Wem die Nacht gehört - Hanna Donath - E-Book

Wem die Nacht gehört E-Book

Hanna Donath

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Beschreibung

'Das mit dem ›Ich liebe dich‹ ist ein Prozess mit mehreren Phasen. Zuerst glaubst du, du liebst jemanden. Dann weißt du es. Und dann überlegst du, dass du es sagen willst, weißt aber nicht, wann und wie. Und irgendwann kommt es raus. Einfach so. Das kann im Bett sein oder mitten in einem Streitgespräch. Auf der Autobahn oder während der Vorlesung. Tatataaa, und dann ist es da. Es ist ausgesprochen und unwiderrufbar. Und dann gibt es nur eine Antwort.' Lotta hat gerade ihren 30. Geburtstag gefeiert. Sie lebt in Freiburg und ist beruflich endlich dort, wo sie immer sein wollte. Aber während ihre Freundinnen anfangen zu heiraten, kommen bei ihr Männer nur ins Bett, aber nicht ins Herz: keine Romantik, kein Bei-den-Eltern-Vorstellen, kein Schatz-Nennen - einfach nur Spaß. Doch dann passiert etwas, das nicht hätte passieren dürfen: Sie wird schwanger und das auch noch bei einem One-Night-Stand mit einem Mann, von dem sie nur den Vornamen kennt. An einem Samstagabend macht sie sich auf die Suche nach dem Vater ihres Kindes und trifft auf ihrem Streifzug durch die Nacht auf ehemalige Affären - Loser wie Lover. So setzt sie sich mit schönen und dramatischen, peinlichen und lustigen Erinnerungen auseinander und beginnt, ihr Leben Revue passieren zu lassen. Vielleicht ist es Zeit, endlich erwachsen zu werden? Vielleicht sind 20 Jahre Jugend einfach genug? Wenn das Leben dich zwingt, erwachsen zu werden - 24 Stunden, die alles verändern

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Seitenzahl: 259

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Hanna Donath

Wem die Nacht gehört

Roman

Für dich und Herrn Rohde

Charlotte

3. März, 17.15 Uhr

»Fuck!«

Ich höre es klirren, irgendwo, von weit weg. Meine Beine geben nach und ich sinke auf dem Küchenboden zusammen. Mir ist gleichzeitig heiß und kalt, mein Gesicht glüht, mein Körper zittert und mir ist unendlich schlecht. Mein Kopf fühlt sich an wie mit Watte gefüllt, ich kann keinen klaren Gedanken fassen.

Ich muss zehn Minuten auf dem Fußboden gesessen haben, den Rücken gegen den Küchenschrank gelehnt, barfuß zwischen den Scherben des Glases, das ich vor Schreck fallen gelassen habe. Vielleicht waren es auch dreißig Minuten. Vielleicht mehr.

Draußen schieben sich Wolken vor die Sonne, nur wenig Licht fällt durch die geöffnete Balkontür, der Wind pfeift, ansonsten ist es totenstill in meiner Wohnung.

Immer wieder starre ich auf dieses verdammte Ding in meiner Hand. Da sind sie, zwei Striche! Klar und deutlich verziehen sie sich zu einer schiefen Grimasse. Zwei, verflucht, in jedem Fenster einer. Ich schnappe nach Luft. Meine Hände zittern.

Verdammt, ich bin wirklich schwanger!

3. März, 15.30 Uhr

Ich befürchte das seit dem beunruhigenden Gespräch, das ich gehört habe, als ich heute Mittag mit meinen Freundinnen Bea und Steffi im Aran saß, einem gut besuchten Café am Freiburger Augustinerplatz. Den Augustinerplatz umweht ein ungewöhnliches Flair, er ist der sonnigste Platz in der sonnigsten Stadt Deutschlands. Schon im Winter sitzen die Leute draußen – so wie wir heute, an einem frischen, aber sonnigen Märztag, eingemummelt in dicke rote Decken mit warmen Getränken in den kalt gefrorenen Händen.

»Alter, deine Augen tränen«, sagt Bea.

»Ich weiß«, gähne ich. »Sie wollen nicht richtig wach werden. Aber ich hab einfach viel zu wenig geschlafen.«

»Wann warste denn zu Hause?«

»Keine Ahnung, geschlafen habe ich jedenfalls erst um sieben Uhr.«

»Hui, wie heißt er denn?«, fragt Steffi, und es klingt, als ob sie fragen würde, welche Farbe meine neuen Schuhe hätten.

»Thomas«, sage ich. »Netter Typ, ein Bulle.«

»Äh? Du hast einen Bullen mit nach Hause genommen? Alles clean bei dir?«, fragt Bea.

»Absolut, seit ich das Rauchen aufgegeben habe, fasse ich fast gar nichts mehr an.«

»Nun denn«, gurrt Steffi und schlürft an ihrem Chai. »Wo kommt er denn her?«

»Stuttgart.«

»Seht ihr euch wieder?«

»Ich denke nicht, wir haben noch nicht mal Nummern ausgetauscht.«

»Lotta Lotterbabe, so wird das nie was mit dir und den Kerlen!« Bea grinst.

Ich lache und ziehe die Decke fester um meine Schultern, auf einmal fröstelt es mich und ich ziehe die Schultern hoch. Manchmal glaube ich, dass Bea recht hat. Die Kerle verschwinden ebenso schnell aus meinem Leben, wie sie hineinschneien, und meist weine ich ihnen keine Träne nach. Doch manchmal, wenn ich allein in meinem Bett aufwache, das noch warm ist von dem Typen, der mich vor ein paar Stunden darin gevögelt hat, schmecke ich ein rostiges Etwas in meinem Rachen. Ein bohrendes »Was mache ich hier eigentlich?«-Gefühl, das wie ein Derwisch in meiner Kehle tanzt und nicht aufhört, bis ich es hinunterschlucke. Verdammt, ich bin dreißig Jahre alt und eigentlich zu alt für die Ficken-ohne-Frühstück-Nummer. Allerdings bin ich auch nicht an der Wir-halten-Händchen-und-gehen-zu-meinen-Eltern-Kaffee-trinken-Geschichte interes-siert. Mir grauts vor Kosenamen, vor Routine-Sex, der abends vorm Einschlafen unter der warmen Decke noch kurz passiert, weil er eben dazugehört, vor Streitereien, die dir jede Party versauen, und vor allem vor jemandem, der mich selbst im Ärger noch »Schatz« nennt, weil er vor lauter Schnupsihasimausi meinen Vornamen schon gar nicht mehr weiß. So war das schon immer: Ich teile mein Bett, aber nicht mein Herz – zumindest nicht so schnell.

Steffi und Bea sind da anders.

Steffi ist seit acht Jahren glücklich mit Tim zusammen, und diesen Sommer werden die beiden heiraten. Steffi will die ganze Nummer: schönes Kleid, Blumen im Haar, ein großes Fest, ein gehauchtes »Ja, ich will«. Was sie nicht will: Reihenendhaus, eine ganze Schar von Kindern, Hund und Gartenzaun. Und deshalb sind wir Freunde. Steffi ist die Freundin, die jedes Mädchen haben sollte: Sie ist großzügig, gutherzig und auf eine sehr angenehme Art tiefgründig lustig. Ihr Humor ist so schwarz wie ihr Haar und ihre Beobachtungen treffen präzise wie Pfeile. Steffi ist beneidenswert schlank, sie trägt ihr schwarzes Haar raspelkurz, und auch ihre Klamotten sind dunkel. Sie kombiniert schlichte schwarze Jeans mit schweren Gürteln und robusten Stiefeln. Steffi arbeitet als Grafikerin bei einer Freiburger Werbeagentur. Tim hat sie gleich am Anfang ihres Studiums kennengelernt. Die beiden sind ein Herz und eine Seele und geben Menschen wie mir den Glauben an Beziehungen zurück. Sie sind wirklich glücklich und jeder kann sehen, dass sie sich einander genügen. Manchmal, wenn wir unterwegs sind, haben die zwei einfach Spaß mit sich selbst. Sie werfen sich Blicke zu, die nur der andere deuten kann, sie machen Witze, über die sie gegenseitig lachen können, und sie sind sich stets wahnsinnig nah.

Und Bea ist ohnehin ein Phänomen. Sie ist eine der hübschesten Frauen, die ich je gesehen habe: Ihr Haar ist blond und so lang, glatt und glänzend, dass es immer so aussieht, als hätte sie soeben den Kamm aus der Hand gelegt. Sie hat den Arsch einer Göttin und den Gang eines Models. Ihre Augen sind tiefblau funkelnd und ihre Nase könnte glatt als Vorlage bei Schönheitsoperationen dienen. Ums mal anders zu sagen: Bea ist eine Frau, die von jeder anderen Frau auf den ersten Blick gehasst wird. Auch ich war anfangs ganz und gar nicht angetan von ihr. Ich kannte sie aus der Uni und konnte mit dem schönen Mädchen in Designerjeans und High Heels überhaupt nichts anfangen.

Bis sie sich irgendwann im ersten Semester in der Mensa zu mir und meinem besten Freund Paul setzte. Wir hatten gerade die Tabletts abgestellt, als sich Bea auf den freien Stuhl neben mir fallen ließ, laut ausatmete und mit ihrer schnoddrigen Stimme, die ich heute so gern höre, trompetete: »Alter, scheiß die Wand an, war das krass gerade!«

Ich bin fast am Essen erstickt und Paul prustete überrascht die Fanta über den ganzen Tisch. Bea ist ein Bauarbeiter im Körper eines Engels. Die Männer liegen ihr zu Füßen, doch sie schenkte ihr Herz nur einem: Bea war fünf Jahre lang mit Thorsten zusammen, einem feinfühligen Kerl mit Händen groß wie Schaufeln. Eines Tages kam er nach Hause, gab ihr einen Kuss und sagte: »Es geht nicht mehr, ich fühle nichts mehr für dich.« Beas Herz brach in der Sekunde, in der die Worte noch im Raum schwebten, und ihr Leuchten erlosch augenblicklich. Sie brauchte danach fast anderthalb Jahre, um wieder auf die Beine zu kommen. Doch ihr Strahlen kam zurück, und heute sagt sie: »Scheiße, wenn ein Kerl mich will, dann muss er verdammt noch mal alles für mich tun, aber wenn er mir das Herz bricht, breche ich ihm die Nase.«

Sie ist vorsichtig geworden, was Emotionen angeht, und vergnügt sich lieber mit zahlreichen Lovern. Bloß nicht zu viele Gefühle investieren, bloß nicht sich selbst noch einmal so verletzbar machen, dass ein Mistkerl es schafft, sie so sehr aus dem Leben zu reißen, dass sie nicht mehr weiß, wo oben und unten ist. Und so sägt sie nach drei bis sechs Monaten, kurz bevor es ernst werden könnte, den einen lächelnd ab, wendet sich zum Gehen und kann noch auf dem Nachhauseweg entscheiden, welcher der Nächste wird. Bisweilen ist es für ihre Freunde anstrengend, da mitzukommen. Es wäre nicht das erste Mal, dass Steffi oder ich überrascht zu ihrem Begleiter sagen: »Huch, äh, du bist ja gar nicht der Alex. Trotzdem: Hallo.«

Und ich? Ich bin dieses Jahr dreißig geworden und im Großen und Ganzen ganz zufrieden mit meinem Leben. Ich treibe viel Sport und arbeite in der Marketingabteilung eines Museums, wo ich mich um die wechselnden Ausstellungen kümmere.

Mein Job ist gut bezahlt und macht mir Spaß. Einzig das Liebesding läuft nicht so, dass ich es stolz meinen Eltern erzählen könnte. Ich halte es meist mit den One-Night-Stands, keine Telefonnummern, kein zweites oder drittes Date, keine Verpflichtungen, nur Spaß. Damit bin ich immer gut gefahren, nur in letzter Zeit brauche ich etwas länger als sonst, um einen Kerl nach dem Fick wieder zu vergessen und mein Leben normal weiterzuleben. In letzter Zeit denke ich manchmal, dass es vielleicht schön wäre, neben jemandem aufzuwachen, neben dem man gern aufwacht. Jemandem liebevoll »Gute Nacht« zu wünschen und sich in seinen Arm zu kuscheln, ohne fieberhaft zu überlegen, ob man eben im Eifer des Gefechts aus Versehen den falschen Namen genannt hat. Es ist ganz einfach: Vögeln ist nicht Kuscheln. Doch dann kommt wieder einer dazwischen. So wie Thomas, der Bulle, den ich nicht wiedersehen werde.

»Shit, ich muss los«, sagt Steffi und steht auf. »Tim wartet, wir müssen noch packen und fahren heute Abend zu seinen Eltern, bevor es morgen in den Urlaub geht. Dann bis in zwei Wochen, ihr zwei!«

Steffi drückt uns beide zum Abschied und verschwindet um die Ecke. Bea erhebt sich ebenfalls, um Kippen zu holen. Ich puste auf meinen Kaffee und schaue gedankenverloren auf den Augustinerplatz, die Sonne ist fast weg, und es wird langsam richtig kalt.

Neben mir sitzen zwei Frauen in den Dreißigern und trinken Tee aus großen Gläsern.

Sie haben beide einen Kinderwagen dabei und irgendwo springt noch ein größeres Kind herum, das zu der Blonden mit dem Batikschal gehört.

»Ich hab gestern mit meiner Schwester telefoniert«, sagt die mit den Dreadlocks, die ihren Kinderwagen unablässig schaukelt. Wie ferngesteuert, denke ich, ich bin sicher, dass sie nicht mal merkt, dass sie das tut.

»Sie ist schwanger, stell dir das vor. Dabei ist Lene doch erst anderthalb.«

»In welchem Monat ist sie denn?«

»Schon im dritten. Und sie hat es gar nicht bemerkt. Sie war nur bei ihrem Hausarzt, weil ihr immer übel und schwindelig war.«

»Übel war mir bei Kai-Lukas nie«, sagt die Blonde. »Aber ich hatte einen Heißhunger auf Hackfleisch, dabei konnte ich das früher nicht ausstehen. Das war schon komisch.«

»Das kenne ich«, antwortet die Dreadfrau. »Ich habe schon im zweiten Monat nicht mehr in meine BHs gepasst, das war verrückt. Und meine Freudin Elli ist Hebamme und sie sagt, manche Frauen merken es an den verrücktesten Dingen, zum Beispiel weil sie plötzlich mehr Speichel produzieren. Lustig, nicht wahr?«

Ich fange an zu zittern, ein bohrendes Gefühl zerbeißt mich. Ich schnappe nach Luft und befürchte, dass ich mich auf der Stelle übergeben werde. Der Speichel, verdammt, als diese Frau den Speichel erwähnt hat, wusste ich es.

»Oh Gott, Lotta, hast du nen Geist gesehen?« Bea steht vor mir und schaut mich besorgt an.

»Scheiße, scheiße, scheiße. Bea, wir müssen gehen!« Ich stehe auf und laufe ein paar wackelige Schritte. Bea kommt mir hinterher und hält mich am Arm fest.

»Fuck! Was ist denn los?«

»Ich glaub, ich bin schwanger.«

»Waaaaaaaas? Wie kommst du denn jetzt darauf?«

»Mir ist doch immer schlecht, schon seit Ewigkeiten. Außer-dem spielt mein Kreislauf verrückt.«

»Ja, aber ich dachte, das liegt an dem beschissenen Wetter.«

»Außerdem hätte ich schon, scheiße, welcher ist denn heute?«

»Der 3. März.«

»Ich hätte schon längst meine Tage bekommen müssen. Und ich mag plötzlich Toast Hawaii, den habe ich früher nie gegessen. Und der Speichel, den habe ich auch.«

»Ich verstehe kein Wort.«

Die Welt scheint aufgehört zu haben, sich zu drehen. Bea lässt meinen Arm los.

»Verdammt, verdammt, verdammt!«

»Okay, pass auf, wir machen einen Test, dann weißt du es.«

»Es ist Samstagnachmittag. Wo bekomme ich denn jetzt einen Test her?«

»Notapotheke. Ich fahre dich.«

Als ich in Beas Mini Cooper sitze, ist mir gleichzeitig heiß und kalt. Ich weiß schon, dass es wahr ist. Diese verdammte Geschichte mit Felix! Vor lauter Hin und Her haben wir nicht an Kondome gedacht. Das ist mir noch nie passiert. Ausgerechnet Felix. Felix, der selbstbewusste Kerl von der Party Mitte Februar. Felix, der etwas Großes werden könnte. Felix, den ich seither nicht mehr gesehen habe. Scheiße!

Lotte und Felix

13. Februar

»Darauf kann ich dir mit einem Finger antworten«, lache ich und zeige dem Typen hinter der Theke den mittleren. Ich trage zwei Gin Tonic und wühle mich durch die Menschen Richtung Steffi.

Wir sind auf einer dieser exklusiven WG-Partys. Exklusiv daran ist, dass das Einzige, was hier an eine WG erinnert, das Bier ist, das in der Badewanne gekühlt wird. Ansonsten ist alles tipptopp: Der Flur ist eher eine Empfangshalle und das Wohnzimmer locker so groß wie meine gesamte Wohnung. Es gibt eine Cocktailtheke mit Barkeeper, eine Tanzfläche, ein Buffet in der Küche und einen DJ. Marvin, den Gastgeber, kenne ich vom Studium. Er und seine vier Mitbewohner feiern regelmäßig Drecksaupartys, die in ganz Freiburg legendär sind. Sagen wir es so: Wenn du nach so einer Party nicht mit Schweizer Franken, einem falschen Ausweis, einer frischen Narbe und einer unbekannten Schönheit aufwachst, hast du was falsch gemacht. Mein bester Freund Paul schwört Stein und Bein, dass ihm das so passiert ist.

»Die Jungs sind der Hammer heute«, sage ich, als ich endlich Steffi entdecke.

»Im guten oder im schlechten Sinn?«

»Eher im schlechten.«

»Na, dann: Auf die schlechten!«, sagt Steffi und stößt lachend mit mir an.

»Du hast ja gut lachen«, erwidere ich. »Tim ist spitze. Eigen-tlich hat jede von uns einen Tim verdient.«

»Wenn man vom Teufel spricht, taucht er in Engelsgestalt auf«, säuselt meine Freundin und drückt ihrem Freund einen dicken Kuss auf die Lippen.

»Heiratet nicht!« Das ist Paul. Seit Tim um Steffis Hand angehalten hat, begrüßt Paul die zwei immer so. Kein »Hallo«- mehr, sondern ein flapsiges »Heiratet nicht!«.

Paul kann nicht verstehen, warum man sich an eine Frau bindet. »Ich bitte dich, du kannst doch nicht immer nur Hugo-Boss-Hemden tragen. Andere Designer machen so schöne Sachen. Natürlich ist auch Boss mal okay, aber für immer dasselbe Hemd?«

Für Paul ist es schon zu viel verlangt, eine Frau wieder-zutreffen, nachdem er mit ihr geschlafen hat. Paul jagt den Reiz, hat er eine erlegt, konzentriert er sich auf die nächste.

»Charlie, du Bombe«, er legt den Arm um meine Hüften. »Geiles Teil, das du da trägst.«

»Danke, Paul.«

»Super«, sagt er und lässt den Arm höher wandern, bis er meinen Rücken berührt. Das schwarze Top, das ich trage, war mal ein Kleid, ich habe es an den Hüften gerafft und den Rückenteil so weit ausgeschnitten, dass er offen bis zur Taille fällt. Seine Finger verlassen meinen Rücken ebenso schnell, wie sie ihn erklommen haben, und ich weiß: Paul hat Beute entdeckt.

»Entschuldigt mich, ich muss etwas ausprobieren.« Paul verabschiedet sich.

Er schwingt beim Laufen, seine Hose hängt ein wenig zu tief, sein Hemd ist genauso teuer, wie es aussieht, und seine Haare stehen frohlockend vom Kopf ab. Paul ist ein Bild von einem Mann: groß, sportlich, dunkel gelockt und lang bewimpert. Er ist meist besser angezogen als jeder andere im Raum und sein Siegeszug in Bezug auf Eroberungen wird nur noch von seinem Selbstbewusstsein übertroffen.

Er macht einen kurzen Halt an der Theke, holt zwei Gläser Martini und verschüttet eins in den Ausschnitt einer schlanken Rothaarigen.

Da taucht Bea auf.

»Pff, Paul zieht wieder ne Nummer ab! Das sieht nach Oje--wenn-das-Shirt-schon-nass-ist-müssen-wirs-schnell-aus-ziehen aus.«

»Richtig«, sage ich und gebe ihr einen Kuss auf die Wange. »Wie gehts dir?«

»Ihr glaubt nicht, was mir passiert ist«, sagt sie und streift ihre langen Haare in den Nacken.

»Hört zu, ihr erinnert euch doch an Raffael?«

»Raffael? Der Pianist?«

»Exakt.«

Bea hat Raffael vor vier Wochen kennengelernt. Sie hatte eines seiner Konzerte besucht und war von seiner Musik hingerissen. Ich selbst schlafe bei Klavierkonzerten am liebsten ein, aber Bea steht drauf. Da saß sie also, in einem hautengen blauen Kleid, der Rock zu kurz, die Absätze zu hoch, aber der Mund vor Begeisterung offen. Raffael hat sie im Publikum entdeckt und für einen kurzen Augenblick fast die Fassung verloren. Nach dem Konzert drängelte er sich durch die Fans, ignorierte ihre Bitten und Fragen und suchte den Saal nach Bea ab. Er fand sie lächelnd am Tresen stehen, ein Glas Champagner in der Hand, als würde sie nur auf ihn warten. Und das tat sie auch.

»Da sind Sie ja«, sprach er sie an.

»Mein Freund, wenn du mich anbaggerst, verkneif dir das ›Sie‹«, erwiderte sie nur halb charmant.

Raffael schluckte und lud Bea auf eine Art Aftershowparty ein, oder wie auch immer das Ding nach Klavierkonzerten heißen mag. Danach waren sie noch ein paar Mal aus, aber soweit ich weiß, lief noch nie etwas zwischen den beiden.

»Alter, gestern hat mich Raffael zum Essen eingeladen.« Beas Augen funkeln. »Ich dachte, es wird ein netter Abend. Wir waren schick aus, danach haben wir noch einen Drink genommen und vor meiner Haustür hat er mich endlich geküsst.«

»Oh, wie schön. Wie wars?« Steffis Stimme überschlägt sich fast vor Begeisterung.

»Der Kuss war super. Und ich dachte: Prima, ein Typ, der musikalisch ist, der tanzen kann und gut küsst. Der muss doch verdammt noch mal im Bett eine Granate sein.«

»Richtig, Schwester«, nicke ich.

»Aber Lotta«, sagt Steffi und klingt wie meine Mutter. »Es geht doch nicht immer nur um das eine!«

Bea und ich tauschen einen Blick aus. Wie zwei Schwestern, die heimlich nachts aus dem Haus schleichen wollen.

»Na ja«, beginne ich. »Nicht immer, aber ich bitte dich, was will sie denn sonst mit dem Langweiler?«

Ich halte nicht viel von Raffael, er ist so geleckt, das gefällt mir nicht. Er ist überaus korrekt, er siezt jeden, den er das erste Mal trifft, er reicht uns immer die Hand zur Begrüßung und außerdem trägt er sein Haar wie Barbies Ken. Zudem kenne ich Bea seit fast zehn Jahren; er ist ein nettes Aushängeschild, aber auf Dauer zu langweilig für sie. Bea bleibt eher bei den Tätowierten als bei den Pianisten dieser Welt.

»Langweilig hin oder her. Um es kurz zu machen: Ich habe ihn rausgeschmissen.«

Tim, der die ganze Zeit neben uns steht, mischt sich ein: »Was? Warum das denn?«

»Mensch Alter, so nicht. Nicht mit mir. Der Typ ist eine Niete im Bett.«

»Komisch«, sage ich. »Ich dachte, er kann küssen und tanzen? Normalerweise eine Empfehlung für eine gute Nacht.«

»Ich weiß, das habe ich auch gedacht, aber nichts da. Scheiß-Katastrophe! Es war sterbenslangweilig. Das Einzige, was er gemacht hat, war, an meinen Nippeln zu lecken. Immer wieder, die ganze Zeit. Dabei wollte ich …« – »So, ich gehe jetzt mal Bier holen«, Tim wird die Nummer zu heiß.

»Wie auch immer, ich bin fast eingeschlafen dabei. Stellt euch vor, mir war richtig langweilig. Und ich habe alles versucht: Ich habe ihn auf den Rücken gedreht, bin auf ihn geklettert, habe seinen Schwanz in den Mund genommen, seinen Kopf dirigiert, mich weggedreht. Aber er kam immer wieder zurück zum Tittenlecken.«

»Hallo? Bea? Wie wärs mit reden?«, wende ich ein.

»Hab ich. Natürlich. Als alles nichts half, habe ich seinen Kopf in meine Hände genommen, ihm in die Augen geschaut und ›Raffael, fick mich!‹ gesagt.«

»Und dann?«

»Dann hat er gesagt: ›Ja, gleich.‹«

»Wow!« Steffi und ich können es nicht fassen. Ich fange an zu lachen: »Ja gleich! Scheiße, das antwortest du auf ›Schatz, holst du mal ein Bier bitte?‹, aber doch nicht auf ›Fick mich‹. Auf ›Fick mich‹ gibts nur eine Antwort. Verdammt!«

»Ich weiß«, seufzt Bea. »Deshalb habe ich ihn auch rausgeschmissen.«

»Echt?«, fragt Steffi. »Wie denn?«

»Das war leicht. Ich habe ihm gesagt, dass ich morgen früh raus muss und dass er daher jetzt besser gehen sollte. Er, wie immer Gentleman, hat seine Sachen angezogen und ist ge-gangen. Einfach so, er war auch nicht sauer oder enttäuscht oder so. Wahrscheinlich reicht ihm das Nippellecken. Was weiß ich, Freak halt!«

»Ich habe mal einen rausgeschmissen, indem ich einen Streit vorgetäuscht habe«, erinnere ich mich.

»Wie täuscht man denn einen Streit vor?«, fragt Bea.

»Das ist bestimmt schon sieben Jahre her. Ich weiß auch gar nicht mehr, wie der Typ hieß. Jochen oder Joachim oder so ähnlich. Auf jeden Fall hatte ich plötzlich keinen Bock mehr. Wir haben auf irgendeiner Studentenparty rumgemacht und sind dann zu mir. Und irgendwie ist mir die Lust vergangen. Also habe ich mit ganz ernster Stimme mitten im ganzen Knutsch-Fummel-Wirrwarr gemotzt: ›Was hast du gerade gesagt?‹ Ich habe ihm fest in die Augen geblickt und dann gesagt: ›Oje, ich glaube, es ist besser, wenn du jetzt gehst.‹ Er war natürlich total verwirrt und fragte, was er denn gesagt habe. Und ich noch ein wenig böser in der Stimme: ›Du, ich glaube wirklich, es ist besser, wenn du jetzt gehst.‹ Dann bin ich aufgestanden und habe ihm die Tür aufgehalten. Er ist also total verdattert von dannen gezogen und weiß wohl bis heute nicht, was er falsch gemacht hat. Es lag ja auch nicht an ihm, ich wollte nur nicht mehr.«

»So was liegt immer an ihm, Süße!«, raunt Bea und hebt entschuldigend beide Hände.

Wo ist eigentlich Paul? Ich recke meinen Hals und entdecke ihn mit Tim an der Bar. Ohne die Rothaarige.

Plötzlich weht ein kalter Hauch von hinten und streift meinen- nackten Rücken. Zumindest ist es in meiner Erin-ne-rung so. Instinktiv drehe ich mich um – und sehe: ihn. Er steht lachend neben Christian, Marvins Mitbewohner, und hält ein Beck’s in der Hand. Mein Blick bleibt an ihm hängen. Ein hübscher Kerl: groß, athletisch, dunkle Haare, die sicher stundenlang so gerichtet werden müssen, damit sie so aussehen, als hätte er sich gerade erst aus den Kissen erhoben. Gute Jeans, gestreiftes Hemd, graue Strickjacke. Tipptopp. In dem einen Moment, in dem ich ihn zu lange angesehen habe, als dass es noch als harmloses Überblick-Verschaffen gelten könnte, hebt er den Kopf und sieht mir durch den ganzen Raum hindurch in die Augen. Es knistert. Wahnsinn. Er löst sich von Christian und schreitet mit großen Schritten so rasch auf uns zu, dass ich gar nicht glauben kann, was gerade passiert. Er hat mich die ganze Zeit fest im Blick.

»Da bist du ja.«

»Äh, wie bitte?«

»Komm mit!«

Ich blicke Bea und Steffi an, zucke kurz mit den Schultern und lasse mich tatsächlich von dem fremden Kerl an der Hand nehmen und quer durch den Raum führen. Das ist eigentlich nicht meine Art, ich stehe nicht auf die einfache Nummer. Wer mich will, muss sich schon ein wenig anstrengen. Aber das hier ist etwas anderes. ›Da bist du ja‹ – das klingt groß. Ich habe mal gelesen, dass du, wenn du den Mann deines Lebens endlich triffst, augenblicklich auch mit deinem ganzen Leben antworten kannst.

»Was trinkst du?«, fragt er, als wir an der Bar angekommen sind.

»Wodka«, sage ich.

»Alles klar.«

Er besorgt zwei Kurze, wir stoßen an und ich kippe den kalten Fusel runter. Es schüttelt mich, aber dieser Typ gefällt mir. Sehr sogar. Beim Anstoßen kommt er mir gefährlich nahe und ich registriere augenblicklich, wie wahnsinnig gut er riecht. Manchmal weißt du sofort, obs passt oder eben nicht. Geruch hat damit fast immer etwas zu tun.

»Ich heiße Felix«, sagt er, als hätte ich ihn danach gefragt.

»Und ich Charlotte.«

»Lotte, Lotta oder Charlotte?«

»Das kommt darauf an, wen du fragst«, lache ich.

»Ich entscheide mich für Lotte.«

»Das tun die meisten Jungs.«

»Wie bitte?«

»Ach nichts. Was trinkst du normalerweise?« Ich winke dem Barkeeper und lasse uns noch mal zwei Wodka einschenken.

»Nur Klares ist Wahres«, sagt er und zwinkert. Ich entdecke, dass er kleine Sommersprossen um die Augen hat.

»Das finde ich auch. Prost, Felix.«

»Prost, Lotte. Auf was trinken wir?«

»Ich trinke immer aufs Leben.«

»Und ich auf den Tag.«

»Na dann, auf diesen Tag des Lebens!«

Wir bleiben die nächsten Stunden an der Bar stehen und ich habe einen fantastischen Abend. Felix ist ein Draufgänger und fast so selbstbewusst wie Paul, und er richtet seine ganze Aufmerksamkeit ausschließlich auf mich. Wer auch immer ihn anspricht, hat keine Chance. Nicht heute Abend. Er lässt mich im wahrsten Sinne des Wortes keine Minute aus den Augen und gibt mir das Gefühl, der einzige Grund für seinen Besuch auf dieser Party zu sein. Wir trinken zahllose Wodkas und ich verliere das Zeitgefühl. Als mein Hals schon ganz rau vom Schlucken- und Reden ist und meine Füße schwer werden, legt er seine Hand um meinen Nacken und küsst mich. Seine Zunge ist schwer und fordernd, seine Hand drückt mich eng an ihn. Ich stelle mich auf die Zehenspitzen, um ihm näher zu sein.

»Gehen wir«, nuschelt er und zieht mich Richtung Ausgang.

Felix verlangt, was er will, er fragt nicht danach. Aber dieser Mir-gehört-die-Welt-Gestus macht mich heute richtig an. Nicht denken, nur machen! Oder besser gesagt, machen lassen. Ich suche meine Jacke, sage Bea Tschüss, die anderen sind schon weg, und verlasse Hand in Hand mit Felix Marvins Wohnung. Es ist nicht weit bis zu mir, etwa fünfzehn Minuten zu Fuß. Allerdings nur, wenn man nüchtern ist. Und ohne Knutschpausen.

Wir laufen Händchen haltend durch die Kälte, ich ziehe meinen Schal um mein Gesicht und wundere mich über das Händchenhalten. Früher, als ich jung war, war Händchenhalten für mich ein Signal, dass aus einer netten Geschichte eine ernsthafte Beziehung wurde. Dieser magische Moment, wenn du neben dem Kerl läufst, den du toll findest, und er deine Hand nimmt. Stolz war ich damals. Und fühlte mich groß. Und schön. Heute halte ich präkoital ständig die Hand von irgendjemandem – von Magie hat das schon lange nichts mehr.

Wir überqueren die Straße, es ist fast vier Uhr morgens und Felix bleibt plötzlich stehen. Er dreht sich zu mir und küsst mich fest auf den Mund. Ich schlinge meine Arme um seinen Nacken und lasse mich von ihm hochheben, er drückt mich in einen Hauseingang. Er öffnet meine Jacke und schiebt seine Hände unter mein T-Shirt. Ich zucke zusammen, als ich seine kalten Finger auf meinen Brüsten spüre. Er schiebt seine Hand in meine Hose, ich beiße ihm in den Hals und hauche in sein Ohr. Hart beult sich seine Jeans unter meinen Händen. Seine Finger werden fordernder und seine Küsse härter. Die Straße ist menschenleer, und es ist dunkel. Wir sind betrunken und ich kann mich kaum auf den Beinen halten, öffne sie aber, um ihn besser zu spüren. Meine Lippen sind schon ganz wundgeknutscht und sein kratziges Dreitagebartgesicht raut meine Haut auf. Nicht aufhören, großer Gott, nicht aufhören. Ich lehne an der Hauswand, er steht mit offener Hose über mir gebeugt und hebt mich höher, um mir noch näher zu sein. Ich schlinge die Beine um seine Hüfte, seine rechte Hand ruht an meinem Hintern, die linke zwischen meinen Beinen. Mir wird heiß und mein erster Orgasmus des Abends ist der schönste. Ich zittere und schiebe seine Hand aus mir heraus, er lässt mich langsam runter.

Ich richte die Klamotten und ziehe ihn an der Hand weiter. Nur noch wenige Minuten bis zu meiner Wohnung. Schon im Treppenhaus halten wir es kaum aus. Ich schließe die Wohnungs-tür auf, während er hinter mir steht und beide Hände unter mein Shirt schiebt. Wir kommen gar nicht bis in mein Schlafzimmer, sondern landen direkt auf dem Flurfußboden. Er ist über mir, fingert die Klamotten zur Seite und dringt so schnell in mich ein, dass ich sogar noch die Jacke anhabe. Ich werfe mich ihm entgegen und spüre vor lauter Erregung den harten Boden gar nicht. Die Dielen knarren. Er stützt seine Hände auf dem kühlen Holz ab und kommt nach wenigen Minuten. Er bleibt mit ausgestreckten Armen, offener Hose und einem erleichterten Lachen in den Augen auf dem Rücken liegen. Ich lege meinen Kopf auf seine Schulter.

»So, kann ich dir was anbieten?«, frage ich lachend.

»Baby, mehr geht nicht. Du bist der helle Wahnsinn.«

»Wow!«, sage ich und hasse dieses »Baby«. »Dann ist ja gut.« Ich küsse ihn auf den Hals und richte mich auf.

»Ich muss eigentlich nach Hause. Morgen früh bin ich mit nem Kumpel zum Boarden verabredet.«

»Alles klar.«

Er steht auf, zieht seine Klamotten an, knutscht mich noch einmal so wild, dass mir die Luft wegbleibt, und geht.

Erst als ich am nächsten Morgen in meinem Bett erwache, mit einem Kater zum Davonlaufen und einem mascara-verschmierten Gesicht wie ein Pandabär, spüre ich die Kälte in der Wohnung. Irgendwie hat Felix es mir angetan, der Abend war wunderbar, nur die Pornonummer im Flur hat einen so schlechten Nachgeschmack hinterlassen, dass ichs im ersten Moment nicht bereue, ihm meine Telefonnummer nicht gegeben zu haben.

3. März, 17 Uhr

Doch als ich an diesem Samstagnachmittag nach Hause komme, mit dem Schwangerschaftstest in der verdammten Tüte, da lässt mich dieser Gedanke nicht mehr los: Ich weiß gar nichts über Felix! Gar nichts!

Ich pinkele auf den Streifen, nehme ihn mit in die Küche und lege ihn auf den Tisch, damit er sich verfärben kann. Ich schenke mir ein Glas Wasser ein, blicke auf den Test und lasse es fallen.

3. März, 18 Uhr

Fuck! Fuck! Fuck! Was mache ich denn jetzt? Bea ist zu einem Polterabend gefahren. Obwohl sie bei mir bleiben wollte, habe ich sie weggeschickt. Steffi ist mit Tim auf dem Weg zu seinen Eltern und ich sitze auf dem verdammten Küchenboden mit dem verfickten positiven Test in den Fingern und weiß nicht, was ich tun soll. Absurderweise läuft Lou Reeds Perfect day im Radio und bohrt sich in meinen Kopf.

Kondome! Ich benutze immer Kondome! Aber an diesem schicksalhaften Tag eben nicht. Alles ging so schnell, ich weiß nicht, wie mir das passieren konnte. Ich nehme die Hände vors Gesicht und versuche, ruhig ein- und auszuatmen.

Irgendwann halte ich es nicht mehr aus. Ich rappele mich auf und stehe etwas hilflos in meiner Küche. Mittlerweile ist es dunkel geworden und ich muss das Licht anschalten.

Ich lehne mich gegen meinen grünen Lieblingssessel, den mir mein Vater vor Jahren geschenkt hat und der schon in jeder meiner Küchen stand, und trinke Wasser direkt aus der Flasche. Ich setze sie ab und laufe mit zittrigen Knien ins Bade-zimmer. Dort lasse ich kaltes Wasser über mein Gesicht laufen und versuche, einen klaren Gedanken zu fassen. Tropfend stehe ich vor dem Waschbecken und weiß nicht, wohin mit mir. Ich erschrecke mich beinahe vor meinem eigenen Spiegelbild. Meine Schminke ist verlaufen und meine Augen sehen noch dunkler aus als sonst. Ich streife meine Haare zurück und suche einen Haargummi in der Tasche meines Kleides. Bea liebt mein Haar, sie sagt, es sei wie das von Schneewittchen – nachdem sie in einem Cabrio durch einen Hurrikan gefahren ist. Ich binde mir einen Zopf und wische die Mascara-reste aus den Augenwinkeln.

Ich lege die Hände vor die Augen und habe Angst, gleich ohnmächtig zu werden. Und ich habe Angst vor diesem Kind, das in mir wächst. Ein Kind! In mir! Mein erster Gedanke ist: Das schaffe ich nicht. Mein zweiter: Ich muss Felix finden. Beim dritten komme ich auf die Idee, Paul anzurufen. Paul funktioniert in Notfällen gut, und einen verfluchten Notfall habe ich.

»Bin in zwanzig Minuten da, Charlie«, sagt Paul am Handy,- als ich ihm erzähle, dass etwas passiert ist.

Just a perfect day,

You made me forget myself.

I thought I was someone else,

Someone good.

Dieser verdammte Ohrwurm verspottet mich.

Ich laufe so lange ziellos durch meine Wohnung, bis es endlich an der Tür klingelt.

»Charlie, was zur Hölle ist denn los?«

»Hallo Paul.«

Wir gehen in die Küche.

»Also?«

»Ich, ich … bin schwanger!«, platzt es aus mir heraus. Großer Gott, das hört sich so absolut an. Und das ist es auch.

Paul schnauft und lässt sich auf einen Stuhl fallen. »Fuck!«