Schwarzer Nachtschatten - Jürgen Seibold - E-Book
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Schwarzer Nachtschatten E-Book

Jürgen Seibold

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  • Herausgeber: Piper ebooks
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2019
Beschreibung

Die einen mischen Kräuter, um zu heilen, die anderen, um zu morden. Eine moderne Apothekerin ermittelt.Der Chef eines Arzneimittel-Kurierdienstes wurde vergiftet. Gestorben ist er an einem Wirkstoff, den man aus einer harmlos wirkenden Pflanze, dem »Schwarzen Nachtschatten«, gewinnen kann – wenn man weiß, wie es geht. Die junge Pharmazeutin Maja Ursinus weiß das, denn Heil- und Giftpflanzen sind ihr Spezialgebiet. Sie stammt aus einer alteingesessenen Apothekerfamilie, die seit 1804 eine große Apotheke betreibt, die Maja einmal übernehmen soll. Sie gerät unter Verdacht, da sie bis vor Kurzem eine Affäre mit dem Mordopfer hatte. Um ihre Unschuld zu beweisen, ermittelt Maja selbst. Doch schon bald steckt sie mitten in einer Verschwörung und braucht jede Hilfe, die sie bekommen kann: von Bekannten und Kollegen – und von der eigenen Familie ...Ein Giftmord, so brutal wie faszinierend, und eine junge Apothekerin, die zu Unrecht verdächtigt wird. »Schwarzer Nachtschatten« ist der hochspannende Auftakt einer neuen Krimi-Reihe von SPIEGEL-Bestseller-Autor Jürgen Seibold. Authentisch, düster und hervorragend recherchiert zieht diese Fallermittlung garantiert jeden in ihren Bann!

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© Piper Verlag GmbH, München 2019Redaktion: Annika KrummacherCovergestaltung: FAVORITBUERO, MünchenCovermotiv: Black nightshade / Private Collection / Bridgeman Images und spaxiax / Shutterstock.com

 

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Inhalt

Cover & Impressum

1

2

3

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5

6

7

8

9

Danksagung

*

Nackt bis auf den Slip saß sie auf dem Stuhl. Die Seile an den Gelenken waren so stramm gezogen, dass ihre Fingerspitzen und Fußsohlen schon nach kurzer Zeit gekribbelt hatten, weil das Blut nicht mehr richtig zirkulieren konnte. Aber das würde keine Rolle mehr spielen. Ebenso wenig wie der Umstand, dass sie inzwischen ihre Beine und Hände kaum noch spüren konnte.

Natürlich hatte sie eine Zeit lang versucht, sich loszureißen. Oder aufzustehen, den Stuhl an der Wand zu zerschlagen und sich so von den Fesseln zu befreien. Aber der Stuhl war am Boden festgeschraubt, und er war aus Metall. Die Seile waren sorgfältig verknotet und bestanden aus einem widerstandsfähigen Kunststoff, der auch durch langes Hin-und-her-Reiben nicht in Mitleidenschaft gezogen wurde.

Auch mit Krach konnte sie nicht auf sich aufmerksam machen. Die Füße waren zu fest angebunden, als dass sie auf den Boden hätte stampfen können. Die Schreie, die aus ihrem zugeklebten und geknebelten Mund gedrungen waren, hatten nicht einmal Zimmerlautstärke erreicht. Schon bald hatte sie aufgegeben, um Kraft zu sparen, wofür auch immer. Nach einer Weile hatte sie sich darauf konzentrieren müssen, die aufsteigende Übelkeit niederzuringen – sich mit einem Knebel im Mund zu erbrechen war keine verlockende Aussicht.

Inzwischen hatte sich ihr letztes Essen einen anderen Weg gebahnt. Der ganze Raum war erfüllt von dem Gestank, außerdem drang Schweißgeruch in ihre Nase. Ihr war zuletzt immer heißer geworden, als habe sie Fieber. Das Fieber schien jetzt wieder zu sinken, aber nun wurde ihr kalt, obwohl draußen die Sonne schien.

Ein wunderbarer Sommertag.

Der Tag, an dem sie sterben würde.

Sie blinzelte ein paarmal. Durch die beiden Fenster rechts von sich konnte sie den fast wolkenlosen Himmel sehen, wenn sie die Augen dorthin wandte. Vor ihr, keine zwei Meter entfernt, befand sich ein Smartphone, das auf ein Stativ montiert und so auf sie gerichtet war, dass sie sich selbst auf dem Display sehen konnte. Ein Stück darüber hing ein Plakat an der Wand hinter dem Handy, ein schlichtes, großformatiges Stück weißes Papier, auf das Blätter im DIN-A4-Format geklebt waren. Sie waren mit dem Computer bedruckt, in großen, fetten Buchstaben, damit sie auch jetzt noch alles deutlich lesen konnte. Jetzt, da ihr das Atmen schwerer fiel und ihre allmählich panischen Blicke hierhin und dorthin huschten.

»Schwarzer Nachtschatten«, lautete die Überschrift, und darunter war beschrieben, was aus welchen Gründen an dieser Pflanze giftig war – vermutlich ein Auszug aus einem Wikipedia-Artikel. Die Symptome einer Vergiftung mit einem Wirkstoff, gewonnen aus diesem Nachtschattengewächs, waren aufgelistet – Übelkeit stand ganz oben, Durchfall, Krämpfe und Lähmungen darunter, Ansteigen und Abfallen der Körpertemperatur, erhöhte Herzfrequenz. Ganz unten stand Atemlähmung.

Anfangs hatte sie die Texte auf dem Plakat nur mit Mühe lesen können. Sie musste sich konzentrieren, um am Plastikschlauch vorbeizuschauen, der zwischen ihren Augen verlief. Er war mit Tape an ihrer Nase befestigt und führte durch ein Loch im Klebeband in ihren Mund und zwischen den Falten des Knebels hindurch bis über den hinteren Teil der Zunge. Das andere Ende des Schlauchs steckte in einem Infusionsbeutel, der über ihrem Kopf an einem Deckenhaken hing. Die Flüssigkeit lief tröpfchenweise aus dem Beutel in ihren Mund. An den ersten Tropfen hatte sie sich verschluckt, die nächsten spürte sie auf ihre Zunge fallen und in die Speiseröhre rinnen, seit einiger Zeit merkte sie davon nichts mehr.

Sie fröstelte, ihr Blick irrte umher. Sie zwang sich, nicht aufs Display zu schauen, sondern konzentrierte sich auf das Plakat. Las immer wieder die Wörter darauf. Angst stieg in ihr auf, in Wellen, die immer heftiger gegen ihre Willenskraft schwappten und sie mehr und mehr zu überschwemmen drohten. Sie schloss die Augen, stellte sich vor, wie sie sich von diesen Wellen davontreiben ließ, weit weg von hier, an einen friedlichen, stillen Ort. Die nächste Angstwelle konnte sie auf diese Weise fast schon aushalten. Die übernächste spürte sie schon im Vorfeld und stellte sich vor, wie sie zum Sprung ansetzte, um die Wucht der Panik zu brechen.

Dann spürte sie einen Druck auf dem Brustkorb, und es kam ihr so vor, als würde ihre Kehle zugeschnürt.

1

Drei Tage zuvor

Es war ein schöner Spätsommernachmittag. München lag unter einem sattblauen, wolkenlosen Himmel. Die Sonne hatte noch viel Kraft, sie spiegelte sich in den Dachziegeln der Frauenkirche, verfing sich spielerisch im stiebenden Wasser des Stachus-Brunnens und brachte auf der Terrasse des Kaufhauses Oberpollinger die Kaffeegäste zum Schwitzen, die keinen Platz mehr unter einem der Sonnenschirme ergattert hatten.

Ein paar Kilometer weiter westlich herrschte im klimatisierten Verkaufsraum der Laimer Dachstein-Apotheke unaufgeregte Betriebsamkeit. Eine Mutter trat an den Tresen, ihre kleine, hustende Tochter fest an der Hand, gab ihr Rezept ab und bekam das Medikament, dazu ein freundliches Lächeln und einen Traubenzucker für die Kleine. Beim Gehen stieß die junge Mutter beinahe mit zwei Männern zusammen, die direkt hinter ihr gewartet hatten. Sie murmelte eine Entschuldigung und zog ihr Kind zur Tür.

Die Apothekerin Maja Ursinus seufzte. Einen der Männer kannte sie bereits, also war wohl auch der andere von der Kriminalpolizei.

»Ich nehme an, Sie brauchen nichts gegen Kopfschmerzen?«, sagte sie und gab ihrer Kollegin mit einem schnellen Blick zu verstehen, dass sie sich in den nächsten Minuten um keine neuen Kunden würde kümmern können.

»Wie man’s nimmt«, erwiderte Schnell, den sie schon kannte. »Aber Sie wissen ja: Uns helfen umfassende und ehrliche Aussagen mehr als Tabletten.«

Er verzog sein feistes Gesicht zu einem bemühten Grinsen. Maja taxierte seinen Begleiter. Ende dreißig, schlank, müde. Er sah aus, als könnte er doch eine Tablette brauchen.

»Mein neuer Kollege«, stellte Schnell ihn vor. »Kriminalhauptkommissar Brodtbeck.«

»Angenehm«, sagte Brodtbeck.

»Na ja«, brummte Maja. Sie ging am Verkaufstresen entlang außer Hörweite der Kollegin und wartete, bis die Kommissare ihr gefolgt waren. Dann wandte sich wieder an Schnell. »Was gibt es denn noch zu bereden? Sie haben mich doch schon ausgefragt. Reicht Ihnen mein Alibi nicht?« Sie beugte sich über den Tresen und zischte ihm zu: »Sie wissen doch, dass ich mit Sören Reeb zusammen war. Warum hätte ich ihn vergiften sollen?«

»Vielleicht weil er mit Ihnen Schluss gemacht hat? Weil er Sie betrogen hat?«

»Jeder normale Mensch würde einem sein Beileid aussprechen in einer solchen Situation, anstatt einem einen Mord zu unterstellen.«

Schnell zuckte mit den Schultern. »Mitgefühl ist nicht mein Metier«, erklärte er.

»Wohl wahr. Also, was wollen Sie noch wissen wegen Reebs Tod?«

»Nichts«, sagte Schnell und lächelte dünn.

»Aha? Dann vielleicht doch was gegen Kopfschmerzen? Und Sie, Herr …?«

»Brodtbeck.«

»Sie sehen leidend aus. Was fehlt Ihnen?«

Er lächelte und schwieg.

»Frau Ursinus«, sagte Schnell. »Wir ermitteln in einem neuen Mordfall. Es gibt Parallelen zum Tod Ihres früheren Freundes.«

»Ach, wirklich?« Maja schnaubte. »Lassen Sie mich raten. Sie dürfen mir nicht sagen, wer gestorben ist, und auch nicht, woran er gestorben ist.«

»Erst einmal nicht, das stimmt. Nur so viel: Auch diesmal war Gift im Spiel.«

Majas Miene verfinsterte sich.

»Und wieso kommen Sie damit wieder zu mir?«

Schnell reagierte nicht auf ihre Frage.

»Wir würden gern wissen, wo Sie gestern waren, zwischen acht und zwölf Uhr.«

Ein spöttisches Lächeln legte sich auf ihr Gesicht.

»Also bitte, Herr Kommissar! Wo werde ich um diese Zeit wohl gewesen sein?«

Sie machte eine Geste, die die ganze Apotheke einschloss.

»Und dafür haben Sie Zeugen, nehme ich an.«

»Natürlich! Alle Kunden, die in dieser Zeit hier waren.«

Schnell zückte einen Notizblock.

»Und meine Kollegin natürlich«, fügte Maja hinzu. »Wir haben fast immer gleichzeitig Dienst.«

Brodtbeck sagte nichts, ging aber die paar Schritte zu Majas Kollegin und wartete, bis sie ihre Kunden bedient hatte. Dann redete er mit ihr so leise, dass Maja nichts verstehen konnte. Ab und zu warf ihr die Kollegin einen fragenden Blick zu, aber Maja zuckte nur mit den Schultern.

»Mich würde interessieren«, wandte sie sich an Schnell, »warum Sie schon wieder mich nach einem Alibi fragen. Bin ich jetzt immer verdächtig, wenn irgendwo in München jemand an Gift stirbt?«

Schnell antwortete nach kurzem Zögern.

»Nur, wenn es eindeutige Verbindungen zwischen Ihnen und dem Opfer gibt.«

»Aha? Und die wären diesmal?«

»Sie werden es eh erfahren, wenn Sie nach Feierabend heimkommen. Also kann ich es Ihnen auch gleich erzählen: Eine Nachbarin von Ihnen ist ums Leben gekommen.«

»Eine Nachbarin?«

»Die Frau aus der Wohnung unter Ihrer WG.«

Maja hatte Gertrud Mögel sofort vor Augen. Eine vollschlanke, unsympathische Frau von Mitte fünfzig, die schon ewig im Haus wohnte, alleinstehend und mit allen im Haus über Kreuz – vor allem natürlich mit Maja und ihren WG-Mitbewohnern. Keine Party, nicht einmal längere Plauderrunden bei gemütlicher Musik vergingen, ohne dass von unten mit dem Besenstiel gegen die Decke geklopft wurde. Frau Mögel hatte sogar ein paarmal die Polizei verständigt. Und egal, ob es um die Mülltrennung oder das Treppenwischen ging – ihr konnte man es nie recht machen.

»Frau Mögel wurde vergiftet? Wer tut denn so was?«

»Das wollen wir ja herausfinden. Nach allem, was wir bisher gehört haben, war sie nicht sehr beliebt im Haus.«

»Das stimmt. Und dass die Hausbewohner nicht gerade traurig sind, weil sie uns künftig keine Polizei mehr auf den Hals hetzen kann, wissen Sie sicher auch schon.«

»Einer Ihrer Mitbewohner hat etwas in der Art angedeutet, ja.«

Brodtbeck kam zurück. Schnell sah ihn an, der Kollege nickte knapp.

»Ich sehe, mein Alibi steht«, bemerkte Maja. »Wenn Sie mich dann bitte wieder entschuldigen würden?«

»Natürlich, wir müssen auch wieder«, sagte Schnell.

Die beiden Kommissare wandten sich zum Gehen.

»Ach, eins noch«, sagte Maja. »Mit welchem meiner Mitbewohner haben Sie denn gesprochen?«

»Mit einem gewissen Daniel Ziegler.«

»Haben Sie ihn auch nach einem Alibi gefragt?«

»Natürlich, das ist Routine.«

»Haben Sie sich bei der Gelegenheit auch gleich ein bisschen in der Wohnung umgeschaut?«

Majas Tonfall war bissiger geworden.

»Nein, Herr Ziegler hat uns nicht hereingebeten, also mussten wir uns damit zufriedengeben, ihn an der Wohnungstür zu befragen.« Schnell grinste. »Es hat etwas seltsam gerochen im Flur, schien aus der Küche zu kommen.«

»Ja, Daniel kocht gern, auch wenn er dafür kein Talent hat. Aber das, nehme ich an, ist noch nicht strafbar.«

»Nein, natürlich nicht.«

Schnell tippte sich mit Zeige- und Mittelfinger an die Schläfe wie zu einem schlampigen militärischen Gruß und verließ die Apotheke mit seinem schweigsamen Kollegen im Schlepptau.

 

Während Schnell ins Kommissariat zurückfuhr, übernahm Brodtbeck die Besprechung in der Rechtsmedizin. Er wurde von einem korpulenten Mann um die sechzig erwartet, der im Sektionssaal neben einem der Stahltische stand und ihn aufmerksam musterte, als er in die blauen Plastiküberschuhe schlüpfte, die für Besucher am Eingang bereitlagen. Der Sektionstisch war belegt, der aufgebahrte Leichnam war mit einem Tuch abgedeckt, und Brodtbeck warf einen schnellen Blick zu einem Wandregal, auf dem einige gefüllte Schraubgläser und ein kleiner weißer Kunststoffeimer mit Henkel und Deckel nebeneinanderstanden – die Gefäße für entnommene Organe.

»Herr Dr. Hoffmann, nehme ich an«, sagte Brodtbeck und nickte dem Mann am Stahltisch zu. Der erwiderte das Nicken, griff nach dem Tuch und schlug es mit einer geschickten Bewegung so um, dass der entkleidete Leichnam frei vor ihnen lag. Ruhig ließ Brodtbeck seinen Blick von den Beinen über den geöffneten Bauch und den aufgestemmten Brustkorb bis zum Schädel gleiten. Als er schließlich wieder den Rechtsmediziner ansah, bemerkte er, dass der ihn die ganze Zeit gemustert hatte und nun lächelte.

»Hat diesen Test denn schon mal ein Kollege nicht bestanden?«, fragte Brodtbeck und lächelte ebenfalls.

»Ja. Einer hat gleich am nächsten Tag versucht, bei den Kollegen vom Betrug unterzukommen.«

»Ich bleibe lieber bei Mord und Totschlag. Können wir loslegen?«

»Meine Kollegin von der forensischen Toxikologie musste leider schon los, der Feierabend ruft nach ihr lauter als nach mir – aber da scheinen keine Fragen mehr offen zu sein. Die Frau wurde mit Solanin vergiftet, einem Stoff, der in Nachtschattengewächsen enthalten ist. In Kartoffeln und Tomaten etwa – dort findet sich Solanin zum Beispiel in den grünen Stellen in etwas höherer Konzentration. Vor allem aber lässt es sich aus unreifen Beeren des Schwarzen Nachtschattens gewinnen. An der Dosis wurde nicht gespart, und der Körper zeigt die zu erwartenden Symptome.«

Hoffmann ratterte emotionslos alle Folgen der Vergiftung herunter, die am Leichnam festgestellt wurden. Nach seiner Einschätzung war die Frau am Vortag gegen sechzehn Uhr gestorben.

»Oder sagen wir es so: Gegen sechzehn Uhr endete ihr Sterben.«

Hoffmann ging um den Tisch herum, und Brodtbeck trat von der anderen Seite her näher an die Leiche. Der Rechtsmediziner deutete auf Druckstellen an den Fuß- und den Handgelenken. Oberhalb des Fußknöchels war eine Stelle sogar blutig gescheuert.

»Sie war gefesselt, als sie starb, und zwar ziemlich fest. Die Stelle oberhalb des Knöchels hat sie sich vermutlich gestern am späten Vormittag wund gescheuert, als sie versucht hat, sich aus den Fesseln zu befreien. Seit gestern Morgen hat sie keine Nahrung und keine Flüssigkeit mehr zu sich genommen – na ja, vom Gift mal abgesehen. Sie starb im Sitzen.«

Der Arzt verstummte und sah den Kommissar gespannt an, als warte er auf dessen Reaktion. Brodtbeck tat dem Rechtsmediziner den Gefallen.

»Sie wurde aber im Liegen gefunden«, sagte er. »Unser Täter hatte es offenbar eilig und wollte sie gleich hinlegen, nicht erst nach dem Ende der Leichenstarre.«

Hoffmann grinste.

»Und woraus schließen Sie das?«

»Der Frau wurden die Kniegelenke gebrochen, sonst hätte man sie nicht ins Bett legen können«, erklärte Brodtbeck und deutete auf die entsprechenden Hautstellen, unter denen die Knochen sichtlich in Unordnung waren.

»Gut beobachtet«, lobte ihn der Rechtsmediziner. »Das muss spät in der Nacht gewesen sein. Vorher wäre die Totenstarre noch nicht so ausgeprägt gewesen.«

Brodtbeck dachte über die Einschätzung des Arztes nach, dann beugte er sich über das Gesicht der Toten und inspizierte ihre Nase und ihren Mund.

»War da Klebeband dran?«, fragte er dann und deutete auf die Lippen.

»Sieht so aus, aber gefunden wurde die Leiche ohne verklebten Mund.«

»Ich weiß.«

Hoffmann hob fragend die Augenbrauen.

»Ich habe die Tote gefunden«, erklärte Brodtbeck.

Der Rechtsmediziner wartete, aber der Kommissar schien weiter nichts dazu sagen zu wollen.

»Sie wurde gewaschen«, fuhr Hoffmann fort. »Im Intimbereich kam Desinfektionsspray zum Einsatz.«

»Hinweise auf sexuellen Missbrauch?«

»Nein.«

Brodtbeck betrachtete die Tote noch einmal aufmerksam von Kopf bis Fuß, bevor er weitersprach.

»Die Frau lag sorgfältig zugedeckt in ihrem Bett, die Arme auf der Bettdecke. Sie trug ein Nachthemd mit langen Ärmeln. Mal abgesehen davon, dass ich das Kleidungsstück für die Jahreszeit zu warm fand: Die Ärmel des Nachthemds reichten bis über die Handgelenke, der Stoff war unversehrt, wenn ich mich recht erinnere. Also wurden die Handgelenke unter den Ärmeln gefesselt oder …«

Der Rechtsmediziner grinste und nickte. »Das Nachthemd wurde ihr erst angezogen, als sie schon tot war. Die Kriminaltechniker sind sich sicher, dass ihr das altmodische Ding übergestreift wurde, als sie schon auf dem Bett lag. Während sie starb, trug sie vermutlich nur einen Slip. Sie dürfte auf einem harten Untergrund gesessen haben. Druckstellen und Schürfungen an Oberschenkeln, Po und Rücken passen meiner Ansicht nach zu einem Stuhl, wie ich ihn selbst mal vor einigen Jahren besaß – den gab’s damals günstig im Set als Bistrositzgruppe. Meiner hatte einen Rahmen aus Stahlrohren und eine Sitzfläche und eine Rückenlehne aus gelochtem Stahlblech. Ich habe Ihren Technikern Fotos der Abschürfungen geschickt und die Maße eines solchen Stuhls, wie ich sie aus den Spuren am Leichnam ableiten würde.«

»Gut, vielen Dank«, sagte Brodtbeck. »Frau Mögel wurde gestern um acht Uhr gesehen, als sie das Haus verließ. Laut Kriminaltechnik starb sie nicht in ihrer Wohnung, sondern an einem bisher noch unbekannten Ort. Sie wurde nach Hause gebracht, als sie bereits tot war, vermutlich irgendwann spätnachts oder früh am Morgen. Als sie daheim im Bett lag, wurde sie am Hals und an den Armen parfümiert – auch die Bettdecke hat ein bisschen was abbekommen. Das Parfüm stammt aus einem Flakon, der bei ihr im Badezimmer stand, als ich sie fand. Auf der Flasche haben die Kollegen nur Fingerabdrücke von ihr gefunden, die waren aber verwischt – durch die Hand des Täters, der offenbar Handschuhe getragen hat.«

Der Arzt nickte.

»Sie starb also gegen sechzehn Uhr«, fuhr Brodtbeck fort. »Der Täter präparierte sie aber erst einige Stunden, nachdem der Tod eingetreten war. Und gefesselt war sie schon mehrere Stunden vor ihrem Tod.«

Hoffmann nickte erneut und sah den Kommissar gespannt an.

»Wenn ich Sie vorhin richtig verstanden habe«, sagte Brodtbeck nach einer Weile, »gehen Sie davon aus, dass ihr das Gift über einen längeren Zeitraum verabreicht wurde. Haben Sie Hinweise darauf gefunden, dass ihr ein Infusionsschlauch oder etwas in der Art in den Mund gelegt wurde?«

»Haben wir!«

Hoffmann zupfte die Einmalhandschuhe von den Fingern, rieb sich die Handflächen an der Hose trocken und reichte Brodtbeck die rechte Hand.

»Ich hoffe, Sie bleiben Mord und Totschlag treu. Auf gute Zusammenarbeit!«

 

Maja Ursinus war nach hinten gegangen, um einige Salben anzumischen, die für heute bestellt waren. Vorne im Verkaufsraum war gerade nicht viel los, da mussten sie nicht die ganze Zeit über zu zweit sein. Doch auch ohne die Ablenkung durch Laufkundschaft konnte sich Maja kaum auf ihre Arbeit konzentrieren. Einmal musste sie sogar einen Tiegel in die Abfalleimer leeren, weil ihr eine Mischung missraten war, die sie sonst im Schlaf angerührt hätte.

»Willst du nicht lieber den Rest des Tages freinehmen?«, fragte ihre Chefin, die mit gerunzelter Stirn im Türrahmen lehnte.

Maja fragte sich, wie lange Christiane Adamek dort wohl schon stand.

»Nein, nein, das geht schon«, behauptete sie.

»Du hast mich falsch verstanden, Maja. Das war keine Frage. Um ehrlich zu sein, will ich dich nach Hause schicken. Geh spazieren oder tu sonst etwas, damit du den Kopf freibekommst. Seit vorhin die Kripo da war, scheinst du nicht mehr ganz bei der Sache zu sein. Und das ist noch sehr vornehm ausgedrückt.«

»Ich würde lieber bleiben. Wenn ich arbeite, bekomme ich den Kopf am besten frei.«

Christiane Adamek wandte sich ab, und einen Moment lang glaubte Maja, sie überzeugt zu haben. Doch dann stand ihre Chefin wieder in der Tür, diesmal mit Majas Tasche in der Hand.

 

Nur etwas mehr als zweihundert Meter waren es von der Apotheke zu Majas Wohnung, das reichte nicht ansatzweise, um den Kopf freizubekommen. Also schlug Maja einige Haken durch das umliegende Wohngebiet und schlenderte nach einer Weile auf den Hogenbergplatz, der eigentlich nur aus einer Wiese bestand, die von Bäumen umstanden war. Ein ruhiger kleiner Park, obwohl auch hier der Verkehrslärm von der nahen Gotthardstraße zu hören war. Maja umrundete die Wiese auf einem der Kieswege und hielt sich im Schatten der Bäume. Schließlich ließ sie sich auf einer Bank nieder, schlug die Beine übereinander und sah zum Spielplatz hinüber, ohne die tobenden Kinder wirklich wahrzunehmen.

Nach einer halben Stunde fiel ihr auf, dass zwei Mütter immer wieder argwöhnisch zu ihr herüberschauten. Maja erhob sich, verließ den kleinen Park und folgte der Valpichlerstraße, bis sie den dreigeschossigen Wohnblock erreicht hatte, in dem ihre WG eine zweckmäßig eingerichtete Wohnung im ersten Stock belegte. Auf dem Gehweg blieb sie noch einen Moment stehen und betrachtete die Fenster im Hochparterre. Dort, hinter den Fenstern rechts vom Treppenhaus, hatte Gertrud Mögel gewohnt.

Die Wohnung würde bestimmt nicht lange leer stehen, dachte Maja, während sie die Treppen hinaufging. Ein Apartment in der ersten Etage, direkt neben Majas WG, war erst vor zwei Wochen frei geworden und mittlerweile offenbar schon wieder bezogen.

Ihre Mitbewohner waren glücklicherweise nicht da, und so konnte sie sich in aller Ruhe einen Kaffee kochen. Vorsichtig drehte sie den Verschluss der Kaffeepackung auf und sog den aromatischen Duft der Bohnen tief ein. Das Geräusch ihrer elektrischen Kaffeemühle beruhigte sie. Nachdem sie das Pulver in den Kaffeefilter geschüttet hatte, räumte sie Bohnen und Mühle zurück in den Wandschrank. Als das Wasser im Wasserkocher die nötige Temperatur erreicht hatte, goss sie es portionsweise über das Kaffeepulver. Mit geschlossenen Augen lauschte sie dem Kaffee, der in einem dünnen Rinnsal in die Kanne lief, goss nach, lauschte, goss nach.

Als die Kanne voll war, kippte sie das gebrauchte Filterpapier in den Biomüll und ging mit dem Kaffee in ihr Zimmer, das in einer normal genutzten Wohnung das Arbeitszimmer dargestellt hätte. Hier war sie vor … sie dachte kurz nach … ja, vor mittlerweile dreizehn Jahren eingezogen, als sie im dritten Semester Pharmazie an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität studiert hatte. Bis dahin hatte ihr Vater von Füssen aus immer wieder seine Beziehungen in die Landeshauptstadt spielen lassen, hatte ihr Adressen in Haidhausen, Schwabing oder Neuhausen gemailt, wo seine alten Kommilitonen unter der Hand WG-Zimmer vergaben. Doch so zerstritten, wie sie seit Jahren mit ihm war, hauste sie lieber in einer schäbigen Bleibe, die sie sich aber wenigstens selbst ausgesucht hatte. Das Zimmer in der Valpichlerstraße war das erste gewesen, in dem es sich gut aushalten ließ. Entsprechend schweren Herzens hatte sie das Zimmer nach dem Studium aufgegeben, um die erste Hälfte ihres einjährigen Praktikums in der Apotheke ihres Großonkels in Neumarkt in der Oberpfalz zu absolvieren. Doch als anschließend die zweite Hälfte ihres Praktikums an der LMU begann, war das WG-Zimmer gerade wieder frei geworden. Es war ihr wie ein Wink des Schicksals vorgekommen. Seither war sie aus dem Raum mit Blick auf die Straße nicht mehr ausgezogen, und sie hatte es auf absehbare Zeit auch nicht vor.

Maja zog ihre Zimmertür hinter sich zu, obwohl außer ihr niemand in der Wohnung war. Sie ließ sich in ihren alten Polstersessel fallen, zog die Beine an und goss sich den Kaffeebecher voll, der auf dem Beistelltischchen neben ihr bereitstand. Milch nahm sie nie, aber am Zucker wurde nicht gespart. Langsam rührte sie um und schaute zu, wie sich die kleinen Luftbläschen auf dem Kaffee träge im Kreis drehten.

Seit einigen Jahren war sie die Hauptmieterin der Wohnung. Die ursprünglichen Mitbewohner waren längst in alle Richtungen verstreut, deshalb war der Mietvertrag auf sie als »Stubenälteste« umgeschrieben worden. Und jedes Mal, wenn ein Zimmer frei wurde, hatte sie in den ersten Jahren gründlich darüber nachgedacht, ob sie es auch wirklich wieder vermieten oder nicht doch lieber für sich selbst nutzen wollte. Vor allem, seit sie nach ihrer Promotion erst an der LMU geforscht und danach in der Dachstein-Apotheke eine Stelle angenommen hatte, hätte sie sich die Wohnungsmiete auch allein leisten können.

Erst hatte sie ein paarmal nur aus Mitleid untervermietet, weil Kollegen oder deren Freunde keine andere bezahlbare Bleibe in der Stadt gefunden hatten – ein Problem, das sie aus eigener Erfahrung kannte. Doch irgendwann war ihr klar geworden, dass ihr ohne Mitbewohner an manchen Tagen die Decke auf den Kopf fallen würde. Sogar das Chaos, das manchmal in der gemeinsam genutzten Wohnküche oder im Bad herrschte, erheiterte sie mehr, als dass es sie störte.

Mit ihren derzeitigen Untermietern hatte sie ohnehin Glück. Daniel Ziegler arbeitete als Pfleger im AWO-Sozialzentrum Laim. Er war einigermaßen ordentlich, und wenn er mal wieder gekocht hatte – was er sehr gern und sehr schlecht tat –, war mit kräftigem Durchlüften auch schon die schlimmste Hinterlassenschaft beseitigt. Andreas König hatte eine Schauspielausbildung an der Filmakademie gemacht, betreute inzwischen aber Führungen im Verkehrszentrum des Deutschen Museums. Und seine Freundin Katharina Ruoff, die seit einem Jahr sein Zimmer mit ihm teilte, arbeitete in der Verwaltung eines großen Bräuhauses in der Innenstadt. Tagsüber lebte jeder für sich, doch abends saßen die WG-Mitglieder gern und lang bei Wein oder Bier zusammen, quatschten über alles Mögliche und hörten Musik dazu.

Majas Gedanken wanderten wieder zur toten Nachbarin. Soweit sie es mitbekommen hatte, war Gertrud Mögel als Putzfrau tätig gewesen, obwohl sie selbst nicht allzu gepflegt wirkte. Und Maja war immer froh gewesen, wenn nicht sie, sondern ein anderer Hausbewohner ein Paket für die WG entgegennahm. Immer wieder hatte sie sich von der biestigen Frau abfällige Kommentare über Leute anhören müssen, die zu faul waren, zum Einkaufen zu gehen, und es dafür in Kauf nahmen, dass deren Nachbarn ständig vom Klingeln der Paketboten gestört wurden. Schade war es um dieses launische Weib eher nicht.

 

Ein Klopfen an der Zimmertür schreckte sie auf. Maja blinzelte. Draußen war es noch hell, aber das Licht, das durchs Fenster fiel, sah nach sehr spätem Nachmittag aus. Offenbar war sie eingeschlafen. Der Kaffee stand unberührt neben ihr. Sie griff nach der Tasse – kalt. Wieder wurde geklopft, dann öffnete sich die Tür einen Spaltbreit, und Daniel steckte seinen Kopf herein.

»Besuch«, raunte er.

»Besuch? Was für ein Besuch?«

»Na, komm schon, dann wirst du’s sehen.«

Damit schloss er die Tür wieder, und sie hörte ihn gedämpft mit dem Besucher sprechen, einem Mann. Maja rieb sich die Augen, streckte ihre Glieder und stand auf. Ein kurzer Blick in den Spiegel, der blonde Pferdeschwanz war schnell wieder zurechtgezupft, und die nach dem Nickerchen leicht verquollene Augenpartie musste der Besucher eben aushalten. Sie öffnete die Tür – und sofort waren alle Gedanken an ihr Aussehen verflogen.

»Was machen Sie denn hier?«, fragte sie entgeistert.

Brodtbeck hob abwehrend die Hände und lächelte entschuldigend.

»Ich bin nicht dienstlich hier«, sagte er. »Das habe ich auch Herrn Ziegler schon erklärt.«

»Soso, nicht dienstlich – und warum dann?«

»Nun ja, ich bin Ihr neuer Nachbar und wollte mich nur vorstellen. Ich bin in die Wohnung gegenüber eingezogen. Und ich habe einen Bordeaux mitgebracht.« Er deutete auf die Weinflasche, die Daniel in der Hand hielt. »Allerdings war ich mir nicht mehr sicher, ob man zu solchen Gelegenheiten Wein oder eher Brot und Salz mitbringt.«

»Nein, nein!«, rief Daniel, der schon auf dem Weg in die Küche war. »Wein passt gut. Ich glaube, Brot und Salz sollten Sie von uns bekommen, nicht umgekehrt.«

Stumm stand Maja da und musterte ihre neuen Nachbarn.

»Ich muss dann auch gleich wieder«, sagte Brodtbeck schulterzuckend. Er war ein sagenhaft schlechter Lügner. »Auspacken und so, Sie verstehen? Gut, dann entschuldigen Sie bitte den Überfall. Einen schönen Abend noch.«

Er wandte sich zum Gehen, aber er kam nicht weit. Aus der Küche war zu hören, wie der Wein entkorkt wurde, und Daniel rief: »Hier herein, Herr Brodtbeck! Den Wein lassen wir uns zusammen schmecken. Und wenn Sie Hunger haben: Ich wollte grad was kochen.«

»Äh … nein, ich … ich hab schon gegessen«, behauptete Brodtbeck und drehte sich zu Maja um. Seine Miene machte überdeutlich, dass er inständig hoffte, mit seiner Notlüge durchzukommen. Nun musste sie doch lächeln.

»Na, dann gehen Sie schon mal in die Küche, ich komm gleich nach«, sagte sie. »Wenn Sie schon hier sind, können wir uns ja auch ein bisschen unterhalten.«

Als Maja mit der Kaffeekanne und ihrem Becher nachkam und den kalten Kaffee in den Ausguss schüttete, hatte Daniel schon drei Weingläser gefüllt. Er betrieb ein wenig Small Talk mit dem neuen Nachbarn, aber kaum hatte sich seine Mitbewohnerin gesetzt, kam er auch schon auf das Thema zu sprechen, das ihn am meisten interessierte.

»Wie ist die alte Mögel denn gestorben?«

Maja warf Daniel einen bösen Blick zu, aber der bemerkte es nicht, weil er wie gebannt auf die Antwort des Kommissars wartete.

»Tut mir leid, Herr Ziegler, dazu werden Sie von mir nichts erfahren. Erstens darf ich Ihnen nichts verraten – und zweitens bin ich, wie gesagt, ausschließlich privat hier.«

Daniel nickte enttäuscht.

»Na gut, Herr Brodtbeck, dann lassen wir das Thema halt. Die Alte hat uns ohnehin schon viel zu sehr beschäftigt. Prost auf alle, die noch leben!«

Er hob sein Glas, und Maja und Brodtbeck stießen mit ihm an. Nach eineinhalb Stunden steuerte auch Maja noch eine Flasche Rotwein bei. Die war allerdings erst halb geleert, als Daniel darauf bestand, ihnen allen jetzt doch noch etwas zu kochen. Daraufhin machte sich Brodtbeck schnell davon, um endlich auszupacken, wie er vorgab – und Maja entschuldigte sich ebenfalls, brachte den neuen Nachbarn noch zur Tür und zog sich dann in ihr Zimmer zurück.

Eine Weile sah sie nachdenklich zum Fenster hinaus. Auf der Valpichlerstraße war nicht viel los um diese Zeit, aber ihre Gedanken waren ohnehin ganz woanders. Einerseits war sie dem neuen Nachbarn dankbar, dass er ein Gespräch über den Mord an Gertrud Mögel abgeblockt hatte – andererseits würde sie schon gern in Erfahrung bringen, was die Polizei bisher über diesen Fall wusste. Sie rang mit sich, aber schließlich nahm sie doch das Handy und wählte die Nummer ihrer Freundin Hanna Wöllpert. Die beiden hatten knapp zwei Jahre lang an einem Projekt an der LMU zusammengearbeitet, in dem der Einsatz verschiedener Medikamente bei Brustkrebs erforscht wurde. Sie hatten sofort einen guten Draht zueinander gefunden, und auch als Maja ihre Stelle an der Uni aufgegeben und in der Dachstein-Apotheke angefangen hatte, war der Kontakt zwischen den beiden keineswegs abgebrochen, sondern sie telefonierten noch immer mehr oder weniger regelmäßig und verabredeten sich für Kinoabende und Restaurantbesuche.

»Hallo Maja«, meldete sich Hanna am anderen Ende.

»Hanna, grüß dich. Ich wollte mich einfach mal wieder melden.«

Inzwischen forschte auch Hanna nicht mehr in dem alten Projekt, sondern war innerhalb der LMU ans Institut für Rechtsmedizin gewechselt. Am Abend bevor Majas Ex-Freund Sören Reeb vergiftet aufgefunden worden war, hatte sich Hanna mit ihrem Verlobten zum Urlaub auf Korsika aufgemacht. Das war drei Wochen her, seither hatten die beiden nicht mehr telefoniert, sondern sich nur per SMS ausgetauscht.

»Tut mir leid wegen Sören«, sagte Hanna nach einer kurzen Pause. »Ich wollte dich noch anrufen, aber seit wir am Wochenende aus dem Urlaub zurück sind, war echt der Teufel los. Entschuldige bitte.«

»Kein Problem. War’s denn schön auf Korsika?«

Wieder entstand eine kurze Pause.

»Du willst nicht über Sören reden, richtig?«, vermutete Hanna schließlich.

»Nein, lieber nicht.«

»Gut, versteh ich. Aber falls du doch mal jemanden zum Quatschen brauchst – du weißt schon, dass du immer …«

»Ja, danke, ich weiß. Das ist lieb.« Maja räusperte sich. »Wie geht’s dir denn?«

»Super, nur dass die Erholung nach einer stressigen Woche schon fast wieder aufgebraucht ist.«