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Die Frage, wem das Heilige Land gehört, ist heute aktueller denn je. Die Debatten zu diesem Thema sind oft von Ignoranz und starken Emotionen geprägt, noch immer verstellen Parteilichkeit und Machtinteressen den Blick auf die politische Lage im Nahen Osten. In seinem unentbehrlichen Standardwerk wagt es Michael Wolffsohn, an überkommenen Mythen und Vorurteilen zu rütteln. Umfassend und gut verständlich erklärt er die historischen Wurzeln des Konflikts zwischen Juden und Arabern, der bis in die Gegenwart nichts von seiner Brisanz verloren hat.
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Das Buch erschien zuerst 1992 im Verlag C. Bertelsmann und 1997 als aktualisierte Neuausgabe in der Edition Ferenczy bei Bruckmann.
Dieses Buch widme ich allen Menschen, die im Heiligen land leben wollten und wollen – ohne andere zu töten.
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Cover & Impressum
Widmung
Vorwort zur Taschenbuchausgabe
Information statt Agitation
Heiliges Land? Israel? Palästina?
I – Religiosität und Politik
Fromme, Frömmler und der »tote Gott«
Fundamentalismus als Schutzschild der Kultur?
Ist Zionismus Gotteslästerung?
Zionismus im Koran?
II – Das Heilige Land, die Religionen und die Politik
Was ist das Heilige Land?
Warum ist es heilig?
Wem ist es heilig?
Wie ist es heilig? Oder: Heiligkeit und Staatlichkeit
Wodurch bekommt es der Eigentümer?
III – Die Geschichte der Besitzwechsel
Besitzer oder Eigentümer?
Kanaaniter, Philister, Hebräer oder: Namenspolitik ist Herrschaftspolitik
Die Stammväter Isaak und Jakob
Die jüdische Landnahme
Königreich und Königreiche
Assyrer, Babylonier, Perser, Griechen oder: Exile, Rückkehr, Autonomie
Die Europäisierung des Heiligen Landes: Griechen, Römer und das jüdische Zwischenspiel
Christen als Erben und Besitzer: Byzanz
Neu-Orientalisierung, Arabisierung, Turkisierung
Neu-Europäisierung: die Kreuzzüge
Die Rückkehr des Islam: die Mamelucken und das Osmanische Reich
Die Zionisten kommen
Die Briten im Heiligen Land
Die Gründung Israels: Palästina wird Jordanien
Groß-Israel: jüdisch oder demokratisch?
Schlußbemerkung: Unrecht gegen Unrecht
Frieden durch Föderalismus
Zeittafel
Leseempfehlungen
Inhaltsübersicht
Cover
Textanfang
Impressum
Literaturverzeichnis
Ich widme dieses Buch allen Menschen, die im Heiligen Land leben wollen – ohne andere zu töten.
Kein Ende im 130-jährigen Krieg?
In Nahost nichts Neues. Nur immer wieder neue Krisen, Kämpfe und Kriege. Dann sogenannte Lösungen, die nichts lösen. Seit über 130 Jahren tobt nun schon der unheilige Krieg zwischen Juden und Arabern um das Heilige Land, und heilig kann ohnehin kein Krieg sein. Wie unheilig (nicht nur Nahost-)Kriege sind, zeigte erneut, im Sommer 2014, der Gaza-Krieg zwischen der Hamas und Israel.
Angesichts der wissenschaftlich belegten Tatsachen entpuppt sich auch die Heilsgeschichte im Heiligen Land als ganz reale, oft unheilvolle und rational nachvollziehbare Geschichte. Manch Heiliges ist auch nur Mythos, also sagenhafte und eben keine nachweisbare Geschichte. Das gilt zum Beispiel für die biblische, alttestamentliche Landnahme. Es gab sie nicht. Zumindest nicht so, wie in der Bibel erzählt. Auch das vermeintlich so große Königreich unter David und Salomon war anders, ganz anders, nämlich klein, um nicht zu sagen, winzig. Die Verbindung von Archäologie und moderner Technologie hat hierzu in den vergangenen Jahren Bemerkenswertes aufgedeckt. Historisch handfest wird die Volksgeschichte Israels frühestens um ca. 900 v. Chr. Immerhin, das geschah auch nicht gerade vorgestern. Die im Anhang genannten Bücher von Finkelstein und Silberman bieten zu jenem Alten spannend Neues.
Seit Wem gehört das Heilige Land? erstmals erschien, 1992, gab es zwischenzeitlich Hoffnung – und dann wieder Enttäuschungen, Gewalt und Gegengewalt. Hier einige Stichworte: 1993 das Abkommen von Oslo bzw. Washington. Im November 1995 wurde Friedenspremier Rabin ermordet – von einem nationalistisch-fundamentalistischen Juden. Dem Friedenspremier folgte ein kurzes Intermezzo des eigentlichen Friedensarchitekten Schimon Peres. Der wurde im Jahr 1996 abgewählt. Es folgte der Falke Netanjahu. Der scheiterte bis 1999 krachend. Die Mehrheit der Israelis gab dem Frieden im selben Jahr mit dem Hoffnungsträger Barak erneut eine Chance. Er räumte den besetzten Süd-Libanon. »Land für Frieden« – das hatte die Internationale Gemeinschaft von Israel verlangt. Schon bald feuerte die Hisbollah-Schiitenmiliz Raketen auf NordIsrael. Die Nord-Front wurde – ohne Zutun der Palästinenser – heißer. Im Sommer 2006 explodierte sie.
Zurück zu Barak. Mit PLO-Chef Arafat und US-Präsident Clinton verspielte er die Friedensmöglichkeit im Sommer 2000 auf dem Gipfel von Camp David, USA. Im Oktober 2000 brach daraufhin die Zweite Intifadah aus. Nun setzten palästinensische Aktivisten wieder auf Gewalt. Der Falke Scharon wurde 2001 Ministerpräsident. 2004 starb Arafat. Der gemäßigte Mahmud Abbas folgte ihm als Palästinenserpräsident. 2005 hatte Israel die Intifadah niedergeschlagen, indem Terroristen nicht mehr eindringen konnten. Durch eine hohe Mauer entzog sich das Land als Terrorobjekt – und schuf bei den Palästinensern neue Verbitterungen.
2005 erkannte der Falke Scharon, dass Gewalt kein dauerhafter Politikersatz ist, und setzte gegen massiven Widerstand seiner eigenen Anhängerschaft den vollständigen Rückzug aus dem Gazastreifen durch. Kein jüdischer Siedler war mehr dort. »Land für Frieden«? Nun flogen Raketen der palästinensischen Hamas-Fundamentalisten auf Israel.
2007 tobte im Gazastreifen ein Bürgerkrieg zwischen Hamas und der Fatah von Präsident Abbas. Die islamistische Hamas besiegte und vertrieb ihre »Brüder«. Es erreichten noch mehr Raketen aus dem Gazastreifen Israel, das zur Jahreswende 2008/09 hart zurückschlug. Es folgte wieder eine kurze Ruhe, dann erneuter Sturm: der Gazakrieg im Sommer 2014 und im Mai 2021.
War das neue Gewalt? Nein, es war die Fortsetzung der alten mit anderen Mitteln und aus verschiedenen Anlässen.
Strukturell hat sich in diesem über 130-jährigen Krieg nichts geändert. Die Überwindung des Kriegskreislaufs kann nur gelingen, wenn neu gedacht wird: Sowohl bezogen auf die Vergangenheit(en) als auch die Gegenwart und Zukunft.
Dieses Buch führt zu den Wurzeln des Streits. Es bietet handfeste Informationen und in der Schlussbetrachtung eine praktikable föderative Friedenslösung. Das wäre eine Utopie, gar Eselei, sagen sicher manche. Ich halte dagegen: Die Realität bedeutet seit 130 Jahren Krieg. »Etwas Besseres als den Tod finden wir überall«, sagt der Esel im Märchen von den Bremer Stadtmusikanten, dessen vermeintliche Eselei sich als Lebensrettung erweist.
»Wenn ihr wollt, ist es kein Märchen.« Mit diesem Satz schloss Theodor Herzl, der Vater des politischen Zionismus, seinen visionären, wenngleich literarisch wenig überzeugenden zionistisch-utopische Roman »Altneuland«. Ein halbes Jahrhundert später war das Märchen Wirklichkeit. 1948 wurde Israel gegründet.
Nochmals: Wenn in und über Nahost nicht neu gedacht wird, kann nichts Neues bzw. Friedliches gemacht werden. Das falsch Gedachte und Gemachte betrifft leider nicht nur (nur?) Nahost, sondern einen Großteil der gegenwärtigen Staatenwelt. Deshalb zerfällt sie. In Nahost und anderswo. In meinem nächsten Buch »Zum Weltfrieden«, das im Jahre 2015 erschien, versuche ich zu zeigen, wo in und außerhalb Nahost was und weshalb falsch gedacht und falsch gemacht wird. Es liegt wirklich nicht an »den« Juden oder »den« Muslimen, sondern am falschen Ansatz, der falschen Konzeption. Das jedoch ist ein »weites Feld«, ein noch weiteres, sicher ein anderes.
Ich beschreibe in diesem Buch Geschichte, ich schreibe kein Märchen und mein scheinbar utopisches Lösungskonzept ist allemal besser als der bislang sehr reale Massentod. Das Buch bleibt allen gewidmet, die im Heiligen Land leben wollen, ohne andere zu töten.
München im Juni 2021
An der Grundkonstellation des Konfliktes zwischen Palästi- nensern und Israelis hat sich nichts geändert. Die Gewalt eskalierte inzwischen einmal mehr. Sie erreicht immer neue, noch schrecklichere Dimensionen. Das zeigte der von der islamistischen Hamas aus dem Gazastreifen am 7. Oktober 2023 durch das Massaker an rund 1 400 israelischen Zi- vilisten ausgelöste Krieg. Wie so oft in der Menschheits- geschichte wird danach wohl das festzustellen sein: Wer Kriegbeginnt, lenkt nach dem Krieg nicht mehr die Ge- schicke seines Volkes. Je nach normativer Position, mag man das begrüßen oder bedauern, aber so ist es. Vielleicht – ich bezweifele es – wird sich irgendwann doch noch diese em-pirisch nachweisbare Erkenntnis durchsetzen und Menschen davon abhalten, Kriege beginnen zu wollen.
Die Standardfrage lautet noch immer: Ist eine Lösung denkbar und dann machbar? Die Voraussetzung hierfür ist: Nur richtig gedacht führt zu richtig gemacht. Alle bisher unternommenen Lösungsversuche scheiterten. Sie waren falsch gemacht, weil falsch gedacht. Nicht zuletzt, und zwar seit Jahrzehnten, die Zweistaatenlösung. Nach mehrfach gescheitertem Denken und Machen, darf man erwarten, dass Neues gedacht und dann versucht, also gemacht werde. Fehl- anzeige. Fast »alles Kluge ist schon einmal gedacht worden. Man muss nur versuchen, es noch einmal zu denken« oder etwas umzudenken und neuen Realitäten anpassen. Das gilt für FÖDERATIVE STRUKTUREN anstelle von natio- nal-partikularistischen Ansprüchen. Kluge Köpfe haben sie bereits vor etwa hundert Jahren erdacht. In dankbarer Anleh-nung habe ich sie am Ende dieses Buches nach- und umge-zeichnet sowie ausführlicher und im globalen Zusammen-hang in meinem Buch »Zum Weltfrieden, Ein politischer Entwurf« dargestellt und erläutert. Wer lesen oder Frieden umsetzen will, der kann.
München, Oktober 2023, während des Hamas-Krieges
Was ist der historische Ort des seit dem 7. Oktober 2023 tobenden Gazakrieges?
Allen öffentlichen Bekundungen und Attacken gegen Israel zum Trotz: Der größte und gewichtigste Teil der sun-nitisch-arabischen Welt – allen voran (schon seit 1978/79 Ägypten) und nun Saudi-Arabien, die Golfstaaten und Jor-danien – hat sich nicht nur mit der Existenz Israels abge-funden. Er kooperiert offen mit Israel. Das dokumentierte am 13. April sowie am 1. Oktober 2024 die gemeinsam mit Israel vollzogene Abwehr iranischer Drohnen- und Raketenangriffe auf Israel. Selbst das scheinbar einseitig propalästinensische Qatar vermittelt zwischen Israel und der Hamas.
Die Islamische Republik Iran droht nicht nur mit Wor-ten, Israel vernichten zu wollen. Sie hat den Jüdischen Staat –sowie die gewichtigsten sunnitisch-arabischen Staaten geografisch wie strategisch mit ihren Verbündeten umzingelt. Das sind: Hamas, Hisbollah, Syrien, der Irak, und Huthi-Jemen. Seit dem 7. Oktober 2023 belassen es diese Akteure, teils aus unterschiedlichen Interessen, doch gestützt auf den Iran, nicht bei Worten. Katalysator und Vorreiter dieses bewaffneten Aktivismus war die Hamas mit ihrem Angriff auf Israel vom 7. Oktober 2023. Deren Rechnung ging einerseits insofern auf, als nun die Paläs-tinenser, anders als so oft zuvor, von ihren Wort-Partnern nicht im Stich gelassen wurden. Diese Rechnung ging an-dererseits lokalpolitisch, bezogen auf das eigene Zivil und Gebiet, nicht auf, denn als Folge des selbst ausgelösten Krieges verloren etwa 44.000 Palästinenser ihr Leben, und der Gazastreifen liegt in Schutt und Asche.
Weltpolitisch wiederum ging die Rechnung der Hamas auf. Weil konventionell militärisch Israel unterlegen, wird sie als Underdog wahrgenommen. Dem, hier also die Ha-mas, gilt – leicht nachvollziehbare Psychologie – reflexar-tig die Sympathie der Außenstehenden, die den konven-tionell Überlegenen, hier also Israel, nahezu automatisch beschuldigen. Es sei denn, Reflexion über Ursache und Wirkung und nicht Reflex leiten die Außenstehenden.
Dieser Mechanismus stammt sozusagen aus dem Lehr-buch des Guerillakrieges. Im Zeitalter elektronischer Me-dien wirkt dieser Mechanismus schneller und heftiger als je zuvor. Neu ist er nicht und älter als der »Kleine Krieg« (spanisch »guerilla«) der Spanier gegen Napoleons Be-satzung im frühen 19. Jahrhundert, aus dem der Begriff stammt, den Clausewitz ausführlich erklärte. Das bedeu-tet weltpolitisch und nicht zuletzt in der westlichen Welt: Israel ist isolierter denn je. Unabhängig davon, dass der scheinbar Ewige Premier Netanjahu besonders unbeliebt ist. Aber auch ohne Netanjahu würde und müsste Israels konventionelle Armee gegen die als Guerilla agierende Hamas kämpfen. Das bedeutet: Mit und ohne Netanjahu steckt Israel in der politisch-psychologischen Falle des Anti-Guerilla-Krieges. Wie jeder konventionell militärisch unterlegene Akteur nutzt die Hamas die Guerillastrategie. Das bedeutet: Der Guerilla ist nicht als Kämpfer erkennbar. Er erscheint als Zivilist. Wird er getötet, gilt er als »getöteter Zivilist. Der Guerilla-Kämpfer kommt als »Zivilist« aus dem echten, eigenen Zivil und geht nach seiner Kampfaktion zurück ins eigene, echte Zivil. Oder aber: Der Guerilla-Kämpfer, hier als Teil der Hamas, schießt aus dem eigenen, ech-ten Zivil auf den feindlichen, hier Israelischen Soldaten. Schießt dieser zurück, dann sind alle Opfer Zivilisten. Die meisten sind es tatsächlich, die Kämpfer sind nicht von ihnen unterscheidbar. Politisch-psychologisch kann die konventionell kämpfende Partei einen solchen Krieg nur verlieren. Das vor allem erklärt die hochemotionale Kritik an Israel. Wie jeder konventionell militärisch unterlegene Akteur nutzt die Hamas die Guerillastrategie. Das bedeutet: Der Guerilla ist nicht als Kämpfer erkennbar. Er erscheint als Zivilist. Wird er getötet, gilt er als »getöteter Zivilist. Der Guerilla-Kämpfer kommt als »Zivilist« aus dem echten, eigenen Zivil und geht nach seiner Kampfaktion zurück ins eigene, echte Zivil. Oder aber: Der Guerilla-Kämpfer, hier als Teil der Hamas, schießt aus dem eigenen, ech-ten Zivil auf den feindlichen, hier Israelischen Soldaten. Schießt dieser zurück, dann sind alle Opfer Zivilisten. Die meisten sind es tatsächlich, die Kämpfer sind nicht von ihnen unterscheidbar. Politisch-psychologisch kann die konventionell kämpfende Partei einen solchen Krieg nur verlieren. Das vor allem erklärt die hochemotionale Kritik an Israel.Die weltweit gezeigten Bilder zeigen die Wirklichkeit, aber sie verdecken, wie bei jedem Guerillakrieg deren zwar zynische, doch der militärischen Situation geschul-dete Ursache. Diese ist: Der Guerilla plant das eigene Zi-vil von Anfang an als Opfer ein. Das eigene Zivil wird auf diese Weise »Waffe«. Man kann das, je nach politischem Standpunkt, »Programmierte Menschenopfer« nennen oder »Kanonenfutter« oder »Menschliche Schutzschilde«. Der zuletzt genannte Begriff ist üblich, verkennt jedoch die dahinter stehende Strategie. Man muss sie verstehen, um sie verhindern zu können. Doch wie kann, soll, darf, muss der konventionell Überlegene reagieren, wenn das eigene Zivil massiv von Guerillas angegriffen wird?
Der Krieg Hamas/Palästinenser – Israel ist welthistorisch weit mehr als ein regionaler (Dauer?)-Konflikt. Er wird in der nach- bzw. postkolonialen Welt als Kampf der einst Kolonisierten gegen die einstigen Kolonialherren geschil-dert und deshalb so wahrgenommen. Israel wird dabei als später oder letzter Kolonialist oder als Speerspitze, oder als Nachhut der Kolonialisten, wie andere es ausdrücken beschrieben. Das ist zwar historisch-faktisch falsch, doch Wahrnehmung wirkt mehr als Wirklichkeit. Kolonialismus gilt in der westlichen Welt – zurecht! –als absolut verwerflich. Wer hier gegen den einstigen Ko-lonialismus ist, verdammt folgerichtig und moralisch über-zeugend jeglichen, wenn oder wo bestehenden, faktischen oder kontrafaktisch unterstellten Kolonialismus. Moral in der Politik und Politikbewertung ist eine lobenswerte Ur-tugend. Doch Moral ohne Wissen führt selbst Moralisten in die Sackgasse. In diesem Buch versuche ich – nunmehr mit der 22. Auf- lage – Moral und Wissen miteinander zu verbinden. 22 Auf- lagen – ein schöner Erfolg. Auf der Mikroebene der Sach-literatur. Auf der nahost- und weltpolitischen Makroebene ist dieser Minierfolg maximal erfolglos. Deshalb gilt mei-ne Widmung mehr denn je.
München, 12. November 2024
Gut meinend, wenig wissend, stark wertend – so verlaufen die meisten Diskussionen über den israelisch-arabisch-palästinensischen Konflikt. Nicht nur in Deutschland findet man bei den Debatten an Stammtischen, bei Politikern, Journalisten und selbst an Universitäten kaum Unterschiede im Niveau der Argumentation. Jeder Konfliktpartner verfügt auch bei uns über treue Parteigänger. Der Kampf um die öffentliche Meinung tobt seit Jahren, und er wird weitergehen, unabhängig davon, ob und wie der seit 1993 sichtbare, mit dem Hebron-Abkommen von Netanjahu und Arafat im Januar 1997 bekräftigte Friedensprozeß weitergeht.
Gewarnt werden muß immer wieder vor den vermeintlichen oder auch den tatsächlichen Fachleuten. Ihre politische, parteiliche Botschaft verpacken sie wissenschaftlich. Sie liefern der jeweiligen Partei eher Beweismaterial für den eigenen Standpunkt als unabhängige und vollständige Informationen.
Der Begriff »Parteilichkeit« kommt vom lateinischen Wort »pars«, auf deutsch: der Teil. Ein Teil des Mosaiks ist nie das vollständige Bild. Vollständigkeit kann auch ich nicht bieten, aber wenigstens versuchen, Einseitigkeiten, also Parteilichkeit, zu vermeiden.
Um das vollständige Bild zu erhalten, müssen Vorurteile überwunden werden. Das ist für jede Seite schmerzlich, aber auch notwendig, wenn Kompromisse Konflikte dämpfen sollen. Für den Außenstehenden, der sich informieren möchte, ist es unerläßlich.
Wer auf einseitige Parteilichkeit und Eindeutigkeit in der Argumentation verzichtet, verwirrt scheinbar. Es sei hier zwar vermieden, die Dinge kompliziert darzustellen, trotzdem muß hier und dort der Geist scheinbar verwirrt werden, wenn das Geflecht der Vorurteile im Dienste der Information entwirrt und geklärt werden soll.
Information statt Agitation in der Sache zu bieten bedeutet, Mehrdeutigkeit an die Stelle parteilicher Einseitigkeit und Eindeutigkeit in der Bewertung zu setzen. Für manche ist das eine Provokation. Ich habe dieses Buch jedoch nicht für Parteigänger und Propagandisten geschrieben.
Daß die Schreibweise der hebräischen und arabischen Namen nicht den Regeln der Wissenschaft entspricht (es fehlen die üblichen Haken und Ösen, die das Lesen zur Tortur werden lassen), hat einen guten Grund: Ich möchte, daß das Buch lesbar wird.
Was bedeuten uns Namen? Sind sie Schall und Rauch? Sie sind es sicher nicht in Bezug auf Menschen oder auf Staaten und Städte. Indem wir Jerusalem oder Al-Quds sagen, entscheiden wir uns für die jüdisch-israelische oder für die arabisch-islamische Verknüpfung. Wir beschäftigen uns also nicht mit Namen- oder Wortspielen, sondern mit explosiver Politik.
Man denke an unsere eigene Geschichte: Die Deutschen nannten die Stadt Danzig, die Polen Gdansk. Aus Chemnitz machte die DDR Karl-Marx-Stadt, und das Ende der DDR war der Neubeginn für Chemnitz. Aus St. Petersburg wurde nach der Bolschewistischen Revolution Leningrad, und Leningrad erwachte 1991 wieder als St. Petersburg. Namen sind Inhalte, sind politisches Programm, sind Hinweise auf Sieger und Besiegte. Das gilt auch im Heiligen Land: Ist Israel das Land der Juden? Ist Palästina das Land der Palästinenser?
»Das Land« – auf diese knappe Formel brachten es die Juden am Ende der Epoche des Zweiten Tempels, also um die (christliche) Zeitenwende. Aber auch vorher findet man Hinweise auf »das Land«. Zum Beispiel im Dritten Buch Mose (Leviticus) 19,23: »Und wenn ihr in das Land kommt…« Oder: »Und Josua nahm das ganze Land ein…« (Josua 11,23). Aber es wurde hier eher als Abkürzung denn als Name benutzt. Damit sollte ausgedrückt werden, daß es viele Länder auf der Welt gibt, aber für Juden eben nur dieses eine, das »Land Israel«, auf hebräisch: »Eretz Israel«. Die verschiedenen Teile des Landes trugen auch vorher schon verschiedene Namen. Erst in jener Zeit sprach man von »dem Land«. Es knüpfte eine Einheit von Land, Volk und Religion: Israel, Juden, Judentum.
Zu Beginn, bei den Ägyptern, hieß es bis zum 14. beziehungsweise 13. Jahrhundert v. Chr. Retenu. Dazu gehörten auch das heutige Syrien und der Libanon. Dann nannten sie es Hurru – nach den Hurritern, die seit dem 17. Jahrhundert v. Chr. vor allem in Syrien lebten. Bis in das 3.Jahrhundert v. Chr. findet man in ptolemäischen Texten diese Bezeichnung.
Vom Ende des 14. bis in das 12. Jahrhundert v. Chr. sprachen die Ägypter von P-Knaana, also vom Land Kanaan. Nun endlich bewegen wir uns auf vertrauterem Boden, denn wir kennen diese Bezeichnung aus der Bibel. Dort ist damit im engeren Sinne das Land westlich des Jordans gemeint, im weiteren Sinne auch der westsyrische Bereich. Ein kanaanitischer Stamm waren die Amoriter, deshalb wurde ein Teil der Region »Land der Amoriter« genannt. Auf der Suche nach Juden oder Hebräern hören wir also zunächst von anderen Völkern und anderen Namen für bestimmte Landesteile.
Völker kommen und gehen. Die Hebräer kamen, und zu den Hebräern zählten unter anderem auch die Israeliten. »Denn gestohlen bin ich worden aus dem Land der Hebräer«, berichtet Joseph im Ersten Buch Mose (Genesis), 40,15.
Die vielbeschworene und ebenso umkämpfte Einheit von Land, Volk und Religion zeichnet sich mit der Landnahme durch die Israeliten erst spät ab. Vom Land der Kinder Israels ist im Buch Josua 11,22 die Rede. Hierhin führte Josua die Kinder Israels. Hier bekämpfte er die ansässigen Völker, ermordete und vertrieb sie allmählich. Die Tradition der gewaltsamen Landnahme durch die Juden begann.
Von »Eretz Israel«, vom Land Israel, lesen wir in 1. Samuel 13,19. Aber hier ist nur das Siedlungsgebiet der Kinder Israels gemeint, nicht das ganze Land. Saul, David und Salomo herrschten über das Königreich Israel, lesen wir in der Bibel. Aber die Forschung ist sich weitgehend darüber einig, daß die Bezeichnung »Land Israel« für die Zeit Davids nachträglich eingeführt wurde (1. Chronik 22,2 oder 2. Chronik 2,16).
Schon zu Zeiten König Davids ist sowohl von Israel als auch von Judäa die Rede. Beide kennzeichnen das von den Juden bewohnte Land. Allerdings werden auch schon im Buch Josua 11,21 sowohl Israel als auch Judäa genannt; Judäa allerdings nur als Gebirgslandschaft. Die Wissenschaft wertet dies als Vorgriff, denn erst nach dem Tod von König Salomo wurde das Reich in zwei Teile gespalten: eben in »Israel« und »Judäa«.
Es handelt sich also um keine babylonische, sondern um eine jüdisch-israelitische Sprachverwirrung. Sprachliche Begriffe sind ein Spiegel, nicht die Wirklichkeit selbst. Diese vielen Bezeichnungen und Namen spiegeln die Verwicklungen, den Kampf, die politisch und historisch unklaren oder ungeklärten Verhältnisse der Region. Angesichts der Mehrdeutigkeiten können nur Propagandisten behaupten, alles sei eindeutig.
Im Jahr 538 v. Chr. erlaubte der Perserkönig Kyros den Juden die Rückkehr ins Land, nach Judäa. Jetzt erst bilden die Wörter »Jude« und »Hebräer« eine Einheit. Judäa ist nun der Juden Land, und zwar der Juden, die nach Zion zurückgekehrt waren. Als Rückkehr nach Zion bezeichnen die Juden diese 538 v. Chr. einsetzende Rückwanderung in die Heimat.
Zion ist der Name für die alte Jebusiterstadt, die man heute als Jerusalem kennt. Selbst das scheinbar so exklusive, rein jüdisch-hebräische Wort »Zion« ist also eigentlich ein Fremdwort. Schon dieser zentrale Begriff jüdischer Religion und Staatlichkeit enthält die Spannung von Eigenem und Fremdem, Universalem und Partikularischem. Wenn die jüdischen Propheten von »Zion« sprachen, dann verstanden sie darunter Jerusalem als geistiges und religiöses Symbol. »Denn aus Zion wird die Thora kommen und Gottes Wort aus Jerusalem.« Erst in der Diaspora, außerhalb Israels, wurde Zion den Juden zugleich zum Symbol für ihr »Heiliges Land«.
Der im 19. Jahrhundert gegründete Zionismus war also die Nationalbewegung des jüdischen Volkes, das die Rückkehr in sein Land plante, oder, vorsichtiger ausgedrückt, in das Gebiet, das es als sein Land betrachtete. Doch wir eilen der Geschichte um Jahrtausende voraus.
Seit 538 v. Chr. war Judäa sozusagen ganz amtlich das autonome Gebiet der Juden in ihrer Heimat, aus der sie erstmals 722 v. Chr. von den Assyrern und dann 586 v. Chr. von den Babyloniern verschleppt worden waren. Im 2. Jahrhundert v. Chr. gelang es den Juden Judäas unter den Hasmonäern sogar, wieder einen eigenen Staat zu schaffen: das Königreich Judäa. Auch unter König Herodes blieb dieser Name erhalten. Dieses Judäa war wesentlich größer als das einstige Königreich gleichen Namens, das 586 v. Chr. zerstört worden war.
Schon zu Herodes’ Zeiten waren die Römer die eigentlichen Herrscher des Landes. Gegen dieses Joch erhoben sich die Juden. Ihr Aufstand war jedoch vergeblich. Sie verloren ihn im Jahr 70 n. Chr. und endgültig im Jahr 135. Verloren ging zur Strafe auch der Name. Der römische Kaiser Hadrian nannte das Land Syrien-Palästina. Bald hieß es nur noch Palästina, das Land der Philister. Und jeder, der sich an David und Goliath erinnert, wird wissen, daß der Riese ein Philister war.
Die von den Römern gewählte Symbolik erlaubte keinen Zweifel. Die Juden hatten ihr Recht auf dieses Land verwirkt – zumindest in den Augen Roms. Verwaltungsbezirke und einzelne Gebiete wurden diesem »Palästina« im Lauf der folgenden Jahrhunderte von Byzantinern, Arabern oder Osmanen das eine Mal abgezwackt, das andere Mal hinzugefügt. Aber Palästina blieb im Grunde unangetastet – bis zur Errichtung des Jüdischen Staates. Dieser besteht bekanntlich seit dem 14. Mai 1948 und heißt Israel.
Nicht ganz Palästina wurde Israel. Östlich des Jordans war 1921 durch einen Federstrich der Briten (Winston Churchill) das »Emirat Transjordanien« entstanden. Ab 1946 hieß es »Königreich Transjordanien«. Dieses Königreich verleibte sich im Dezember 1948 das Westjordanland und Ost-Jerusalem ein. Fortan hieß diese Verbindung von Ost- und Westjordland »Königreich Jordanien«. Außer Großbritannien und Pakistan erkannte kein anderer Staat diese Annexion an. Seit 1967 haben die Israelis Ost-Jerusalem und das Westjordanland besetzt. Der Gaza-Streifen fiel 1949 unter ägyptische Verwaltung; er war aber nie ein völkerrechtlicher Bestandteil Ägyptens. Auch der Gaza-Streifen wurde 1967 von den Israelis besetzt.
Der Name Israel steht heute für das 1948 entstandene Gebiet des Jüdischen Staates. Die Einverleibung Ost-Jerusalems wird von den Israelis als »Wiedervereinigung« bezeichnet; die Palästinenser (und die meisten Staaten dieser Welt) sprechen von »Annexion«. 1981 annektierte Israel zudem die 1967 eroberten Golan-Höhen. Auch hier sagte die Welt: nein.
Woher stammt der Name Heiliges Land? Für Juden und Christen ist er ein Ausdruck der Ehrerbietung und Liebe gegenüber dem Land. Er gehörte natürlich nie zur Amtssprache. Für die Juden bedeutet er in Verbindung mit der Symbolik von Zion, dem geistig-religiösen Zentrum der Juden, eine Steigerung der Bezeichnung »das Land«. Der Apostel Paulus spricht vom »Land der Verheißung«, das Abraham von Gott als »Erbteil« erhalten habe (Brief an die Hebräer 11,9).
Die Muslime verehren heilige Stätten in diesem Land, aber das Land in seiner Gesamtheit war für sie nicht das »Heilige Land«. Der Islam orientiert sich (wir erläutern es später) an Arabien und der arabischen Sprache. Der Islam zeigt sich ursprünglich »arabozentrisch«. Die Konzentration auf Palästina ist ein Ergebnis der Politik und aus der Sicht der Muslime verständlich, nachvollziehbar und berechtigt. Doch immer wieder gilt, daß Berechtigtes nicht automatisch richtig sein muß. Meistens ist es parteilich; es soll eher provozieren als informieren. Das gehört zum Ritual von Konflikten und sei damit den Konfliktparteien überlassen, nicht jedoch der folgenden Darstellung.
Wem gehört das Heilige Land? »Natürlich uns«, sagen Israelis und Juden. »Nein, selbstverständlich uns«, entgegnen Araber und Muslime. »Das Land gehört uns zwar nicht, aber auch uns ist es heilig. Wir wollen ebenfalls mitbestimmen, wer Zugang zu den heiligen Stätten erhält, und wie«, erklären Christen.
Sind das die Antworten von Frommen oder Frömmlern? Zweifellos geben sie auch die Überzeugung der Frommen wieder. Ansprüche, Sehnsüchte und Hoffnungen in bezug auf das Heilige Land können religiös motiviert werden – von Muslimen und Christen, vor allem aber von Juden. Die Verknüpfung von Volk, Religion und diesem Land als ihrem Land, ihrem »Heiligen Land«, ihrem von »Gott Gelobten Land«, ist bei den Juden am stärksten ausgeprägt.
Weder Muslime noch Christen behaupten, daß es ihr Land wäre. Es ist aber, ebenso zweifelsfrei, unauflöslich mit ihrer Heilsgeschichte verknüpft und daher auch ihnen heilig.
Wer religiös argumentiert, müßte religiös sein, ist es aber häufig nicht. Wahrlich, nicht der Fromme, sondern viele Frömmler argumentieren in bezug auf das Heilige Land religiös. Sie verkennen, daß jegliche Religion Menschenleben schützen, nicht jedoch vernichten will. »Du sollst nicht töten«, heißt es in den Zehn Geboten, deren Verbindlichkeit von Juden, Christen und Muslimen anerkannt wird. Wörtlich übersetzt lautet dieses fünfte Gebot: »Du sollst nicht morden.« Das hebräische Original ist also noch eindeutiger.
Der Mensch sei, lesen wir in der Bibel, das »Ebenbild Gottes«. Sollte dessen Ermordung ein religiöser Befreiungsakt sein? Vertreten diesen Glauben nicht letztlich nur solche Menschen, für die Gott tot ist? Im Originalton klingt es jedoch alles andere als säkular: »Diejenigen, die für die Befreiung Palästinas kämpfen, kommen direkt in den Himmel.« Ähnliche Parolen kennt man aus der Zeit der Kreuzzüge.
Es ist schon ein Kreuz mit den »Heiligen Kriegen« – von Christen, Muslimen oder jüdisch-israelischen Siedlungsfanatikern. Letztere bezeichnen sich zwar nicht als »Heilige Krieger«, aber von der Heiligkeit ihrer Mission sind sie ebenfalls durchdrungen. Daß dabei Gewehrkugeln Palästinenser verletzen und töten, nehmen sie in Kauf.
Schon hier stellen wir fest, daß wir Kompromisse ebenso wie starre Positionen religiös begründen können. Die Religion ist jedoch als politisches Instrument und Argument untauglich. Religion soll dem Leben eigentlich moralische Tiefe und Schärfe verleihen, nicht aber den Tod von Menschen durch Menschen auslösen. Tödliches Unheil braute sich jedoch in vielen Kriegen gerade um das Heilige Land zusammen. Manchmal scheint das Heilige Land der Mikrokosmos einer unheilvollen Welt zu sein.
Seltsam ist, daß immer mehr Menschen (auch) in der jüdischen, islamischen und christlichen Welt von der Religion nichts wissen wollen, aber ihren Anspruch auf das Heilige Land nicht zuletzt durch die Religion rechtfertigen. In Israel bezeichnen sich seit Jahrzehnten rund siebzig Prozent der jüdischen Einwohner als »nicht religiös«. Manche sind sogar militant antireligiös und fühlen sich von den extrem Religiösen (wörtlich!) »vergewaltigt«. Sie entkleiden das Judentum seiner religiösen Substanz. Die jüdische Religion ist für sie lediglich die Hülle des jüdischen Volkes. Die Verbindung zu »ihrem« Land zeigt sich für sie nur durch die Geschichte. Der jüdische Anspruch wird also historisiert.
Die arabisch-islamische Welt präsentiert hingegen immer heftiger ihr religiöses Empfinden. In der jüdisch-israelischen Gesellschaft schreitet die Säkularisierung (die Entfernung und Entfremdung von der Religion) ebenso wie in der christlichen voran, von orthodoxen (und auch immer militanter agierenden) Gruppen abgesehen.
Die säkularisierte jüdisch-israelische Seite entzieht sich dadurch selbst ihre Daseinsberechtigung. Sie steht wirklich nackt vor den Arabern. In dem Maße nämlich, wie das Volk der Bibel nicht mehr zur Bibel und ihren Geboten hält, verliert es den Anspruch auf das biblische Land, das Heilige Land, das ihnen Gelobte Land. Der jüdische Anspruch wird historisch, und wie alles Historische ist dann auch dieser Anspruch nicht mehr absolut, unangefochten und unanfechtbar, sondern relativ und höchst zweifelhaft. Die mehrheitlich säkularisierten, »modernen«, eher nichtreligiösen jüdischen Israelis müssen also einen Kurs zwischen fundamentalistischer Orthodoxie und totaler Verweltlichung steuern. Es ist ein Drahtseilakt zur Rechtfertigung der eigenen Ansprüche auf das Land.
Die Entfernung und Entfremdung von der Religion provoziert Gegenreaktionen. Fundamentalisten haben deshalb bei Juden, Muslimen und Christen Zulauf. Aber konnten sie die von ihnen gefürchtete Säkularisierung wirklich bremsen oder gar umkehren? Zweifel sind erlaubt. Die Säkularisierung geht unaufhaltsam weiter, zumindest im technisch-organisatorischen Bereich, weniger im geistig-kulturellen.
Vielleicht ist der religiöse Fundamentalismus lediglich eine offensive Spielart der Defensive. Wir haben vergleichbare Aktionen und Reaktionen in den vergangenen zweihundert Jahren sowohl in der jüdischen als auch in der islamischen und christlichen Welt mehrfach beobachten können. Die These von der offensiven Defensive mag so lange gelten, bis sie nicht eindeutig widerlegt ist.
Der Grund für den scheinbar unaufhaltsamen Vormarsch der religiösen Fundamentalisten ist in dem Versuch zu sehen, eine kulturelle (also auch religiöse) Eigenständigkeit wiederherzustellen oder zu erreichen. Eigenständigkeit wird angestrebt; in einer zunehmend standardisierten Welt. Dies ist ein altbekanntes Motiv in der jüdischen und islamischen Welt. Die jüdische Religion war wie der Islam von Anfang an auf Abgrenzung bedacht. Der Prophet Mohammed pflegte enge Kontakte zu Juden und Christen. Als Religionsstifter mußte er freilich auf (durchaus nicht unfreundlich gemeinte) Distanz zu ihnen gehen. Auch politische Gründe sprachen dafür. Das Christentum war zu seiner Zeit die Religion des Byzantinischen Reiches, das Judentum war durch sein Zentrum in Mesopotamien, in Babylonien, eng mit persischen Interessen verbunden. Der Islam trat sozusagen als Religion der Blockfreien auf.
Die heutige Welt wird zunehmend vom »Westen«, also von der europäisch-amerikanischen Zivilisation, geprägt. Es handelt sich dabei vornehmlich um eine materialistische und technologische Zivilisation – so erscheint es jedenfalls vielen islamischen, jüdischen und christlichen Fundamentalisten. Diese moderne, technische, »westliche« Zivilisation verunsichert und verwirrt viele Menschen. Sie fühlen sich geistig und seelisch bedroht und empfinden diese Zivilisation als Angriff auf ihre Kultur, zu der sie die Religion als untrennbaren Bestandteil zählen. Für sie ist die moderne Zivilisation ein kultureller Einheitsbrei, der einzugrenzen ist. Einer der von ihnen dagegen errichteten Dämme ist der Fundamentalismus.
Kultur betrifft das Sein, also das Wesentliche. Zivilisation regelt und organisiert das Dasein. Fundamentalisten leben in dieser Polarität von Sein und Dasein. Ihre Angst besteht darin, daß ihr Volk wie alle anderen werden könnte, um schließlich in der Masse aufzugehen. Die Vorstellung, »wie alle anderen Völker« zu sein, löst bei orthodoxen Juden eine Gänsehaut aus. Aber es sind eben nicht nur orthodoxe Juden, die sich gegen diese zivilisatorische Vereinheitlichung wehren. Einen »Krieg der Zivilisationen« (Samuel Huntington) und Kulturen braucht man deshalb nicht zu befürchten, aber der Zusammenprall (clash) ist offenkundig. Zu einem Zerbrechen (crash) kann, muß es aber nicht führen. Doch um im Bild zu bleiben: Einen Crash-Test haben beide Seiten zu befürchten, die westlich-moderne ebenso wie die nichtwestlich-fundamentalistische.
Der Mißerfolg fundamentalistischer Philosophie ist jedoch vorprogrammiert, weil die positiven Errungenschaften der Zivilisation offensichtlich sind. Diese Zivilisation erlaubt es durchaus, daß die Menschen ihre Kultur erhalten und auch weiterentwickeln. Zivilisation muß lediglich als das erkannt werden, was sie ist: als ein Instrument zur Daseinsregelung. Das Dasein bestimmt das Sein eben nicht oder nicht ausschließlich. Unterschiedliche Kulturen und eine einheitliche Zivilisation schließen einander keineswegs aus – wenn man zwischen beiden unterscheidet und beispielsweise die Einheit von Politik und Religion auflöst.
Viele entdecken, daß man die Vorzüge der Zivilisation übernehmen kann, ohne auf sein eigenständiges kulturelles Erbe zu verzichten. Die jüdische Neuorthodoxie (sie entstand im 19. Jahrhundert in Deutschland) hat dies ebenso erkannt wie neuorthodoxe Christen und Muslime.
Die Formel der jüdischen Neuorthodoxie lautet: »Thora im Derech Eretz.« Sinngemäß übersetzt: »Bibel und die weltlichen Dinge« – das heißt, das eine kann man tun, ohne das andere zu lassen. Ein strenggläubiger Jude trägt zum Beispiel sogar im Hochsommer den schwarzen Mantel, den großen, ebenfalls schwarzen Hut und natürlich Schläfenlocken. Er hält die religiösen Gesetze haargenau ein, verbindet also in seinem Alltag jüdische Kultur und Religion. Und gleichzeitig unterhält er ein High-Tech-Geschäft, das modernste Hardware und Software verkauft. Entscheidend in bezug auf diese Neuorthodoxie ist die Trennung des politischen und des religiösen Bereichs.
Als Beispiel aus der muslimischen Welt seien zwei Namen genannt. Es handelt sich allerdings um zwei militante Persönlichkeiten, die eben nicht die Trennung der Bereiche Politik und Religion vollzogen haben. Sie strebten eine Modernisierung der Religion an, um politisch und militärisch schlagkräftiger zu sein. Es sind die islamischen Modernisten des 19. Jahrhunderts: Gamaladdin Afghani (1839 bis 1897) und sein Schüler Muhammad Abduh (1849–1905). Sie funktionierten den Islam in eine antikolonialistische Ideologie um. Diese sollte »zur politischen Aktion gegen Europa« aufrufen (Bassam Tibi). Beide waren »Europa gegenüber nicht verschlossen; sie waren aber nur bereit, Elemente der bürgerlichen Zivilisation und Kultur zu übernehmen, sofern diese den Islam gegen Europa stärken könnten« (Bassam Tibi).
Zu den weniger militanten neuorthodoxen Vertretern könnte man den ersten Ministerpräsidenten Khomeinis, Bazargan, zählen. Er war ein überzeugter Muslim und zugleich ein Techniker, deshalb auch eher ein Pragmatiker, also kein wilder Ideologe. Aus diesem Grund blieb er nicht lange Khomeinis Ministerpräsident. Die Mischung aus Technokrat und Theokrat (Anhänger des Gottesstaates) personifizierte auch Abdelkader Hachani, der Chef der »Islamischen Heilsfront« in Algerien. Hachani ist Ölingenieur.
Es gibt diese Neuorthodoxen also auch in der islamischen Welt, wenngleich dort die Verweltlichung, zumindest die Trennung von Religion und Politik, nur unvollständig vollzogen wurde. Religion war und blieb hier ein Mittel zum politischen Zweck. In der jüdisch-israelischen Welt wurde sie dieses erst relativ spät.
Der Fundamentalismus ist ein Signal für die Krise der Zivilisation und ihres drohenden Zusammenbruchs. Der ursprünglich christlichen, zunehmend nichtreligiösen und dafür technologisch geprägten europäisch-amerikanischen Zivilisation stehen der jüdische und islamische Fundamentalismus gegenüber. Die Einsturzgefahr ist bei den Muslimen heute am größten, denn die religiösen Wälle sind bei den meisten Christen und Juden längst gebrochen. Letztere sind säkularisiert oder haben moderne Zivilisation und Kultur durch die Neuorthodoxie harmonisiert. Nur ihre Fundamentalisten wehren sich noch. Daß und wie sehr sie sich wehren, sehen wir an der Iranischen Revolution. Und wir erkennen es auch am mörderischen Widerstand der islamischen Fundamentalisten. Diese bekämpfen nicht nur (»nur«?) den jüdischen Staat, sondern auch eigene muslimische »Abweichler«. Letzteren wird vorgeworfen, dem Westen und Israel gegenüber weich geworden sowie vom »Pfad der Tugend« abgewichen zu sein.