Frodo war's nicht - Jürgen Seibold - E-Book

Frodo war's nicht E-Book

Jürgen Seibold

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  • Herausgeber: Piper ebooks
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2022
Beschreibung

Den Ring gilt's zu finden, den Mord zu ergründen ... Beim Barte des Gandalf! Juwelier Gollmann ist fassungslos. Sein wertvollster Ring wurde gestohlen, und sein Mitarbeiter liegt blutend vor der Vitrine. Ausgerechnet jetzt, da Hunderte verkleidete Mittelerde-Fans anlässlich von Tolkiens 130. Geburtstag zum Cosplay-Event in der Stadt sind. Die Täterbeschreibung der Augenzeugen bringt die Kripo nicht weiter: Frodo soll's gewesen sein, unterstützt von Gandalf und zwei Orks. Nur wie findet man die Täter unter all den Maskierten? Buchhändler Robert Mondrian müsste eigentlich den Ansturm in seinem Laden bewältigen, doch nun wartet ein neuer Fall auf Remslingens scharfsinnigsten Ermittler wider Willen. Nach »Schneewittchen und die sieben Särge« und »Sein oder Totsein« packt den sympathischen Buchhändler Robert Mondrian nun erneut das Ermittlungsfieber. In »Frodo war's nicht« feiert ganz Remslingen J. R. R. Tolkiens Jubiläumsjahr. Doch auch Saurons Gefolge ist eingeladen und sorgt für dubiose und schräge Verwicklungen. Dass Jürgen Seibold humorvoll und spannend zugleich schreiben kann, hat der SPIEGEL-Bestseller-Autor bereits mit seiner sehr erfolgreichen Allgäu-Krimi-Reihe (zuletzt »Volltreffer«) gezeigt.  »Robert Mondrian und sein verpeiltes Gehilfenteam fordern Ihre Lachmuskeln heraus!« Buch-Magazin »Genau die richtige Lektüre für alle, die bei Krimis an gute Unterhaltung denken.« Esslinger Zeitung 

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Originalausgabe

© Piper Verlag GmbH, München 2022

Redaktion: Kerstin von Dobschütz

Covergestaltung: FAVORITBUERO, München

Covermotiv: Bilder unter Lizenzierung von Shutterstock.com genutzt

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence, München mit abavo vlow, Buchloe

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Danksagung

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Prolog

Er arbeitete sich schnell und lautlos an das Gebäude heran. Zwei Wächter hatte er schon zu Boden sinken lassen, hatte sie aufgefangen, bevor sie hörbar auf den Asphalt schlagen konnten, und ganz behutsam abgelegt. Das Haus, zu dem er unterwegs war, überragte alle umstehenden Gebäude, auch das Fachwerk war schöner und gepflegter, und gleich, wenn die nächste Stunde voll war und der Minutenzeiger auf dem Ziffernblatt die Zwölf erreichte, würde weit oben, in der Uhrenstube unter dem Türmchen, das über dem Giebel thronte, das Pendel mit dem Abbild der Mondgöttin Luna im Takt der Glockenschläge hin und her schwingen.

Robert hatte das Gefühl, dass er dieses Gebäude kannte, dass er es jeden Tag zu Gesicht bekam, und zugleich kam es ihm fremd und seltsam verzerrt vor. Über ihm zogen sich die Arkaden viel steiler nach oben, als er es erwartet hatte, und das Dach schien sich mit jedem Schritt, den er sich näherte, mehr von ihm zu entfernen, schien immer weiter und schneller gen Himmel zu streben. Er hielt sich im Schatten eines der Nachbarhäuser und schaute sich um. Auch hier war alles vertraut und fremd zugleich. Das Ristorante zu seiner Linken hieß nicht Fontana, obwohl doch gegenüber wie in der Realität der kleine Brunnen plätscherte. Neben dem Sternerestaurant befanden sich zwei Buchhandlungen, eine direkt unterhalb des Lokals und eine weitere ein Stück Wegs bergauf. Robert drehte sich um: Seine eigene Buchhandlung war dagegen verschwunden, beherbergte jetzt einen Spielwarenladen, vor dem der Lastwagen einer Umzugsfirma stand, und im Gebäude des Puppenspielers war plötzlich ein Bekleidungsgeschäft untergebracht.

Es war verwirrend, wie so oft in einem Traum. Das Café und die Metzgerei hießen anders als in Wirklichkeit, und obwohl es dunkel und kühl war, spazierten Menschen über den Marktplatz wie an einem sonnigen Nachmittag.

Robert fuhr sich mit den Händen über das Gesicht. Er schüttelte den Kopf und versuchte sich wieder auf seinen Auftrag zu konzentrieren. Unter den Arkaden saßen zwei Männer mit umgehängten Maschinenpistolen und spielten Karten. Am Treppenaufgang, der hinter den Arkaden ins Innere des großen Gebäudes führte, lehnte ein dritter Bewaffneter und schaute seinen beiden Kollegen gelangweilt zu.

Nur einen Wimpernschlag später schlich er die Treppe hinauf und ließ drei bewusstlose Männer zurück, denen im Fallen die Waffen von den Schultern geglitten waren. Die Tür am oberen Ende der Treppe war nicht verschlossen. Er drückte vorsichtig die Klinke, schob die Tür erst einen Spalt und dann etwas weiter auf. Nichts war zu hören, niemand war zu sehen. Nur in dem großen Gastraum, der einige Schritte entfernt war, schien sich jemand zu bewegen. Er trat in den Raum, der eher die Ausmaße eines Saals hatte. Nun erfüllte auf einmal das röhrende Dröhnen eines Staubsaugers die Luft, eine Frau mittleren Alters saugte Polstermöbel ab und machte sich zwischendurch auch am Teppichboden zu schaffen.

Eine Hand packte ihn an der Schulter. Blitzschnell fuhr er herum und blickte in die angstgeweiteten Augen von Selina Brand.

»Mein Gott, Robert!«, rief sie, und langsam schälte er sich aus seinem seltsamen Traum. »Hast du mich erschreckt!«

Selina hatte ihn an der Schulter gepackt und schaute besorgt auf ihn herunter.

»Du hast im Schlaf wie wild um dich getreten, du hast gestöhnt, und wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, dass du dich im Traum auch geprügelt hast. Oder Schlimmeres.«

Er schwang die Beine über die Bettkante, massierte sich die Schläfen, stand auf und ging ins Wohnzimmer hinüber. Er riss ein Fenster auf, atmete tief ein und aus, bis sich sein Puls wieder beruhigt hatte. Vor ihm lag der Marktplatz von Remslingen. Das Alte Rathaus, das er im Traum gerade beschlichen hatte, hatte wieder die richtigen Proportionen. Das Ristorante hieß wieder Fontana, und seine Buchhandlung war genau dort, wo sie sein sollte.

Das galt auch für Selina Brand, die sich nun von hinten an ihn schmiegte und liebevoll ihre Arme um ihn schlang. Sie war genau dort, wo sie sein sollte. Und er ebenfalls.

Kapitel 1

In den Straßen der Remslinger Altstadt drängten sich an diesem Freitag schon seit dem frühen Nachmittag Orks und Elben, Zwerge schwangen ihre Äxte, Zauberer mit künstlichen Bärten und in wallenden Kutten schritten würdevoll über das Kopfsteinpflaster der Fußgängerzone, und vor dem Alten Rathaus reckten mehrere Männer in Aragorn-Kostümen ihre Plastikschwerter in den Frühsommerhimmel. Drei Ringgeister stellten sich vor der Metzgerei Schwarzfuß an, wo es zu Leberkäs- und Schnitzelbrötchen bunte Servietten mit Tolkien-Motiven gab, und vor dem Schaufenster von Gustaf Kruses Puppentheater bestaunten Kinder in Fantasiekostümen die kunstvoll gearbeiteten Puppen, die Kruse eigens für die Tolkien-Tage in Remslingen geschnitzt und mit farbenprächtigen Kleidern ausstaffiert hatte.

Auch auf den Wiesen am Remsufer herrschte ausgelassene Stimmung. Einige Lagerfeuer loderten, und groß gewachsene Hobbits und klein geratene Trolle hatten sich im Kreis um die züngelnden Flammen versammelt. Eine junge Frau im eng anliegenden Schuppenkostüm hatte sich zu ihnen gesellt, ihren Drachenkopf abgenommen und neben sich ins Gras gelegt. Etwas weiter entfernt und somit geschützt vor Funkenflug standen mehrere Baumattrappen aus Pappmaschee, die wohl Ents darstellen sollten, die knorrigen Baumhirten, und eine Horde von Eltern in farbenfrohen Kostümen bejubelte das Sackhüpfen ihrer Kinder.

Dorothee von Meier tauchte mal in diese, mal in jene Gruppe ein, und sie wechselte so beseelt von einem Schauplatz zum anderen, als würde sie schweben vor Glück. Und es war ja auch beeindruckend, was aus ihrer ursprünglichen Idee geworden war. Zum einhundertdreißigsten Geburtstag von John Ronald Reuel Tolkien hatte sie die anderen Mitglieder ihres Vereins Remslinger Kulturlese e. V. für eine Veranstaltung zum Thema Der Herr der Ringe begeistert. Auch im Rathaus hatte sie offene Türen eingerannt: Der neue, junge Oberbürgermeister hatte sich als Tolkien-Fan entpuppt, und sein ebenfalls neuer und noch jüngerer Marketingbeauftragter war in seiner Euphorie bald nicht mehr zu stoppen. Aus der geplanten kleinen Lesung, finanziert von der Stadt, wurde schließlich ein ganzes Tolkien-Wochenende. Und während Dorothee von Meier in der Stadtbücherei eine kleine Lesereihe aus den Werken des britischen Schriftstellers organisierte, zettelte die Stadt selbst ein wahres Festival rund um die Figuren und Geschichten aus Mittelerde an. Der Marketingbeauftragte erklärte den staunenden Stadträten, wie groß und weltumspannend die sogenannte Cosplay-Community inzwischen war und welchen Aufwand die Fans betrieben, um sich – kostümiert wie Comic- oder Fantasyfiguren – auf Messen oder sonstigen Veranstaltungen zu treffen. Er ließ seine Kontakte in die Cosplay-Szene spielen, konnte auch einige Schausteller und Gaukler gewinnen, die sonst auf historischen Märkten aktiv waren, und nun war ganz Remslingen eine wilde Mischung aus Mittelerde und Mittelalter.

Sonja Fischer hatte ihre Vitaminoase zwar für die Dauer der Tolkien-Tage geschlossen – sie hatte Robert erzählt, dass sie dem Auflauf der Cosplayer entgehen und die Gelegenheit nutzen wolle, alte Freunde zu besuchen –, aber wenigstens hatte sie ihr Schaufenster mit großformatigen Szenenfotos aus Peter Jacksons Herr-der-Ringe-Filmen verhängt.

Die meisten anderen örtlichen Händler machten den Spaß mit. Juwelier Gollmann hatte sein Schaufenster mit einer überlebensgroßen Gollum-Figur dekoriert und Sprechblasen aus Karton gebastelt und aufgehängt, auf denen »Mein Schatz!« stand. In der Bäckerei am Marktplatz gab es Moria-Kringel und Bruchtal-Brezeln, und das Café Journal hatte ein sehr opulentes Auenland-Frühstück auf die Karte gesetzt.

Lino Fontana, der Wirt des Ristorante Fontana am Marktplatz, hatte seine Speisekarte angepasst und einige seiner Spezialitäten umbenannt – nun bot er Spaghetti al Smaug an, und die Pizza Frodo verkaufte er auch stückweise auf die Hand. Sein Vater Pasquale Fontana fand das zwar albern, aber seit er seinem Sohn das Ristorante übergeben hatte, hielt sich der einstige padrone zur allgemeinen Überraschung tatsächlich vollständig mit Kommentaren zu den Geschäftsideen und Entscheidungen seines Sohnes zurück. Nur an einem hielt er eisern fest: Wann immer er Lust dazu hatte, saß er auf einem Stuhl am Rand des Außenbereichs, schmauchte sein Pfeifchen und süffelte dazu Rotwein aus seiner alten Heimat Apulien. Allerdings blieb der Stuhl verwaist, seit die Remslinger Innenstadt mit Besuchern geradezu geflutet worden und nirgendwo mehr ein ruhiges Eckchen zu finden war.

Selbst Robert Mondrian beteiligte sich an dem Festival, und Selina Brand hätte ihn gern unterstützt, aber sie hatte von Donnerstag bis Samstag Termine in ganz Deutschland, die sie nicht verschieben konnte. Eine Hilfe war sie ihm trotzdem gewesen: Einer der Kleinverlage, für die sie den Außendienst besorgte, hatte mehrere Schmuckausgaben von Tolkiens Werken im Programm, die Robert ins Angebot genommen hatte. Er hatte seinem Mitarbeiter Alfons sogar gestattet, einige Plastikfiguren im Buchladen aufzustellen, die er sich von einem befreundeten Sammler ausgeliehen hatte. Nur ein Räuchermännchen, das einen zwanzig Zentimeter hohen Drachen darstellte, musste wieder aus dem Regal genommen werden, weil der Gestank der Räucherkerze zu penetrant war. Alfons’ Freundin Marie, die an der Uni Stuttgart an ihrem Bachelor in Germanistik arbeitete und im Anschluss einen Master in Sprachtheorie und Sprachvergleich machen wollte, brachte Robert mit einem ihrer Professoren zusammen, der von den Sprachen, die Tolkien für seine Mittelerde-Welt erfunden hatte, ebenso fasziniert war wie Mondrian. Und so erläuterte der Professor mehrmals am Tag für eine halbe Stunde einem kleinen, aufmerksamen Publikum in der Leseecke der Buchhandlung, dass sich Tolkiens Elben in Sprachen unterhielten, die der Schriftsteller aus Walisisch und Finnisch entwickelt hatte.

Doch während es in Roberts Laden eher ruhig zuging und sogar die Kunden nur gedämpft mit ihm oder seinem Mitarbeiter sprachen, um den Vortrag nicht zu stören, herrschte draußen ein unbeschreiblicher Trubel. Der Betreiber eines historischen Karussells hatte sich die Mühe gemacht, seine Holzpferde mit selbst gebastelten Masken und Kostümen als Trolle und Elben zu inszenieren. Der Aufwand hatte sich gelohnt: Kein Sitzplatz blieb ungenutzt, und die verzückten Eltern beugten sich hin und her, um ihre Kleinen zusammen mit möglichst vielen der kostümierten Pferde aufs Handyfoto zu bekommen. Die Kinder jauchzten, die Erwachsenen lachten, und überall standen Cosplayer einzeln oder in Gruppen herum und deklamierten Zitate aus Tolkiens Fantasysaga. Einige rannten auch kreuz und quer über den Marktplatz, verfolgten sich durch die Gassen oder stellten sich vor dem Beinsteiner Tor zur Schlacht – in der Hoffnung, ihre theatralischen Posen würden vor der imposanten Kulisse weniger albern wirken. An manchen Ecken verstand man sein eigenes Wort nicht mehr, und überall waren Lärm und Bewegung.

Deshalb wunderte sich auch niemand, dass plötzlich eine Gruppe kostümierter Gestalten aus Gollmanns Juweliergeschäft rannte und zwischen den Feiernden hindurch in Richtung Kurze Gasse drängte. Und kaum jemand bemerkte zunächst, dass Juwelier Gollmann unmittelbar danach ins Freie trat, kreidebleich und mit wackligen Knien. Er schaute nach links und nach rechts, als suchte er jemanden, dann begann er um Hilfe zu rufen.

Robert trat vor die Tür seiner Buchhandlung, die im Moment durchgehend offen stand, und ließ den Blick über das Getümmel auf dem Marktplatz schweifen. Juwelier Gollmann bemerkte er zunächst nur aus den Augenwinkeln, aber als er den Mann wanken und an der Hausmauer nach Halt tasten sah, wandte er seinen Kopf zu ihm hin und versuchte, aus dem schlau zu werden, was er über die Köpfe der Menge hinweg erkennen konnte. Gollmann war blass, er schien zu zittern, und sein Nachbar Lino eilte herbei, stützte seinen Arm und sah ihn besorgt an. Nun war zu hören, wie eine Passantin nach einem Blick durch die offene Tür des Schmuckladens einen hysterischen Schrei ausstieß, und mehrere Umstehende näherten sich Gollmann. Einige von ihnen holten ihre Handys hervor – einer schien Hilfe herbeizurufen, die anderen machten Fotos vom Juwelier und seinem Ladengeschäft. Als ein besonders dreister Schaulustiger Anstalten machte, für weitere Aufnahmen durch die Eingangstür nach drinnen zu gehen, fuhr der Nachbar wütend dazwischen und drängte den Mann mit wilden Gesten und lauter Stimme zur Seite.

Einen Moment lang dachte Robert darüber nach, dem Juwelier und seinem Nachbarn zu Hilfe zu eilen, aber dann sah er zwei Frauen in Sanitäterkluft zu Gollmann rennen. Eine der beiden fühlte ihm den Puls, die andere flitzte in den Laden hinein, wohin der Juwelier aufgeregt gedeutet hatte. Nur Sekunden später – Gollmann wurde von Wirt Lino auf einen Stuhl vor dessen Ristorante bugsiert – ließ die Sanitäterin vom Juwelier ab und eilte ebenfalls in den Laden. Kurz darauf war eine Sirene zu hören, und ein Rettungswagen bahnte sich von der Kurzen Straße herauf den Weg durch die Menschenmenge. Und noch während ein schwer verletzter Mann aus dem Juweliergeschäft in den Wagen geschafft wurde, mischten sich unter die Zauberer, Orks und Elben auf dem Marktplatz immer mehr uniformierte Polizisten. Sie bezogen Posten an den Ausgängen des Platzes, begannen damit, Umstehende zu befragen, und als Robert unter einigen herbeieilenden Frauen und Männern in Zivil auch die Kripokommissare Neher und Lachenmaier erkannte, wusste er, dass Gollmann Schlimmeres widerfahren war als nur ein Schwächeanfall.

»Aufregend«, raunte ihm Alfons ins Ohr, der unbemerkt neben seinen Chef getreten war und fasziniert beobachtete, was auf dem Marktplatz vor sich ging.

Robert warf ihm einen genervten Blick zu.

»Darf ich?«, fragte Alfons trotzdem, und als Robert Mondrian nur resigniert mit den Schultern zuckte, war er mit einigen schnellen Schritten in der Menge verschwunden. Robert sah ihm nach, verlor ihn kurz aus den Augen, entdeckte ihn dann aber in einer Entfernung vom Juweliergeschäft, die leidlich Respekt vor Gollmanns Privatsphäre bezeugte, ihm aber doch eine gute Sicht auf alle womöglich noch kommenden Ereignisse gewährte.

»Soll ich ihn zurückpfeifen?«

Robert hatte Marie Beck nicht kommen sehen. Nun stand sie neben ihm vor der Tür zur Buchhandlung und nickte zu ihrem Freund hinüber.

»Nein, lassen Sie ihn ruhig«, sagte Robert und winkte ab. Er schaute zur Leseecke. Dort war der Vortrag gerade zu Ende gegangen, und die Handvoll Zuhörer erhoben sich und plauderten noch mit dem Referenten, einem stattlichen Herrn Anfang sechzig, der müde wirkte und sich offensichtlich sehr anstrengen musste, die immer gleichen Fragen mit freundlichem Lächeln zu beantworten.

»Lust auf einen Kaffee?«, fragte Robert. »Ihr Professor hat gleich Pause.«

Gustaf Kruse hatte sich zwar viel Arbeit mit den Handpuppen gemacht, die er passend zu den Tolkien-Tagen angefertigt hatte, aber ein neues Theaterstück war ihm zu diesem turbulenten Event nicht eingefallen. Stattdessen führte der Puppenspieler bis Sonntag zwei andere Stücke aus seinem Repertoire auf, die zumindest vage zur Fantasiewelt von Der Herr der Ringe passten, und natürlich sein emanzipiertes Märchenstück Die Froschkönigin oder die eiserne Henrike, mit dem er im vergangenen Jahr so großen Erfolg gehabt hatte.

Die beiden Aufführungen für Kinder waren schon vorüber, der kleine Theatersaal war gut gefüllt gewesen, und bis zum Beginn der Abendvorstellung hatte er noch etwas Zeit. Also schlenderte er durch die Altstadt und genoss das Treiben der Gäste. An einem Stand ließ er sich ordentlich Zuckerwatte auf ein Holzstäbchen wickeln, und während er kleine Büschel von dem klebrigen Zeug abzupfte und sich zwischendurch die Lippen sauber leckte, betrachtete er die Schaufenster, an denen er vorbeikam. Sonja Fischer, die er nach wie vor nicht mochte, hatte die Glasflächen mit Filmfotos zugeklebt, der Obstladen war übers Wochenende geschlossen. Gollmann hatte seine Fenster schön dekoriert und in seiner Werbung – sehr passend, wie Kruse fand – vor allem auf den wertvollen Ring hingewiesen, den er mit großem Trara im Verkaufsraum ausstellte. Im Weggehen fragte sich der Puppenspieler, ob dem ziemlich humorlosen Juwelier wohl aufgefallen war, dass sein Name dem des unglückseligen Gollum ähnelte, den der Eine Ring, mit dem Sauron alle anderen Ringe beherrschen wollte, ins Verderben geführt hatte. Kruse drehte seine Runde, bestaunte die aufwendigen Kostüme der zahlreichen Gäste, lächelte über die jauchzenden Kinder und die fotografierenden Eltern am historischen Karussell, und nachdem er die Zuckerwatte aufgegessen und das Holzstäbchen in einen Mülleimer geworfen hatte, holte er sich im Ristorante Fontana eine Pizzaschnitte und hielt auf das Café Journal zu, wo er sich zum Abschluss noch einen Espresso gönnen wollte.

Da bemerkte er aus den Augenwinkeln, dass auf der anderen Seite des Marktplatzes plötzlich zusätzliche Unruhe in das ohnehin chaotische Treiben kam. Er wandte sich um. Ein paar Meter entfernt vom Juweliergeschäft wurden Menschen beiseitegestoßen, manche protestierten lautstark und riefen den Rüpeln mit erhobener Faust Schimpfworte hinterher. Kruse war recht groß, dennoch konnte er aus seiner Position nur einen spitzen Hut durch die Menge pflügen sehen – einer der Radaubrüder war offenbar als Zauberer Gandalf verkleidet, aber der Schneise nach zu urteilen, die sich in der Menge auftat, mussten dort mehrere Personen in Richtung Kurze Straße rennen. Nun wankte Gollmann aus seinem Laden und sah sich nach Hilfe um. Lino Fontana, der ihm eben noch eine Pizzaschnitte überreicht hatte, eilte zu ihm, und recht nah beim Geschehen stand eine Frau, die nie weit war, wenn irgendetwas in Remslingen vorfiel, das Stoff für Klatsch und Tratsch bot: Elsa Heberle.

Die Flucht durch die Menschenmenge hätte nicht besser laufen können. Natürlich hatte jeder sie sehen können, aber die Polizei würde mit der Beschreibung der Täter nicht viel anfangen können. Gandalf lachte kehlig, Frodo bedeutete ihm mit einer knappen Geste, still zu sein, bis sie die Altstadt und das Gewimmel der Cosplayer hinter sich gelassen hatten. Nur die Orks tappten still und gleichgültig hinter ihnen her.

Die Kostüme hatten sich noch aus einem weiteren Grund als sehr praktisch erwiesen. In Gandalfs weit fallendem Mantel ließen sich gut die Messer verbergen, mit denen sie den Juwelier und seinen Mitarbeiter in Schach gehalten hatten. Und die Orks hatten sie dicker als üblich ausstaffiert. In den Beuteln, über denen sich ihre mit Kunstfell und Plastikstücken besetzten Wämser spannten, war die Beute untergebracht. Goldketten, Uhren, Diademe, Ohrringe. Vor allem aber den Einen Ring, den Gollmann als sein teuerstes Stück besonders protzig inszeniert hatte.

Die Glasglocke, unter der er auf Samt gebettet gelegen hatte, war mit einer recht teuren Sicherheitsvorrichtung versehen gewesen. Doch die Sperre zu öffnen war mit dem richtigen Programmiercode kein allzu schweres Unterfangen, und dass die Glocke Alarm auslöste, sobald sie von ihrem Unterbau gehoben wurde, störte nicht allzu sehr, wenn man ohnehin nur Sekunden später untertauchen wollte. Dumm war nur gewesen, dass Gollmanns Mitarbeiter offenbar den Helden spielen wollte und sie anzugreifen versuchte. Dabei ging die Glasglocke zu Bruch – und der Mitarbeiter nach einem Messerstich zu Boden.

Mit zügigen Schritten, aber ohne zu rennen, erreichten sie den Parkplatz in der Weingärtner Vorstadt und öffneten die Schlösser, mit denen sie ihre Fahrräder neben einem Kombi an den Stamm eines Baums angekettet hatten. Die Orks schwangen sich flink auf ihre Drahtesel, Frodo brauchte einen Moment länger, und Gandalf fuhr erst kurz nach ihnen los und hatte auf den ersten Metern einige Mühe, mit dem Vehikel geradeaus zu fahren. Nur mühsam kam er in Tritt und folgte den anderen. Es ging die schmale Straße in Ufernähe entlang, über die Talstraße hinweg, sobald der dichte Verkehr die erste Lücke bot, weiter remsabwärts am Reitverein vorbei, aus der Stadt hinaus und vorüber an der Kläranlage. Als nach einer Weile jenseits des Flusses schon die Fabrik und die ersten Gebäude von Remslingen-Neustadt zu sehen waren, schlugen sich die vier Gestalten für ein paar Minuten in die Büsche und setzten ihre Fahrt kurz darauf fort, nun nicht mehr kostümiert, aber mit prallen Rucksäcken beladen. Schließlich erreichten sie einen geschlossenen Transporter, weiß lackiert und ohne Werbeaufschrift, der am Straßenrand abgestellt war. Die Räder und die Rucksäcke verschwanden auf der Ladefläche, und kaum war der letzte ihrer Kumpane eingestiegen, gab die Frau am Steuer auch schon Gas und preschte mit dem Gefährt in Richtung Hegnach davon.

Die Kaffeemaschine mahlte, röchelte und zischte, und als die letzten Gäste des Vortrags gegangen waren, trug Robert drei Tassen in die Leseecke. Professor Dr. Markus Bopp nahm den Milchkaffee dankend entgegen und ließ sich mit einem tiefen Seufzen in einen der Sessel fallen. Marie rührte etwas Zucker in ihren Latte macchiato, und Robert grinste Bopp über seinen doppelten Espresso hinweg an. Der Professor erwiderte seinen Blick mit schlecht gespielter Leidensmiene.

»Worauf habe ich mich da nur eingelassen?«, brummte er und wandte sich an Marie. »Da haben Sie mir ja etwas eingebrockt, Frau Beck!«

Sie grinste, und nun ließ auch Bopp zu, dass sich ein gutmütiges Lächeln auf sein rundliches Gesicht legte.

»Nein, im Ernst«, gestand er, »mir macht das großen Spaß. Wenn ich an der Uni mit Tolkiens Sprachen ankomme, muss ich schon das Zauberwort ›prüfungsrelevant‹ einstreuen, dass mir überhaupt jemand zuhört.«

Er nahm einen großen Schluck Kaffee.

»Aber immer wieder dasselbe sagen, kondensiert auf das, was gerade so in eine halbe Stunde passt – das ist dann doch anstrengend. Und die Fragen im Anschluss … na ja, da höre ich von Ihnen in der Regel bessere, Frau Beck.«

Sie dankte mit einem kurzen Nicken, und Robert deutete zum Schaufenster hinaus.

»Gleich werden wir vor allem Antworten hören.«

Alfons arbeitete sich durch die Menge auf dem Marktplatz auf die Buchhandlung zu, und er sah aus, als wollte er Neuigkeiten loswerden.

»Antworten auch auf Fragen, die keiner von uns gestellt hat«, sagte Robert und erhob sich, um auch für Alfons einen Kaffee aus der Maschine zu lassen. Als er mit einer dampfenden Tasse zurückkehrte, hatte sich sein Mitarbeiter schon neben Marie niedergelassen, wartete mit seinem Bericht aber noch, bis sie vollzählig waren.

»Chef, die Kripo ermittelt wieder!«

»Ich weiß. Ich habe gesehen, dass Kommissar Neher und sein Kollege zum Juweliergeschäft unterwegs waren. Was ist denn passiert?«

»Gollmanns Mitarbeiter wurde niedergestochen. Er lebt, ist aber schwer verletzt im Rettungswagen weggebracht worden. Ich habe etwas von einer Notoperation aufgeschnappt, vermutlich liegt er schon auf dem OP-Tisch in Winnenden. Meine Güte, hoffentlich kommt er durch! Als wir hier in Remslingen noch das Krankenhaus hatten, wären es ja nur wenige Minuten gewesen, aber so …«

Alfons war ganz außer sich. Seine Wangen hatten sich gerötet, und er knetete die Finger. Marie legte beruhigend eine Hand auf seine, aber ihr Freund sah sie nur irritiert an.

»Findest du das nicht schlimm? Ich meine, da wird fast vor unseren Augen jemand niedergestochen und …«

»Schon gut, Alfons, jetzt übertreib nicht. Der Mann wird es schon schaffen, nach Winnenden ist es nicht weit, und die Ärzte werden ihre Arbeit gut machen.«

Sie musterte ihn, außer seiner Aufregung war durchaus auch Faszination von seinem erhitzten Gesicht abzulesen.

»Und die Polizei weiß ebenfalls, was nun zu tun ist«, fügte sie mit warnendem Unterton hinzu.

»Na ja, die Polizei. Der wird vielleicht erst mal gar nicht klar sein, wer überhaupt zuständig ist: Neher und Lachenmaier kümmern sich ja um Mord und Totschlag, aber was da vorhin passiert ist, fällt einstweilen gar nicht unbedingt in ihr Ressort!«

»Was ist denn sonst noch passiert?«, warf Robert ein.

»Die Täter haben Schmuck gestohlen, darunter wohl auch den wertvollsten Ring im Laden.«

»Dieses protzige Ding, das Gollmann neben seiner Theke unter einer Glashaube ausgestellt hatte?«

Robert erinnerte sich mit Schaudern an die kitschige Inszenierung, die der Juwelier ihm gestern stolz präsentiert hatte: Ein dunkelblaues Kissen lag auf einer Plastiksäule in Marmoroptik, ein fetter Klunker mit noch fetterem Preisschild ruhte auf dem Stoff, und darüber wölbte sich eine kleine Kuppel aus Glas. Zu allem Übel hatte Gollmann noch mehrere Strahler an der Decke angebracht und auf den Ring gerichtet, die den eingefassten Diamanten und die sorgfältig polierte Glaskoppel nach allen Richtungen gleißen und blitzen ließen.

»Genau das!«, bestätigte Alfons.

»Das ist ja ein Ding!«, entfuhr es Robert. »Ein Schmuckraub am helllichten Tag mitten in der Stadt! Immerhin wird die Polizei reichlich Augenzeugen finden.«

»Das wird uns nicht viel helfen«, kam eine Stimme vom Eingang her. Dort lehnte Kommissar Klaus Neher im Türrahmen und lächelte resigniert.

»Ah, Herr Neher! Auch einen Kaffee?«

»Ja, bitte.«

Neher stieß sich vom Türrahmen ab und kam zu ihnen in die Leseecke.

»Meine Kollegen klappern die Anwohner ab, aber Sie zu befragen wollte ich mir natürlich nicht nehmen lassen. Auch Sie nicht, Herr Weber«, fügte er mit einem Augenzwinkern hinzu.

Robert lachte und ging in die kleine Teeküche, Alfons wirkte etwas nervös.

»Hören Sie uns schon lange zu?«, fragte er und nickte zur Tür hinüber.

»Etwa seit: ›Na ja, die Polizei.‹«

Alfons schluckte und senkte den Blick.

»Aber Sie können beruhigt sein«, fuhr Neher fort. »Die Frage der Zuständigkeit wird uns nicht an unserer Arbeit hindern.«

Robert kam mit einem Cappuccino wieder, und Neher nippte vorsichtig an der Tasse.

»Wie geht’s denn Herrn Gollmann?«, erkundigte sich Robert.

»Ihm ist nichts weiter passiert, aber der Schreck sitzt ihm in den Knochen. Und natürlich der Ärger darüber, dass er bestohlen wurde. Immerhin scheint er einen guten Versicherungsvertreter zu haben. Den rief er an, gleich nachdem die Sanitäter nach ihm geschaut hatten, und der scheint sich jetzt schon um den ersten Papierkram zu kümmern.«

»Ich kann Ihnen übrigens leider nicht viel zu dem Zwischenfall sagen«, sagte Robert, ohne Nehers Frage abzuwarten. »Fast nichts, eigentlich. Ich stand gerade vor meinem Laden, als ich Herrn Gollmann auf die Straße treten sah. Lino Fontana, der Wirt des Ristorante nebenan, stützte ihn, als Gollmann ins Wanken geriet. Dann kamen auch schon die Sanitäter – und die Schaulustigen.«

Neher seufzte und nahm noch einen Schluck.

Robert sah ihn an, er wirkte müde.

»Was meinten Sie damit, als Sie vorhin sagten, dass Ihnen die Augenzeugen diesmal keine Hilfe seien?«

Der Kommissar setzte die Tasse ab und massierte sich kurz die Schläfen, bevor er antwortete.

»Den Raub selbst hat wohl niemand beobachtet, auch nicht den Moment, in dem Herrn Gollmanns Mitarbeiter niedergestochen wurde. Aber die Flucht der Täter haben viele mitbekommen.«

»Und das soll Ihnen nicht helfen?«

Robert wunderte sich, aber Neher winkte nur ab.

»Sagen wir es mal so«, fasste er schließlich zusammen: »Dank der Augenzeugen wissen wir, dass der Zauberer Gandalf, der Hobbit Frodo Beutlin und zwei Orks direkt nach der Tat das Juweliergeschäft verlassen haben und in Richtung Kurze Straße geflohen sind.«

Alfons nickte betrübt, weil er das schon aufgeschnappt hatte. Professor Bopp musste ein Lachen unterdrücken, und Marie räusperte sich.

»Oh, die waren verkleidet«, entfuhr es Robert.

»Ja, Herr Mondrian, passend zu dem ganzen Irrsinn, der sich an diesem Wochenende in der Stadt abspielt.«

»Und jetzt sind sie vermutlich untergetaucht, und Ihre Kollegen haben keine Ahnung, wer hinter den Masken und in den Kostümen steckte.«

Neher nickte, erhob sich und ging aus dem Laden. Robert sah ihm nach. Alfons trat neben ihn.

»Der Kommissar sieht aus, als könnte er Hilfe brauchen«, raunte er seinem Chef zu.

Der schüttelte nur den Kopf und trug die leeren Tassen in die Teeküche. Alfons dachte kurz – aber wirklich nur einen Wimpernschlag lang – daran, ihm zu folgen und ihm den neuen Fall schmackhaft zu machen. Aber dann betrat eine Kundin den Laden, und er eilte zu ihr.

Der weiße Transporter stand schließlich verlassen am Straßenrand in einem der Gewerbegebiete der Umgebung. Die Frau hatte sich wie selbstverständlich auch hinter das Steuer des unauffälligen Kombis gesetzt, mit dem drei der vier Räuber zu dem Versteck fahren wollten, in dem sie zwei, drei Tage warten wollten, bis sich die ärgste Aufregung gelegt haben würde. Von der Bildfläche verschwunden, aber nah genug am Tatort, um gerade dort von niemandem gesucht zu werden.

Der älteste der drei Männer strich der Frau noch kurz über die Wange, bevor er sich in den anderen Wagen setzte und sich auf den Weg zu dem Hehler machte, der einen ersten Teil der Beute zu Geld machen sollte. Er brauchte bis zu seinem Fahrtziel deutlich länger als seine drei Komplizen, aber vor Ort konnte er das Nützliche mit dem äußerst Angenehmen verbinden. Als die Uhren und ein Teil des Schmucks übergeben und ein stattlicher Vorschuss auf den zu erwartenden Erlös kassiert war, fuhr er noch ein paar Kilometer, um die Frau zu treffen, die für ihn den Kontakt zu dem Hehler hergestellt hatte. Als er ihr Haus betrat, ging es sehr schnell nicht mehr um Schmuck. Auch nicht um Geld oder Kleidung. Sondern nur um sie beide, mit Haut und Haaren. Wobei … er das Zusammensein körperlich zwar sehr genoss, sich im entscheidenden Moment aber vorstellte, wie er sich in einem anderen Bett wälzte, eine gute Autostunde entfernt.

Robert hatte gut zu tun an diesem Nachmittag. Professor Bopp absolvierte zunehmend routiniert seine halbstündigen Vorträge, und die letzten beiden vor Ladenschluss waren besonders gut besucht. Anschließend stöberten die Gäste im Angebot der Buchhandlung Mondrian, und auch mehrere der hochpreisigen Tolkien-Schmuckausgaben fanden einen Käufer.

Dorothee von Meier kam vorbei und verschenkte Freikarten für die sonntägliche Lesung an Alfons, ihre einstige Schülerin Marie und den Professor. Robert steckte sie zwei Karten zu und zwinkerte ihm verschwörerisch zu, während sie etwas von einer Begleitung raunte, die er gern mitbringen dürfe. Robert bedankte sich, hatte aber keine Lust, auf ihre Anspielung einzugehen. Ohnehin wusste er nicht, ob Selina Lust auf eine Lesung hatte, wenn sie nach ihrem anstrengenden Programm am Sonntag endlich mal die Beine hochlegen konnte. Immerhin registrierte er, dass die Lesung wohl etwas größer aufgezogen wurde: Sie fand in der Stadtbücherei statt, und die Namen der beiden Männer, die aus Tolkiens Texten rezitieren sollten, kannte sogar er, obwohl er weder großer Fernseh- noch Kleinkunstfreund war.

»Die Gagen der beiden übernimmt die Stadt«, erklärte Frau von Meier, als Robert wegen der prominenten Mitstreiter nachfragte. »Da kann man das ja schon mal machen, nicht wahr?«

Robert hatte Mühe, ernst zu bleiben, aber die pensionierte Lehrerin achtete ohnehin nicht länger auf ihn, grüßte noch einmal in alle Richtungen und eilte auch schon wieder hinaus auf den Marktplatz. Dort stand sie einen Moment, offenbar unschlüssig, in welcher Richtung nun wohl die beste Unterhaltung zu finden war, bevor sie mit schnellen Trippelschritten davonging.

Alfons flitzte zwischen den Kunden hin und her, er versuchte erkennbar, einen guten Eindruck auf seinen Chef zu machen. Doch den besten Eindruck machte er damit, dass er den Überfall auf das Juweliergeschäft nicht mehr erwähnte. Erst als die letzte Kundin hinausgegangen war und Alfons für diesen Tag die Tür geschlossen hatte, die altmodische Türklingel verhallt war und die beiden Kakadus das Echo des Läutens täuschend echt von sich gegeben hatten, kam er wieder auf das Thema zu sprechen.

»Chef, darf ich Sie was fragen?«

»Ja, ich würde zum Feierabend einen Cappuccino nehmen«, versetzte Robert, ohne von den Papieren aufzusehen, die er gerade ordnete. Alfons stutzte, doch dann ging er in die kleine Teeküche hinüber, und während die Maschine Laut gab, genehmigte sich Robert ein Grinsen. Und als er kurz zur Leseecke hinüberschaute, erwiderte Marie seinen Blick ebenso amüsiert. Alfons kehrte mit drei Bechertassen zurück, gab seinem Chef und seiner Freundin eine und nippte an der dritten.

»Ich hatte etwas anderes gemeint«, nahm er dann einen neuen Anlauf.

»Ich weiß«, erwiderte Robert versöhnlich, behielt aber einen etwas spöttischen Unterton bei. »Und wie gedenkst du nun in diesem neuen Kriminalfall zu ermitteln?«

Alfons schmollte kurz, fing sich jedoch schnell wieder.

»Das weiß ich noch gar nicht, aber wäre das nicht auch für Sie interessant, Chef?«

»Und was würde mich deiner Meinung nach besonders für Recherchen in dieser Angelegenheit qualifizieren? Dass sich die Räuber als Romanfiguren aus Der Herr der Ringe verkleidet haben und ich als Buchhändler an den Umgang mit Romanfiguren gewöhnt bin?«

Dazu fiel Alfons nichts ein, er zuckte etwas hilflos mit den Schultern.

»Du hast den Kommissar doch gehört«, fügte Robert hinzu. »Die arbeiten mit Hochdruck an dem Fall, und das sollten wir diesmal wirklich den Profis überlassen.«

Der Blick des jungen Mannes senkte sich, und er ließ seine schmalen Schultern hängen.

»Aber natürlich kannst du in deiner Freizeit machen, was du willst. Und wenn es dir Spaß macht, in dieser Geschichte herumzuschnüffeln, dann werde ich dich nicht daran hindern. Aber mich lässt du bitte raus, in Ordnung?«

»Ich meinte ja nur …«, sagte Alfons noch, schon ziemlich resigniert, dann zog er die Ladentür auf und ging hinaus. Marie folgte ihm, hob kurz den Daumen in Richtung Robert, hakte ihren Freund unter und steuerte mit ihm auf das Fontana zu.

Robert holte den Werbeaufsteller herein, und als er ihn vom Bollerwagen hievte und an die Verkaufstheke lehnte, hörte er die Glocke noch einmal läuten. Alfons ging an ihm vorbei und lud den Vogelkäfig auf den frei gewordenen Wagen.

»Sorry, Chef, ich war ganz in Gedanken. Um ein Haar hätte ich Sherlock und Watson im Laden vergessen.«

Damit war er auch schon wieder draußen. Die Kakadus riefen ein paarmal »Vergessen! Vergessen!« und ernteten das Gelächter der Passanten. Dann hatte die kostümierte Menge auf dem Marktplatz seinen Mitarbeiter, dessen Freundin und die zwei vorwitzigen Vögel verschluckt. Robert sah durchs Schaufenster. Vor der Tür des Ristorante tauchten Marie und Alfons wieder aus dem Gewimmel auf. Wirt Lino kam ihnen entgegen, nickte beflissen, deutete dann aber auf den Käfig auf dem Bollerwagen. Es ging ein bisschen hin und her, schließlich überließ Lino den beiden den äußersten der Tische auf dem Marktplatz. Alfons bugsierte den Bollerwagen neben sich an die Hauswand und redete auf die beiden Kakadus ein, die sich daraufhin abwandten und stur auf die Mauer starrten.

Robert lachte. Sosehr ihn Alfons mit seinen Marotten manchmal nervte: Ohne ihn und diese schrägen Vögel wäre sein Leben in Remslingen um einiges ärmer.

Das Handy weckte sie zuerst auf, aber noch bevor sie über ihn hinweg danach greifen konnte, hatte auch er die Augen aufgeschlagen und hob das Smartphone ans Ohr. Er meldete sich mit einem Brummen, setzte sich aber sofort auf, als er hörte, wer ihn anrief. Sie musterte ihn und versuchte zu hören, wer dran war, aber er rückte ein kleines Stück von ihr ab.

»Hat alles geklappt«, sagte er. »Die Anzahlung bringe ich mit. Er glaubt, dass es ein bisschen weniger einbringen könnte, als wir hoffen.«

Die Antwort fiel wohl barsch aus, denn er schlug einen versöhnlichen Ton an, als er schnell hinzufügte: »Nein, ich lass mich nicht über den Tisch ziehen, keine Sorge. Aber wir haben ja noch genug übrig, das wird sich unter dem Strich schon lohnen, mach dir da bloß keinen Kopf. Und vergiss den Ring nicht.«

Wieder eine Pause, die Frau neben ihm lauschte, konnte aber nicht einmal sagen, ob am anderen Ende der Leitung ein Mann oder eine Frau sprach.

»Ich weiß, dass das mit dem Ring noch einmal eine ganz andere Nummer wird. Aber das krieg ich geregelt. Ich mach das ja nicht zum ersten Mal.«

Er hörte zu, dann lachte er. Es klang rau, vertraut, und der Frau neben ihm versetzte es einen Stich. Das war kein Mann am anderen Ende.

Ende der Leseprobe