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Michael Wolffsohn, der Meister der deutsch-jüdischen Geschichtsschreibung, erzählt die Historie der Juden von den Anfängen bis heute. Präzise, vielschichtig und spannend berichtet er von einem Volk und einer Religion, die Weltgeschichte und Weltkultur prägen. Er beleuchtet die Theologie ebenso wie die Geografie jüdischer Geschichte. Er stellt zentrale Persönlichkeiten vor und schreibt über jüdische Kultur und Wirtschaft sowie jüdisches Sozialleben – auch in der islamischen Welt. So entsteht eine Universalgeschichte des Judentums aus der Feder eines großen Kenners und Erzählers, die Schulweisheiten entkräftet und antisemitische Ideologien durch Fakten entlarvt. Michael Wolffsohns Ziel: unterhaltsam und fundiert neue Einsichten und Zusammenhänge vermitteln, Informationen statt Moralpredigten transportieren und alte Vorurteile unaufgeregt widerlegen. Eine allgemeinverständliche Einführung, die Lust auf mehr Wissen über Juden und Judentum macht.
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Seitenzahl: 573
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Michael Wolffsohn
Eine andere JüdischeWeltgeschichte
Paperbackausgabe 2023
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2022
Alle Rechte vorbehalten
www.herder.de
Umschlaggestaltung: Gestaltungssaal, Rohrdorf
Umschlagmotive: © Evikka/shutterstock
Grafiken: © Peter Palm
E-Book-Konvertierung: ZeroSoft, Timișoara
ISBN (Print): 978-3-451-39656-4
ISBN (EPUB): 978-3-451-82708-2
ISBN (PDF): 978-3-451-82711-2
I. Information statt Indoktrination: Ziel, Wunsch, Vorgehen
Schichten der Ge-schichte
Weltgeschichte und Klein-Klein
Jüdische Geschichte – auf den Punkt gebracht
II. „Die“ Juden: Namen und Benennungen
Exkurs: Anmerkungen zum Davidstern
III. Biologie: Volk, Nation, Religion, Schicksalsgemeinschaft, Identifikation?
IV. Geografie: Das Land Israel und die mehrfache Diaspora
Grundfaktum 1: Eine städtische Gesellschaft
Grundfaktum 2: Zwei Judentümer
Existenz auf Widerruf Nr. 1: Im Land (Eretz) Israel
Neu-Israel im Philisterland
Das jüdische Sandwich
Regionale Verflechtungen – Sintflut und andere nichtjüdische Quellen
Moses – Der jüdische Prophet, ein Ägypter
Sandwiches als Königreiche – Israel und Judäa
Nach Zion? Nur wenn’s brennt
„Sinat chinam“, grundloser Hass
Mobil, weil ohne immobiles Land
Gott, Herzl oder Hitler?
Das „portative Vaterland“
Der Rückweg nach Altneuland
Existenz auf Widerruf Nr. 2: Die mehrfache Diaspora
Deutschland als Muster – kein Sonderweg (bis 1933)
Juden im Orient
Ägypten
Mesopotamien (Iran, Irak)
Juden auf der Arabischen Halbinsel
Äthiopien
Adiabene
Chasaren/Kaukasus/Zentralasien
Osmanisches Reich
Byzanz-Griechenland
(Rest-)Balkan
Nordafrika
Die Bilanz jüdischer Geschichte im Orient: Besser als im Okzident, doch schlecht genug
Juden im Okzident
Italien
Spanien
Die Niederlande
England – Auch die Mutter passt ins Muster
Frankreich – mit Seitenblicken auf Deutschland
Habsburg/Österreich
Ungarn
Polen
Russland – Sowjetunion – Russland
Amerika
Südafrika – Australien (Indien – China)
V. Theologie und Religion in der jüdischen Geschichte
Tora und Talmud: Fundamente des Glaubens
Gottes Volk und Gottes Land – nicht „Blut und Boden“
Gestalt, Bild, Name: Gottesvorstellungen
Partikularismus versus Universalismus im Judentum
„Wie alle Völker“?
Speisegesetze
Beschneidung
Kippa
Enge und Weite
Innerjüdische Konflikte
Gottesgehorsam versus antiautoritäres Denken
Tod und Auferstehung – individuell und kollektiv
Hängt alles am Geld? Zur Ökonomie
VI. Recht, Macht, Gewalt – Klischees und Realitäten
„Auge um Auge, Zahn um Zahn“
Fremdenrecht – „Apartheid“ im Judentum?
Obrigkeiten – jüdische Doppelloyalität?
Krieg und Konflikte – Machtträume der Ohnmächtigen
VII. Leben, Lieben, „Muskeljuden“ – Körperlichkeit und Sex
VIII. Rückblicke und Ausblicke
Fluch und Segen des Antisemitismus
Identitätspolitische Tatsachen
Holocaust und Heilsgeschichte
Geschichte als Falle
Israel, Orthodoxie oder das jüdische Nichts
IX. Bedeutsame Juden – eine subjektive Skizze
Weiterführende Informationen
Enzyklopädien
Fernsehessays bzw. -dokumentationen
Klassiker
Zitierte und empfohlene Literatur
Über den Autor
„Jeder Jude trägt dreitausend Jahre Geschichte auf seinen Schultern“
(Rabbiner Tovia Ben Chorin, geboren 1936)
Eine Folge dieser Geschichte, bereits vor dem sechsmillionenfachen Judenmorden: Juden leiden häufiger als Nichtjuden unter mentalen Erkrankungen wie zum Beispiel Depressionen oder Paranoia. Das ergaben Forschungsergebnisse von Maurice Fishberg (1872–1934), jüdischer Arzt und Anthropologe, sein Hauptwerk: „The Jews. A Study of Race and Environment“, 1911.
„Die Religion ist mir egal, aber das Judentum werde ich nie verlassen. Das wäre Verrat an Millionen Opfern.“
(Kurt Guy Lachmann, 1906–1987; jüdisch-deutsch-französischer Widerstandskämpfer gegen NS-Deutschland; nachdem 90 Prozent der Saarländer 1935 für die Rückgliederung in Hitlers Deutsches Reich gestimmt hatten, verließ er 1935 seine Saar-Heimat und wurde 1937 Franzose; 1948–1957 Landespolizeipräsident des Saarlandes)
Diesen jüdischen, muslimischen sowie christlichen Brückenbauern gewidmet:
Rabbiner Tovia Ben Chorin und Rabbiner Tom Kucera
Ahmad Mansour und Bassam Tibi
Yavuz Yer, dem erfolgreich weichenstellenden Koordinator des Mikrokosmos „Gartenstadt Atlantic“, dem jüdisch-christlich-muslimischen Integrations- und Kultur-Leuchtturm im sozialen Brennpunkt Berlin-Gesundbrunnen.
Susanne Jahrreiss. Uneigennützig organisierte sie für den Mikrokosmos „Gartenstadt Atlantic“ diverse Drittmittel.
Pfarrer Klaus Günther Stahlschmidt und Thomas Brechenmacher
Diese Jüdische Weltgeschichte als „Juden in der Weltgeschichte“ will entspannt sein und nicht volkspädagogisch oder gar ritualisiert.
Wie kam es zur Gegenwart? Das ist die jeweilige Leitfrage der einzelnen Kapitel – selbst da, wo und wenn ich Sie, werte Leser (ich verwende den grammatikalischen Plural, also jegliche Pluralität), weit in die Vergangenheit führe und die Toten „toter als tot“ scheinen. Oft sind sie eben doch gegenwartswirksam. Mehr, als wir ahnen.
Dieses Buch will Informationen statt Moralpredigten liefern, mehr den Wald als Bäume oder Blätter beschreiben, also so kurz wie möglich sein – ohne Richtigkeit einzubüßen. Detailstudien gibt es genug. Auswählen ist daher unverzichtbar. Sicher werden manche die eine oder andere Maus, gar Elefanten vermissen. Wie jede Auswahl ist meine Auswahl subjektiv. Die jeweilige Begründung muss nachvollziehbar sein und ist damit anfechtbar oder zustimmungsfähig.
„Die“ Juden? Kein Kollektiv ist einheitlich, natürlich auch nicht das jüdische. Wenn überhaupt verallgemeinernde Aussagen inhaltlich, methodisch, zulässig sind, dann nur für die Makro-, eben die allgemeine Ebene. Auf der individuellen Mikroebene hat der Nominativ Plural nichts zu suchen. Das zeigt sich auch im Folgenden immer wieder.
Obwohl es der Versuch einer Gesamtschau ist, bietet dieses Buch durchaus auch neue Forschungsergebnisse, stellt Schul-„Weisheiten“ infrage und bietet weniger herkömmliche (sprich: versteinte) Ein- und Zuordnungen. Es soll eine allgemeinverständliche Einführung nicht nur für Historiker sein, die „Lust auf mehr“ Wissen über Juden und Judentum macht.
Aus meiner Sicht sollte die Betrachtung der Vergangenheit(en) nicht nur Selbstzweck sein, sondern Hilfen und Hinweise für die je eigene Gegenwart und Zukunft bieten. Es wird niemandem vorgeschrieben, das Gleiche zu denken oder zu fühlen wie der Autor. Das Selbstbestimmungsrecht wird selbstverständlich den Lesern (jedweden Geschlechts) überlassen. Die Leser sollen bereits anhand des Schriftbildes sehen können, wo und wenn ich über die objektivierbaren, also nachprüfbaren Fakten hinaus subjektive und also solche für jedermann erkennbare („intersubjektive“) Bewertungen und weiterführende Gedanken präsentiere. Bewertende Passagen und Gedanken sind deshalb durchgehend kursiv gesetzt.
Eilige Leser finden in den einleitenden Abschnitten der Kapitel die jeweiligen Themen und am Ende Zusammenfassungen. Die einzelnen Kapitel können durchaus unabhängig voneinander gelesen werden. Der Analyse- und Darstellungsansatz erschließt sich besonders aus den Abschnitten „Existenz auf Widerruf“ Nr. 1 und 2. Wer Happen Häppchen vorzieht, liest mehr oder alles.
Ge-schichte, schon der Begriff deutet es an, besteht aus mehreren Schichten: aus mehreren chronologisch-analytischen (also zeitlich aufeinander folgenden) Schichten einerseits sowie andererseits aus unterschiedlichen Bewertungen bzw. normativen Positionen. Es gefalle oder nicht, es kann nicht anders sein, denn – gottlob – die Menschen sind verschieden. Eine Einheitsbewertung würde, ebenso wie eine Einheitspartei, allen eine Bewertung oder Meinung überstülpen.
Mein Ziel: Information statt Indoktrination. Keine Gelehrtenschlacht um Details. Fakten- und Bewertungsschichten der jüdischen Geschichte seien in diesem Buch kurz, knapp und klar vorgestellt. „In der Kürze liegt die Würze.“ Wald und weniger Bäume oder gar Blätter.
Jüdische Geschichte war fast immer zugleich Weltgeschichte. Diese Formulierung könnte missverstanden werden. Als ob Juden, Judentum und Jüdisches Dreh- und Angelpunkt der Weltgeschichte wären. Wahrlich nicht. Jüdische Geschichte fand aber an so vielen Schauplätzen und Zeitpunkten dieser Welt statt und war auch für die nichtjüdische Welt, sagen wir, nicht ganz unbedeutend.
Manchmal durchdrang jüdische Geschichte der Mief des ganz Kleinen und Beengenden. Die jüdischen Lebenswelten riechen seit jeher einerseits nach der beklemmenden Enge des Schtetl und andererseits nach „der großen, weiten Welt“. Jüdische Kultur ist Weltkultur und nicht selten engstirnig, piefig, kleinkariert.
Ohne das kleinfeine Judentum kein Christentum, ohne Judentum plus Christentum kein Islam. Umgekehrt sind die Einflüsse der antiken Hochkulturen Mesopotamiens und Ägyptens sowie Griechenlands und Roms auf das Judentum nicht zu unterschätzen. Einige (freilich weniger) Berührungspunkte gab und gibt es mit den süd-, südost- und ostasiatischen sowie den subsaharischen Kulturräumen. Trotz jener Fast-Leerräume bleibt, wohlwollend betrachtet, genug Weltbedeutung des Judentums. Judenfeinde interpretieren genau dasselbe Faktum als „Jüdische Weltverschwörung“.
Abgesehen von der mehrheitlich polytheistischen Antike ist jüdische Geschichte zugleich die Geschichte von Juden, Christen und Muslimen – jüdisch-christlich-islamische Weltgeschichte. Eine Weltgeschichte, die auf die heutige Weltpolitik höchst explosiv und polarisierend wirkt. Wir werden diese Konflikte nüchtern analysieren und etwaige Legenden oder Fakten als solche benennen.
Das ist der dreischichtige Kern der jüdischen Geschichte. Er gilt über alle Epochen hinweg bis in die Gegenwart. Je nach Ort und Zeit wechselt der Einfluss des jeweiligen Faktors:
1. Das Spannungsfeld zwischen dem Land Israel und der Diaspora-Vielzahl.
2. Der innerjüdische Gegensatz zwischen Weltoffenheit (Universalismus) und – teils durchaus selbstgewählter – Abgeschlossenheit (Partikularismus). Dieser ideologische Gegensatz prägte seit jeher innerjüdische Krisen, Konflikte und Kriege mit Waffen oder Worten. In biblischen Zeiten den Konflikt Judäa versus Israel, den Bürgerkrieg zwischen Sadduzäern und Pharisäern im 1. Jahrhundert v. u. Z., den jüdischen Bürgerkrieg im „Jüdischen Krieg“ (Flavius Josephus) gegen Rom von 66 bis 70, den rabbinischen Bannstrahl gegen Philosophen wie Maimonides, Baruch Spinoza und Uriel da Costa, die „Jagdsaison“ der sozialistisch-zionistischen Hagana gegen die nationalistisch-bürgerliche Irgun-Miliz zur Jahreswende 1944/45, die Bombardierung des Irgun-Schiffs „Altalena“ durch Israels Armee im Juni 1948 oder die Polarisierung in Israel und der Diaspora bezogen auf Person und Programm der Ministerpräsidenten Rabin und Netanjahu.
Die talmudischen Weisen umschrieben vor knapp 2000 Jahren diesen innerjüdischen Hass mit dem hebräischen Begriff „sinat chinam“ („grundloser Hass“). Grundlos? Eine Wortwahl, die durch das Überbrücken der Abgründe den inneren Frieden ermöglichen oder sichern sollte. Dauerhafter Erfolg war diesem Bemühen nicht beschieden. Antisemiten glauben dennoch felsenfest an eine jüdische Einheitsfront.
Die zersetzende, zerstörerische Macht der innerjüdischen Konflikte ist die eine Seite. Die andere Seite ist: Diese Konflikte zwangen zum Nachdenken, Denken und Vordenken, ganz allgemein zu Wissen und Bildung. Sie waren somit – Wucht der Dialektik – kollektive und individuelle Überlebenshilfen. Als präventives Frühwarnsystem ebenso wie als reaktives Korrektiv.
3. Was ist Zeit und Raum übergreifend das Grundfaktum jüdischen Seins und Daseins, individuell ebenso wie kollektiv? Es ist eine „Existenz auf Widerruf“ (Georges-Arthur Goldschmidt), wobei der Widerruf von draußen in und auf die jüdische Welt ertönt. Dieses jüdische Seinsprinzip festzustellen, ist keine Hysterie, sondern Empirie. Schon vor Jahrhunderten wurde es zum Beispiel in der Haggada, der Quasi-Fibel zum häuslichen Pessachabend, formuliert. Kurz, knapp, klar, krass und illusionslos: „Nicht nur einmal hat man versucht, uns (Juden) zu vernichten. In jeder Generation wird es immer wieder versucht.“ Ja, jenes Faktum wird hier fiktional überdimensioniert, denn nicht überall oder in jeder Generation wurde und wird versucht, Juden zu vernichten, aber die diesbezügliche Empfindlichkeit, Achtsamkeit, Angst und Vorsicht von Juden ist keine von ihnen ausgehende Aktion, sondern Reaktion auf Realitäten. „Jeder Jude weiß von Kindheit an, dass sein Status nur auf Widerruf besteht, dass man ihn früher oder später jagen, verhöhnen, schlagen oder sogar töten kann. Und er weiß, dass das schon immer so war.“ (Georges-Arthur Goldschmidt, Als Freud das Meer sah, Zürich 1999, S. 155)
Wer Juden, individuell oder kollektiv, für neurotisch und paranoisch hält (es soll ja solche geben …), erinnere sich diagnostisch daran, dass diese Nervenkrankheit oder dieser Verfolgungswahn reaktiver „Wahnsinn“ ist. Therapeutisch kann dieser reaktive Wahn nur doppelgleisig behandelt werden: durch eine Therapie der Agierenden und Reagierenden, also der nichtjüdischen Agierenden und der jüdischen Reagierenden, jeweils individuell und kollektiv.
Sowohl Haggada als auch Goldschmidt beziehen sich auf die jüdische Diasporaexistenz. Seit 1948 gibt es eine geografische Alternative, die zugleich eine existenzielle ist: Israel. Anders als in knapp 2000 Jahren, zwischen 70 u. Z. (Zerstörung des Zweiten Tempels) und Israels Staatsgründung 1948, müssen Juden nicht mehr um ihr Da- und Dortsein betteln. Wenn da oder dort die Existenz von Juden widerrufen wird, benötigen sie nicht mehr die jederzeit widerrufbare Gnade auf Zeit von Seiten aufnahmebereiter Staaten. Anders als vor 1948 ist in Israel das Leben von Juden nicht nur im Sinne des nackten Überlebens gesichert. Ihre Lebensqualität in Israel kann sich durchaus mit der in Westeuropa oder den USA vergleichen.
Somit ist Antisemitismus erstmals seit knapp 2000 Jahren eher ein Problem für Nichtjuden, denn sie verlieren loyale, friedliche, einsatzfreudige, meist bestens ausgebildete sowie das jeweilige Gemeinwesen materiell und ideell bereichernde Bürger. Der Verlust der „Gastländer“ ist Israels Gewinn.
Doch in der bisherigen politischen Wirklichkeit ist jüdisches Sein und Dasein in Nahost eine Existenz auf Widerruf. Anders als in der Diaspora, aber eben letztlich auch auf Widerruf.
Nicht „Juden“, sondern „Söhne Israels“ oder, inhaltlich-grammatikalisch Männliches und Weibliches vereinend: „Volk Israel“ („Am Israel“). Das ist die ursprüngliche Selbstbezeichnung der Juden. „Juden“ – das ergab sich erst im Laufe der Geschichte, nämlich nach der Spaltung des von den biblischen Königen Saul, David und Salomon vereinigten Königsreiches in zwei Monarchien. „Israel“, das Königreich der zehn nach Stammvater Jakobs Söhnen benannten jüdischen Stämme, bestand seit 721 v. u. Z. nicht mehr. Die damalige Weltmacht Assyrien hatte den größeren der beiden jüdischen Ministaaten besiegt, zerstört und einen Großteil der jüdischen Bevölkerung ins mesopotamische Exil verschleppt. Danach gab es nur noch das Königreich Judäa. Es bestand aus den Stämmen Judas und Benjamin, ebenfalls nach Söhnen Jakobs benannt. Seine Einwohner waren „Jehudim“ (Judäer bzw. Juden). Sobald es ab 721 v. u. Z. keinen Staat „Israel“ mehr gab, waren alle, die in Judäa oder woanders als Nachfahren der zehn Stämme bzw. der zehn Söhne Jakobs/„Israels“ lebten und ihren EINEN Gott sowie die Tora (Fünf Bücher Moses) als „Gottes Wort“ verehrten, „Juden“. Auch diejenigen, die im religiösen Sinne Juden wurden. Das gab es in der Antike häufig, wenngleich oft zu hören ist: „Juden betrieben und betreiben keine Missionierung.“ Bis zum frühen 4. Jahrhundert ist diese Aussage falsch. Dann erließ der römische Kaiser Konstantin ein Missionierungsverbot für Juden. Seitdem stand nichtjüdische Macht gegen jüdische Ohnmacht, die ihrerseits in der folgenden jüdischen Tradition rationalisiert, quasi kanonisiert und überhöht wurde, indem Konversionswillige (in der jüdischen Orthodoxie noch heute) durch hohe, exklusive Beitrittshindernisse sozusagen abgeschreckt werden sollten.
Dieser Kunstgriff verwandelte ideologisch-theologisch die eigene Ohnmacht zu Exklusivität. So wurde die bittere Pille, eigene Schwäche, versüßt. Das seit Mitte des 19. Jahrhunderts bestehende liberale Judentum hat die Beitrittshürden weitgehend aufgehoben. Unabhängig von jeglicher Bewertung hebt diese Praxis den Volkscharakter bzw. die Abstammungsgemeinschaft der Juden auf. Das Judentum wird so von einer (für deutsche Ohren unerträglich) „Volksgemeinschaft“ zur Religionsgemeinschaft, also Konfession. So weit die statische, rein formale Sichtweise.
Weil Wirklichkeit meistens dynamisch ist, kann keineswegs aus der Konfessionalisierung des Judentums eine spätere, modifizierte und dauerhafte abstammungsbezogene „Eingemeindung“ ausgeschlossen werden. Auch dieses Faktum um- und beschreibt das Alte Testament durch eine Geschichte. Im Buch Ruth ist sie zu finden. Ruth ist darin eine Nichtjüdin, die das Schicksal ihrer jüdischen Schwiegermutter teilt, einen Juden heiratet und damit Großmutter von König David wird. Aus seinem „Haus“ komme der Messias, besagt die jüdische (und christliche) Tradition. Die beschriebene Liberalisierung der Judaisierung im liberalen Judentum entspricht trotz orthodoxer Verneinung also durchaus dem biblischen Geist. Gleiches gilt für die beiden nichtjüdischen Ehefrauen Moses’. Die eine Midjaniterin, die andere „Kuschit“.
Das Reich „Kusch“ existierte zwischen 700 und 300 v. u. Z. südlich von Ägypten, also genau in der Zeit, zu der der größte Teil der Hebräischen Bibel schriftlich fixiert wurde, nämlich zwischen 500 und 300 v. u. Z. Kusch war sozusagen die Brücke zwischen der Kultur und Religion Ägyptens im Norden und der ostafrikanischen-nordsudanesischen südlich Ägyptens. Diese geografisch-kulturell-religiöse „Mischung“ kennzeichnet die Hebräische Bibel ganz und damit die jüdische Frühgeschichte ganz allgemein. Wer die Bibel so liest, versteht, dass hier ganz offen auf religiöses Monopol und damit auch auf Auserwähltheit oder Überlegenheit gegenüber anderen Völkern verzichtet wird – allen gegenteiligen Formulierungen bzw. Ansprüchen jüdischer Auserwähltheit zum Trotz. Vorsichtiger formuliert und später auszuführen: Zwei Dimensionen kennzeichnen das Judentum: die partikularistisch-monopolistische einerseits sowie die universalistisch-pluralistische andererseits.
In der jüdischen Tradition ist Moses nicht irgendwer, sondern „der“ Prophet und (wieder so ein Schreckenswort) „Führer“ schlechthin. Verwiesen sei auch auf Osnat, die ägyptische Gattin von Jakobs Lieblingssohn Josef.
Daraus folgt (ketzerisch?): Sowohl die beiden Söhne von Josef (Efrajim und Menasse) als auch Gerschom und Elieser, die zwei Söhne des Mythos Moses, waren hilachisch (= dem jüdischen Religionsgesetz gemäß) keine Juden. Die Halacha bestimmt nämlich: Jude ist, wessen Mutter Jüdin ist. Das hört sich ketzerisch an, ist es aber nicht wirklich, denn die Halacha (das jüdische Religionsgesetz) wurde erst lange nach der Festlegung des alttestamentlichen Textes fixiert.
Was nun? Was gilt? Wir stoßen auf ein Kennzeichen vieler Religionen, nicht nur des Judentums: Viele scheinbar eindeutige, unumstößliche Bestimmungen sind oft mehrdeutig und alles andere als unumstößlich. So wurden biblische Bestimmungen oder Aussagen von den späteren Rabbinern scheinbar mir nichts, dir nichts oft vom Kopf auf die Füße gestellt oder umgekehrt.
Daraus folgt: Das Judentum war und ist sowohl eine Abstammungs- beziehungsweise (Entschuldigung) „Volksgemeinschaft“ als auch eine Konfession. Nebenbei: Auch Sprache ist mehrschichtig. Das dokumentieren die hier entschuldigend gebrauchten, zur treffenden Beschreibung aber nahezu unvermeidlichen, doch NS-vergifteten Begriffe wie „Führer“ oder „Volksgemeinschaft“.
Judas wäre, aus biblisch ideologischen Gründen, wohl nicht die erste Wahl für die Benennung der Gesamtheit der Gemeinschaft gewesen, denn auch und zuerst in der Hebräischen Bibel (Altes Testament) ist Judas nicht gerade bestens beleumundet. Man lese dazu in Genesis 38. Judas war der vierte Sohn von Stammvater Jakob, und seine Mutter Lea war, im Vergleich zu Stammmutter Rachel, die von Jakob weniger geliebte zweite Hauptfrau. Trotzdem atmete Lea auf: „Ich will dem Herren danken.“ Aus den hebräischen „Wurzelbuchstaben“ für Gott sowie Dank entstand der Name „Judas“.
Eine im Namen der Gemeinschaft enthaltene, zugleich ähnliche und abgrenzende Gedankenbrücke finden wir auch im Christentum. Sie führt ebenfalls zu Gott. Aber anders – nicht zu Gottvater, sondern zum Sohn. Diese beiden sind im Christentum Teil der einheitlichen Dreiheit aus Vater, Sohn und Heiligem Geist („Trinität“ bzw. „Heilige Dreieinigkeit“). Ähnlichkeiten zwischen und Abgrenzungen von Judentum und Christentum werden wir häufiger begegnen. Diese Gedankenbrücke finden wir auch im Buddhismus, nicht aber im Islam, der eben kein „Allahismus“ ist. Angehörige des Islam, Muslime, sind diejenigen, die sich (Gott) unterwerfen.
Der Großteil des Alten Testaments wurde zwischen 500 und 300 v. u. Z. verfasst. Das ist die Epoche jüdischer Autonomie bzw. Quasi-Staatlichkeit in der alten Heimat Judäa. Gewährt wurde sie den Juden im Perserreich und in der Ära des Hellenismus. Die alttestamentliche Judas-Überlieferung erzählt die dazu passende Geschichte, die, wie das Alte Testament überhaupt, nie beanspruchte, Geschichte zu sein, sondern eben Geschichten, die beschreiben, nicht dokumentieren sollten, „wie es dazu kam“. Woher also, trotz der „Startnachteile“ (besonders Genesis 38), die herausragende Bedeutung von Judas für „die“ Juden? Weil Judas trotz aller Makel auch positive Züge aufwies: Josef, Jakobs Lieblingssohn, war seinen eifersüchtigen Brüdern verhasst. Sie wollten ihn töten. Das verhinderte Judas. Er schlug vor, Josef nicht zu ermorden, sondern ihn zu verkaufen. Gesagt, getan. Auch nicht gerade fein, aber doch Josefs Leben rettend.
Dieser bewussten dialektischen Ethik begegnet man in der Hebräischen Bibel sowie in der gesamten jüdischen Tradition immer wieder. Sie als Beliebigkeit zu bezeichnen, wäre völlig verfehlt. Vielmehr soll signalisiert werden, dass ein und derselbe Mensch oder Sachverhalt nicht eindimensional, sondern mehrdimensional betrachtet und bewertet werden muss. Wie bei jeder guten Literatur. Diese Erzählweise ist zugleich Denkmethode.
Angesichts jener Judas-Dialektik überrascht die Tatsache, dass sowohl in der jüdischen als auch christlichen Tradition der Messias aus dem Hause Davids kam (christlich) oder kommen soll (jüdisch). Eine zweite, scheinketzerische Schlussfolgerung: Auch diese Doppelbödigkeit der Judas-Erzählung verbindet Juden und Christen gleichermaßen. Vielleicht sehen es die Mehrheiten beider Seiten eines Tages ein.
Fazit: Vom frühen 8. Jahrhundert v. u. Z. bis zur ersten Hälfe des 19. Jahrhunderts nennen sich Juden „Juden“ und werden auch von außen so genannt. Die zur Zeitenwende beginnende rabbinische Literatur spricht dagegen meist von „Israel“. Die Außenwelt nahm „Juden“ meist negativ wahr. Um diesem „Makel“ zu entkommen, nennen sich deshalb seit dem 19. Jahrhundert assimilationseifrige Juden „Israeliten“. Die Flucht aus der traditionellen Bezeichnung führte spätestens seit 1948 (Gründung des Staats Israel) in die politische und identifikatorische Sackgasse. Kaum jemand will oder kann zwischen Juden und Israel unterscheiden.
Einer ähnlichen Doppelbödigkeit wie bei Judas begegnen wir bei der Sammelbezeichnung „Israel“ bzw. „Volk Israel“, „Söhne Israels“.
Israel war der Name, den Jakob nach seinem sogenannten „Kampf mit dem Engel“ erhielt. Der hebräische Urtext legt nahe, dass dieser (falsch übersetzte) Engel Gott „höchstpersönlich“ war. Der körperliche Kampf zwischen Gott und Jakob endete unentschieden. Jakob war also ein „Gottesstreiter“, hebräisch: „Israel“, und diesen Namen gab er sich nicht selbst. Er wurde ihm von Gott verliehen. ER war die entscheidende „Instanz“.
Bibelsprache ist Bildersprache. Worte und Erzählungen sind als Bilder, als Chiffren, als Symbole zu verstehen. Das Bild führt vom Äußeren zum inneren Kern. Dieser wäre hier so zu beschreiben: Der Mensch (nicht nur Jakob und das Volk Israel) nimmt es mit Gott körperlich und (!) geistig auf. Gott wird als höchste Macht anerkannt und gleichzeitig infrage gestellt und, wörtlich, bekämpft. Ein (positiv) provokativer Akt der Autoemanzipation (Selbstbefreiung) des Menschen von Gott. Die andere Seite (dialektische Ethik oder, besser: dialektische Theologie): trotz oder wegen dieser Autoemanzipation demütige Unterwerfung vor Gott.
Dieser Kernaussage (in erzählten Bildern) begegnen wir an zahlreichen Stellen der Hebräischen Bibel. Beispiel eins: Vor der Zerstörung Sodoms und Gomorrhas feilscht Stammvater Abraham mit Gott um und für jeden Gerechten in jenen Sündenpfuhlen. Beispiel zwei: Hiobs Klagen wider Gott. Am Ende seines irdischen Daseins knüpft auch der gekreuzigte Jesus an diese jüdische Tradition an: „Mein Gott, warum hast Du mich verlassen (bzw. geopfert)?“ Er war als Jude geboren und gestorben.
Kernaussage zwei betraf die nahezu blinde, unterwürfige Akzeptanz göttlicher Autorität: Derselbe Abraham, der mit Gott geradezu aufrührerisch feilschte, unterwarf sich ihm blind. Erinnert sei an die Opferung Isaaks. Der zuvor so widerspenstige Abraham war bereit, wenngleich widerwillig, so doch widerspruchslos Gottes Befehl auszuführen.
Diese Zweidimensionalität des jüdischen Gottesverständnisses hat die Orthodoxie inzwischen auf Gehorsam einfordernde, nur das Äußere der traditionellen Bildsprache erkennende, benennende und bekennende Eindimensionalität schrumpfen lassen.
Religionsgeschichte erzählt religiös gefärbte Geschichten. Sie ist keine Geschichte im wissenschaftlichen Sinne, also nicht historisch. Religionsgeschichtlich war nicht Jakob der erste Stammvater der Juden, sondern Abraham. Dass die Juden „Am Israel“ bzw. „Volk Israel“/„Söhne Israels“/„Israeliten“ wurden und nicht „Volk Abraham“ oder Abrahamiten, ist leicht zu erklären. Antike Gesellschaften waren Stammesgesellschaften. Die jüdischen Stammesnamen wurden auf den biblisch-mythologischen Jakob zurückgeführt. Der hatte zwölf Söhne (auch Töchter, doch Töchternamen wurden damals leider nicht gewählt …). Der mythisch-biblische Abraham hatte nur einen standesgemäßen Sohn: Isaak. Dieser hatte zwei Söhne: Esau und Jakob. Ein Name reichte nicht für zwölf Stämme, und so wurde der Vater der zwölf „Söhne“ Stammvater, also Jakob bzw. Israel.
Selten werden Juden sowohl intern als auch von Außenstehenden „Hebräer“ genannt. „Ich bin ein Hebräer“. Dieser Satz des Propheten Jona (Jona 1,9) dürfte die bekannteste Selbstbezeichnung eines Juden als Jude sein. Bevor Abraham in der Bibel (Genesis 14,13) als Stammvater des Volkes Israel präsentiert wird, ist er „Hebräer“, und Jakobs Sohn Josef wird von „den“ Ägyptern als „Hebräer“ wahrgenommen (Genesis 39,14; 41,12).
Über Ursprung und Erstbedeutung des Wortes „Hebräer“ sind sich die Gelehrten uneinig. Mir leuchtet die Hinführung auf die Wurzelbuchstaben ajin, beth, reisch mit der Verb-Bedeutung „überqueren“ am ehesten ein, denn auf seinem (biblischen) Weg aus dem Zweistromland ins „Gelobte Land“ überquerte der legendäre Stammvater Abraham den Euphrat.
Der frühe Kirchenlehrer Origenes (184–253), ein frühchristlicher und strammer Gegner der Juden, unterschied zwei Juden-Kategorien. Solche, die ihm bei der sprachlichen Auslegung der Bibel halfen, nannte er „Hebräer“. Die Übrigen betrachtete er schlicht als Gegner. Das waren „die Juden“.
Die Benennung von Juden als „mosaisch“ verweist wie die Bezeichnung von Muslimen als „Mohammedaner“ auf die Personen, Moses und Mohammed. Sie entstammen dem jeweiligen Mythos, dem fiktional, also ohne geschichtswissenschaftliche Beweise, Geschichtlichkeit unterstellt wird. Weder Mohammed als Begründer und Prophet des Islam noch Moses wird in der jeweils Heiligen Schrift (Koran, Altes Testament) Gotteseigenschaft zugesprochen. Krasser: Wie Aussatz werden dabei die Begriffe „Juden“ oder „Muslime“ durch Personalisierung umschifft. Zugleich reduziert diese Personalisierung auf Moses oder Mohammed beide Religionen zu entgöttlichten Konfessionen, weil beide Bezeichnungen nicht auf Gott verweisen, sondern auf vom Mythos überlieferte Menschen. Zum einen auf Moses (der keine historische Persönlichkeit war, sondern Chiffre ist), zum anderen auf Mohammed (für dessen historische Authentizität es keinen einzigen zeitgenössischen Beleg, sondern nur Zeugnisse gibt, die viel später entstanden). Personalisierung – Konfessionalisierung – Entkernung bzw. Entgöttlichung. Das ist, bezogen auf Mosaische und Mohammedaner, die entweder von innen oder außen politisch gewollte Gedankenkette.
Die Schulweisheit verbreitet die Legende, der „Davidstern“ wäre „das“ Symbol des Judentums. Tatsache ist – und in Gershom Scholems „Der Davidstern“ nachzulesen: Der Davidstern war keine Erfindung des legendären, biblischen Judenkönigs. In zahlreichen anderen Kulturen findet man dieses Symbol zu verschiedenen Zeiten quasi als ein gegen „Böse Geister“ gerichtetes und vor ihnen schützendes Zeichen. Die Ursprünge (Plural!) sind also interkulturell und ur-„heidnisch“. (Der vermeintlich „Islamische Halbmond“ übrigens auch, und das „Christenkreuz“ war ursprünglich bekanntlich alles andere als christenfreundlich oder selbstgewählt.)
Im Laufe des 19. Jahrhunderts erhielten Westeuropas Juden erstmals rechtliche Gleichstellung. Die liberalen passten sich auch kulturell sowie religiös an und wollten „wie die Christen“ ein eigenes Symbol. Dabei verfielen sie auf den „Davidstern“, samt der Legende vom davidischen Ursprung. Hier Kreuz, dort Davidstern. Vereinfacht könnte man sagen: Wo und wenn man bei Juden im 19. und frühen 20. Jahrhundert auf dieses „Judensymbol“ stieß, befand man sich im eher liberaljüdischen Milieu. Anschauungsunterricht bieten unter anderem in jener Epoche aufgestellte Grabsteine mit oder ohne Davidstern auf jüdischen Friedhöfen. Auch der Gründer des Zionismus, der assimilierte und liberale Jude Theodor Herzl, bediente sich des Davidsterns und machte dieses in seinen Kreisen „typisch jüdische“ Symbol zum Zeichen der jüdischen Nationalbewegung. So viel zum zwar reaktiven, doch positiv selbstbestimmten Ursprung des heute „typisch jüdischen“ Symbols. Den negativ fremdbestimmten Ursprung kennt und nennt heute jedermann: den „Judenstern“, den die deutschen Nationalsozialisten aufzwangen, bevor sie die Juden sechsmillionenfach ermordeten.
In der Mitte der Staatsflagge des neuen Jüdischen Staates, Israel, prangt der Davidstern. Als Zeichen zionistischer Kontinuität und der Pietät gegenüber den sechs Millionen. Sozusagen als Zeichen gesamtjüdischer Auferstehung. Erst Ermordung, dann Auferstehung. Grundgedanke und Grundgefühl des typisch jüdischen Davidsterns und des typisch christlichen Kreuzes ähneln einander weit mehr als allgemein wahrgenommen.
„Jüdische Gene“. Wer davon in Deutschland spricht, gerät schnellstens in Verdacht, „Nazi“, „Rassist“ oder „nur“ Reaktionär zu sein, und muss mit Karrierekonsequenzen sowie gesellschaftlicher Ächtung rechnen. „Rasse“, dieser Begriff ist – zu Recht! – auch außerhalb Deutschlands verpönt bis tabuisiert. Aber „Rassismus ohne Rasse“? Ich kontaktierte mehrere deutsche Humangenetiker und fragte sie, ob es methodisch möglich sei, eine „genetische Geschichte der Juden“ zu entwickeln. Bezeichnend war diese Antwort eines namhaften Paläogenetikers: Begriffe wie „Jude“ seien „nicht genetisch zu definieren, … da sie religiöse bzw. kulturelle Kategorien sind“. Grob gerechnet trifft diese Aussage lediglich für die letzten 200 Jahre in Europa und Nordamerika zu, seit der rechtlichen Gleichstellung sowie der Säkularisierung, also der beidseits relativ (!) freien, alltäglichen Möglichkeit von Verbindungen (und Paarungen) zwischen Juden und Nichtjuden. Dass knapp 3000 Jahre mal freiwilliger und mal unfreiwilliger Abkapselung keine genetischen Spuren hinterlassen haben sollten, scheint höchst unwahrscheinlich. Die historisch-politische Empfindsamkeit ist nach den NS-Urverbrechen an der vermeintlichen „Jüdischen Rasse“ berechtigt. Dass Deutsche, vor allem genetische Laien (zu denen Historiker zählen, also auch ich), dieses heiße Eisen eher nicht anfassen, ist nachvollziehbar. Dennoch Entwarnung.
Das wie auch immer temperierte Eisen wird angepackt. Sogar in Deutschland, beispielsweise im Leipziger Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie und dort in der Abteilung für Archäogenetik, das 2020 eine (für mich) bemerkenswerte 6000-jährige genetische Geschichte der östlichen Steppe Eurasiens veröffentlichte. Besonders anregend ist das Buch des Abteilungschefs Johannes Krause mit Thomas Trappe „Die Reise unserer Gene. Eine Geschichte über uns und unsere Vorfahren“ (2019). Konkret erforscht er lang Zurückliegendes, also tagespolitisch Risikoloses, „z. B. das Erbgut des Neandertalers, des Denisova-Menschen oder auch uralter Krankheitserreger“, wie mir in seinem Auftrag im Februar 2021 mitgeteilt wurde. Trotzdem wagt Johannes Krause in der lesenswerten „Reise unserer Gene“ den Sprung von den Neandertalern zu den heutigen Juden: Zwar sei die „Idee“ jüdischer Gene „heute längst widerlegt“, obwohl „immer noch weitverbreitet“, aber eine von „der nichtjüdischen Bevölkerung unterscheidbare genetische Signatur“ und einen besonderen „Genmix“ bestreitet auch er nicht (S. 249 f.). Bewirkt hätten das die, wie er schreibt, „strengen Heiratstraditionen“ der Juden. Diese „trugen dazu bei, dass jüdische Menschen über Jahrhunderte vor allem mit Menschen ihres Glaubens Kinder zeugten“ (S. 249). Im Klartext: Die Juden hätten sich im Laufe der Geschichte selbst von Nichtjuden abgekapselt. Diese Aussage ist nur scheinbar judenunfreundlich, denn Krauses Buch ist politisch skrupulös korrekt. Doch politisch korrekt bedeutet nicht unbedingt auch sachlich korrekt. Krauses Schlussfolgerung ist bei allem Respekt vor diesem Fachmann falsch oder, vorsichtiger: sie übergeht die jahrhundertelange Tradition der Diskrimination der Juden seitens der nichtjüdischen Welt. Diese verhinderte weitgehend jegliche Kohabitation ebenso wie, erst recht, Kopulation.
Auch das Jenaer Max-Planck-Institut für Menschheitsgeschichte sei mit seinem Komoren-Genomprojekt genannt. Doch auch hier gilt: Sicher ist sicher. Deshalb setzten die Jenaer Wissenschaftler im Juli 2020 ein „Statement gegen Rassismus“ auf ihre Website. Die Leipziger Kollegen um und mit Johannes Krause bieten auf ihrer Homepage ein „Ethics“-Fenster mit einem „Assessment and Reflection on the Ethical Dimensions of Archaeogenetics Research“. Die Diskussionen hierüber begannen im Dezember 2018, liest man. Anlass dürften die fremdenfeindlichen Demonstrationen vom August 2018 in Chemnitz gewesen sein. War man sich vorher der Fallstricke nicht bewusst? Trotz der Seriosität jener Ausführungen wirkt (auf mich) eine solche Zur-Schau-Stellung von „Ich-bin-in-Ordnung“-Bekundungen eher peinlich und erinnert mich an „Ich bin kein Antisemit, wirklich“. Weniger wäre mehr. So erkennen wir einmal mehr, dass und wie sehr immer noch so mancher Deutsche (und nicht nur der oder die), selbst die Gebildetsten, ihrer individuellen oder kollektiven Ethik misstrauen. Verkrampfungen allenthalben. Erlöster müssten sie mir scheinen. Auch das ein Beitrag zur nationalen und globalen Vergangenheit und Gegenwart der Juden.
An das Thema „der“ Juden wagt sich die deutsche Archäogenetik, abgesehen von nicht einmal fehlerfreien Häppchen-Aussagen, (noch?) nicht. Längst widmen sich vorurteilsfreie und wenig(er) politisch-ängstliche jüdische Wissenschaftler diesem Thema. Ihre historischen, ganz und gar unideologischen Erkenntnisse sind dabei eher ein Nebenprodukt. Ihr Hauptaugenmerk ist die Medizin. Verwiesen sei besonders auf Harry Ostrer (Legacy, bes. S. 143–155). Seine Forschung basiert auf Maurice Fishbergs „The Jews. A Study of Race and Environment“ (New York 1911). Geboren 1872 in Russland kam Fishberg 1889 in die USA, wo er Mediziner und Anthropologe wurde. Auch an israelischen und amerikanischen Hochschulen wird intensiv zum Thema geforscht, ebenso in Island (vgl. Dan Even, Haaretz, 7.8.2012; auch Thomas Thiel, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.9.2021; Rudolf Hermann, Neue Zürcher Zeitung, 16.11.2021). Ostrer ist Medizingenetiker und Professor für Pathologie und Genetik am Albert Einstein College für Medizin der neoorthodox-jüdischen Yeshiva University in New York City. Koscherer geht’s nicht. Dass deutsche Genetiker das heiße Eisen der Archäogenetik nicht anpacken, wundert ihn nicht. Er schrieb mir: „ I am not surprised that most German geneticists would be hesitant about the population genetics of Jews given the sad 20th century history of race science.“ Sehr nobel, aber freie Wissenschaft und Scheuklappen schließen einander eigentlich aus. Es wird Zeit, dass diese Maxime auch in Deutschland allgemein gilt, wenngleich man bei manchen deutschen Historikern neuerdings den Eindruck gewinnt, es gelte die Maxime „Mehr Antisemitismus wagen“. Für Wolfgang Reinhard ist der Holocaust eine „zufällige Häufung tragischer Einzelschicksale“, die Erinnerung daran „jüdischer Art“ (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.1.2021).
Am Anfang von Fishberg, Ostrer und Fachkollegen stand, versteht sich, nicht die Frage: Hatte der Rassenwahn der Nazis etwa doch eine rationale, berechtigte Basis? Vielmehr war das die Leitfrage: Kann die Genetik etwas beitragen, um bestimmte Krankheiten zu bekämpfen, die in der Gruppe ABC – hier Juden – häufiger als sonst vorkommen? Die Antwort(en) setzt bzw. setzen natürlich die Kenntnis einer, sofern vorhanden, Gruppengenetik voraus. Ob man die jeweilige Gruppe „Rasse“ oder anders nennt, ist zweitrangig. Erstrangig muss das Ziel sein: Menschen zu helfen. Die NS-Rassenkunde war menschenfeindlich und in ihrer Wirkung mörderisch. Sie erfand vermeintlich über- und unterlegene „Rassen“, die medizinische Genetik ist menschenfreundlich und therapeutisch ausgerichtet. Ihrer Erkenntnisse kann und sollte sich die Geschichtswissenschaft bedenkenlos bedienen, wo und sofern sie ihrer bedarf. Interdisziplinarität statt Scheuklappen und Ideologien (vgl. Murray, Human Diversity, Position 2687).
Ostrer und Kollegen teilen die gesamte Judenheit in ihren auf DNA-Analysen fußenden Ergebnissen in vier Großgruppen ein: 1.) Orientalische Juden, das sind Juden mit Vorfahren aus dem Land Israel/Judäa, Palästina, Iran, Irak, Arabische Halbinsel, Zentralasien. Der zwangsweise Exodus ihrer Vorfahren fand vor allem seit 721 v. u. Z. nach Assyrien und 586 v. u. Z. nach Babylon statt. Bei jemenitischen und äthiopischen Juden sind keine Land-Israel-Vorfahren erkennbar. Das bedeutet: Teile der einheimischen Bevölkerung konvertierten im Laufe der Geschichte zum Judentum. 2.) Aschkenasim, das sind Juden mit west-, mittel- und osteuropäischen Vorfahren. 3.) Sefarden, das sind Juden mit Vorfahren aus Spanien und anderen südeuropäischen Ländern. 4.) Nordafrikaner, das sind Juden mit Vorfahren aus Marokko, Algerien, Tunesien, Libyen und Ägypten.
Vor etwa 2500 Jahren – assyrische und babylonische Diaspora – teilte sich erstmals je ein Zweig von orientalischen und (später teils blond-blauäugigen …) europäischen Juden. Die freiwillige europäische Diaspora der Juden ist auf die hellenistische (ab ca. 330 v. u. Z.) und besonders die römische Epoche im Heiligen Land anzusetzen (ab ca. 60 v. u. Z.), die unfreiwillige ab 70 u. Z., nach der Niederlage im Jüdischen Krieg gegen die römischen Besatzer sowie der Zerstörung des Zweiten Jerusalemer Tempels. Anders, als viele Legenden über „die“ Juden besagen, missionierten „die“ Juden in der hellenistisch-römischen Epoche recht aktiv und vermischten sich durchaus mit Nichtjuden. Die Hebräische Bibel thematisiert besonders im Makkabäerbuch offen und unumwunden, wenngleich heftig ablehnend, die hyperassimilatorisch hellenisierten und hellenisierenden Juden. Ähnlich seit dem 2. Jahrhundert v. u. Z. die Polarisierung zwischen romanisierten und romanisierenden Juden einerseits und antirömisch-partikularistischen Juden andererseits. Die „Jüdische Genetik“ liefert unaufgeregt empirische Befunde.
Aufgrund der chronologischen Geografie – konkret der Abfolge von Flucht, Vertreibung und Aufnahme-Region – kam es, nüchtern und vorurteilsfrei betrachtet kaum überraschend, zu „Vermischungen“. DNA-Analysen dokumentieren sie. Zum Beispiel nacheinander die Verbindungen nordafrikanischer Juden mit phönizischen Kaufleuten, freiwilligen Migranten aus dem Land Israel vor der Zerstörung des Zweiten Jerusalemer Tempels, jüdischen Flüchtlingen nach dessen Zerstörung im Jahre 70 u. Z., Konvertiten einheimischer Berber. Josephus berichtet, dass im 1. Jahrhundert u. Z. allein in der Cyrenaika etwa eine halbe Million Juden lebten. Zahlenangaben aus der Antike sollten skeptisch eingeschätzt werden. Im gesamten Römischen Reich lebten, Josephus zufolge, um 70 u. Z. sechs Millionen Juden, in Judäa nur eine halbe Million.
Stichwortartig die Hauptergebnisse:
Alle vier jüdischen Großgruppen lassen sich eindeutig auf
mittelöstliche Ur-Vorfahren
zurückführen.
Die Genetik dieser Ur-Vorfahren ist keineswegs „rein“ jüdisch. Sie ähnelt zum Beispiel der drusischen, zypriotischen und allgemein nahöstlichen Bevölkerung im und um das Land Israel.
Dabei gibt es biologisch-geografisch, im wörtlichen Sinne natürlich, Ähnlichkeiten (doch keine vollständigen Identitäten) mit Arabern (einschließlich Palästinensern) und anderen Nachbarn.
Juden der jeweils selben Region haben untereinander mehr genetische Gemeinsamkeiten als mit Nichtjuden, aber mit ihren einheimischen Nichtjuden wiederum mehr genetische Gemeinsamkeiten als mit Juden aus ferneren Siedlungsbereichen.
Bedeutsam ist bei allen Gruppen der Unterschied zwischen der jeweiligen mütterlichen oder väterlichen Linie. Bei nur 20 Prozent der aschkenasischen Frauen wurden nahöstliche Land-Israel-DNA-Wurzeln nachgewiesen. Gut die Hälfte der 80 Prozent der heutigen aschkenasischen Juden mit gemischten Vorfahren stammt allerdings von nur vier nichtjüdischen, europäischen Frauen ab. Das bedeutet: Man kann nicht unbedingt sagen, dass Mischehen eher die Regel waren. Vielleicht haben jene vier konvertierten Frauen auch einfach nur sehr viele Kinder bekommen, die ihrerseits biologisch sehr erfolgreich waren und sind. Was man aber sehr wohl sagen kann: Die meisten heutigen aschkenasischen Juden sind eindeutig gemischter europäischer und jüdischer/nahöstlicher Abstammung, also keine (genetische) Entität als Volk. Es gab Vermischung – auch wenn das jeweilige Ausmaß und die zeitliche Abfolge mit dieser Methode nicht bestimmbar sind.
Keine nahöstlichen Land-Israel-DNA-Wurzeln wurden bei Juden aus dem Nordkaukasus ermittelt (Tia Ghose,
LiveScience
, 8.10.2013; googeln unter Martin Richards, University of Huddersfield, England). Es gibt keine jüdischen Abkömmlinge des Chasarenkönigreichs, das im Mittelalter jüdisch wurde. Die These von Shlomo Sand (2012), die Aschkenasim wären Nachfahren der jüdischen Chasaren, entbehrt daher jeder empirischen Grundlage.
Jenseits der religiösen Gepflogenheiten ihrer Pfarrer oder Rabbiner haben sich (wie viele?) Juden und Christen nicht an die Abgrenzungsvorgaben ihrer religiösen Institutionen und Personen gehalten. Es gab auf der Ebene von Mensch zu Mensch zwischen Juden und Christen offensichtlich (wie viele?) enge Verbindungen, wechselseitige Offenheit, Toleranz, ja Akzeptanz, Liebe (?) und nicht nur Triebe. Oder, ebenfalls denkbar, Nähe dem Triebe folgend ohne Liebe. Jedenfalls Nähe. Wahrscheinlich Nähe mit und (!) ohne Liebe. Dazu sagt die Genetik nichts.
Berücksichtigt man die Tatsache, dass die mittelalterlichen Judengassen und -viertel stadtgeografisch meistens im Zentrum oder zentrumsnah und auf dem Land die Häuser von Juden in unmittelbarer Nachbarschaft zu Häusern von Nichtjuden lagen, kann diese menschliche Nähe nicht wirklich überraschen. Zumindest vermuten kann man sie. Freilich sagen jene genetischen Erkenntnisse nichts über das Wie der entstandenen Nähe aus. Sie dokumentieren lediglich ein mehrfaches Dass. Auch dieses Dass überrascht nicht, und über das Wie gibt es zum Beispiel literarische Zeugnisse, die nicht zuletzt fundierte Mutmaßungen über die Mehrschichtigkeit bzw. Ambivalenz nichtjüdisch-jüdischer Beziehungen erlauben. Erinnert sei unter anderem an Lope de Vegas Drama „Die Jüdin von Toledeo“ und die späteren Bearbeitungen von Lion Feuchtwanger und Franz Grillparzer. Das Urdokument der Juden, die Hebräische Bibel, keine historische Quelle, doch eine historisierende Erzählung, erwähnt zahlreiche „Mischehen“, zum Beispiel Josef und Osnat, Moses und Zipora sowie die „Kuschit“ (Schwarze, Äthiopierin), Boaz und Ruth, von den hundertfachen Mischehen König Salomons ganz zu schweigen. Die Bibel ist kein Dokument der Archäogenetik, doch diese spiegelt sich in jener literarisch wider.
Die Verknüpfung von historischer Biologie und chronologischer Geografie ermöglicht dieses Fazit: Je dichter die Geografie zwischen den jeweiligen Juden und Nichtjuden, desto näher ihre Biologie. Das wiederum bedeutet: Die Kontakte zwischen Juden und Nichtjuden waren schon vor dem Fall der Ghettomauern nicht nur geschäftlich, sondern auch geschlechtlich, also menschlich und nicht nur eine endlose Kette von Judenverfolgungen – die es freilich trotzdem zuhauf gab und die ihrer Wucht wegen Wahrnehmung und Weitergabe dominieren. Jenseits von Judenhass, Judenverfolgungen und Judenermordungen, Theologie und Ideologie gab es auch menschliche Nähe und Wärme zwischen Christen, Juden und Muslimen.
Angesichts dieser Empirie lässt sich die ewige (Streit-)Frage leicht(er) beantworten: Sind „die“ Juden, ist daher „das“ Judentum nun ein Volk, eine Nation, eine Religion oder nur eine Schicksalsgemeinschaft?
Außerdem konnten und können schon sprachlich nicht alle Juden mit- und untereinander kommunizieren. Weder in der Antike noch in der Moderne. Die Mehrheit der Juden lebt seit rund 2000 Jahren, auch noch heute, nicht in einem jüdischen Staat, wo Hebräisch Landessprache ist. Ergo können die meisten Juden nicht einmal als Gebetssprache Hebräisch – wenn sie denn überhaupt beten. Und wenn sie allein die Gebetssprache beherrschen, wissen sie nicht, was zum Beispiel das hebräische Wort für Computer oder Kühlschrank ist.
ABER die Biologie „der“ Juden hat uns gezeigt, dass biologisch durchaus Gemeinsamkeiten ohne Identitäten zwischen Juden bestehen. Dieser Empirie zufolge gilt: Ja, „die“ Juden haben einen gemeinsamen, antiken, vorderorientalischen Ursprung. Sie sind, so gesehen, ein Volk. Jeder in dieses Volk Hineingeborene („natus“ – „Nation“) gehört zur jüdischen Nation. Diese kann – aber nicht automatisch – individuell und auch für jüdische Teilgruppen eine Kommunikationsgemeinschaft sein, ist also subjektiv.
Womit wir bei der Identifikation wären. Diese kann nur subjektiv verstanden oder nur auf Teilgruppen – hier von Juden – bezogen werden.
Die Schicksalsgemeinschaft ist wiederum vor allem außerpersönlich und außerkollektiv bestimmt. Man kann versuchen, der Schicksalsgemeinschaft zu entfliehen. Meistens vergeblich, es sei denn, die individuelle Tarnung gelingt.
Fazit: Gemäß außerpersönlicher, „objektiver“ Faktoren sind „die“ Juden sowohl Volk als auch Nation, Religion und Schicksalsgemeinschaft. Ob sich jeder Jude oder Gruppen von Juden mit „dem“ Judentum und „den“ Juden individuell- oder kollektivsubjektiv identifizieren, kann wissenschaftlich lediglich quantifiziert werden, zum Beispiel durch Umfragen. Deren Ergebnisse wechseln (auch bei Juden …), denn diese sind oft nur Momentaufnahmen, Stimmungen und kein Dauerphänomen.
Grundfaktum 1 der jüdischen Geschichte: Die längste Zeit lebten und leben die meisten Juden in Städten, wenngleich man in einigen ihrer Gebete, nicht zuletzt im zentralen „Höre Israel“, und natürlich in der Hebräischen Bibel agrarische Traditionen erkennt. Diese sind historisch-empirisch belegbar. Am Anfang war die Landwirtschaft. In der gesamten Menschheitsgeschichte. Während der hellenistisch-römischen Epoche Judäas setzte die städtische, besonders die Jerusalemer Oberschicht allmählich ihre materiellen und ideellen Interessen gegen die Lebensnotwendigkeiten der ländlich-bäuerlichen Unterschichten durch. Das beweisen zum Beispiel die Sabbatgesetze. Kein Bauer käme je auf den Gedanken, seine Kühe an einem Tag nicht zu melken, „weil der Liebe Gott es befahl“ – oder eben die städtische Herrscherschicht. Selbst theologisch hätte jeder Bauer mindestens ebenso schlagende Argumente wie die Sabbat-Städter: dass derselbe „Liebe Gott“ dafür gesorgt hätte, Kühe täglich melken zu müssen.
Auch die diasporajüdische Gemeinschaft lebt und lebte überwiegend in Städten und dort meistens geballt in einem Stadtteil oder wenigen anderen. Die Gründe sind ökonomisch (Handel), kulturell (Zusammenhalt als Kommunikationsgemeinschaft durch gemeinsame Alltagsgepflogenheiten) oder religiös (kurze Wege zur Synagoge jüdischerseits und christlicherseits Abgrenzung) sowie politisch (Kontrolle). Judengassen oder Judenviertel (Ghettos) lagen im Zentrum oder zentrumsnah. Die räumliche Distanz von Landjuden zu ihren nichtjüdischen Nachbarn war strukturbedingt klein.
Das bedeutet: Alltagskontakte von Juden und Nichtjuden waren eine Selbstverständlichkeit. Verwiesen sei auf den Abschnitt „Biologie“ in diesem Buch. Überdeckt wird diese im wörtlichen Sinne mehrdeutige Nähe durch die unendlich vielen Diskriminierungen und Liquidierungen von Juden. Zur Darstellung jüdischen Lebens in der Diaspora gehört sowohl das Leben-und-leben-Lassen als auch das Mobben und Morden von Juden durch Nichtjuden.
Rund 3000 Jahre jüdischer Geschichte sind nachweisbar.
Das ist die Chronologie und Demografie der jüdischen Geografie in Alt-Israel:
um 1000 v. u. Z. (altisraelitisches Königtum) bis 586 v. u. Z. (Zerstörung des Ersten, Salomonischen, Jerusalemer Tempels, Babylonisches Exil)
ergibt rund 400 Jahre jüdische Geografie in Alt-Israel.
518 v. u. Z. kehrte die Minderheit der mesopotamischen Diaspora nach Jerusalem und Judäa zurück, also nach „Zion“. Im Jahre 70 u. Z. wurden die Provinz Judäa sowie der Zweite Jerusalemer Tempel vom antiken Rom zerstört. Das war der Beginn des Zweiten Exils. Das bedeutet
knapp weitere 600 Jahre Jüdische Geografie in Alt-Israel.
74 Jahre Jüdische Geografie in Neu-Israel (1948–2022).
Daraus ergibt sich:
Säule 1, Alt- und Neu-Israel: Knapp 1100 Jahre von rund 3000 Jahren, und
Säule 2, Diaspora bzw. Zerstreuung, Verstreutheit: 2700 Jahre (seit der Zerstörung des altisraelitischen Königreiches und dem dadurch bedingten ersten jüdischen Exil 721 v. u. Z. nach Assyrien in Mesopotamien).
„Denn aus Zion kommt die Lehre (Tora) und das Wort Gottes aus Jerusalem“, verkündete der Prophet Jesaja (2,2 f.) für das „Ende der Tage“. Lange vor dem „Ende der Tage“ trifft diese Vorhersage zu, denn ohne Zion/Jerusalem kein Judentum, kein Christentum und letztlich auch kein Islam. Dieser entwickelte sich zwar in Arabien, ist jedoch ohne Bezüge zum Juden- oder Christentum unvorstellbar und versteht sich sozusagen als Vollendung der wahren, von Juden und Christen vermeintlich missverstandenen Lehre einerseits und andererseits als Wiederherstellung der Religion Abrahams. Daraus folgt: Die theologische, demografische, ökonomische und soziologische Geografie dieses winzigen Erdfleckchens betrifft religionshistorisch und -politisch mehr als die Hälfte der heutigen Menschheit: Christen, Muslime, Juden. Gegenwärtig sind ca. 31 Prozent der Weltbevölkerung Christen und 25 Prozent Muslime. Quantitativ sind die Juden mit 0,2 Prozent eine zu vernachlässigende Minderheit.
Ohne Jerusalem bzw. Zion kein Judentum. Das scheint glasklar. Ist es nicht, Vorsicht! Bei dieser Aussage müssen wir, wie Archäologen, in zusätzliche Schichten dringen, denn: Auch ohne und vor Zion gab es Judentum und Juden. Die unverdächtigste Quelle für diese Aussage ist die Hebräische Bibel, das „Alte Testament“ (AT): König David, bekanntlich Jude, eroberte das zuvor jebusitische Jerusalem. Er „judaisierte“ dann Jerusalem – auf welche (in der biblischen Quelle unerwähnte) Weise auch immer. Kriege, Schlachten und deren Nachwehen sind traurige Erfahrungen und selten unblutig.
Fazit 1: Auf zwei ganz unterschiedlichen Säulen steht das Judentum demografisch: Israel und die Diaspora.
Heimat war Israel und ist es wieder. Zugleich aber ist und war auch Diaspora Heimat – wenn es den Juden gut ging und unabhängig davon, ob sie sich als Juden fühlen konnten oder wollten. Das wiederum betrifft nicht die Geografie, sondern die Psychologie.
Fazit 2: Heimat war und ist für Juden, sofern sie zuerst Juden sein wollten und wollen:
im „Land der Väter“, also territorial, das Land („Eretz“) Israel;
in der Diaspora die Gemeinschaftsherkunft bzw. im Vokabular von Franz Rosenzweig („Stern der Erlösung“) und Stefan Zweig das „Blut“ – für deutsche Augen und Seelen inzwischen zu Recht ein Unwort und dennoch das Faktum zutreffend beschreibend. In einem Brief an Martin Buber hat es Stefan Zweig über „Blut“ hinaus erweiternd 1917 wunderbar ausgedrückt: „Vielleicht“ habe das Judentum die Aufgabe, „zu zeigen, dass Gemeinschaft auch ohne Erde, nur durch Blut und Geist, nur durch das Wort und den Glauben bestehen kann“. Wo, wenn und bei wem das zutrifft, da braucht es keinen jüdischen Staat. Das ist kein Antizionismus, sondern jüdischer Nicht-Zionismus, jüdischer Diasporageist par excellence.
Was also war und ist der Juden Heimat? Entweder Israel oder die Diaspora. „Richtig“ ist die Entscheidung immer nur jeweils individuell. Sowohl individuell als auch kollektiv war jüdisches Überleben bislang stets hier wie dort „auf Widerruf“, also gefährdet. Fast für die gesamte jüdische Geschichte gilt diese Aussage. Daraus folgt: Fast immer gab und gibt es zwei Judentümer. Das eine im Land Israel, das andere in der Diaspora. Jedes der beiden Hauptjudentümer war und ist in sich wiederum mehrfach gespalten. Wieder: Anders als Judenfeinde sich selbst und anderen einreden, konnte und kann von einer jüdischen „Einheitsmeinung“ bzw. „Einheitsfront“ keine Rede sein.
Die Chronologie der jüdischen Geografie sowie die Zahlen bzw. Größenordnungen der jüdischen Demografie belegen eindeutig: Die Mehrheit der Juden lebte lieber außerhalb des Landes Israel – auch wenn es möglich war, dort im eigenen Staat oder Gemeinwesen zu leben. Besonders krass zeigte sich das in der Zeit ab 538 v. u. Z. und seit 1948, als der Perserkönig Kyros die Rückkehr aus Mesopotamien nach Zion gestattete und nach der Staatsgründung von Neu-Israel. Seit 2014/15 leben in Israel mehr Juden als irgendwo sonst in der Welt, in der Diaspora. Dennoch lebt die Mehrheit der Juden immer noch außerhalb des jüdischen Gemeinwesens. Wohlgemerkt: freiwillig und offenbar gern. Das wiederum ist für „klassische Antisemiten“ eine schlechte Nachricht. In Anlehnung an den deutschen Historiker Heinrich von Treitschke unterstellen sie „den“ Juden nämlich gern „Doppelloyalität“. Einst bezogen ihre Gegner auch Sozialisten und Katholiken in den Kreis vermeintlich „vaterlandsloser Gesellen“ ein. Bezogen auf Sozialisten und Katholiken tempi passati, bezogen auf Juden wirkt jener Unsinn noch immer. Mal offen, mal verdeckt. Hand aufs Herz: Wer hätte nicht gehört, wie sogar brave Bürger ihre „jüdischen Mitbürger“ in Deutschland oder woanders auf „ihren Ministerpräsidenten in Israel“ ansprechen?
Die Zahlen für 2021:
Juden insgesamt ca. 15,2 Millionen
Israel: 6,9 Millionen
USA: 5,7 Millionen
Frankreich: 453 Tsd.
Kanada: 400 Tsd.
UK: 263 Tsd.
Argentinien: 180 Tsd.
Russland: 172 Tsd.
Australien: 121 Tsd.
Brasilien: 120 Tsd.
Deutschland: 118 Tsd.
Die obenstehende Abbildung stellt vereinfacht und verkürzt die (mit der Demografie verflochtene) historische Geografie der Juden vom Hochmittelalter bis zur Gegenwart dar. Auch antike Autoren nennen Orte und Zahlen. Diese sind allerdings noch weniger stichhaltig als die mittelalterlichen und frühneuzeitlichen.
Sagen wir es so: In der Antike gab es folgende judengeografische Schwerpunkte: Land Israel, Mesopotamien, Ägypten sowie vornehmlich die am Fernhandel beteiligten Küstenregionen des Mittelmeerbeckens. Wo oder wann in jener Epoche die meisten Juden lebten, kann man nur sagen, wenn man Kaffeesatzleserei betreiben möchte.
Was auffällt: In den vergangenen rund 150 Jahren hat sich das „Weltjudentum“ erneut enteuropäisiert. Dass dies nicht freiwillig geschah, sondern durch (nicht nur, aber vor allem von Deutschen geplanten und ausgeführten) Mord und Völkermord an den Juden, muss wohl nicht ausdrücklich erwähnt werden. Eine Variante der vielbesungenen „europäischen Werte“, die nicht unerwähnt bleiben darf.
Anders als die Chronologie und Demografie jüdischer Geografie ist die Theologie des Judentums zweifellos auf das „Heilige Land“ fokussiert. Für dessen normative bzw. religionspolitische Geografie findet man in der Hebräischen Bibel mehrfach unterschiedliche Angaben. Einzelheiten hierzu sind im Abschnitt „Was ist das Heilige Land?“ in meinem Buch „Wem gehört das Heilige Land?“ angegeben. Vereinfacht zusammengefasst: Wie es gefällt, kann man zwischen einem Mini- und Maxigebiet wählen. Jede biblisch-geografische Rechtfertigung kann mühelos durch eine andere entkräftet werden. Die theologische Geografie des Heiligen/Gelobten Landes/Israel/Palästina ist historisch und damit letztlich politisch bestimmt, also eine politische Geografie. Umgekehrt prägten die politisch-geografischen Rahmenbedingungen die jüdische Theologie.
Sowohl Archäologie als auch Theologie (Hebräische Bibel) benennen das Kerngebiet jüdischen Seins im Heiligen Land: vom Judäischen Bergland im Raum Nablus, Bet El (bei Ramallah, also nördlich von Jerusalem) und Hebron bis nach Beer Schewa im Süden.
Der religions- und geschichtsgeografische Fokus auf den (kleinen) „Groß“-Raum im und um das heutige Israel (minus Küstenebene, die lange von den Philistern beherrscht wurde) plus Westjordanland wird sowohl in der Hebräischen Bibel als auch im Talmud, in den Gebeten der Juden und natürlich der altjüdischen Geschichte bis 70 u. Z. und wieder seit Beginn des zionistischen Aufbauwerks ab 1882 sowie seit 1948, in der Gründung des modernen Israels, erkennbar. Ironie der Geschichte: Der geografische Kern von Neu-Israel entstand im 20. Jahrhundert und besonders seit der Staatsgründung von 1948 gerade dort, wo Alt-Israel nicht war: in der Küstenebene. Aschkelon und Aschdod sowie Gaza, heute Hochburg der islamistischen Hamas- und Jihad-Palästinenser, gehörten zum Fünf-Städte-Bund der Philister. Anders als Wissensschwache und Gesinnungsstarke behaupten, waren die Philister jedoch nicht die Vorfahren der Palästinenser. Die Palästinenser sind bekanntlich Araber. Die Philister kamen im 12. Jahrhundert v. u. Z. aus dem Balkan in den Vorderen Orient.
Von einer räumlichen Ausschließlichkeit Alt-Israels in der jüdischen Theologie bzw. der unheilvollen Heilsgeschichte der Juden kann dennoch nicht gesprochen werden. Man denke an die kosmisch-globale Schöpfungsgeschichte, die Erzählung vom „Paradies“, von Noah und der Sintflut, an die Bücher Hiob (Land Uz) und Esther (Persien) oder die Propheten Ezechiel und Daniel.
Geschichte ist ohne Geografie selten verständlich. Das gilt auch bezüglich des Heiligen Landes. Es lag zwischen Ägypten und Mesopotamien. Wie Sandwich-Belag wurde es von oben und unten zerquetscht – Existenz auf Widerruf.
Die Küstenebene am östlichen Mittelmeerrand war (und ist) die Landbrücke zwischen den beiden Großräumen Mesopotamien und Ägypten, also den beiden regionalen, frühgeschichtlichen Hochkulturen. Beide waren seinerzeit Großmächte. Mal expandierte die südlich-ägyptische nach Norden über die „israelische“ Küstenebene Richtung Euphrat und Tigris, mal die nördlich-mesopotamische nach Süden über die Küstenebene Richtung Nil. Bei jedem Feldzug, ob von Nord nach Süd oder Süd nach Nord, jedes Mal wurde die Bevölkerung, wie Sandwichbelag, von „oben“ und „unten“ zerquetscht. Bis es den Einheimischen reichte. Sie zogen ostwärts ins judäische Bergland und entzogen sich damit den wechselnden Invasoren aus Nord und Süd. So entstand im judäischen Bergland allmählich die erste quasi jüdische Gemeinschaft. Diese Entwicklung hat der Tel Aviver Archäologe Israel Finkelstein in seinem Buch „Das vergessene Königreich, Israel und die verborgenen Ursprünge der Bibel“ (2017) präzise und allgemeinverständlich beschrieben.
Diese kulturpolitisch-historische Geografie, konkret: die nichtjüdischen Einflüsse und Ursprünge der jüdischen Religion und Kultur, verrät unausgesprochen, sozusagen ohne Fußnoten-Beleg, auch die Hebräische Bibel. Sie ist natürlich keine geschichtswissenschaftliche Quelle. Doch in einigen ihrer Geschichten führt sie fiktional durchaus zu außerjüdischen religions- und kulturgeografischen Ursprüngen des Judentums und „judaisiert“ sie.
Die Verflechtung mit Mesopotamien erkennen wir an der Sintflut-Geschichte. Viel älter als die biblische Version ist die Sintflut-Erzählung im altmesopotamischen Gilgamesch-Epos, das zwischen dem 24. und 16. Jahrhundert v. u. Z. entstanden sein soll. Zu empfehlen ist die Übersetzung von Raoul Schrott.
Auch ohne Gilgamesch-Kenntnisse erkennt jeder an der biblisch-mythischen und nicht historischen Geschichte vom jüdischen Stammvater Abraham die kulturell-religiöse Verflechtung des Altjudentums mit der Region Mesopotamien. Aus dem mesopotamischen Ur in Chaldäa wandert Abraham nach Kanaan aus, ins Gelobte Land. Deutlicher kann der alttestamentliche „Wink mit dem Zaunpfahl“, das Eingeständnis, nicht sein. Den Bibellesern wird signalisiert: Die jüdische Religion und Kultur sei ohne die Hochkultur des Zweistromlandes undenkbar.
Es blieb nicht nur bei Stammvater Abraham. Dessen Sohn, Stammvater zwei, Isaak, „importierte“ seine Frau Rebekka aus Mesopotamien ins Gelobte Land, und Stammvater drei, Jakob, „erarbeitete“ sich in Mesopotamien seine Frau Rachel sowie (ungewollt) zuvor Lea in 14 langen Jahren. Vergessen wir nicht die Geschichte vom Turmbau zu Babel, und der Prophet Jona sollte die frevelnden Bürger Ninives, der Hauptstadt Assyriens, zur Umkehr bewegen. Ausgerechnet Assyrien, das 721 v. u. Z. das (aus Sicht der Bibelschreiber) „Sünder“-Königreich Israel vernichtet hatte. Rund 800 Jahre später wurde die Hebräische Bibel kanonisiert bzw. kodifiziert. Ohne Wenn und Aber wurde der mesopotamische Einflussstrang fixiert.
Eher doppelbödig, negativ und positiv, wird der mesopotamische Einfluss in der Hebräischen Bibel beschrieben. Ein Beispiel: Negativ natürlich die Zerstörung des Ersten (Salomonischen) Jerusalemer Tempels sowie das Verschleppen vieler der besiegten Judäer (der biblisch „besseren“ Juden) nach Mesopotamien/Babylon. Meist positiv aber das Verhältnis zu den Juden in Mesopotamien, sowohl in der kurzen Babylon-Ära als auch und erst recht in der Perserzeit (siehe das Buch Esra und Nehemia).
Ebenso klar signalisiert die Hebräische Bibel: Auch ohne die Hochkultur Ägyptens sei die jüdische Religion und Kultur undenkbar. Neben vielen anderen Bezügen sind zu nennen: die Geschichte von Josef, der ganzen Jakob-Sippe in Ägypten sowie die Versklavung der Kinder Israels in und deren Exodus bzw. Flucht unter der Führung von Moses aus Ägypten. Bedenkt man zudem, dass der Name Moses ägyptischen Ursprungs ist und Pharao Echnaton (der Gatte der wunderschönen Nofretete, deren Büste in Berlins Ägyptischem Museum zu bewundern ist) im 14. Jahrhundert v. u. Z. in Alt-Ägypten eine Art Monotheismus einzuführen versuchte, dann übertreibt man nicht, indem man sagt: Jene alttestamentlichen Passagen sind das willentliche und wissentliche Eingeständnis der Bibelautoren, dass die jüdische Religion und Kultur auch ohne ägyptische Wurzeln undenkbar ist. Zu ihnen weiterführend und unverzichtbar ist Jan Assmanns „Exodus“ (2015) und davor sein Buch „Moses der Ägypter“ (1998). Seite eins.
Die andere Seite: In einer Art Vatermord oder einem Akt der Selbstermächtigung wird das Positive ins Negative gedreht: In der biblischen Geschichte versklaven und drangsalieren Pharao und die Ägypter die Juden. Die Botschaft ist recht klar: Verleugnen können wir unsere ägyptischen Wurzeln nicht, aber erst wir haben aus ihnen etwas gemacht. Auch das ist nicht ganz falsch, denn in der jüdischen Gemeinschaft setzte sich der Eingott-Glauben bzw. Monotheismus allmählich, wenngleich nicht widerstandslos, durch. Echnatons Monotheismus dagegen wurde im Alten Ägypten ausgelöscht und das Gedenken an ihn getilgt.
In der Hebräischen Bibel, der sozusagen jüdischsten jüdischen Literatur, findet man mühelos weitere Belege für die Tatsache und meist dialektische (Sowohl-als-auch-)Bewertung jüdisch-ägyptischer Verflechtungen. Negativ natürlich Fron und Sklaverei in Ägypten. Durchaus positiv, in späteren Passagen, etwa Bündnisse der Könige Judäas und Israels mit dem Pharao. Meist gegen die jeweilige mesopotamische Großmacht (oder umgekehrt mit dieser gegen Ägypten). Sowohl positiv als auch negativ beispielsweise die Ehe des, neben David bedeutendsten Bibel-Königs, Salomon mit einer Tochter Pharaos. Sie war in seinem Harem nicht die einzige Nichtjüdin: „Aber der König Salomo liebte viele ausländische Frauen: die Tochter des Pharao und moabitische, ammonitische, edomitische, sidonische und hetitische – aus solchen Völkern, von denen der HERR den Israeliten gesagt hatte: Geht nicht zu ihnen und lasst sie nicht zu euch kommen; sie werden gewiss eure Herzen ihren Göttern zuneigen.“ (1 Könige 11,1–4)
Jenseits der mythischen Potenz Salomons – sie übertrifft sogar die mythische Manneskraft des Moslempropheten Mohammed – beschreibt die Bibel, im Kern historisch durchaus zutreffend, unverkrampft die sehr realen außerjüdischen religiös-kulturellen Einflüsse aufs realhistorische Judentum. Diese werden zwar negativ bewertet, aber nicht bestritten. Will sagen: Das ursprüngliche, frühe Judentum kann – trotz seines monotheistischen Alleinstellungsmerkmals – nicht losgelöst von noch früheren und gleichzeitigen nahöstlich-regionalen Vielgötterkulten betrachtet werden. Das Fazit:
Wir erkennen: Jüdische Staatlichkeit war nur möglich, wann und wenn sowohl Ägypten als auch Mesopotamien zu schwach waren, sich der zwischen ihnen liegenden Mitte zu bemächtigen. Erst in dieser Situation, kurz nach 1000 v. u. Z (etwa 100 Jahre später also, als bisherige Schulweisheiten vermittelten), schlossen sich die damals noch alles andere als rein monotheistisch-jüdischen Stämme des judäischen und samaritanischen Berglandes zu einem Klein-Königreich zusammen. Zu kriegerischen Zusammenstößen kam es immer wieder mit dem Bund der fünf Philister-Fürstenstädte in der Küstenebene: Aschdod, Aschkelon, Ekron, Gaza, Gat. Zu dieser Geschichte gehören zum Beispiel die biblischen Erzählungen von Samson und Delila oder von David gegen Goliath. Im 12. Jahrhundert v. u. Z., also nicht viel früher als die jüdisch-königliche Stammesvereinigung, waren die Philister von der Balkanhalbinsel als „Seevölker“ in den Vorderen Orient eingedrungen. Weshalb? Weil sie im Gefolge der sogenannten Dorischen Wanderung (um 1200 v. u. Z) aus ihrer Heimat vertrieben wurden. Das wiederum ist für den heutigen Nahostkonflikt alles andere als unwichtig, denn: Die Palästinenser sind nicht die Nachfahren der Philister. Dieser historisch-geografische Befund wird durch den biologischen der DNA-Analysen bestätigt (vgl. das Kapitel „Biologie“).
Datierung und Existenz des vereinigten Königreichs von Saul, David und Salomon (im 10. Jahrhundert v. u. Z.?) sind unter Wissenschaftlern umstritten, nicht aber, dass es im Land Israel seit dem 9. Jahrhundert v. u. Z. zwei jüdische Königreiche gab. Eine Mittelmacht, das Königreich „Israel“ (Nordreich), sowie eine jüdische Minimacht, das Königreich Judäa. Beider Lebensdauer war begrenzt. Israel wurde 721 v. u. Z. von Assyrien zerstört, die jüdische Bevölkerung deportiert und Menschen aus anderen Teilen des assyrischen Großreichs „importiert“. Wer von den Juden konnte, floh aus Israel nach Judäa. Wenig später, seit 586 v. u. Z., zerstörte Nebukadnezar von Babylon das Königreich Judäa und verschleppte viele, wenngleich nicht alle Juden nach Mesopotamien.
518 v. u. Z. erhielten die Juden Babylons vom Perserkönig Kyros – die Perser hatten zuvor Babylon besiegt – die Erlaubnis, nach Zion zurückzukehren. Doch, wie im modernen Zionismus von 1897 bis heute, bestand der „Zionismus“ der meisten antiken Diasporajuden mehr in Worten als Taten. Nur eine idealistische Minderheit sowie die weniger Wohlhabenden machten vom Rückkehrrecht Gebrauch. Die Mehrheit der Juden blieb in Mesopotamien und begleitete die Tat-Zionisten mit guten Worten und Spenden, denn die wirtschaftliche und politische Oberschicht der mesopotamischen Juden war weniger am Neuaufbau Zions interessiert als am Ausbau ihres komfortablen Diasporadaseins. Dieses Muster gilt ebenfalls bis in die Gegenwart.
Der Salonzionismus jener babylonischen Juden dokumentiert einmal mehr den dauerhaften innerjüdischen Riss zwischen Universalisten und Partikularisten. Im persisch-achämenidischen Mesopotamien konnten sich Universalisten wohlfühlen. Die jüdische und nichtjüdische Gesellschaft stand ihnen offen. Das persisch-autonome Zion der Zweiter-Tempel-Periode war eine jüdische Theokratie, ein geradezu radikal partikularistisch-jüdischer Gottesstaat. Fast wie das iranische Mullahregime seit 1979. Nachzulesen im Esra-Buch der Hebräischen Bibel. So gesehen muss man sich nicht wundern, dass es Juden, sogar jüdische Söldner, ins von 525 v. u. Z. bis 332 v. u. Z. persisch beherrschte Ägypten, zum Beispiel nach Elephantine zog, wo sogar ein jüdischer Tempel stand.