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Über unsere Freiheit, die Schöpfung gestalten zu dürfen Gott gestaltet seine Schöpfung - mit Menschen wie dir und mir. Er hat dir einzigartige Fähigkeiten gegeben, diese Welt positiv zu prägen. Doch womit anfangen? Ist es überhaupt möglich, nachhaltig zu leben? Dieses Buch zeigt dir, warum Nachhaltigkeit viel weiter geht als Umweltschutz und Fairtrade. Es bedeutet vielmehr, verbunden zu leben - mit deinem Schöpfer, deinen Mitmenschen und der Natur. Entdecke dein gestalterisches Potenzial und du wirst anfangen, nachhaltiger zu leben. Ohne Druck. Sondern in der Freiheit, die Gott dir geschenkt hat.
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Seitenzahl: 323
SCM Hänssler ist ein Imprint der SCM Verlagsgruppe, die zur Stiftung Christliche Medien gehört, einer gemeinnützigen Stiftung, die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.
ISBN 978-3-7751-7561-6 (E-Book)
ISBN 978-3-7751-6166-4 (lieferbare Buchausgabe)
Datenkonvertierung E-Book: CPI books GmbH, Leck
© 2022 SCM Hänssler in der SCM Verlagsgruppe GmbH
Max-Eyth-Straße 41 · 71088 Holzgerlingen
Internet: www.scm-haenssler.de · E-Mail: [email protected]
Hauptübersetzung:
Neues Leben. Die Bibel, © der deutschen Ausgabe 2002, 2006 und 2017 SCM R.Brockhaus in der SCM Verlagsgruppe GmbH Holzgerlingen. (NLB)
Weiter wurde verwendet:
Lutherbibel, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart. (LUT 2017)
Lektorat: Mirja Wagner, www.lektorat-punktlandung.de
Umschlaggestaltung und Titelbild-Illustration:
Astrid Shemilt // Büro für Illustration & Gestaltung, www.astridshemilt.com
Autorenfoto: © Jeffrey Werner
Satz: typoscript GmbH, Walddorfhäslach
Illustrationen im Innenteil: Yun-mi Willems
Über die Autorin
Gott und die Welt am Jägerturm
Teil 1 | Gottes Welt gestalten
Kapitel 1: Warum ganzheitlich?
Kapitel 2: Gott und die ganze Welt
Kapitel 3: Beziehungsstatus? Gestalter!
Kapitel 4: Wie wir wirklich satt werden
Kapitel 5: Der Pinselstrich im großen Gemälde
Anker werfen für eine kurze Pause
Teil 2 | Weltgestalter im Alltag
Kapitel 6: Wie herrlich leuchtet mir die Natur!
Kapitel 7: Jedes Tierlein hat sein Essen …
Kapitel 8: Wir leben in Beziehungen
Kapitel 9: Mehr als nur ein Broterwerb?
Kapitel 10: Alles hat seine Zeit …
Kapitel 11: Konsumkram
Kapitel 12: Armut, von den Affen zur Augenhöhe
Kapitel 13: Bis nach Timbuktu – oder auch zum Lidl
Kapitel 14: Volle Fahrt voraus!
Das Ende führt zum Anfang
Anmerkungen
Nicole Heymann (Jg. 1993) hat Kunst und Ev. Theologie studiert und engagiert sich u.a. bei Predigten, Workshops und einem Projekt in Uganda. Sie ist Teil der FeG-Gemeinden und liebt es, Geschichten von Gott und der Welt lebendig zu machen.
Es war April, draußen hatte es gerade geregnet, und die Luft war herrlich frisch. Vor meinem Fenster lud mich der Nadelwald zum Spaziergang ein. Doch ich gebe zu, mein Bett sah auch recht verlockend aus: Ich saß gerade mit Kopf- und Rückenschmerzen an meinem Schreibtisch im Wohnheim und hatte mein Zimmer heute noch nicht verlassen. Der Grund: meine Masterarbeit. Aber Bewegung soll ja gesund sein, und außerdem kam gerade die Sonne hinter den Wolken hervor! Also schleppte ich mich die Treppe hinunter, zur Tür hinaus und den Waldweg hoch.
Wer die Theologische Hochschule Ewersbach und ihre Umgebung kennt, weiß, dass es dort ruhig ist. Sehr ruhig: Auf dem bewaldeten Berg eine kleine Hochschule, im Tal ein kleines Dorf – Einwohnerzahl zusammengenommen: knapp unter 3000. In der Zeit, in der ich draußen war, sah ich keinen einzigen Menschen – und auch keine größeren Tiere. In der Ferne hörte ich lediglich ein paar Kinder spielen.
Ich versuchte zur Ruhe zu kommen – und war sauer auf mich selbst, als es nicht klappte. Aber meine negative Gedankenspirale wurde unterbrochen: Ich sah am linken Wegrand einen verwitterten Jägerturm. Er war grob aus Baumstämmen und Brettern zusammengesetzt und an manchen Stellen schon repariert worden. Doch er war noch stabil. Also kletterte ich, trotz meiner Höhenangst, neugierig die Leiter hinauf.
Oben angekommen setzte ich mich erst mal auf die Bank. Durch die Ritzen der Bodenbretter konnte ich den Waldboden erkennen. Ein unheimliches Gefühl. Gleichzeitig fühlte ich mich wie ein Kind in seinem Baumhaus. Als ob der Beginn eines Abenteuers vor mir lag. So ließ ich die Höhenangst unten liegen und betrachtete meine Umgebung. »Anker lichten, ihr Landratten, es kann losgehen!« Aber im Gegensatz zu einem Kind hatte ich keine Schatzkarte bei mir und hielt auch nicht Ausschau nach Angreifern. Hätte mich jemand beobachtet, hätte er vermutlich gesagt, dass ich in den nächsten zwanzig Minuten gar nichts tat. War es also doch kein Abenteuer? Doch, war es. Denn es passierten zwei Dinge: Erstens, ich horchte, ich spürte in meine fünf Sinne hinein und kam endlich zur Ruhe. Und zweitens hatte ich so etwas wie eine Begegnung mit Gott und der Welt. Unspektakulär und doch ganz besonders. Ich sah zum Beispiel Kritzeleien im Turm, die mir zeigten, dass Menschen vor mir hier gewesen waren und nach mir auch sein würden. Ich sah die Bäume, die teilweise wegen vorangegangener Trockenheit dürr waren, oder einen kleinen Käfer, wie er vorbeikrabbelte. Und ich merkte, dass all diese Eindrücke Teil eines Systems waren. In diesem Moment spürte ich eine tiefe Verbundenheit mit der ganzen Schöpfung – und mit Gott, der diese Schöpfung hält. Es war, als ob er damit sagen würde: »Ich halte all das und mehr. Schau also aufmerksam in die Welt, liebes Geschöpf, denn dort findest du mich am Werk.« So kletterte ich mit einem Gefühl des Friedens und der Verbundenheit den Turm irgendwann wieder runter, und kehrte zum Wohnheim zurück.
In diesem Buch werde ich dich (und mich) als Weltgestalter bezeichnen. Warum? Weil ich glaube, dass wir als Christinnen und Christen von Gott dazu geschaffen sind, mit ihm zu leben und mit ihm seine Welt zu gestalten. Natürlich können prinzipiell alle Menschen die Welt gestalten, aber ich möchte hier bewusst die Perspektive auf Gott legen: Wir müssen diese Welt nicht allein gestalten und alle Last allein tragen. Gott ist mit uns.
Weltgestalter sein heißt also nicht, dass man einem bestimmten Persönlichkeitstyp entsprechen oder besonders leistungsfähig sein muss. Es heißt vor allem, dass wir mit Gott und der Welt eine ganzheitliche Beziehung leben. Dort oben auf dem Jägerturm habe ich zwar nur dagesessen und hingehört. Aber dadurch habe ich eine Verbundenheit zur Welt gespürt und neu den Wunsch gehabt, diese Welt aktiv zu gestalten. Je mehr wir also Gott und sein Herz kennenlernen, desto mehr lernen wir auch unsere Rolle und unsere Liebe zu seiner Schöpfung kennen. Egal, ob bei geistlichen, praktischen, stillen oder sozial sichtbaren Lebensbereichen: Du und ich haben das volle Leben geschenkt bekommen und dürfen es einsetzen. Wir sind Weltgestalter. Das ist das Abenteuer, zu dem Gott uns einlädt!
Egal, ob man ständig unterwegs ist oder immer im selben Dorf lebt: Wir alle sind miteinander und mit Gott verbunden. Das gilt nicht nur für Menschen, sondern auch für Tiere, Pflanzen und mehr. Deshalb geht es in diesem Buch auch um Zusammenhänge – solche, die uns persönlich berühren, aber auch solche, die ganze Gesellschaften und Naturgewalten betreffen.
Als ich dort auf dem Jägerturm saß, stachen mir einige dieser Zusammenhänge förmlich ins Auge: Manche Bäume waren gesund, aber viele waren dürr, und andere waren bereits abgeholzt worden. Und ich wusste genau warum: Der Klimawandel führt seit Jahren zu unregelmäßigen Regen- und Trockenzeiten, was selbst einen fernen Wald in Ewersbach beeinflusst. Gleichzeitig saß ich auf einem Turm, den ein anderer gebaut und repariert hatte. Unbekannte Personen waren vor mir hier gewesen und hatten ihre Initialen eingeritzt, hatten also einen kleinen Schnittpunkt mit meinem Leben. Große und kleine Zusammenhänge beeinflussen mich, und ich habe Einfluss auf diese Zusammenhänge.
Mit anderen Worten: Unser Leben dreht sich um mehr als nur um uns selbst. Wir stehen immer in Beziehung zu unserer Umgebung. Das klingt anstrengend, ist aber gleichzeitig mit tiefem Frieden verbunden: Du und ich sind Teil des großen Ganzen, und Gott hält alles zusammen. Gott ist der Künstler und du und ich dürfen Pinselstriche in seinem großen Gemälde sein. Leben mit Gott und Welt ist ganzheitlich. So dürfen wir als Weltgestalter nicht nur in geistlichen Lebensbereichen etwas bewegen, sondern zum Beispiel auch in der Politik, in unserer Familie oder für die Umwelt. Selbst wenn du dich isoliert oder unfähig fühlen solltest, und sogar, wenn die Welt scheinbar aus den Fugen gerät: Du bist in eine Beziehung zu Gott eingeladen und kannst an dem Platz, an dem du gerade bist, Beziehung gestalten. Das ist das, was ich im Jägerturm gespürt habe, und auch das, was du hoffentlich beim Lesen spüren darfst.
In diesem Buch verbinde ich persönliche Erlebnisse und Geschichten mit Weisheiten der Bibel, die ganz praktisch in unser Leben sprechen. Dabei wird es im ersten Teil des Buches um das große Bild und die Frage gehen: »Warum sind wir Weltgestalter?« Denn wenn wir das wissen, können wir umso besser aktiv werden. Im zweiten Teil wird es dann konkret. Hier gebe ich Einblicke in praktische Themen, es wird also um die Frage gehen: »Wie werden wir zu Weltgestaltern – wie leben wir Beziehungen, wie bekämpfen wir Armut, was machen wir mit unserem Plastikmüll oder mit unserer Zeit …?«
Wir können nicht kontrollieren, wann und wo Gott zu uns spricht oder uns bewegt. Aber wir können uns dafür öffnen, indem wir »rausgehen«: raus aus unseren festgefahrenen Mustern, raus aus zu engen Vorstellungen von Gott, um dann mit neuem Blick in die Welt zu gehen. Ich ging zum Beispiel trotz meiner Kopfschmerzen raus in den Wald, ich kletterte trotz meiner Höhenangst auf den Jägerturm und ließ mich trotz des Unistresses auf die Ruhe des Waldes ein. Es war ein Aufwand ohne Erfolgsgarantie: Ich hätte genauso gut nichts spüren können. Doch solche Risiken sind Teil des Lebens, auch unseres Lebens mit Gott.
Aber liebt Gott nicht bedingungslos? Ja, Gott kommt mit einem Geschenk. Aber dieses Geschenk ist kein Grund zum Stehenbleiben: es ist eine Einladung zu einer dynamischen Beziehung – zu einem Abenteuer, das Bewegung braucht. Zwang? Nein. Aber wenn du Fülle in Glauben und Leben erleben willst, dann ermutige ich dich als deine Mit-Abenteurerin: Lass die Impulse in diesem Buch an dich ran. Schau, was Gott in dir dadurch bestätigt, umkrempelt, tröstet oder neu belebt. Und dann geh mit diesen Impulsen raus in dein Leben mit Gott und der Welt.
Also dann: Anker lichten! Auf geht’s!
Deine Nicole
Alles ist dunkel. Man hört nur den sanften Wind und ein paar Vögel und Insekten. Ansonsten: Stille. Dann, wie ein Paukenschlag, schallt der Gesang eines Sängers über die Savanne. Der Himmel färbt sich orange, und ein afrikanischer Chor stimmt ein, während die Sonne über dem Horizont aufgeht. Kurze Zeit später versammeln sich unzählige Tiere vor dem Löwenfelsen: Der König und die Königin präsentieren ihren neugeborenen Sohn, Simba, und alle Tiere jubeln ihnen feierlich zu …
Erinnerst du dich noch an die erste Story, die dich so richtig beeindruckt hat? Für mich war es der Disney-Film »König der Löwen«. Ich war vier Jahre alt, als ich ihn zum ersten Mal sah, und war so begeistert, dass ich mein Plüschtier gleich Simba nannte. Okay, mein Plüschtier war ein Hund und kein Löwe, aber das war mir egal. Ich nahm Simba überall hin mit und spielte mit ihm den Film nach. Aber was genau hatte mich so fasziniert? Im Grunde genommen geht es im Film darum, wie Simba seinen Platz im »ewigen Kreis« findet. Die einzelnen Szenen sind zusammengenommen ein Bild dafür, wie ein junger Mensch von Selbstgefälligkeit zu Vollmacht und Verantwortung findet: Simba war vorher ein eingebildeter Prinz, dann ein ängstlicher Flüchtling, dann ein mutiger König. Auch wenn ich als Vierjährige nichts davon erklären konnte, hatte ich doch ein intuitives Gespür dafür. Ich wollte irgendwann auch, genau wie Simba, meinen Platz im »ewigen Kreis« einnehmen.
Vierzehn Jahre später stand ich kurz vor dem Abi und überlegte, was ich studieren könnte. Ich hatte alle möglichen Interessen: Wie wäre es mit Kunst, Agrarwissenschaft oder irgendwas in der Entwicklungshilfe? Eigentlich lag mir Kunst am Herzen, aber mit den anderen Berufen würde ich mehr Leuten helfen können. Wäre meine Entscheidung für ein Kunststudium zu egoistisch?
Ich besprach die Sache im Gebet mit Gott. Ich meinte zu wissen, was er sagen würde. Doch seine Antwort überraschte mich: »Ich habe dir Kunst gegeben. Mach dich bereit für das, was kommt.« Bereit? Für was genau? Das sagte Gott mir nicht. Sein Reden war auch nicht wirklich spektakulär: Ich war zu dem Zeitpunkt einfach im Garten. Aber in diesem Moment spürte ich Gottes Reden in Form eines Wie-aus-dem-nichts-Gefühls: eine tiefe Dringlichkeit und zugleich ein tiefer Friede. Als ob die Sache wichtig und absolut richtig wäre. Ich schickte also eine Bewerbungsmappe los, und einige Monate später ging ich an die Kunstakademie in Karlsruhe.
Ich lernte, Ölfarben herzustellen, Wörter zu formen und mit einem Schweißgerät umzugehen. Ich hatte Freude an der Kunst, doch es fühlte sich so an, als ob noch etwas fehlen würde. Waren Biologie, Gartenarbeit, mein Glaube und mein Herz für soziale Gerechtigkeit etwa nicht mehr wichtig? War diese gute Nachricht Gottes, an die ich als Christin glaubte, nur etwas für meine frommen Gedanken oder hatte sie etwas mit meinem Leben zu tun?
Ohne es zu wissen, kam ich der Antwort auf diese Fragen näher: Meine Familie hatte eine Freundin, die auf der Insel Zypern ein Gebetshaus leitete. Sie und ihr Team boten ein sechswöchiges Praktikum namens »Closer« an (englisch für »näher«): näher zu Gott kommen. Das Programm klang interessant, und ich konnte es zeitlich mit dem Studium vereinbaren. Also buchte ich den Flug und reiste nach Zypern.1
Natürlich verbrachten wir dort viel Zeit im Gebet. Aber die geistlichen Übungen standen nicht für sich allein: Das Gebetshaus unterstützte auch aktiv Projekte, die Sklaverei bekämpften und ehemaligen Opfern halfen. Als Praktikantinnen und Praktikanten durften einige diese sozialen und kreativen Arbeiten mitgestalten. Geistliche Übung und Einsatz in der Welt gehörten hier zusammen. So, wie ich das schon länger auf dem Herzen hatte. Neu war für mich aber, wie das mit dem Glauben in Verbindung gebracht wurde:
Roy Godwin, ein Gastredner, hielt einen Vortrag mit dem Titel »Your Gospel is too small« (Euer Evangelium ist zu klein). Er fragte uns zum Einstieg, was für uns dieses Evangelium sei. Wir gaben alle brav christliche Antworten: »Jesus ist für unsere Sünden gestorben …« »Nach dem Tod sind wir bei ihm im Himmel …« Hättest du ähnlich geantwortet? Roy hörte sich das alles an und nickte. Unsere Antworten seien typisch und auch nicht falsch, meinte er. Aber sie würden die gute Nachricht auf ein abstraktes Leben nach dem Tod reduzieren. Dabei müsse das gar nicht sein: Das Wort »Evangelium«, das aus dem Altgriechischen kommt, übersetzen wir meist mit »gute Nachricht«.2 Nur sei sie nicht irgendeine abstrakte gute Nachricht, sondern die Nachricht eines Boten, der die Ankunft eines neuen Königs ankündigt, also ein feierlicher Herrschaftswechsel: Gott kommt als König mit einem neuen Reich zu uns – das, was Jesus in der Bibel »Reich Gottes« nennt. Man könnte auch sagen: Seine Welt, seine Macht, seine Regeln und seine Liebe kommen in unsere Welt. »Dein Reich komme. Dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden« (Matthäus 6,10; LUT 2017) beten wir im Vaterunser. Gott schuf uns für gesunde Beziehungen zu sich, zu unseren Mitmenschen und unserer Umwelt. Roy erklärte es so: Das Evangelium ist nicht nur eine Linie, sondern wie ein Kreis – ein Kreis heiler Beziehungen im Hoheitsbezirk Gottes. Ein Teil des Kreises steht zum Beispiel für »Vergebung«, ein anderer für »Hunger bekämpfen« und wieder ein anderer für »durch Kunst die Welt schöner machen«. Jeder Mensch kommt anders mit dem Reich Gottes in Berührung. Jeder steigt an einer anderen Stelle in den Kreis ein. Aber dann kommt er nach und nach mit dem Rest des Kreises in Kontakt. Er lernt, wer er ist, dass Gott ihn geschaffen hat, wo Sünde und die ungemütlichen Dinge vor Gott versöhnt werden können und so vieles mehr.
Für mich war das wie eine Offenbarung: Ich dachte vorher, ich müsste Christsein, Kreativsein und mein soziales Engagement trennen – entweder etwas Kreatives oder etwas Soziales machen. Als ob es ein Ranking gäbe, bei dem nur bestimmte Dinge »fromm« oder »wichtig« wären. Aber das stimmt nicht: Wir sind schon jetzt, gemeinsam mit Gott, Weltgestalter. Das Kind in mir würde sagen: Wir sind im »ewigen Kreis«, König der Löwen in Real-Life!
Ich werde im nächsten Kapitel genauer darauf eingehen, wie die Bibel diesen Gedanken aufgreift. Jetzt will ich erst mal einen Blick darauf werfen, was ich mit dem Wort »ganzheitlich« meine.
Stell dir dazu vor, du würdest von oben auf unsere Welt herabschauen. Vermutlich würden dir schon nach kurzer Zeit bestimmte Schlagwörter auffallen: Nachhaltigkeit, CO2, Flüchtlingskrisen, Kriege, Rassismus, Hunger … Aber vielleicht würdest du auch die schönen Seiten bemerken: Familien, Musik, religiöse Sinnsuche, Kunst, Spaß, Naturwunder, leckeres Essen, großartige Erfindungen, ja, vielleicht sogar das, das wir »Menschlichkeit« nennen.
All diese Themen betreffen uns ganzheitlich: Wir sind alle von ihnen betroffen und zugleich durch sie verbunden. Und es geht noch einen Schritt weiter: All diese Themen sind auch untereinander verbunden. Mit unserem Blick von oben merken wir: Die Welt ist nicht wie ein Apothekenschrank, in dem viele Dinge nebeneinander gelagert sind, sondern wie ein Netz, in dem alles miteinander verknüpft ist. Wenn ein Teil des Netzes sich ändert, ist auch der Rest betroffen. Dazu kommt, dass sich die Welt ständig verändert. Das Netz ist also zusätzlich noch in Bewegung! Kompliziert? Ja, irgendwie schon!
Woher soll man da noch wissen, wie man sich in diesem Netz bewegen soll? Was soll man schon machen angesichts der Zerstörung des Amazonas-Regenwaldes, des Ukrainekrieges, der Flüchtlinge im Mittelmeer oder rassistisch-motivierten Angriffen? Genau diese Frage hält viele davon ab, sich mit den großen Themen zu beschäftigen. Es scheint einfach zu kompliziert. Und es stimmt: Das große Bild ist zu kompliziert, um es jemals ganz zu überblicken. Und dennoch können wir mit einer »Groß-Bild-Brille« durch die Welt gehen: ganzheitlich sehen und denken. Das bedeutet, darauf zu achten, dass eine Strategie, Handlung oder Entscheidung möglichst allen Beteiligten gut und langfristig dient.3 Wenn etwas ganzheitlich oder nachhaltig ist, dann hilft es ökonomisch (Jobs, Geld, Wirtschaft), ökologisch (Tier- und Umweltschutz) und sozial (gesunde Beziehungen, Familienhilfe).
Natürlich macht nicht jeder alles. Aber trotzdem kann man als Einzelperson, Firma oder Verein seinen Schwerpunkt so legen, dass er mehr im Blick hat als nur sich selbst: Wenn ein Wald aufgeforstet wird, ist das zum Beispiel ein ökologischer Schwerpunkt. Aber wenn die Aufforstung ganzheitlich passieren soll, muss das Projekt auch ökonomisch und sozial dienlich sein: Die Aufforstung sollte auch Jobs schaffen und das soziale Miteinander vor Ort nachhaltig verbessern. Bäume zu pflanzen, darf nicht nur dem Wald dienen.
Auf Zypern habe ich gelernt, dass das Evangelium wie ein Kreis ist, bei dem unser Glaube eine Auswirkung auf unsere Beziehungen zur Welt hat. Unser Glaube ist nämlich nicht nur eine Liste korrekter Aussagen, sondern eine Beziehung zu Gott (Gebet, Lobpreis …). Und diese Beziehung zu Gott fließt über auf die Beziehung zu uns selbst (körperliche und emotionale Heilung, Selbstbild …), zu anderen Menschen (Familie, Freundschaft, Armut …) und der übrigen Schöpfung (Tier- und Umweltschutz …). So ist eine Predigt genauso Teil des Reiches Gottes wie die Zuwendung zu den Armen oder unser Umgang mit unseren Kindern.
Damit taucht aber eine weitere Frage auf: Wenn das Evangelium so weit gefasst wird, kommt es dann letztlich nur auf unser soziales Engagement an und nicht mehr auf unseren Glauben? Macht es dann noch einen Unterschied, ob man Jesus nachfolgt oder nicht? Nach meinem Verständnis wäre das zu kurz gedacht. Warum?
Lass uns dafür noch mal einen Schritt zurückgehen, diesmal nicht mit einem Blick von außen, sondern einem Blick von innen: Stell dir vor, du würdest die Meere erforschen und Eisberge untersuchen. An der Meeresoberfläche würdest du nur die Spitzen der Eisberge sehen. Aber diese Sicht würde dir fast nichts verraten: Wie groß sind die Eisberge? Wie alt sind sie? Sind sie noch fest oder schon eher wie Schneematsch? Wo werden sie voraussichtlich mit der Strömung hintreiben? Um das herauszufinden, musst du unter die Oberfläche tauchen, vielleicht auch eine Wasser- oder Eisprobe nehmen und genau hinsehen. Nicht einfach aus Neugier, sondern weil du sonst mit einer Katastrophe belohnt werden würdest: Eisberge würden weiterschmelzen – ein Umstand, der alles vom lokalen Lebensraum der Eisbären bis hin zu Meeresströmungen und Extremwetter beeinflussen würde – und die Menschheit wäre unfähig, darauf zu reagieren. In anderen Worten: Unter der Oberfläche sieht es ganz anders aus als oberhalb, und das ist relevant!
So ist das auch, wenn wir uns mit unterschiedlichen Glaubensausrichtungen in der Welt einsetzen: An der Oberfläche sieht das Engagement oft ähnlich aus, aber die Fundamente sind anders. Ein Mensch kann sich aus verschiedenen Gründen für eine bessere Welt einsetzen. Aber solange sein Fundament nicht auf dem Evangelium gründet, müssen seine Möglichkeiten zum Handeln immer aus der Welt selbst kommen: »Ich muss stark sein, dann kann ich dich stark machen.« »Wir machen das mit dem Wissen, was wir haben.« Am Ende gilt: »Ich versuche, mich mit meinen eigenen Mitteln zu erlösen: Mein Wissen, mein Geld, meine Freundschaften, meine frommen Taten, mein Engagement.« Das kann schon einiges bewirken. Solange wir uns stark fühlen, scheint das auch gut zu gehen. Aber wenn ich oder meine Mitmenschen versagen, dann wird es schwierig.
Das ist für uns als Christinnen und Christen, die wirklich ganzheitlich leben, anders: Wir müssen uns nicht selbst an den eigenen Haaren aus dem Sumpf ziehen. Wir sind Weltgestalter, aber nicht Schöpfer der Welt. Was nach Einschränkung klingt, ist in Wirklichkeit eine Befreiung: Wir gestalten die Welt mit dem großen Ganzen im Blick, aber müssen nicht verzweifeln, wenn wir dieses komplexe Bild nie ganz verstehen. Stattdessen lassen wir den Anspruch los, alles selbst zu bestimmen. So wenden wir uns auf einer viel größeren Quelle des Lebens zu: Wer an Jesus glaubt, der hat »Ströme lebendigen Wassers« (vgl. Johannes 7,38), er wird sogar selbst zu einer Quelle! Egal, ob du schon länger mit Gott unterwegs bist oder dich ganz neu mit dem Glauben beschäftigst, lass dir das mal auf der Zunge zergehen: Wir haben nicht nur einen Becher bekommen, mit dem man etwas Leben abzapft. Wir sind nicht Weltgestalter mit notdürftigen Mitteln. Wir haben Zugang zur Quelle selbst, wir stehen in Beziehung zu Gott: zum Vater, der diese Welt erschaffen hat, zu Jesus, der uns mit Gott und einander versöhnt hat, und zum Heiligen Geist, der sogar in uns wohnt! Gott ist die Quelle, und wenn wir an ihn glauben und uns von ihm gestalten lassen, dann werden wir ganz automatisch zu Gestaltern einer vollen, reichen Welt Gottes!
Doch wie kann das konkret aussehen? Je nach Persönlichkeitstyp, Prägung und anderen Faktoren wird der Weg jedes Weltgestalters anders aussehen. Aber ich kann erzählen, wie das bei mir weiterging: eine Mitarbeiterin auf Zypern sprach mir zu, dass ich Gottes gute Nachricht verschiedenen Völkern predigen würde. Eine andere Frau ermutigte mich darin, dass Gott meine Kreativität für seine guten Zwecke gebrauchen könnte, wenn ich ihn nur lassen würde. Ich wollte diesen Zusprüchen Glauben schenken … aber wie? Es gab so vieles, was mir im Weg stand: meine Schüchternheit, meine chronische Müdigkeit und andere gesundheitliche Einschränkungen. Wie sollte ich je normal arbeiten können, geschweige denn predigen und meine Gaben auf große Art und Weise einsetzen?
Diese Gedanken nahm ich mit zurück nach Deutschland. Dort besuchte ich einige Monate später ein Seminar zum Thema Bibelauslegung. Ich stellte der Lehrerin viele Fragen. So viele, dass eine andere Teilnehmerin scherzte: »Du wirst bestimmt mal Theologie studieren.« Ich lächelte verlegen und schüttelte den Kopf. Aber die Fragen ließen mich nicht los. War das vielleicht tatsächlich mein Weg? Bei einer Jugendkonferenz besuchte ich dann den Infostand der Theologischen Hochschule Ewersbach. Ich unterhielt mich mit einigen Studierenden und nannte meine Bedenken. Aber ein Student versicherte mir: Man muss nicht der eine Typ Pastor bzw. Pastorin sein. Man kann Kreativität und alle Gaben, die man mitbringt, in den späteren Beruf einbauen oder zumindest von ihnen inspiriert sein! Einige Monate später besuchte ich die Hochschule für einige Tage. Es ist eine kleine Uni, und damals gab es nicht mal richtiges Internet! Aber ich spürte, dass ich hier sein sollte. So schickte ich kurz nach Abschluss des Kunststudiums eine Bewerbung nach Ewersbach und fing dort im Oktober 2016 an. Wir lernten viel über die Bibel, Kirchengeschichte, wie man mit verschiedenen Altersgruppen umgeht und anderes mehr. Und in alledem gingen die Eindrücke aus Zypern ein Stück in Erfüllung: Ich fing an zu predigen. Ich nutzte meine kreativen Ideen, um Bilder, Geschichten oder Requisiten zu erstellen. Und ich machte die Erfahrung, dass Leute davon etwas mitnahmen. Fast zeitgleich zu meinem Studienbeginn gründeten meine Eltern eine kleine Organisation, die jungen Müttern in Uganda aus der Armut hilft. Bis heute arbeite ich bei diesem Projekt mit und sehe, dass Gott die Arbeit segnet. Anfang 2022 bekam ich dann noch die Möglichkeit, dieses Buch zu schreiben. Auch dadurch darf ich Gottes Geschichte mit den Menschen auf eine kreative Art weitergeben. Dabei gab es immer wieder Krisen und Herausforderungen, die mir und meiner Umgebung im Weg gestanden haben. Aber das hinderte Gott nicht daran, den Himmel an Stellen hier und da zu öffnen.
Werde ich in zehn Jahren also als Pastorin, Autorin, Missionarin in Uganda oder alles drei arbeiten? Wo wird unsere Welt sein, und wo nicht? Ich habe keine Ahnung. Doch ich weiß, dass Gottes gute Nachricht ganzheitlich wirkt und dass ich daran mitgestalten darf. Die persönlichen Zusprüche, die ich auf Zypern erhalten durfte, sind wahr geworden. Ich habe zwar noch Ängste und Zweifel, doch ich lasse mich von ihnen nicht bestimmen. Ich weiß, dass Gottes Kreis der Beziehungen, sein Evangelium, mein unverrückbares Fundament ist. Es ist, aus eigener Erfahrung gesprochen, ein Abenteuer im »ewigen Kreis«. Und ich lade auch dich ein, dieses ganzheitliche Leben zu entdecken.
Ich verlasse die Wohnung einer Freundin und laufe gemütlich Richtung Bahn. Der Europaplatz in Karlsruhe ist voller Menschen, Autos, Fahrräder und Motorräder. Sie alle ziehen im Takt der Ampeln durch die anliegenden Straßen, an vielen Läden und Betrieben vorbei. Ich habe es nicht eilig, also schau ich auf die Schilder, die für ihre Produkte werben: Uhren, Klamotten, ein Kino … und ein Art-Café. Ob dort eine Ausstellung zu finden ist?
Ich bin neugierig und trete ins Café ein. Der Innenraum ist mittelgroß und wirkt gemütlich: braune Holzstühle, Dielen, Glaslampen mit schwarzen Eisenrahmen. Der Name ist tatsächlich Programm: Entlang der Wände werden gerade die Gemälde eines Hobbykünstlers ausgestellt. Etwa fünfzig Gäste könnten hier sitzen, doch zu dieser frühen Nachmittagszeit sind höchstens ein Dutzend Personen anwesend. Die einzige Kellnerin, die vorn am Tresen steht, begrüßt mich. Ich bestelle ein Getränk und zeige auf die Bilder an der Wand. »Von wem sind die?« Sie nennt mir den Namen des Künstlers und erklärt, dass man hier die Wände für Ausstellungen zur Verfügung stelle. Das finde ich spannend und so setze ich mich mit meinem Getränk an einen der vorderen Tische, um mich weiter mit der Kellnerin zu unterhalten. Sie erzählt mir, dass sie eine Gastarbeiterin aus Polen sei, dass sie erst seit einigen Monaten hier lebe und arbeite, und von der Tochter, die sie zu Hause zurücklassen musste. Diese Frau erzählt offen. Und ehrlich. Und ich merke: Sie ist unsicher, was sie in Zukunft erwartet. Ich höre zu und überlege, was ich dazu sagen soll.
Dann bekomme ich den Impuls von Gott: »Bete für sie.« Ich zögere: »Wie, jetzt? Mit ihr zusammen?« Und Gott antwortet: »Ja.«
Ich brauche einen kurzen Moment, doch dann schaue ich die Frau an und sage: »Ich kann Ihnen nicht sagen, was Sie tun sollen. Aber ich glaube an einen Gott, der uns alle kennt und liebt. Wäre es in Ordnung, wenn ich kurz für Sie bete?« Sie schaut mich verdutzt an. Doch zu meiner Überraschung ist sie sofort einverstanden. Wir schließen die Augen und ich spreche ihr zu, dass Gott sie kennt und sie in ihrer Not sieht. Und ich bitte Gott, dass er dieser Frau und ihrer Familie real begegnet. »In Jesu Namen, Amen.«
Wir öffnen unsere Augen wieder, und die Frau schaut mich sichtlich gerührt an. Sie fragt mich, ob ich wiederkommen würde. Ich kann es ihr nicht versprechen. Doch ich nehme die Visitenkarte des Cafés mit, die sie mir reicht. Ich winke ihr beim Abschied noch mal freundlich zu, bevor ich mich wieder zu den Menschen auf dem Europlatz geselle.
Auf dem Weg zur Haltestelle denke ich noch mal über das Erlebte nach, und das Gesicht der Kellnerin kommt wir wieder in den Sinn. Ich sehe die vielen Menschen um mich herum, und dann fällt es mir wie Schuppen von den Augen: Hier sind so viele Gesichter – junge Gesichter, alte Gesichter, Männer, Frauen, Kinder, Deutsche und Ausländer. Glückliche, traurige und gehetzte Gesichter, gelangweilte Gesichter, die sich den neuesten Fotos auf ihrem Instagram-Feed widmen …
Ich bin täglich von solchen Gesichtern umgeben. Aber heute ist es so, als ob ich eine Ebene tiefer sehe: Hinter all diesen Gesichtern stecken Menschen mit einer Lebensgeschichte, mit Freuden und Leiden, mit Fragen, mit Zweifeln und Träumen. Es ist, als ob ich durch ein Fenster in Gottes Herz sehen und er sagen würde: »Schau diese Menschen an, Nicole. Sie gehen ihrem Alltag nach, und ich wünsche mir nichts mehr, als dass jeder Einzelne dieser Menschen mich kennenlernt und zum Leben in Fülle findet.« In der Theorie hätte ich diesem Gedanken an jedem Tag zugestimmt. Heute aber erreicht mich der Herzschlag Gottes. Keine intellektuelle Erkenntnis, dafür aber eine radikale Tiefe, die dann meine Tiefen umdreht. So sehr, dass ich die Tränen zurückhalten muss, als ich schließlich in die Bahn einsteige und nach Hause fahre.
Ich habe es bereits erwähnt: Unser Glaube ist ganzheitlich. Nicht eine Linie, sondern ein Kreis der Beziehungen. Wo aber finden wir das in der Bibel wieder? Hier sind es Leitthemen, in denen uns dieser Kreis begegnet und von denen drei für uns besonders interessant sind: Mission, Segen und Reich Gottes.
Fangen wir direkt mit dem theologischen Begriff an, dem Wort »Mission«. Es kommt, im Gegensatz zu den anderen beiden Wörtern, nicht direkt in der Bibel vor, interessiert uns aber trotzdem: Mission kommt aus dem Lateinischen und bedeutet »Sendung«. Wer eine Mission hat, ist mit einem bestimmten Auftrag unterwegs. Es geht also um den Sinn von dem, was wir tun: Ein Geheimagent hat eine Mission, eine Briefträgerin hat eine Mission. Aber wie würdest du christliche Mission definieren? Wer ist in der Bibel gesendet – und wozu?
Vielleicht kommt dir der »Missionsbefehl« in den Sinn, den Jesus seinen Jüngern gab (vgl. Matthäus 28,18-20). Oder du denkst an heutige Missionarinnen und Missionare, die irgendwo auf der Welt von Jesus erzählen. Vielleicht denkst du auch an die dunklen Episoden der Kirchengeschichte, wie die Kreuzzüge, Kolonialismus oder Missbrauchsskandale. Die eine Person verbindet mit Mission was Gutes, die andere würde Mission am liebsten in der Vergangenheit begraben.
All diese Beispiele haben aber eines gemeinsam: Menschen sind diejenigen, die Mission betreiben. Gott sitzt oben im Himmel und gibt Aufträge, und wir führen sie mehr oder weniger erfolgreich aus. Gott sendet, wir schuften. Nach diesem Denken sind wir als Menschen, Kirchen und Werke also die »Macher« der Mission. Aber stimmt dieses Bild?
Es wurde bereits deutlich: Wir sind nur deshalb Weltgestalter, weil Gott unsere Quelle ist. Das heißt aber, dass Gott derjenige ist, von dem alles ausgeht. In Wirklichkeit ist es Gottes Mission. Dazu gibt es in der Theologie einen lateinischen Fachbegriff: Missio Dei.4 Er bedeutet »Sendung Gottes«. Sprich: Gott ist der Gestalter. Gott ist der erste und letzte Missionar. Er wollte von Anfang an auf die Menschheit zukommen. Er schreibt mit Menschen Geschichte. Menschen können viel tun, aber sie sind nicht die Hauptträger. Mission ist, bei allem Weltgestaltertum, zuallererst Gottes Sache. Missio Dei.
Und auch wenn wir den Begriff »Mission« so nicht in der Bibel finden, ist der Gedanke dahinter sehr wohl zu erkennen. Von vorn bis hinten zeigt sich Gott als jemand, der sich selbst zu den Menschen sendet.
Fangen wir beim allerersten Satz der Bibel an: »Am Anfang schuf Gott den Himmel und die Erde« (1. Mose 1,1). Dieser Satz ist schon das erste Zeichen eines Gottes, der eine Mission hat. Denn wenn wir ehrlich sind: Gott hätte gar nichts erschaffen müssen. Schon gar nicht, wenn er doch wusste, was mit der Welt passieren würde. Ich an seiner Stelle hätte mir die Mühe gespart. Warum also der Aufwand? Weil Gott von Anfang an ein Gott der Beziehung ist. Schon »vor«5 der Schöpfung ist Gott Beziehung in Person: Er ist ein Gott, aber drei Personen – Vater, Sohn und Heiliger Geist. Das ist für uns Menschen kaum zu verstehen. Aber es drückt aus: Gott braucht uns nicht, um Gemeinschaft zu haben, da er das schon in sich selbst hat. Doch gelebte Beziehungen gehören so sehr zu Gottes Wesen, dass er nicht nur bei sich bleiben will: Er schafft eine Welt, mit der er gemeinsam leben möchte. Das ist sein innerer Antrieb, seine Mission.
Der Schöpfungsbericht wird uns in einer klar erkennbaren Struktur erzählt. Wie in einem Lied gibt es Dinge, die sich immer wiederholen. So erkennt man, was der Schreiber an Gott und der Schöpfung betonen wollte. Schauen wir uns die Verse 3 bis 5 an:
1. Gott schafft etwas: »Da sprach Gott: ›Es soll Licht entstehen!‹, und es entstand Licht« (1. Mose 1,3). Gott schafft die Welt ohne große Mühe. Er scheint nur ein Wort sagen zu müssen, und schon entsteht etwas. Gott ist also der allmächtige Herr, der das Chaos der Welt im Griff hat.
2. Er schaut es sich an: »Und Gott sah …« (1. Mose 1,4a). Gott könnte etwas schaffen und direkt weitermachen. Aber er hält kurz inne. Er schaut sich das an, was er gerade geschaffen hat. Wie ein Künstler, der sein Bild betrachtet.
3. Er schätzt es wert und gibt ihm einen (Beziehungs-)Namen: »Und Gott sah, dass das Licht gut war. Dann trennte er das Licht von der Finsternis. Gott nannte das Licht ›Tag‹ und die Finsternis ›Nacht‹« (1. Mose 1,4-5a). Gott ist bei all seiner Macht nicht kühl und distanziert. Er schätzt seine Schöpfung wert. Er spricht ihr zu: »Hey, das ist gut!«, und stellt eine Beziehung zu ihr her: Er gibt ihr einen Namen. Namen waren in der Bibel nicht einfach nur Titel, sondern sagten immer etwas darüber aus, was die Sache für denjenigen bedeutete. Gott sagt also: »Das ist nicht nur irgendwie da, sondern ich habe eine Beziehung dazu. Es bedeutet mir was.«
Was sagt uns das nun aber über Gott und den Kreis ganzheitlicher Beziehungen? Mehrere Dinge.
Beziehung gehört so sehr zu Gott, dass er die Welt erschafft. Aber Beziehung ist nicht nur sein Antrieb, um etwas zu machen, sondern die Beziehung selbst schafft etwas Neues. Das ist in unserer natürlichen Welt ähnlich: die sexuelle Intimität der Eltern führt zu neuem Leben, Zeit mit kreativ offenen Menschen bringt neue Projekte hervor … Bezogen auf die Beziehung zu Gott heißt das, dass seine Beziehung zu uns das Leben stiftet und erhält. Daraus folgt eine einfache wie deutliche Gleichung: Wenn wir uns wegbewegen von der Beziehung zu Gott, bewegen wir uns weg vom erfüllten Leben. Wenn wir uns aber in Beziehung zu Gott wissen und diese Beziehung pflegen, entsteht neues Leben: neue Vorstellungen von uns selbst, neues Verhalten gegenüber unserer Umwelt und neue Fähigkeit, unsere Gaben in diese Welt zu tragen.
Gott ist kreativer Schöpfer – aber ohne kreatives Chaos: Er trennt Licht und Finsternis, Tag und Nacht. Er ordnet den Einheitsbrei. Er gibt der Schöpfung eine Struktur, und das schafft einen lebensfördernden Rahmen.
Je nachdem, wie man geprägt ist, kommt Struktur nicht gerade als Zutat für kreatives Schaffen oder Beziehungen in den Sinn. Schließlich braucht man Freiheit, um sich zu entfalten, da stört Struktur doch nur! Persönlich bin ich auch so geprägt. Aber ich habe beim kreativen Arbeiten eine wichtige Lektion gelernt: Man kann noch so tolle Ideen haben, doch wenn man keine Struktur hat, wird aus den Ideen nichts. Meine Bilder wären zum Beispiel nie entstanden, wenn es nicht so etwas wie eine Malfläche gegeben hätte. Würde man auf der Leinwand jede Farbe vermischen, bliebe ein diffuses Matschbraun übrig. Und selbst bei meinem spontanen Gespräch mit der Kellnerin musste es ein Café geben, wo sie angestellt war, und eine gemeinsame Sprache, damit wir uns verständigen konnten. Man merkt also: Struktur ist kein Gegensatz zu kreativer Gestaltung und Beziehungen, denn ohne Struktur gibt es nichts, was man miteinander in Beziehung setzen kann. Das ist auch der Gedanke in der Schöpfungsgeschichte: Gott schafft Ordnung, nicht als Feind des freien Lebens, sondern als Befähigung zum vollen Leben.
Zum Gestalten gehört offenbar auch, dass man etwas wahrnimmt und wertschätzt: »Und Gott sah, dass das Licht gut war.« Er sieht seine Schöpfung an, und zwar von vorn bis hinten. Er sieht zum einen, was noch gemacht werden soll, und zum anderen, was bereits vollendet wurde. So ist seine Schöpfung ihm nicht fremd geblieben, sondern sie bekommt ein »Gesicht«. Sie bedeutet ihm etwas, und er hat eine Beziehung zu seinem Werk aufgebaut.
Oft sehen wir ein Projekt lediglich von vorn: Wir sehen ein Problem, planen und machen was. Aber sehen wir es dann auch von hinten? Sehen wir hin, sobald die Probleme weg sind, oder vergessen wir, uns über Lösungen oder gute Momente zu freuen? Sehen wir unsere Kinder nur an, wenn sie schlechte Noten schreiben, oder sehen wir sie auch, wenn sie einfach Fußball spielen oder uns ein selbst gemaltes Bild zeigen? Sehen wir unsere Nachbarn nur an, wenn es Stress gibt, oder sind wir auch in der Lage, etwas mit ihnen zu gestalten? Der Impuls, den ich aus der Schöpfung ziehe, ist: Nimm dir Zeit, deine Beziehungen und Umstände bewusst wahrzunehmen. Schau hin, nicht nur wenn du am Arbeiten bist, sondern auch danach. Sei dankbar und drücke Freude über dein Leben aus. Nicht nur, wenn alles perfekt ist, sondern auch inmitten der Herausforderung. Das gibt deiner Welt ein »Gesicht« und lässt Gottes Blick für die Dinge in dein Herz. Denn eine gestaltete Welt ist, bei aller Fehlerhaftigkeit, von Gott geliebt. Gott sieht sie an und sieht, dass sie gut ist. Nicht nur von vorn, sondern auch von hinten.
Der nächste zentrale Begriff, den wir uns vornehmen, ist der »Segen«. Man könnte sagen, dass die Missio Dei im Alten Testament mit diesem Stichwort greifbar wird.
Das Wort »Segen« ist im Hebräischen mit dem Wort für »(gebeugtes) Knie« verwandt, und zwar im Sinne von »jemandem dienen«.6 Es beschreibt eine Zusage, die uns im besten Sinne dienen soll: Segen führt dazu, dass die Beziehung zwischen Gott und den Menschen, ja der ganzen Schöpfung gestärkt wird. Wenn Gott segnet, geht es also nicht nur um einen netten Bonus, sondern um etwas, was Beziehungen stärkt. So gesehen gestaltet der Segen die Welt in die Richtung heiler Beziehungen zu Gott und einander.
Der Segen wird erstmals am fünften Tag der Schöpfung eingeführt. Gott erschafft die Vögel und Meeresbewohner. Und dann »segnete Gott sie und sprach: ›Die Fische sollen sich vermehren und die Meere füllen. Auch die Vögel sollen auf der Erde zahlreich werden‹« (1. Mose 1,22). Dann, am sechsten Tag, ist der Mensch dran: »So schuf Gott die Menschen nach seinem Bild, nach dem Bild Gottes schuf er sie, als Mann und Frau schuf er sie« (1. Mose 1,27). Und Gott segnet auch sie: