Welt der Wirtschaft -  - E-Book

Welt der Wirtschaft E-Book

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Beschreibung

Neue Impulse - neue Antworten Einkaufen, Rente planen, Apps herunterladen – Wirtschaft bestimmt unseren Alltag, und doch überlassen wir viele Dinge gerne vermeintlichen Experten. Dabei zeigen die jüngsten Krisen, wie schnell Gewissheiten ins Wanken geraten. Verhalten sich Wirtschafts-Akteure wirklich rational? Wann regeln sich Märkte selbst - wann versagen sie kläglich? Formt die Wirtschaft das Internet oder das Internet die Wirtschaft? Wie verändern Globalisierung und Digitalisierung die Arbeitswelt? Hintergrundwissen, Querverbindungen, Denkanstöße: Dieses Wissensbuch zum Thema Wirtschaft lässt keine Fragen offen.

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Judith Kösters, Heike Ließmann, Karl-Heinz Wellmann (Hg.)

WELT DER WIRTSCHAFT

Neue Fragen, einfach erklärt

Campus Verlag

Frankfurt/New York

Über das Buch

Einkaufen, Rente planen, Apps herunterladen – Wirtschaft bestimmt unseren Alltag, und doch überlassen wir viele Dinge gerne vermeintlichen Experten. Dabei zeigen die jüngsten Krisen, wie schnell Gewissheiten ins Wanken geraten. Verhalten sich Wirtschafts-Akteure wirklich rational? Wann regeln sich Märkte selbst - wann versagen sie kläglich? Formt die Wirtschaft das Internet oder das Internet die Wirtschaft? Wie verändern Globalisierung und Digitalisierung die Arbeitswelt? Hintergrundwissen, Querverbindungen, Denkanstöße: Dieses Wissensbuch zum Thema Wirtschaft lässt keine Fragen offen.

Vita

Die Herausgeber Judith Kösters, Heike Ließmann und Dr. Karl-Heinz Wellmann sind Redakteure in der Redaktion Bildung und Wissenschaft bei hr-iNFO. Ihr Buch basiert auf dem Funkkolleg Wirtschaft, das mit wissenschaftlicher Begleitung des House of Finance und des Fachgebiets Wirtschaftspädagogik der Goethe-Universität Frankfurt entstanden ist.

INHALT

VORWORT: ERSCHÜTTERTE WAHRHEITEN – NEUE WERTE?

SCHÖNE NEUE WIRTSCHAFTSWELT

Kapitel 1Industrie 4.0 – das Ende des klassischen Wirtschaftens?

Vernetzte Maschinen

Autobauer im Abseits?

Learning by doing

Vernetzte Kleinkraftwerke

Kapitel 2Google, Facebook, Amazon – die neuen Monopolisten

Ein deutsches Start-up gegen Google

Facebook – der Social-Media-Monopolist

Das Netz begünstigt Monopole

Skaleneffekte

Netzwerkeffekte in mehrseitigen Märkten

»Lock-in«-Effekte durch Wechselkosten

Die Zähmung der neuen Riesen

Amerikaner sind vom Mars, Europäer von der Venus

Kapitel 3Teilen als Milliardengeschäft – die Sharing Economy

Vom Alternativmodell zum Massenphänomen

Die Null-Grenzkosten-Ökonomie

Wohnraum – zusätzlich oder zweckentfremdet?

Das Taxi der Zukunft?

Ausweitung des Konsumverhaltens

Unterlaufene Arbeitnehmerrechte?

Kapitel 4Globale Gier – wie fair ist der Handel?

Plackerei ohne Lohn

Handeln erweitert den Horizont

»Handel steigert den Wohlstand«

Globale Regeln für globalisierte Märkte

Gleichberechtigung und faire Preise

Irritierende Siegel-Vielfalt

Kapitel 5Wert aus dem Nichts – unser Geld

Das dritte Medium

Fortschritt und Gier

Geld – geprägte Freiheit?

Gold oder Bitcoins?

Zinsen: der Preis des Geldes

Der Dollar wird Ankerwährung

Vollgeld – ein Ausweg?

Kapitel 6Sparen bis zum Untergang? Reformpolitik in der Krise

Sparen: ein Brandbeschleuniger?

Sparen in der Krise?

Jugendarbeitslosigkeit auf Rekordhöhe

Investieren in der Krise

Troika und IWF: Akteure ohne Kontrolle?

Irland: Vertrauen wiederhergestellt

DER MENSCH IN DER WIRTSCHAFTSTHEORIE

Kapitel 7Gibt es das Unternehmer-Gen?

Schöpferische Zerstörung

Handwerksinstrumente

Ruf nach Freiraum

Unternehmer oder Manager?

Kapitel 8Überschätzte Propheten: die Wirtschaftsgurus

Mainstream ohne Mehrheit

Weise Politikberatung

Blindwütige Zertifikat-Käufer?

Gute Geldpolitik – was ist das?

Mehr Demut!

Kapitel 9Von Menschen und Modellen – was leisten die Wirtschaftswissenschaften?

Verliebt in mathematische Modelle

Neoklassisches Denken

Etwas, an das man sich halten kann

Kapitel 10Zählt nur der Eigennutz? Was den Menschen antreibt

Das Ultimatum-Spiel

Gehirnstimulationen und soziale Normen

Das Public-Good-Spiel

Feldforschung

Kapitel 11Informiert oder manipuliert – ist die Politik den Lobbyisten hörig?

Perfekter Auftritt ist wichtig

Nah dran am Geschehen

Ebbelwein und Lobbybadges

Plattformen für die Entscheider

Lobbyisten – geschickt von der Regierung

Treffpunkt: Capital Club

DER MENSCH IN DER ARBEITSWELT

Kapitel 12Einzelkämpfer gesucht – vom Arbeitnehmer zum »Arbeitskraft-Unternehmer«

Gigantisches Einsparpotenzial

Autonomes Arbeiten

Einseitige Vertragsgrundlagen

Dienstschluss: entfällt

Kapitel 13Die Abgehängten – funktioniert unser Arbeitsmarkt?

Verlassen und ausgegrenzt

»Fördern und Fordern«

Strukturelle Arbeitslosigkeit

Von Hartz IV in die Altersarmut?

Kapitel 14Auslaufmodell Solidarität – welche Zukunft haben die Gewerkschaften?

»Right to work« statt Solidarität

Freie Berufe – die neue Normalität?

Spartengewerkschaften statt Solidarität

Gerechter Lohn schenkt Würde

Kapitel 15Planlos ins Alter – die große Rentenverunsicherung

Beklemmendes Gefühl

Vom Kapitalstock zum Umlageverfahren

Weiterhin steigende Belastungen

Die Macht des Einzelnen

Mehr Bildung für alle

NEUE WERTE!

Kapitel 16Vorwärts im Rückwärtsgang – eine Welt ohne Wachstum?

Mehr Wachstum – mehr Glück?

Prosumenten statt Konsumenten

Befreiung vom Überfluss

Qualitatives Wachstum

Freigeld statt Euro?

Kapitel 17Land, Öl, Wasser – wie wirtschaften wir mit Ressourcen?

Ersatzstoffe für Erdöl fehlen noch

Ausstieg aus der Erdölförderung?

Überlebenswichtig: fruchtbarer Boden

Natürliche Ressourcen – auch ein Fluch?

Mischkulturen und Bodendecker

Wasserholen statt Schulbesuch

Ein Grundrecht auf Wasser

Kapitel 18Kann der Privatsektor alles besser? Das Dogma vom effizienten Markt

Ein wirtschaftspolitisches Zaubermittel?

Seine Träume verwirklichen

Kredite und Sozialabbau

Die Post: ohne Pensionslasten privatisiert

Natürliche Monopole

Privatisierung schafft überlastete Ärzte

Deutsche Kommunen: allein gelassen

Kapitel 19Taschengeld für alle? Die Utopie des bedingungslosen Grundeinkommens

Eine Art Daseinsprämie

Die negative Einkommensteuer

Teilzeit- statt Vollzeitarbeit?

Verdoppelung der Steuersätze

Abschied vom Wohlstand?

Kapitel 20Kann man die Finanzmärkte bändigen?

Universalbanken aufteilen?

Schattenbanken: Die im Dunkeln sieht man nicht

Streitpunkt Finanztransaktionssteuer

Algotrading – eine »perverse Parallelwelt«

Finanzmärkte ohne Krisen?

Die Revolution der Fintechs

Kapitel 21Lehman reloaded. Nach dem Crash ist vor dem Crash

Nahrungskrisen und Spekulationskrisen

Die USA – das Epizentrum aller Krisen?

Reinigende Gewitter

Nach der Krise ist vor der Krise

Kapitel 22Wie geht eine gerechte Wirtschaft?

Lebensmittelmarken für die Armen

Der Gerechtigkeitsmonitor

Die unsichtbare Hand

Die Re-Feudalisierung der Gegenwart

Ein demokratisches Paradox

Die »Generation Erben«

Die Spendenbereitschaft boomt

VORWORT: ERSCHÜTTERTE WAHRHEITEN – NEUE WERTE?

Einkaufen im Supermarkt, eine App herunterladen, die Rente planen, online ein Buch bestellen: Tag für Tag treffen wir wirtschaftliche Entscheidungen. Wir fragen uns beispielsweise: Warum ist Benzin abends billiger als morgens? Würde die Welt auch ohne Geld funktionieren? Muss die Wirtschaft ewig wachsen? Statt auf Antworten zu warten, haben wir Gewohnheiten entwickelt, die uns Sicherheit vermitteln. Aber viele Aspekte unseres ökonomischen Alltags sind hochkomplex, und wir neigen daher nur allzu gern dazu, sie zu verdrängen: Wie sicher ist meine Altersvorsorge? Wie lange reichen die natürlichen Ressourcen? Wie fair sind Fair-Trade-Produkte?

Hinzu kommt, dass der Glaube an die Funktionsfähigkeit der Märkte erschüttert ist – spätestens seit die Finanzkrise ab 2007 in der Finanzwelt Abgründe von Versagen und ökonomischer Naivität zutage treten ließ: Ist Gier der Urantrieb des Wirtschaftens? Sind Gewerkschaften bloß noch Sand im Getriebe? Wer beeinflusst uns darin, wie wir über Wirtschaft und ihre Werte nachdenken? Welche überlieferten Theoriegebilde funktionieren noch, welche müssen wir neu denken? Aber auch andere Fragen tun sich auf: Wie verändern Globalisierung und Digitalisierung die Arbeitswelt? Formt die Wirtschaft das Internet oder das Internet die Wirtschaft?

Diesen Fragen – und vielen anderen – widmet sich dieses Buch, allgemeinverständlich und nah an unserem Alltag. Die Autorinnen und Autoren möchten Lust darauf machen, sich auf ein Thema einzulassen, dessen Fragen jeden von uns berühren. Denn hinter vielen aktuellen politischen Debatten, genauso wie hinter ganz persönlichen Problemen, verbergen sich häufig ökonomische Grundsatzfragen. Die 22 Kapitel dieses Buches basieren auf dem Funkkolleg Wirtschaft, einer Sendereihe, die erfahrene Wirtschaftsjournalisten für das Hörfunkprogramm hr-iNFO verfasst haben. Die Texte der halbstündigen Hörfunkfeatures wurden für die Druckfassung stilistisch und formal überarbeitet. Sie atmen aber noch die Lebendigkeit der Hörfunksendungen, denn die zahlreichen, eigens für das Funkkolleg Wirtschaft aufgezeichneten Gespräche mit Wissenschaftlern blieben als wörtliche Zitate erhalten.

Auch beim Thema Wirtschaft lohnt es sich, hin und wieder aus den Routinen des Alltags auszusteigen und über vermeintlich Selbstverständliches nachzudenken.

Judith Kösters

Heike Ließmann

Karl-Heinz Wellmann

SCHÖNE NEUE WIRTSCHAFTSWELT

Kapitel 1Industrie 4.0 – das Ende des klassischen Wirtschaftens?

Industrie 4.0 – dieses Schlagwort klingt nach einem PR-Slogan. Tatsächlich wurde es von Experten des Hightech-Forums der Bundesregierung kreiert. Sie wollten damit deutlich machen, dass Deutschland für die Zukunft gerüstet ist.

In einem Industriebetrieb für keramische Bauteile, einem Zweigwerk der Schunk Carbon Technology in Willich bei Düsseldorf, hat die Industrie 4.0 bereits ihre Spuren hinterlassen. Diese Firma hat den Niedergang der Schwerindustrie im Ruhrgebiet überstanden und sich mit neuen Produkten erfolgreich am Markt positioniert. Unlängst ist der betriebseigenen Entwicklungsabteilung nämlich ein Durchbruch im 3-D-Druck-Verfahren gelungen. Im Jahr 2010 hatte das Zweigwerk von der Konzernzentrale in Heuchelheim bei Gießen grünes Licht für dieses Entwicklungsprojekt erhalten. Nun ist die Firma in der Lage, im 3-D-Druck Bauteile herzustellen, die mit keinem anderen Formgebungsverfahren realisierbar wären.

Der 3-D-Drucker der Schunk Carbon Technology ist ein großer Block, etwa drei Meter lang und zwei Meter hoch. Gedruckt wird mit dem Werkstoff Siliziumcarbid – eine Innovation. Welche technischen Kniffe und Feinheiten der Geschäftsführer Joachim Heym und sein Team dafür entwickelt haben, sieht man von außen nicht – Betriebsgeheimnis. Nur so viel wird dem Besucher erklärt: Normalerweise wird beim 3-D-Druck Kunststoff auf Kunststoff verarbeitet, hier aber werden abwechselnd dünne Schichten von Keramikpulver verbunden. Man benötigt nur die digitale Konstruktionszeichnung des Kunden und schon kann das Werkstück in Druck gehen, und zwar prinzipiell überall auf der Welt. Das bedeutet eine enorme Beschleunigung des Geschäftsprozesses.

Das 3-D-Druckverfahren haben ursprünglich die »Maker«, eine international vernetzte Szene von Technik-Freaks, kurz nach der Jahrtausendwende vorangetrieben. Da Baupläne und Software als Open Source, also frei und allgemein verfügbar waren, beteiligten sich viele »Maker« an der Weiterentwicklung. Es galt, die industrielle Massenproduktion zu unterlaufen. Jeder sollte sich mit dem 3-D-Druckverfahren bald selbst Industrieprodukte herstellen können. Dass es noch nicht so weit ist, liegt daran, dass die 3-D-Drucktechnik noch zu aufwändig und vor allem zu teuer ist. Doch zusammen mit den Entwicklungen der digitalen Vernetzung sind wir möglicherweise gerade dabei, die bisherige Produktionswelt auf den Kopf zu stellen – und damit zugleich die Arbeitswelt.

Für Andreas Hackethal, Wirtschaftsprofessor an der Frankfurter Goethe-Universität und wissenschaftlicher Berater des Funkkollegs Wirtschaft, wird das an einem Smartphone deutlich. Es könne heute besser rechnen und mehr Daten verarbeiten als ein großer Rechner vor gerade mal 20 Jahren. Ihm zufolge sind wir schon Teil einer Wirtschaftswelt 4.0: »Auch das Smartphone ist ja vernetzt. Es zieht Informationen aus allen möglichen Quellen, mittlerweile auch von Maschinen, die dem Paradigma der Industrie 4.0 folgen. Neben der Vernetzung haben wir eine Datenverfügbarkeit, die früher nicht da war. Wenn man das alles zusammenzählt – immense Rechnerkapazität, Vernetzung und unglaubliche Mengen an Daten –, dann wird daraus eine Melange, die tatsächlich menschliche Fähigkeiten überschreitet.«

Vernetzte Maschinen

Alles begann mit der Dampfmaschine – Industrie 1.0, die erste industrielle Revolution. Es folgten die Elektrifizierung und die Einführung der Fließbandarbeit – Industrie 2.0. – und um 1980 die Automatisierung durch Computertechnologien – Industrie 3.0. Mit Industrie 4.0, der Vernetzung von Maschinen untereinander, stehen wir derzeit an der vierten Stufe der großen industriellen Entwicklungen.

Andreas Irmen ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Luxemburg, er hat die gesamtwirtschaftlichen Auswirkungen von Innovationen auf die Industrieproduktion untersucht, vor allem die »disruptiven Innovationen«, die Zerstörung von Altem, was Platz macht für Neues: »Der Begriff der ›disruptiven Innovation‹ bedarf einer Interpretation. Meine Idee ist sehr nahe an den Ideen von Josef Schumpeter, der den Begriff der kreativen Zerstörung im Zusammenhang mit Innovationen, die sich durchsetzen, geprägt hat. Solche Innovationen sind kreativ, weil sie etwas Neues bringen. Und sie sind zerstörerisch, weil sie letztendlich die Märkte derjenigen zerstören, die die alten, überkommenen Technologien oder Produkte herstellen. Insofern ist Industrie 4.0 sicher das Ergebnis eines kreativen Aktes, weil es eine überlegene Technologie zu implementieren erlaubt.«

Was das konkret heißen kann, erläutert Ralf Becker. Er ist Entwicklungsingenieur bei Schunk, einem inhabergeführten Familienunternehmen, das zufällig den gleichen Namen trägt wie der Technologiekonzern Schunk, und das sich zufällig ebenfalls mit 3-D-Druck befasst. Eine gut abgedichtete Tür führt in seinem Betrieb von der Werkshalle zum Druckerraum. In diesem Raum wird Kunststoffpulver verarbeitet. Ralf Becker zeigt auf einen Tisch, auf dem der Inhalt des Behälters aus dem 3-D-Drucker ausgebreitet liegt, ein weißes Pulver mit einer sehr feinen Körnung. Es fühlt sich an wie Mehl. Ralf Becker wischt das lockere Pulver vorsichtig zur Seite und fischt – wie bei einem archäologischen Fund – aus dem Haufen weißen Pulvers ein perfektes Werkstück.

Die Schunk GmbH & Co. KG hat ihren Sitz in Lauffen am Neckar und ist spezialisiert auf Greifsysteme für Industrieroboter. Die Steuerungseinheiten sind standardisiert, aber die Greifer sind von Kunde zu Kunde unterschiedlich. Für Einzelanfertigungen hat Schunk den eGrip entwickelt, erläutert Ralf Becker: Dank der Möglichkeiten im Internet und des 3-D-Druckens habe man eine Prozesskette aufgebaut, mit der die Firma dem Kunden anbieten könne, sein Modell, das er handhaben möchte, als 3-D-Modell direkt auf die Rechner von Schunk hochzuladen. Dadurch sinke die Konstruktionszeit um bis zu 97 Prozent auf nur noch rund 15 Minuten und die Fertigungs- und Lieferzeit durch den 3-D-Druck um bis zu 80 Prozent. Zudem halbierten sich durch die automatisierte Prozesskette die Produktionskosten. Ein weiterer Vorteil, erklärt der Ingenieur, sei, dass man auch kleinste Stückzahlen produzieren könne, angefangen bei »Losgröße 1«, also bei Einzelstücken. Man spricht dabei von kundenindividueller Massenproduktion: »Der gängige Begriff dafür ist ›Mass Customization‹. Wir bauen individuell angepasste Teile, die aber alle Schnittstellen haben, um an unseren Standardkomponenten angeschlossen zu werden.«

Nachdem schon Bücher »on demand«, also in kleinen Auflagen und auf Abruf gedruckt werden, können in Zukunft auch dreidimensionale Gegenstände gedruckt werden. Das Verfahren ist noch teuer, und es lohnt sich bisher nur für hochwertige Produkte. Aber so, wie man mit Vorlagen in einen Copyshop geht, wird man künftig CAD-Dateien, sei es von einem Stuhl oder vom Gehäuse eines Haushaltsgerätes, in eine 3-D-Druckstation schicken und dort das Produkt ausdrucken können. Für manche Unternehmen kann das eine durchaus bedrohliche Entwicklung sein. Andererseits: Auch »Book on demand« hat das Verlagswesen nicht überflüssig gemacht, sondern es wurde von den Verlagen in ihre Produktpalette integriert. So verhält es sich bisher auch mit dem 3-D-Druckverfahren: Es ersetzt die Industrieproduktion nicht, es erweitert sie. Zurzeit jedenfalls. Mit Prognosen hält sich Andreas Irmen nämlich zurück. Prozessinnovationen seien jedoch einer der Treiber für Wirtschaftswachstum: »Prozessinnovationen bedeuten, dass die eingesetzten Faktoren – wie Arbeit und Kapital – effizienter werden. Eine zentrale Frage bei der Einführung der Industrie 4.0 wird sein, wie lange es dauert, bis die Technologien ihr gesamtes produktivitätssteigerndes Potenzial ausbreiten können. Dafür ist es notwendig, dass sich viele Unternehmen entscheiden, diese Technologie zu implementieren. Dass es Ideen gibt, wie man das am besten macht und wie man den Übergangsprozess von den heute benutzten Technologien auf die neuen Technologien gestaltet.«

Wie schnell kann sich die Wirtschaftswelt darauf einstellen? Andreas Irmen verweist auf die Wirtschaftsgeschichte. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begann mit der Entwicklung des Elektromotors die zweite industrielle Revolution. Die Schwerindustrie musste ihre Vormachtstellung an die »neuen Industrien« abgeben, an die Elektroindustrie, die chemische und die optische Industrie: »Die industrielle Revolution ist ein gutes Beispiel dafür, dass die Implementierung solcher basistechnologischen Erneuerungen sehr lange Zeit dauern kann. Beispielsweise hat die Umstellung von dampfmaschinengetriebener Produktion auf elektromotorgetriebene mehr als 30 Jahre gebraucht, bis tatsächlich die Produktivitätswachstumszahlen diesen Wandel haben zeigen können.«

Autobauer im Abseits?

Seit 2013 ist das Schlagwort »Industrie 4.0« ein beherrschendes Thema auch auf der Hannover Messe. Die Verbände der Elektroindustrie, des Maschinenbaus und der Informationswirtschaft haben die »Plattform Industrie 4.0« gegründet, um mit dem Wandel Schritt zu halten. Der Entwicklungsingenieur Siegfried Dais kommt seit vielen Jahren auf diese weltweit wichtige Industriemesse. Er war in der Geschäftsführung der Robert Bosch GmbH tätig und hat Industrie-4.0-Lösungen eingeführt, er ist einer der Macher der ersten Stunde: »Industrie 4.0 zielt nicht primär auf Technik, sondern Basis ist, die Vernetzung um neue Geschäftsmodelle zu realisieren. Es gibt Vorbilder im Bereich der Consumer-Welt: Denken Sie an die Googles, Amazons, auch an Uber. Denen ist es gelungen, ein neues Feld zu eröffnen, um sich zwischen Kunden und diejenigen, die bisher das Angebot erbracht haben, zu schieben. An solchen Stellen wird es viele Umwälzungen auch im industriellen Bereich geben. Ziel muss sein, dass die produzierenden Unternehmen selbst diejenigen sind, die die Dienstleistungen in der vernetzten Welt anbieten.«

Wer in diesem weltweiten Geschäft am Ende als Gewinner und wer als Verlierer dastehen wird, ist eine spannende Frage. Google hat mit seinem Google Car längst den Versuch gestartet, ein Stück vom Kuchen der alten, traditionellen Automobilindustrie abzubekommen – sich »dazwischenzuschieben«, wie es Siegfried Dais formuliert hat. Denn Autos sind schon lange nicht mehr nur modisch gestaltete Blechkisten, sondern fahrbare und vor allem dauervernetzte Computer. Und warum, könnte man fragen, sollten Opel oder VW die bessere Ware produzieren können als Google? Noch haben die deutschen Autobauer den potenziellen Konkurrenten aus dem Internet einiges voraus; vor allem die jahrzehntelange Erfahrung im Autobau, das technische Wissen, man könnte auch sagen: Sie bauen die bessere Hardware. Klar ist aber auch, dass die deutsche Autoindustrie diesen Vorsprung durch Technik nur aufrechterhalten wird, wenn sie ihr Geschäftsmodell anpasst. Schließlich steht im Zentrum der neuen vernetzten Produktionswelt, Industrie 4.0, der Umgang mit Daten.

Lutz Jänicke ist Geschäftsführer von Innominate Security Technologies, spezialisiert auf Datensicherheit in der vernetzten Fabrik. Er beobachtet auf der Hannover Messe, wie sich Maschinenbau und Informationstechnologien immer weiter einander annähern: »In der Automatisierung werden heute sehr viele Sensoren eingesetzt, um Messwerte zu erfassen, die man für die eigentliche Steuerungsaufgabe braucht. Das können Temperaturen sein, Druck, Abstände. Diese Daten werden von der Steuerung verarbeitet. Viele dieser Daten werden zusammengefasst. Was jetzt bei Industrie 4.0 neu ist, ist, dass viel mehr mit den Rohdaten gearbeitet werden soll.« Um zum Beispiel aus Daten neue Muster zu erkennen. Das fasziniert auch Siegfried Dais: »Durch das Internet haben wir die Möglichkeit, Millionen von Instanzen, also Sensoren, Aktoren, Maschinen, zu vernetzen, und wir haben die Fähigkeit, große Datenmengen in Echtzeit auszuwerten. Das ergibt die nächste Stufe der Optimierung, dass es nämlich möglich wird, ganze Ökosysteme in Echtzeit zu optimieren.« Mit »Ökosystem« ist hier das Zusammenwirken von Mensch, Maschine, Software und Management im Produktionsprozess gemeint.

Learning by doing

Auch der deutsche Maschinenbauer Bosch-Rexroth mit weltweit über 33 000 Mitarbeitern ist ein wichtiger Player und will das auch bleiben. Als in seinem Zweigwerk im saarländischen Homburg eine neue Fertigungslinie gebraucht wurde, fiel die Entscheidung, Neues zu wagen. Man hat vom US-amerikanischen Pragmatismus gelernt: Es geht nicht darum, zunächst die eine große Gesamtlösung zu entwickeln und dann die Produktion umzustellen, sondern man beginnt mit einem use case, einer Anwendung in der Praxis: learning by doing. Der technische Leiter Frank Hess erzählt begeistert von der Zusammenarbeit mit IT-Spezialisten aus dem amerikanischen Palo Alto im Silicon Valley. Er ist überzeugt, »dass wir durch mehr Informationen in der gesamten Wertschöpfungskette bis zum Kunden, bis zu unseren Produkten im Feld, mehr Informationen generieren und daraus künftige Geschäftsmodelle ableiten können. Das geht natürlich nur gemeinsam mit dem Kunden, aber ich bin überzeugt, dass sich daraus etwas entwickeln wird.«

Wie weit die Auswertung der Daten gehen kann, ist noch nicht geklärt, denn die vernetzten Maschinen liefern nicht nur Produktions-, sondern auch Personendaten. Das erzeugt allerdings auch neue Probleme, erklärt Lutz Jänicke, der Datenschutz und Industrie 4.0 zusammendenkt: »Aus den gesammelten Daten ist es natürlich auch möglich, eine Leistungsbewertung der Arbeitnehmer vorzunehmen, weil man sofort sehen kann, wie viel Ausschuss produziert wurde. Man kann Taktzeiten erkennen, man kann sehen, wie schnell jemand etwas gemacht hat oder wie langsam. Das ist eine spannende Herausforderung aus Sicht des Datenschutzes, der das Modell der Datensparsamkeit voraussetzt, was bedeutet, nur jene Daten zu erheben, die man wirklich braucht. Das aber steht in direktem Widerspruch zum sogenannten Big-Data-Konzept, das besagt: Sammle erst einmal alles, was du bekommen kannst, und werte es hinterher aus.«

Rundum erfasste Daten, vernetzte Maschinen, automatische Optimierung, da muss die Frage kommen: Wo bleibt am Ende der Mensch? Wird die Industrie 4.0 womöglich zu Massenarbeitslosigkeit führen? Historische Beispiele gibt es schließlich: Etwa die Weber, die im 19. Jahrhundert auf die Barrikaden gingen, weil Webstühle ihre Arbeitsplätze ersetzten – Webstühle, die nicht mehr von Hand, sondern von Maschinen angetrieben wurden. Jedoch: Sie kämpften zugleich gegen Ausbeutung und Rechtlosigkeit. Die Stunde der Gewerkschaften war gekommen.

Eine große industrielle Neuerung bedeutet immer auch einen gesellschaftlichen Umbruch. Auch die Industrie 4.0 wird vermutlich nicht nur die Arbeitswelt, sondern auch die Gesellschaft verändern. Noch ist allerdings offen, wie genau. Die Europäische Union setzt darauf, dass Industrie 4.0 in den kommenden Jahren eine Re-Industrialisierung bringen wird. Jedoch werden sich die Arbeitsplätze in der Industrie verändern: In der smart factory, der intelligenten Fabrik, wird es vor allem auf qualifizierte Fachkräfte ankommen, die komplexe Produktionsprozesse verstehen und steuernd eingreifen können.

Berufe in der Industrie werden eine Aufwertung erfahren, während Berufe im Dienstleistungssektor möglicherweise ersetzbar werden. Eine Studie der Universität Oxford hat eine Prognose für den Arbeitsmarkt in Amerika erstellt. Danach werden im Jahr 2035 rund 50 Prozent der Berufe, wie wir sie heute kennen, nicht mehr gebraucht werden. An der Spitze stehen hier Buchhalter und Verkäufer.

In Amerika rechnet man allerdings schon jetzt damit, dass mit dem »Industrial Internet« auch ganz neue Arbeitsplätze entstehen, so nennt man dort die mit dem Internet vernetzte und Daten-getriebene Produktion. Fünf weltweit führende amerikanische Konzerne, darunter General Electric, haben sich in einem Konsortium zusammengeschlossen, dem Industrial Internet Consortium (IIC). General Electric zum Beispiel hatte seine Produktion in den vergangenen Jahrzehnten mehr und mehr in Niedriglohnländer verlagert. Das aber lohnt sich nicht mehr, denn Digitalisierung und Vernetzung erhöhen die Produktivität. Dafür aber braucht es eine Infrastruktur und gut ausgebildete Fachkräfte – und die findet der Konzern eher in den USA. Analog zu Industrie 4.0 will das IIC die künftigen Potenziale in allen nur denkbaren Anwendungen des Internets gemeinsam entwickeln, aber es fokussiert sich ganz bewusst nicht allein auf die Industrieproduktion. Die im IIC zusammengeschlossenen Technologiekonzerne treiben den Wettlauf um zukunftsweisende Innovationen an.

Vernetzte Kleinkraftwerke

Auch auf der Hannover Messe hat man die Zeichen der Zeit erkannt. Für ihren begehrten Technologiepreis, den »Hermes Award«, wurde ein Unternehmen nominiert, das auf Schwarmenergie setzt: NextKraftwerke hat in einer Branche Fuß gefasst, der Energiebranche, die bisher von einigen wenigen Großkonzernen dominiert wurde. NextKraftwerke betreibt ein rein virtuelles Kraftwerk. Das junge Unternehmen besitzt keine Anlagen zur Stromerzeugung, aber es hat ein Leitsystem entwickelt, NextPool, mit dem es mittelgroße Stromerzeuger, also zum Beispiel Biogas- oder Windradanlagen, vernetzt hat. Eine überzeugende Industrie-4.0-Lösung, befand die Jury, denn mehr als 2 500 dezentrale Stromerzeuger und -verbraucher mit einer Gesamtleistung von rund 1 500 Megawatt wurden gebündelt. So entsteht ein Schwarm von Kleinkraftwerken, der die Rolle eines Großkraftwerks übernehmen und damit einen entscheidenden Beitrag zur Energiewende leisten kann.

Die Forschung hat die Vorlage dazu geliefert: Schwarmenergie kann funktionieren. Die Gründer von NextKraftwerke, Hendrik Sämisch und Jochen Schwill, haben daraus ein erfolgreiches Geschäftsmodell entwickelt. Aus dem Start-up wurde innerhalb von sieben Jahren ein mittelständisches Unternehmen.

Einer der Konkurrenten von NextKraftwerke ist der Stromanbieter LichtBlick. Das Unternehmen will nicht mehr nur Strom verkaufen, erklärt Geschäftsführer Gero Lücking: »Früher hat der Kunde zu hundert Prozent konsumiert, sein ganzer Strombedarf wurde aus dem Netz geliefert. Wenn er jetzt selber erzeugt, weil er eine Photovoltaik-Anlage auf dem Dach hat, ist er Erzeuger. Der Kunde erwartet in seinem veränderten Rollenverhältnis mehr Dienstleistung, mehr Optimierung, und um das liefern zu können, braucht man viel mehr IT, viel mehr Intelligenz, viel mehr Know-how, als das früher notwendig war. Unternehmen, die das jahrzehntelang verdrängt haben, ganz bewusst, wie zum Beispiel Eon, RWE, Vattenfall und EnBW, weil sie ihre Großkraftwerke hatten, Kohle und Atom, und deswegen diese Dezentralität erstens ignorieren wollten und sich zweitens immer auf ihren politischen Einfluss verlassen haben, die kämpfen jetzt mit dieser Entwicklung umso stärker. Die spannende Frage ist, ob diese Unternehmen diese Kleinteiligkeit schnell genug denken können, ob sie schnell genug diesen Transformationsprozess, der jetzt im Gange ist, leben können.« Das ist eine offene Frage für viele Unternehmen.

LichtBlick ist vor einiger Zeit eine Kooperation mit dem US-amerikanischen Konzern Tesla eingegangen, der für seine schicken Sportwagen mit Elektroantrieb bekannt ist. Nun aber ist Tesla dabei, einen Stromspeicher für Privathaushalte auf den Markt zu bringen. Solch ein Speicher wäre das noch fehlende Puzzle-Stück in der dezentralen, vernetzten Energie-Welt. Im April 2015 hatte Elon Musk, Internetmilliardär aus dem Silicon Valley und im Vorstand von Tesla, in Los Angeles das Modell des Stromspeichers mit großem Pomp vorgestellt. Auf einem PR-Video, das vom Publikum bestaunt werden konnte, war jedoch noch nicht viel zu sehen: eine rechteckige gewölbte weiße Fläche mit der Inschrift »Tesla«. Obwohl der Stromspeicher noch gar nicht fertig entwickelt war, gab es einen regelrechten Hype um ihn.

Die künftigen Märkte werden also bereits abzustecken versucht, ein knallharter Wettbewerb hat begonnen, um mit Industrie-4.0-Geschäftsmodellen Konkurrenten aus dem Feld zu schlagen. Produktionsprozesse gehen online: von der Kommunikation zwischen Hersteller und Kunde über Bestellung, Materialbeschaffung, Fabrikation und Wartung bis hin zur Auslieferung der Ware. Die Produktion wird kleinteiliger, dezentraler und flexibler. Das alles, so der Volkswirt Andreas Irmen, steigert die Produktivität, man kommt mit weniger Mitarbeitern pro produzierter Einheit aus. Das mag einerseits bedrohlich klingen; Andreas Irmen aber ist optimistisch: »Das ist eine Aussicht, die man sehr positiv sehen sollte. In einer alternden Gesellschaft, wie es die unsere ist, bei der der Anteil der Beschäftigten in der Gesamtbevölkerung immer weiter zurückgehen wird, hat Industrie 4.0 mit Sicherheit das Potenzial, für die gesamte Wirtschaft Veränderungen herbeizuführen, die wir alle spüren werden.« Aber er fügt auch hinzu: »Welche Sektoren werden von Industrie 4.0 profitieren, welche werden nicht profitieren? Wird es zu Arbeitslosigkeit kommen? Diese Fragen haben gesellschaftliche Bedeutung, sie müssen gesellschaftlich reflektiert werden. Es wäre wünschenswert, darüber eine etwas größere und breitere Diskussion in Deutschland zu haben.«

Agnes Handwerk

Kapitel 2Google, Facebook, Amazon – die neuen Monopolisten

Und der Haifisch, der will Allmacht,Und die will er ganz allein.Gnadenlos – er verdrängt alles,könnte gieriger nicht sein …

Die passende Melodie summt sofort im Ohr: das Lied von Mackie Messer, dem gierigen und gewissenlosen Verbrecher. Nur dass der »Schurke« in dieser Version nicht Mackie Messer heißt und dass die Zeilen auch nicht von Bert Brecht verfasst wurden. Der Text handelt von Amazon: Ein deutscher Mittelständler hat die bekannte Brecht-Ballade umgedichtet – um gegen die Macht des Onlinehändlers Amazon zu demonstrieren und gegen den vermeintlichen Missbrauch dieser Macht.

Amazon ist ein Riese, der auch in Deutschland mehr Umsatz generiert als die zehn nächstgrößten Onlinehändler zusammen. Und Amazon ist zugleich die größte und wichtigste Handelsplattform im Internet. Jeder kleine Händler kann seine Waren über Amazon zum Verkauf anbieten. So erreicht er neue Kunden weit abseits von seinem Wohnsitz und spart sich den Betrieb eines eigenen, teuren Webshops. Aber er zahlt auch einen Preis, und das nicht nur in Form einer Umsatzbeteiligung. Denn Amazon verlangt von den Händlern die Unterordnung unter ein strenges Regime: Sie müssen grundsätzlich sieben Tage in der Woche ansprechbar sein, sie sind von positiven Kundenbewertungen abhängig, und sie müssen darauf warten, dass Amazon ihnen ihr Geld überweist – oder im Streitfall eben nicht. Außerdem müssen sie sich Amazons Analyse unterwerfen – über seine Plattform bekommt der Handelsriese exakte Daten über alle Geschäftsvorgänge der Händler: Wann wird welches Produkt von wem gekauft, welchen Preis kann man erzielen.

Solche Daten sind wertvolle Informationen, denn sie geben Amazon die Möglichkeit, den kleinen Händlern ihr Geschäft aus der Hand zu nehmen: Etwa indem Amazon seine eigenen Angebote so zuschneidet, dass sie auf der eigenen Plattform als Erste angezeigt werden. Oder um interessante Geschäftszweige gleich ganz zu übernehmen. Amazon hat als größter Marktteilnehmer und als Betreiber der wichtigsten Handelsplattform deshalb große Macht. Muss man verhindern, dass diese Macht missbraucht wird? Kann man das überhaupt?

Apple, Google, Facebook, Amazon: Diese vier US-Firmen generieren jährlich so viel Umsatz wie das wohlhabende Dänemark insgesamt an Wirtschaftsleistung erarbeitet – und Dänemark hat zehnmal mehr Einwohner als diese Firmen Angestellte. Es sind vier Firmen, die zusammen annähernd doppelt so viel wert sind wie die 30 umsatzstärksten deutschen Unternehmen im Börsenindex DAX; vier Firmen, die zusammen rund sieben Milliarden Kunden zählen – und die genug flüssiges Kapital angehäuft haben, um jeden dieser sieben Milliarden Menschen einmal ins Kino einzuladen – mit Cola und Popcorn.

Ein deutsches Start-up gegen Google

Mit dem Riesen Google steht Michael Weber seit langem im Kampf. Auch wenn es derzeit so aussieht, als ob er die erste Runde des Kampfes verloren hätte, hofft er auf die Hilfe der Politik – genauer: auf die Hilfe der EU-Kommission. Und er ist durchaus optimistisch: »Die Politik hat zwar eine Zeit lang gebraucht, um diese Sachen zu verstehen oder überhaupt wahrzunehmen, aber inzwischen wird an der Sache mit Hochdruck gearbeitet.«

Wobei das mit dem »Hochdruck« so eine Sache ist, das Verfahren läuft seit 2010. Aber der Reihe nach: Ende des vergangenen Jahrtausends begründete Michael Webers Arbeitgeberin, die Euro Cities AG, die Website stadtplandienst.de – eine der ersten digitalen Karten im Netz. Für Privatanwender war der Dienst kostenlos und werbefinanziert, kommerzielle Nutzer sollten für die Einbettung der Karten oder die Nutzung der ihnen zugrundeliegenden Geodaten zahlen. Zunächst hatte der Dienst Erfolg: Wer 2005 nachschauen wollte, wo eine bestimmte Adresse liegt, der ging auf stadtplandienst.de. Doch dann stieg Google in das Geschäft ein: Der Suchmaschinen-Riese übernahm einen Geodaten-Spezialisten und bot alsbald seinen eigenen Dienst an: Google Maps.

Google ist heute in Deutschland praktisch Monopolist bei der Suche. Die Suchmaschine hat einen Marktanteil von weit über 90 Prozent – wir suchen nicht, wir »googeln«. Und wir verlassen uns auf das, was die Maschine uns liefert; wir klicken beispielsweise bei jeder dritten Suche kurzerhand auf das oberste Suchergebnis. Und das bedeutet: Macht. Michael Weber wirft Google vor, diese Macht zu missbrauchen – also die eigenen Dienste zu bevorzugen. Denn wer bei Google nach einem Stadtplan, nach einer Karte oder nach einem Ort suchte, der bekam bald ganz oben einen Link zu den neuen Google Maps angezeigt – und später sogar gleich einen Kartenausschnitt. Heute ist Google Maps Marktführer bei den Kartendiensten. Michael Weber ist überzeugt davon, dass sich nicht der bessere Dienst durchgesetzt hat, sondern ein Monopolist hat falsch gespielt: »Überall auf der Welt, wo Sie auf einer Website eine Google Map sehen, könnte eine Karte vom Stadtplandienst stehen oder von anderen europäischen Kollegen. Was den Unterschied ausmacht, ist, dass wir uns auf Karten konzentrieren und Google unzulässigerweise die marktbeherrschende Stellung in einem Bereich, nämlich der Online-Suche, als Hebel verwendet, um alle möglichen anderen Dienste zu promoten. Auch wenn die am Anfang gar nicht so beliebt sind, und das war beim Stadtplandienst nachweislich der Fall.«

2009 wandten sich die Stadtplandienst-Macher daher an das Bundeskartellamt, 2010 zog die EU-Kommission den Fall an sich. Im Herbst 2015 war der Fall noch offen. Was Google zu den Vorwürfen sagt? »Kein Kommentar.« Oder im Original: »Vielen Dank für Ihre Anfrage und Ihr Interesse. Leider kann ich Ihnen nach Rücksprache mit Google kein Interview anbieten.« – und dann ein Verweis auf zwei ältere Google-Artikel im Netz.

Facebook – der Social-Media-Monopolist

So unangefochten, wie Google bei den Suchdiensten an der Spitze steht, so stark ist Facebook bei den sozialen Netzwerken. Damit ist Facebook ein immer bedeutenderer Teil der digitalen Öffentlichkeit geworden, auch für die Meinungsbildung. In den USA beziehen zwei Drittel der nach 1980 Geborenen aktuelle, politische Nachrichten über Facebook – CNN oder regionale Fernsehsender schauen dagegen nicht einmal die Hälfte. Die Nachrichten selbst mögen immer noch von Zeitungen, Fernsehsendern und anderen Medienmachern produziert worden sein, über die Verbreitung bestimmt indes immer stärker Facebook. Mathias Müller von Blumencron ist Online-Chefredakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: »Da haben sich die Gewichte verschoben. Facebook ist eine globale Plattform mit einer gigantischen Leserschaft, und auch im deutschsprachigen Raum ist es das wichtigste soziale Netzwerk geworden. Wenn ich eine große Zahl von Lesern berühren will, gerade neue Leser, dann ist Facebook eine ganz, ganz wichtige Plattform dafür.«

Die Frankfurter Allgemeine Zeitung ist eine traditionelle und mächtige Medienmarke in Deutschland, die sich jedoch mit der globalen Reichweite von Facebook nicht ansatzweise messen kann. So verlockend Facebooks Reichweite für Medienanbieter wie die FAZ ist, sie stürzt sie in ein Dilemma, je weiter Facebook sein Reich ausdehnt. Bislang war das soziale Netzwerk vor allem ein Vermittler von Inhalten – wenn die Nutzer einen Artikel der FAZ auf Facebook geteilt haben, wurde ein interessierter Leser auf die FAZ-Website geschickt. 2015 hat Facebook eine neue Artikelform namens Instant Articles vorgestellt. Die Neuerung: Wenn man einen Artikel aufruft, wechselt man nicht mehr auf die Website der FAZ, sondern der Artikel erscheint direkt bei Facebook und kann dort gelesen werden. Mathias Müller von Blumencron sieht durchaus den Reiz: »Es geht schneller, es geht besser, es ist viel bequemer und angenehmer für den Nutzer. Tolles Argument. Auf der anderen Seite steht dahinter, dass der Leser noch häufiger die Plattform Facebook direkt ansteuert. Facebook wird noch interessanter, noch spannender, man muss sich noch weniger außerhalb dieses Reiches bewegen.«

Anders gesagt: Facebook nimmt ein weiteres Stück der Verwertungskette in die eigenen Hände. Medienanbietern wie der FAZ baut Facebook goldene Brücken, verspricht ihnen den Zugang zu Werbeeinnahmen und zu detaillierten Nutzerstatistiken. Dennoch ist der FAZ-Online-Chefredakteur skeptisch und beobachtet momentan lediglich mit Interesse, was Mitbewerber für Erfahrungen damit machen. Die Frage ist nur, ob die FAZ irgendwann keine andere Wahl mehr hat, als das Angebot von Facebook anzunehmen. Auch wenn sie ihre Artikel weiter wie gewohnt als Link auf die eigene Seite einstellen kann, hat Facebook alle Möglichkeiten, das im Vergleich mit Instant Articles unattraktiv zu machen. Aber ist wirklich immer Machtmissbrauch im Spiel, wenn ein Internet-Unternehmen zum Monopolisten wird?

Das Netz begünstigt Monopole

Tatsächlich sind die digitalen Riesen auf vielen Gebieten so erfolgreich, weil sie überragende Produkte anbieten – und, so die überraschende Erkenntnis: Die digitale Ökonomie begünstigt das Entstehen von marktbeherrschenden Unternehmen. Bernd Skiera ist Betriebswirt und Inhaber des Lehrstuhls für elektronischen Handel an der Goethe-Universität Frankfurt. Er arbeitet über die Prinzipien der digitalen Ökonomie und erklärt, wie ein Unternehmen groß wird. Es gibt drei ökonomische Prinzipien, auf denen ein Unternehmer versuchen kann, Wettbewerbsvorteile aufzubauen:

Skaleneffekte auf der Angebotsseite,

Netzwerkeffekte, insbesondere in sogenannten »mehrseitigen Märkten«,

»Lock-in«-Effekte durch Wechselkosten für die Kunden.

Diese Prinzipien sollen im Folgenden erklärt werden.

Skaleneffekte

Skaleneffekte entstehen, wenn man ein Produkt oder eine Dienstleistung in großem Maßstab anbietet und dadurch einen Vorteil gegenüber kleineren Anbietern hat, erklärt Bernd Skiera: »Beispielsweise weil ich Fixkosten nur einmal tätigen muss und dann auf mehr Produktionsmenge verteilen kann. Sagen wir es mal so: Die Fabrikkosten fallen an, aber ob ich damit 100, 200 oder 300 000 Stück produziere, die Fabrikkosten sind sowieso da.« Diese so genannten Skaleneffekte sind zwar auch in der alten Welt der Industrie von Vorteil; in der digitalen Ökonomie wirken sie sich jedoch besonders stark aus, weil das Kapital bei Internet-Diensten allein in den Servern und in der Software steckt. Die Grenzkosten, also die zusätzlichen Kosten, die jeder weitere Kunde verursacht, liegen praktisch bei null – ob eine Suchmaschine 1 000 oder 2 000 Anfragen abarbeitet, macht kaum einen Unterschied.

Netzwerkeffekte in mehrseitigen Märkten

Skaleneffekte wirken auf der Angebotsseite, auf der Seite des Anbieters eines Produkts oder einer Dienstleistung. Netzwerkeffekte treten auf der Nachfrageseite auf – also bei den Kunden – und sind einfach erklärt: »Sie treten dadurch auf, dass ich viele Nutzer zusammenbringe. Und je mehr Nutzer zusammengebracht werden, desto höher ist der Nutzen für jeden einzelnen«, erläutert Bernd Skiera.

Der Wert eines sozialen Netzwerks als Kommunikationsplattform steigt, je mehr Menschen dort erreichbar sind; je mehr meiner Freunde WhatsApp oder Facebook nutzen, desto höher ist auch für mich der Anreiz, mich anzumelden. Doch damit nicht genug: Facebook stellt, ökonomisch gesehen, eine besondere Marktform dar, einen sogenannten mehrseitigen Markt. Auf einem mehrseitigen Markt treffen sich verschiedene Gruppen von Marktteilnehmern – Facebook beispielsweise bedient vollkommen unterschiedliche Kundeninteressen: auf der einen Seite die normalen Nutzer und auf der anderen Seite die Unternehmen, die auf Facebook Werbung schalten. Netzwerkeffekte auf mehrseitigen Märkten wie Facebook sind besonders dynamisch. Bernd Skiera erklärt das an einem anderen Beispiel: »Bei einer Dating-Plattform möchte ich normalerweise Männer und Frauen zusammenbringen. Wenn ich als Mann nach einer Frau suche, möchte ich natürlich unter vielen Frauen auswählen können. Und so haben Sie selbstverstärkende Prozesse: Da, wo viele Frauen sind, werden viele Männer hinkommen, da wo viele Männer sind, kommen noch mehr Frauen hin, und so schaukelt sich das nach oben.«

»Lock-in«-Effekte durch Wechselkosten

Noch ein dritter Faktor begünstigt die Großen im Netz: Sie bauen geschlossene Systeme auf. Wer bei Amazon digitale Bücher kauft, nutzt dazu in der Regel das Amazon-eigene Lesegerät, den Kindle, der von Haus aus wiederum nur Inhalte von Amazon nutzbar macht. Der App-Store von Apple ist ebenfalls eine solche geschlossene Welt – auch wenn Apple vor allem am Verkauf von Geräten verdient und deshalb kein typischer Vertreter der digitalen Ökonomie ist. Wer aber die geschlossene Welt verlassen und zur Konkurrenz wechseln will, dem entstehen ganz erhebliche Kosten. Zum einen, weil man alle Apps und Inhalte neu kaufen muss, und zum anderen: Wenn man neue Software nutzen will, entstehen Wechselkosten dadurch, dass man sich einarbeiten muss.

Das aber ist zugleich ein Ansatzpunkt, um die Großen nicht allzu groß werden zu lassen. Den Wettbewerb zwischen den Telefonanbietern brachten die Regulierungsbehörden mit einer einfachen Maßnahme in Schwung, berichtet Bernd Skiera: »Früher war es so: Wenn ich zu einem neuen Anbieter ging, musste ich mir eine neue Nummer geben lassen, und da habe ich mir gesagt, vielleicht ist der Preisvorteil das nicht wert. Mittlerweile kann ich die Telefonnummer häufig für einen geringen Betrag mitnehmen, dadurch sind diese Wechselkosten für einen Anbieter verloren gegangen. Das war sicher für die Einzelanbieter eine durchaus teure Maßnahme.«

Die Zähmung der neuen Riesen

Welche Ansatzpunkte gibt es also für die Politik, die marktbeherrschenden Riesen im Zaum zu halten? Die Frage führt zum obersten Berater der Politik in Fragen der Monopolkontrolle, zu Daniel Zimmer, Professor für Wirtschaftsrecht in Bonn. Er ist zugleich Leiter der fünfköpfigen Monopolkommission des Bundes. Daniel Zimmer beobachtet also von Amts wegen genau, wie die Riesen der digitalen Ökonomie gewachsen sind und welche Macht sie angehäuft haben. Und trotzdem spricht er sich tendenziell dagegen aus, diese neue Macht mit neuen Gesetzen beschränken zu wollen: »Da bin ich der Auffassung – und die Monopolkommission ist der Auffassung –, dass man das Kind nicht mit dem Bade ausschütten sollte, das heißt, es gibt auch eine Gefahr, dass man überreagiert.«

Auch wenn der Wirtschaftsjurist Daniel Zimmer so konkret und verständlich antwortet wie bei der schwierigen Materie nur möglich: Ihn zu fragen, wie er dem Stadtplandienst oder der FAZ gegen Google und Facebook denn nun konkret helfen könnte, das ginge zu weit. Wenn die Regulierung der Wirtschaft etwas Ähnliches ist wie die Regelung des Verkehrs, dann ist Zimmers Rolle nicht die des Verkehrspolizisten, er ist nicht einmal der, der dem Verkehrspolizisten die Regeln vorgibt. Er ist vielmehr der, der sich Gedanken macht, nach welchen Prinzipien der Verkehr geregelt werden sollte. Auch kann man nicht sagen, dass die Monopolkommission sich über die digitale Ökonomie keine Gedanken macht. Sie hat in einem Sondergutachten außerplanmäßig und ausführlich die digitalen Märkte analysiert, auch die beschriebenen Marktmechanismen, die den Großen am Markt Vorteile verschaffen. Das hat mit den Interessen der Auftraggeber der Monopolkommission zu tun, erläutert Zimmer, vor allem aber mit der wachsenden Bedeutung der digitalen Märkte: »Es ist ja schon der Ruf aus der Politik gekommen, Google zu zerschlagen; es wird mehr und mehr zu einem politischen Thema. Das ist ein Anlass, sich damit zu beschäftigen, aber unabhängig davon ist die Bedeutung, die die digitale Wirtschaft erlangt hat, ein Grund, sich näher mit ihr zu beschäftigen.«

Zimmer nennt ein aktuelles Beispiel: 2014 übernahm Facebook den Chat-Dienst WhatsApp für 19 Milliarden US-Dollar. Diese Übernahme wurde für die Kartellwächter kein Thema – was kein Zeichen von Rücksichtnahme oder von Ignoranz ist: Nach derzeitiger Rechtslage durfte diese Fusion für sie gar kein Thema sein. Die Monopolkommission hat festgestellt, dass die Gesetze für die alte Welt hier nicht für die neue, digitale Wirtschaft passend sind. Zimmer erläutert das Problem: »Der erste Schritt ist die Entscheidung, ob ein Fall überhaupt anzumelden ist und damit der Kontrolle unterliegt. Bisher müssen Sie, um unter die europäische Fusionskontrolle zu fallen, zweieinhalb Milliarden Umsatz haben. Um unter die deutsche Fusionskontrolle zu fallen, müssen Sie mindestens eine halbe Milliarde Euro Umsatz haben. Viele dieser Start-ups haben aber kaum Umsätze, manche haben gar keine Umsätze, sodass der Erwerb, der Aufkauf eines konkurrierenden Start-ups heute weitgehend kontrollfrei ist.«

Die Monopolkommission machte hier einen ihrer sparsam dosierten Vorschläge für Gesetzesänderungen: In Zukunft soll sich die Fusionskontrolle am Transaktionsvolumen einer Fusion orientieren, also am Kaufpreis für das aufgekaufte Unternehmen. Darin, nämlich im Preis, der für ein Start-up oder für eine Firma geboten wird, steckt zugleich eine Bewertung der Dinge, die heute Größe und Macht herstellen können: die Algorithmen, die Kunden und die Daten. Der Datenschatz fände somit indirekt Eingang in eine Fusionskontrolle.

Dass Daten in der digitalen Wirtschaft einen großen Wert haben, ist zugleich der Ansatzpunkt für die zweite große Veränderung, die die Monopolkommission erreichen möchte – und die auf den ersten Blick mit Kartellrecht wenig zu tun hat: Die Monopolkommission wünscht sich endlich eine europäische Datenschutzgrundverordnung, also einheitliche europäische Datenschutz-Standards, die dafür sorgen, dass Verbraucher mehr Kontrolle über ihre Daten bekommen. Dass deutsche Unternehmen strengen Standards unterliegen, Facebook, Google und andere aber in Europa nach dem vergleichsweise laxen irischen Datenschutzrecht arbeiten, ist auch aus Sicht der Kartellwächter kein Zustand, weil es zu Wettbewerbsverzerrungen führen kann.

Ein weiterer Punkt sind die zuvor erläuterten »Lock-in«-Effekte auf digitalen Märkten: »Wenn ich bei einem bestimmten Smartphone-Hersteller Kunde bin, verweigert der mir vielleicht die Herausgabe meiner Daten, wenn ich irgendwann mein Smartphone wechseln will. Das heißt, ich bin in einem Ökosystem eines Anbieters gefangen. Und mit der Datenschutzgrundverordnung auf europäischer Ebene soll ein Recht auf Datenportabilität eingeführt werden, das heißt, ich soll als Verbraucher in die Lage versetzt werden, meine Daten von einem Anbieter zum anderen mitzunehmen.«

Adresslisten, Kontaktdaten, über soziale Netze gepostete Fotos und Videos – all das sollen Nutzer auf Wunsch in die Hände bekommen, ohne Einschränkungen. Datenschutz, argumentiert der Leiter der Monopolkommission, ist gut für den Wettbewerb. Er hält seine Durchsetzung auf den digitalen Märkten aber auch deshalb für unverzichtbar, weil er sieht, dass die digitalen Riesen den Nutzern ihre Geschäftsbedingungen regelrecht aufzwingen können.

Amerikaner sind vom Mars, Europäer von der Venus

Zum Schluss noch einmal zurück zu Michael Weber vom Stadtplandienst. Seit 2010 liegt die Kartellbeschwerde seines Unternehmens in Brüssel, zusammen mit ähnlichen Beschwerden unter anderem von Shoppingportalen. Auch Googles Einfluss auf das Smartphone-Betriebssystem Android ist im Fokus des EU-Wettbewerbskommissars. Google versprach Zugeständnisse und stand kurz davor, eine Einstellung des Verfahrens zu erreichen, bis 2014 die Kommission wechselte und die neue Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager erneut begann, dem Internet-Riesen unangenehme Fragen zu stellen.

Die Politiker und Regulierer haben viel gelernt in den vergangenen Jahren – so das Empfinden des Stadtplandienst-Managers Michael Weber. Er teilt auch den Glauben, dass die Dynamik der digitalen Märkte die Großen schon kleinkriegen wird – und vor allem will er keine Unterstützung aus der falschen Ecke: »Es ist jetzt hier kein protektionistischer Kampf im Gange, Europa gegen USA, viele der Beschwerdeführer in Brüssel sind auch amerikanische Firmen. Es geht vielmehr darum, dass sich alle an die gleichen europäischen Regeln halten sollen, egal ob es Europäer oder Amerikaner sind.«

Dabei sieht Michael Weber durchaus, dass die US-Unternehmen auf einer anderen Ebene massiv im Vorteil sind: Sie haben bessere Rahmenbedingungen. Schätzungen besagen, dass in den USA etwa das Sechsfache an Risikokapital im Umlauf ist wie in Europa, bei vergleichbarer Marktgröße. Da ist zum anderen ein Binnenmarkt von 300 Millionen Amerikanern, der Start-ups erlaubt, schnell bis zur kritischen Größe zu wachsen. Da ist das Reservoir an den besten und kreativsten Programmierern weltweit, aus denen das Silicon Valley schöpfen kann. Und bei allem Neid auf die besseren Rahmenbedingungen in den USA sollte man auch eins nicht übersehen: Die Schwergewichte der digitalen Ökonomie sind außergewöhnliche Unternehmen. Sie arbeiten nach der Logik des produktiven Scheiterns, nach Samuel Becketts Motto »Try again, fail again, fail better« (Probier es immer wieder, scheitere immer wieder, aber scheitere besser) und nach dem Motto »Move fast and break things« (Sei schnell und mach Altes kaputt), das Mark Zuckerberg einmal als Leitspruch für sein Unternehmen Facebook ausgegeben hatte. Sie haben es in nur wenigen Jahren geschafft, Millionen weltweit von ihren Produkten und Diensten zu überzeugen – schlichtweg deshalb, weil ihre Produkte innovativ und gut sind. Und sie werden nicht aufhören, diese Innovationskraft in immer neuen Märkten spielen zu lassen, in denen sie Chancen sehen.