wenn Sie mögen und Zeit dafür finden – und vielleicht reicht es Ihnen ja, mir eine unverbindliche Einschätzung zu geben, ob es noch andere Schlussfolgerungen gäbe als die von Professor Fogl. Ich kann Ihnen dafür natürlich eine Aufwandsentschädigung anbieten.«
»Wenn ich nicht die Zeit für ein richtiges Gutachten finde, werde ich Ihnen auch nichts berechnen.«
»Herr Birkner ist vermögend genug, um Ihnen …«
»Das glaube ich gern, aber ohne Gutachten schreibe ich keine Rechnung. Aber ich schau mir das Material gern an und maile Ihnen eine kurze Einschätzung, das sollte kein Problem sein. Das Thema interessiert mich sehr.«
»Das freut mich.«
»Aber ich habe trotzdem etwas, das Sie im Gegenzug für mich tun können.«
»Und das wäre?«
»Sie suchen meinen Bruder auf und sprechen mit ihm. Vielleicht bringen Sie ihn dazu, dass er mich anruft oder zumindest meine Anrufe annimmt – oder Sie berichten mir, wie es ihm geht.«
»Ich bin kein Arzt oder Apotheker, aber das kann ich natürlich gern machen. Sobald ich ihn gesprochen habe, gebe ich Ihnen Bescheid. Wann ist denn Ihr Termin morgen?«
»Um zehn Uhr. Aber für Infos zu Michael bin ich immer erreichbar.«
»Wenn ich Ihre Einschätzung zum zeitlichen Ablauf des Abends, für den mein Mandant des Mordes beschuldigt wird, irgendwann in den nächsten fünf, sechs Tagen bekommen könnte, wäre es optimal.«
»Das ist kein Problem. Ich habe mir schon etwas Zeit freigeschaufelt, denn ich wollte ohnehin in den nächsten Tagen mal zu Michael fahren. Vor allem, wenn ich ihn weiterhin nicht ans Telefon bekomme. Ich mache mir wirklich Sorgen um meinen Bruder.«
Es hatte Jahre gegeben, in denen Michael teuren Whisky getrunken hatte. Sein Vater hatte eine Schwäche für exquisite Tropfen, und wann immer er während des Pharmaziestudiums nach Hause gekommen war, durfte er sich aus seinen Beständen bedienen. Wie die familieneigene Apotheke in Füssen, das erste Haus am Platz, sollte irgendwann auch die Whiskysammlung auf ihn übergehen. Doch als seinem Vater klar wurde, dass sein Erstgeborener auf keinen Fall seine Nachfolge antreten wollte, wies er ihm die Tür.
Als guter Student und begabter Pharmazeut hatte sich Michael keine Sorgen um seine berufliche Zukunft gemacht. Er war überzeugt gewesen, dass er leicht eine angemessene Stelle finden und an einer Universität oder in der Forschungsabteilung eines Pharmaunternehmens Karriere machen würde. Doch es stellte sich heraus, dass die Kontakte seines Vaters weit reichten. Ein ums andere Mal wurde er abgelehnt, oft genug von dessen alten Studienfreunden, und nicht selten wurde ihm unter der Hand der dringende Rat gegeben, sich mit dem Senior auszusöhnen und sein Angebot anzunehmen.
Michael Ursinus war stolz genug gewesen, das auszuschlagen. In anderer Hinsicht reichte sein Stolz allerdings nicht so weit. Er stellte Drogen her, hielt sich mit deren Verkauf über Wasser und konsumierte das Zeug auch selbst. Seine Eltern zeigten ihm die kalte Schulter, wenn er sich in einem schwachen Moment dazu aufraffte, sie um Geld zu bitten. Nur seine Schwester hielt die ganze Zeit über den Kontakt zu ihm, griff ihm manchmal unter die Arme und unternahm Versuche, ihn aus seiner Lethargie zu reißen, leider ohne Erfolg.
Bis ihn eines Tages Ines anrief. Seine Handynummer aus Studienzeiten galt nicht mehr, aber sie hatte Maja ausfindig gemacht, und seine Schwester stellte den Kontakt gern her. Vor allem, als sie den Grund von Ines’ Anruf erfuhr. Michaels Kommilitonin hatte sich um eine Stelle in der Apotheke einer Fastenklinik in der Nähe von Mannheim beworben, doch sie wurde trotz bester Referenzen und trotz ihres tadellosen Lebenslaufs abgelehnt.
»Genau genommen bin ich sogar wegen meines Lebenslaufs abgelehnt worden«, hatte Ines ihm am Telefon erzählt. »Der Leiter der Klinik hat sich ausführlich mit mir unterhalten, aber es stand wohl schon vor meinem Eintreffen fest, dass ich die Stelle nicht bekomme.«
»Warum das denn?«
»Er erklärte mir, dass fachlich nichts gegen mich sprechen würde, dass er in seiner Einrichtung aber am liebsten Menschen einstellen möchte, die auf dem freien Arbeitsmarkt nur noch schlechte Chancen haben – weil sie zum Beispiel eine Gefängnisstrafe verbüßt oder in der Vergangenheit Probleme mit Drogen gehabt hätten. Erst hielt ich ihn deswegen für einen Spinner, aber er erzählte so beseelt von seinem Team und davon, wie sich alle geradezu für die Fastenklinik zerreißen würden, dass ich ihm seine Begründung schließlich abgekauft habe. Und … wie soll ich sagen … von Maja weiß ich, dass du nach wie vor Drogenprobleme hast.«
Sie legte eine kurze Pause ein, aber er nahm ihre Bemerkung schweigend hin.
»Magst du dich nicht mal in dieser Klinik bewerben? Die suchen noch immer einen Apotheker, und wenn du den Hintern hochbekommst und es schaffst, die Finger von dem Zeug zu lassen, können die dort keinen Besseren bekommen als dich.«
»Ich weiß nicht recht …«
»Und du hättest ja auch die passende Vorgeschichte zu bieten«, fügte Ines hinzu und lachte leise.
Michael lachte ebenfalls und ließ sich die Kontaktdaten geben.
Das lag nun etwa ein Jahr zurück. Er hatte sich beworben, hatte es irgendwie geschafft, Hans Birkner zu vermitteln, dass er in Kürze wieder auf dem Damm sein und seine Sucht in den Griff bekommen würde. Ein paar Wochen war es ihm elend ergangen, aber Birkner ließ ihm die nötige Zeit, und seit er seinen Dienst angetreten und seine Wohnung auf dem Klinikgelände bezogen hatte, erledigte Michael seine Arbeit zu Birkners Zufriedenheit. Er gab keinen Anlass zur Klage, er blieb clean, und erst die Mordanklage gegen seinen Chef hatte ihn aus der Bahn geworfen.
Genau genommen war er schon einen Tag vor Birkners Verhaftung etwas verunsichert gewesen. Eines Abends im November war sein Chef nach Dienstschluss bei ihm aufgekreuzt, mit zwei Flaschen Whisky, um sich »bei einem Gläschen Scotch« mit ihm über pflanzliche Wirkstoffe auszutauschen. Anfangs hatte Michael nur genippt und sich gefragt, warum sein Vorgesetzter ihm Alkohol mitbrachte, wo er doch wusste, dass er früher Probleme mit allen Arten von Drogen gehabt hatte. Auch Birkners Fragen hatten ihn immer argwöhnischer gemacht, und er hatte den Eindruck gewonnen, als wolle ihn der Chef über seine eigenen Erfahrungen mit selbst hergestellten Drogen aushorchen. Deshalb hatte er immer zögerlicher geantwortet. Das fiel Birkner irgendwann auf, und er versicherte Michael, dass sich das Geheimnis über sein Vorleben bei ihm in guten Händen befinde – er drückte das allerdings etwas eigenartig aus, als ob er seinen Angestellten noch einmal daran erinnern wollte, wie sehr er ihm durch sein Stillschweigen verpflichtet sei. Dann hatte er ihnen beiden großzügig nachgeschenkt und das Gespräch allmählich auf pflanzliche Gifte gelenkt. Erst war Michael erleichtert gewesen, weil es wohl doch nicht um Rauschmittel ging, doch die Fragen seines Chefs wurden immer konkreter.
Irgendwann setzten Michaels Erinnerungen an diesen Abend aus. Am nächsten Morgen war er mit einem ordentlichen Brummschädel erwacht und hatte festgestellt, dass er offenbar einen Filmriss hatte. Später an diesem Tag war ihm wieder eingefallen, dass Birkner ihn am Vorabend nach der Wirkweise von Coniin gefragt hatte. Als er auf dem Heimweg von der Apotheke, in der er auch samstags gern bis in den späten Nachmittag arbeitete, auf ein paar Kollegen von der Fastenklinik traf, erfuhr er, dass Birkner soeben verhaftet worden sei – und dass ihn die Polizei mit dem Mord an einem Mannheimer Geschäftsmann in Verbindung brachte, der an einer Art Schierlingsbecher gestorben war.
Michael hatte sich auf die Terrasse seiner Wohnung gesetzt und im Internet nach einer entsprechenden Meldung gesucht. Auf der Website der Regionalzeitung hatte er einen kurzen Artikel mit der Information gefunden, dass der Geschäftsmann nach Angaben der Polizei am Donnerstag vergiftet worden sei. Doch warum war Birkner dann am Freitagabend zu ihm gekommen? Und weshalb hatte er ihn mit dem Verweis auf seine frühere Drogensucht zur Verschwiegenheit gezwungen? Michael erinnerte sich nicht mehr daran, was sie zum Thema Coniin besprochen hatten, was er gefragt worden war und was er geantwortet hatte. Er hatte sich bis weit in die Nacht hinein den Kopf zerbrochen, aber es wollte ihm nicht mehr einfallen. Und weil die zweite Flasche, die Birkner ihm mitgebracht hatte, noch nicht leer gewesen war, hatte er sich mit dem restlichen Whisky auch am nächsten Abend abgeschossen, erst aus Ärger über sein löchriges Gedächtnis, später aus Sorge um seinen Arbeitsplatz.
Das alles war nun schon zwei Monate her. Michael nahm einen kräftigen Schluck von dem billigen Whisky, der ihm half, die bedrückenden Gefühle zu dämpfen. In der Flasche waren nur noch zwei, drei Fingerbreit der golden schimmernden Flüssigkeit, die er mit einer fahrigen Bewegung ins Glas goss. Auf einmal war es ihm, als habe er vom Flur her ein Geräusch gehört. Umständlich drehte er sich in seinem Sessel herum, aber im Flur war es dunkel und still. Die Tür zum Schlafzimmer stand einen Spalt offen, aber er konnte sich nicht mehr daran erinnern, ob sie vorhin geschlossen gewesen war.
Er setzte sich wieder bequemer hin, kickte die leere Flasche mit dem linken Fuß weg und legte seine Beine auf den Tisch. Mit dem Glas in den Händen ließ er den Kopf auf die Lehne sinken und atmete tief und ruhig.
Einen Moment lang dachte er darüber nach, ob die Schlafzimmertür vorhin offen oder geschlossen gewesen war, dann gab er auf. Es war ihm schlichtweg entfallen. Doch das störte ihn nicht weiter.
Ende der Leseprobe