Wendezeit - als Ossi in Amerika - Armin Hirsekorn - E-Book

Wendezeit - als Ossi in Amerika E-Book

Armin Hirsekorn

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Beschreibung

Im 94. Lebensjahr als Pflegling in einer Seniorenresidenz traf ich bei der Durchsicht alter Texte auf eine Datei aus dem Jahre 1992. Es handelt sich um die Reisebeschreibung eines mehrwöchigen Aufenthaltes mit meiner Ehefrau in den Vereinigten Staaten von Amerika. Ich war überrascht von dem Text, in dem zwei völlig konträre Gedankenwelten deutlich werden. Und ich entschloss mich, mit der Bearbeitung des Materials für ein E-Book zu beginnen. Die Namen der im Zentrum stehenden handelnden Personen sind geändert, einige Notizen, die die Familiengeschichte betreffen, sind jedoch im Text belassen. Ein Ehepaar trifft in den USA auf eine völlig konträre Gedankenwelt bei den mit kirchlicher Unterstützung Anfang der 50er Jahre ausgewanderten Verwandten und Freunden. Man erfährt von der Schwere des Anfanges der deutschen Siedler in den USA in den Nachkriegsjahren, von der Integration der Deutschen in einer völlig anderen Welt als der, in der die beiden auf- und herangewachsen sind. Das betrifft die unterschiedlichen Auffassungen zur täglichen Lebensführung und zur Politik sowie die materiellen und technischen Verhältnisse. Eine manchmal abstruse Gedankenwelt und ungewöhnlich verschrobene Ansichten der Amerikaner lässt die beiden Ossis oftmals den Kopf schütteln. Das ostdeutsche Ehepaar lebt während des Besuches über Wochen in mehreren amerikanischen Mittelklassefamilien des mittleren Westens, deren Aussiedlung aus dem Nachkriegsdeutschland mit Hilfe der Mennonitischen Kirche ermöglicht wurde. Man macht Fahrten durch die Staaten Ohio, Michigan, Illinois, Pennsylvania und New York, besucht die Amisch, deutsche Siedlergemeinden, Museen, bürgerliche Feste und Feierlichkeiten und erlebt den Stolz und das Nationalbewusstsein der Amerikaner. Ein Unrechtbewusstsein gegenüber der indianischen Urbevölkerung konnten die beiden Gäste bei keinem ihrer Gesprächspartner feststellen.

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ARMIN HIRSEKORN

WENDEZEIT-als Ossi in Amerika

Reiseskizzen vom Sommer 1992

© Copyright by Armin HirsekornUmschlaggestaltung: © Copyright by Armin Hirsekorn

Verlag: epubli, BerlinVertrieb: epubli – ein Service der Neopubli GmbH, Berlin

Vorwort

Im 94. Lebensjahr als Pflegling in einer Seniorenresidenz traf ich bei der Durchsicht alter Texte auf eine Datei aus dem Jahre 1992. Es handelt sich um die Reisebeschreibung eines mehrwöchigen Aufenthaltes mit meiner Ehefrau in den Vereinigten Staaten von Amerika. Ich war überrascht von dem Text, in dem zwei völlig konträre Gedankenwelten deutlich werden. Und ich entschloss mich, mit der Bearbeitung des Materials für ein E-Book zu beginnen. Ich möchte den Leser um Verzeihung bitten, wenn ich dabei nicht mit der notwendigen Sorgfalt vorgehen konnte. Die Namen der im Zentrum stehenden handelnden Personen sind geändert, einige Notizen, die die Familiengeschichte betreffen, sind jedoch im Text belassen.

Im Vorkriegspolen geboren, aufgewachsen während der Naziherrschaft im sogenannten Warthegau, erlebt ein Jugendlicher den Krieg, die Flucht, die üble Nachkriegszeit und die Unterstützung seiner persönlichen und beruflichen Entwicklung durch die DDR-Staatsorgane. Die Biografie der Ehefrau nimmt einen ähnlichen Verlauf. Das Ehepaar trifft in den USA auf eine völlig konträre Gedankenwelt bei den mit kirchlicher Unterstützung Anfang der 50er Jahre ausgewanderten Verwandten und Freunden.

Man erfährt von der Schwere des Anfanges der deutschen Siedler in den USA in den Nachkriegsjahren, von der Integration der Deutschen in einer völlig anderen Welt als der, in der die beiden auf- und herangewachsen sind. Das betrifft die unterschiedlichen Auffassungen zur täglichen Lebensführung und zur Politik sowie die materiellen und technischen Verhältnisse. Eine manchmal abstruse Gedankenwelt und ungewöhnlich verschrobene Ansichten der Amerikaner lässt die beiden Ossis oftmals den Kopf schütteln.

Das ostdeutsche Ehepaar lebt während des Besuches über Wochen in mehreren amerikanischen Mittelklassefamilien des mittleren Westens, deren Aussiedlung aus dem Nachkriegsdeutschland mit Hilfe der Mennonitischen Kirche ermöglicht wurde. Man macht Fahrten durch die Staaten Ohio, Michigan, Illinois, Pennsylvania und New York, besucht die Amisch, deutsche Siedlergemeinden, Museen, bürgerliche Feste und Feierlichkeiten und erlebt den Stolz und das Nationalbewusstsein der Amerikaner. Ein Unrechtbewusstsein gegenüber der indianischen Urbevölkerung konnten die beiden Gäste bei keinem ihrer Gesprächspartner feststellen. (AHi)

Inhalt

Inhalt5

VORBEREITUNG: Frühjahr 1991 bis Juni 1992  Vorgeschichte und Beweggründe - Neugierde und Beunruhigung - Stunden vor dem Abflug - Abschiedsbrief und Testament7

DER ERSTE TAG:Dresden -London, Mittwoch, 8. Juli 1992  Mit British Airways nach London - Taxifahrt im Rolls-Royce - Cannizaro Hotel in London10

DER ZWEITE TAG: London - Detroit, Donnerstag, den 9. Juli 1992 Londoner Frühstück im Cannizaro Hotel - Mit der Piccadilly-Linie zum Flughafen Heathrow - Erste Eindrücke von der Boeing - Der Start - Lunch und Dejeuner hoch über dem Atlantik - Zwischenlandung in Montreal - In Detroit angekommen13

DER DRITTE TAG: Detroit, Freitag, den 10. Juli 1992 Nachtrag zum gestrigen Abend - Begrüßung in Detroit und erstes Kennenlernen - Überall die "Stars and stripes" - Im Haus von Karl Hiller - Kardinäle und Kolibris - Lisa und Erik - Die Wende, kein Thema - Erste Bekanntschaft mit Wolkenkratzern - „People Mover" und "Greektown" - Die "Skyline" am Detroit River und Erinnerungen an Dresden24

DER VIERTE TAG: Detroit, 11. Juli, 1992 Besuch bei Mister Chapmann im Greenfield Village - Eine Open-Air-Ausstellung Detroiter Künstler - In freudiger Erwartung des Besuches in Bluffton/Ohio33

DER FÜNFTE TAG: Bluffton, 12. Juli 1992 Auf der Interstate 75 in Richtung Süden - Begrüßung und erstes Gespräch über den schweren Anfang - Onkel Egon, ein philosophierender, sportlicher Vegetarier - Erstes Philosophieren36

DER SECHSTE TAG: Bluffton, 13. Juli 1992 Eindrücke von Hillers Wohnhaus - Erster Spaziergang durch Bluffton - Zum gesellschaftlichen Leben in Bluffton - Studium von Almas gesammelten Familienunterlagen - Gespräche über Konstantynower Erinnerungen - Über die Rolle der Väter in den Konstantynower Familien40

DER SIEBENDE TAG: Bluffton, 13. Juli 1992 Erste Erfahrungen mit amerikanischem Chrysler - ein Besuch im mennonitischen Altersheim - Kinder üben Selbstjustiz „Teeren und Federn“ - wie man das Alkoholverbot in Bluffton umgeht - der Tag geht zu Ende46

DER ACHTE TAG: Bluffton, 13. Juli 1992 Schweißtropfen und wilde Regengüsse – „Rent a car“ – Mietwagen aus einer Ford Filiale – Herrmann Hilti und das Swiss Mennonit Museum – noch einiges über die Gellerts – immer wieder Erinnerungen und Gespräche – einige Gedankengänge von Onkel Egon – ein Dozent aus dem Mennonit College50

DER NEUNTE TAG: Bluffton - Joliet, 16. Juli 1992 Quer durch Indiana nach Illinois - Ankunft in Joliet - Empfang im Hause Haferkorn - Siegfried Haferkorn erzählt - Immer weiter und weiter westlich - dann auch noch über den großen Teich - Und wieder gehen die Gedanken zurück in die alte Heimat56

DER ZEHNTE TAG: Joliet, Bluffton, 17. Juli 1992  Frühstück im Hause Haferkorn - Spaziergang im Villenviertel Joliot - Die Fahrt nach Chicago - Auf dem Highway 80/90 - Wieder in Bluffton -65

DER ELFTE TAG: Bluffton, 18. Juli 1992 Der dreiunddreißigste Hochzeitstag - Egon als Radrennfahrer - Fahrt nach Lima mit Hermann Hilty - "Was ist schon eine Eins ohne die Null?"71

DER ZWÖLFTE TAG: Bluffton - Mentor, 19. Juli 1992 Aufbruch und Fahrt nach Mentor - Gespräch mit Uta - Die Skyline von Cleveland - Keine Schwalben über dem Eriesee - Der Geburtstagsabend73

DER DREIZEHNTE TAG: Mentor, 20. Juli 1992 Ein erster Besuch in Cleveland - Clevelands alte Euclid Street auf Pappkarton im Museum - Die Praktika gibt den Geist auf - Abendspaziergang durch Mentors Villengebiet - Zwei Wollknäuel-Pekinesen bringen Alma zu Fall78

DER VIERZEHNTE TAG: Mentor, 21. Juli 1992Zum Bildungssystem in den USA – Besuch im Arboretum – Hochstämmige Blaubeeren in Utas Garten81

DER FÜNFZEHNTE TAG: Mentor, 22. Juli 1992Ein Nachtrag zum Museumsbesuch in Cleveland - Mit Charles zum Raquetball - Mit Utas Ford zum Baden im Eriesee86

DER SECHZEHNTE TAG: Mentor, 23. Juli 1992  Durch die Staaten Ohio und Pennsylvania bis Buffallo – An den Niagarafällen in Kanada89

DER SIEBZEHNTE TAG: Mentor, 24. Juli 1992 Die Fahrt von Niagara Falls zum Ontariosee – An den Amerikanernischen Fällen, und die Rückfahrt durch die Staaten New York und Pennsylvania93

DER ACHTZEHNTE TAG: Mentor, 25. Juli 1992 Wir lernen Mentor kennen - Einige Angaben Almas zur Familiengeschichte – Besuche in Mentor und Cleveland95

DER NEUNZEHNTE TAG: Mentor, 26. Juli 1992 Essgewohnheiten der Amerikaner – Noch einmal Familiengeschichte - Einkaufsbummel in Mentor102

DER ZWANZIGSTE TAG: Mentor, 27. Juli 1992 Ein Traum von der Bäckerlehre – Strandbesuch am Eriesee105

DER EINUNDZWANZIGSTE TAG: Mentor, 28. Juli 1992 Besuch in Cleveland mit einer Kollegin von Uta – Über die Struktur und Organisation der Gemeinde Mentor107

DER ZWEIUNDZWANZIGSTE TAG: Mentor, 29. Juli 1992 Wieder ein verrückter Traum - Die Fahrt zu dem Amish - Alma erzählt: Stährs Tod und Egons Flucht aus dem USA-Gefangenenlager112

DER DREIUNDZWANZIGSTE TAG: Mentor, 30. Juli 1992 Grasmähmaschinen – Noch einige Familiennotizen – Und ein USA-Witz116

DER VIERUNDZWANZIGSTE TAG: Mentor, 31. Juli 1992 Die Fahrt von Cleveland nach Bluffton – Das etwas irre Gespräch mit Egon Hiller über sein Leben119

DER FÜNFUNDZWANZIGSTE TAG: Mentor, 01. August 1992 Utas Abschiedsabend in Bluffton und noch einmal Alma – Über die praktischen Amerikaner141

DER SECHSUNDZWANZIGSTE TAG: Mentor, 02. August 1992 Familientreffen • Zubereitung von Sandwiches142

DER SIEBENUNDZWANZIGSTE TAG: Mentor, 03. August 1992 Die Buch Idee - Höhepunkt des Fluges: Der Sonnenaufgang143

DER ACHTUNDZWANZIGSTE TAG: Mentor, 04. August 1992 Rückkehr nach Deutschland – Resümee des Urlaubes145

VORBEREITUNG: Frühjahr 1991 bis Juni 1992 Vorgeschichte und Beweggründe - Neugierde und Beunruhigung - Stunden vor dem Abflug - Abschiedsbrief und Testament

Vorgeschichte und Beweggründe

Wer hätte schon im Sommer 1989 vermutet, daß wir uns jetzt, drei Jahre später, auf vier Wochen Urlaub in den USA vorbereiten könnten. Ich wusste wohl, daß Onkel Egon Hiller, der Bruder meiner Mutter, mit seiner Familie in den USA lebt, aber das war aufgrund der Verhältnisse in der DDR in meinem Bewusstsein ganz unten vergraben. Ich hatte es auch nie in den Personalakten angegeben. Doch etwa 1986 erhielt ich einen Brief vom Onkel, in dem er mich um Informationen über "elektronische Steuerung des menschlichen Bewusstseins durch schwache elektromagnetische Signale im russischen Machtbereich" bat. Er hätte viele Beweise dafür, daß eine solche Beeinflussung durch das FBI in den USA erfolgen würde. Tagtäglich könnte er das am eigenen Leibe verspüren.

Etwa ein Jahr später meldeten sich Tante Alma mit Tochter Edith brieflich auch hier bei uns in Dresden zum Besuch an. Ich konnte die beiden Briefe nicht beantworten, weil ich im staatlichen Dienst der DDR an eine Verpflichtung gebunden war und darüber hinaus auf Renate Rücksicht nehmen musste. Ähnlich ging es meiner Schwester Nora in Schwedt. Auch sie konnte nicht antworten. Was hätte auch eine Erklärung genutzt? Kein Amerikaner würde sie verstehen.

So kam uns die Urlaubszeit gerade recht. Schon seit Monaten war eine Reise über die hohe Tatra, Ungarn und Rumänien an das Schwarze Meer vorbereitet. Und so waren wir aus dieser Verlegenheit befreit. Später sollte ich erfahren, daß die Amerikaner damals auf gut Glück nach Schwedt zu Nora gefahren waren und dort vor verschlossenen Türen gestanden hatten.

Sofort nach der Wende im Frühjahr 1990 besuchte ich Herbert Hiller und seine Familie bei München. Gleichzeitig nahm ich die Korrespondenz mit Blufften, Ohio, auf.

Damals antwortete Alma: „Euer Brief hat mich sehr gefreut. Ihr seid herzlich willkommen. Gut, dass Ihr Euch so schnell entschlossen habt. Wir werden alt. Egon ist schon 81 Jahre alt und ich bin 76.“

Wir waren also herzlich und so bald als möglich in die USA eingeladen. Aus der Reise im Jahr 1991 wurde dann aber doch nichts. Ich musste telegrafisch absagen, weil ich im Juni rechts am grauen Star operiert werden sollte. Das zog sich bis in den August hinein. Am Tage der ärztlichen Gesundschreibung fuhren Renate und ich dann kurzentschlossen für drei Wochen mit dem Auto über Schleswig-Holstein und Dänemark Richtung Norwegen.

Doch im Frühjahr 1992 wurde alles für die große Reise in die Wege geleitet. Tante Alma bereitete unseren Aufenthalt bis in alle Einzelheiten vor. Wir waren durch ihre Briefe schon fast besorgt, sie würde des Guten zu viel tun mit dem Herumreichen von einem Verwandten zum anderen.

Ich hatte von meinem Wunsch geschrieben, ein Auto mieten zu wollen, um auf einer vierzehntägigen Tour mit Renate schöne Landschaften und Sehenswürdigkeiten in den USA kennenzulernen.

Die Antwort Almas machte uns nachdenklich: "Wenn Du eine Meinung über Amerikaner haben willst, so musst Du die Menschen sehen und sprechen. Wenn ich nach Deutschland fahre, sind mir die Menschen wichtig, die Familie. Aber die wirst Du hier auch kennenlernen. Ich hoffe, Euch beide im Sommer zu sehen."

Wochen unmittelbar vor der Reise schrieb ich dann an meine Cousine Uta und den Cousin Karl, also an die Kinder von Egon und Alma. Sie wohnen mit ihren Familien in Detroit und Cleveland. Wir kündigten unsere Ankunft für Donnerstag, den 9. Juli 1992 gegen 17.00 Uhr auf dem Flugplatz Detroit Metropolitan, Flugnummer British Airways 0095, an.

Neugierde und Beunruhigung

Renates Bruder Rolf hatte uns im Herbst 1991 Bilder gezeigt von seiner Reise mit dem Wohnmobil: Vom Grand Canyon, von den Rocky Mountains, von Vancouver und San Francisco. Und natürlich hatten wir schon immer viel gelesen über Amerikaner.

Nun waren wir so etwas wie Glückskinder. Welche „Brüder und Schwestern" aus den neuen Bundesländern konnten sich schon in dieser Nachwendezeit eine Reise um den halben Erdball leisten? Wir eigentlich auch nicht bei den völlig unsicheren Aussichten auf den nächsten und übernächsten Tag.

Doch was soll's? Wir hatten uns entschieden. Es gab kein Zurück. So war unsere Natur, und so hatte sie uns über fast zwei Jahrzehnte mit Trabi und Lada, mit Zelt, Petroleumkocher und Rucksack über die Länder des Ostens zwischen Baltikum und Jalta, Tienschan und Harz, Rügen und Nessebar geführt.

Also wurde die Buchung des Fluges eingeleitet.

Doch eigentümlich, früher hatten wir uns immer auf den Urlaub gefreut, voller Erwartung und Neugier. Meist war alles schon über Monate und Wochen so weit vorbereitet, daß die Fahrt wenige Stunden nach der letzten Dienstminute am gleichen Abend losgehen konnte.

Irgendwie war es diesmal anders.

Vielleicht waren die amerikanischen Thriller Serien im Fernsehen mit Gewalt, Grusel, Horror und bluttriefenden Monstern daran schuld. Dazu kam eine Interviewsendung 14 Tage vor unserem Abflug: Amerikanernische Ganoven hatten deutschen USA-Reisenden die Geldtaschen, Ausweise und Fotoapparate gestohlen. Es hieß, sie würden von Deutschen gemietete Leihwagen erkennen, an den Ampeln plötzlich die Autotüren aufreißen und mit dem blitzschnell ergriffenen Raub im Gewühl verschwinden. Auch der Gedanke an den großen kalten Ozean zwischen beiden großen Kontinenten bereitete vor allem Renate Unbehagen.

Kurzum, es war schon eine sehr komische Mischung von Neugierde, Freude, Unbehagen und Ängstlichkeit, die uns die letzten Wochen vor dem Abflug nach Detroit erfüllte.

Stunden vor dem Abflug

Am Montag begann der Urlaub. Der Dienstag war ausgefüllt mit Haus- und Packarbeit sowie mit letzten Einkäufen. Wichtig für die Reise war der Kauf eines kleinen Sony-Diktiergerätes. Diese Idee ging mir schon seit Jahren im Kopf herum, doch waren solche Geräte in der alten DDR immer etwas zu unhandlich. Für die USA erfüllte ich mir meinen Wunsch und habe es nicht bereut.

Für alle Fälle reihte ich mich auch noch in die Schlange bei der Verkehrspolizei ein, um einen Internationalen Führerschein ausstellen zu lassen.

Wie immer die letzten Tage vor der Urlaubsreise lagen aufgereiht im Arbeitszimmer auf der Couch Socken, Schuhe, Taschentücher, Hemden, Hosen, Pullover, Slips und Handtücher. Morgen früh würden noch die Rasier- und Toilettenartikel dazukommen. Renate hat jahrelange Erfahrung mit Packarbeit. Sie kommt ganz ohne Checkliste aus. Die Listen unserer ersten großen Autoreisen habe ich trotzdem aufgehoben. Nun nach vielen Jahren ist es oft interessant, sie durchzublättern.

Zwei Reisetaschen, eine Foto- und eine Handtasche sind unser Gepäck. Nur das Allernötigste wird mitgenommen. Vielleicht ist es aber auch diesmal wieder zu viel. Jedes Jahr wollten wir uns beschränken und hatten doch immer wieder Sachen dabei, die unbenutzt geblieben sind. Diesmal ohne Auto und immer unmittelbar das Gepäck bei der Hand, waren wir zu echter Beschränkung gezwungen. Sollte uns etwas fehlen, muss es eben gekauft werden.

Am Dienstag gegen Abend brachten wir den Opel in die Garage von Renates Intertext-Kollegin, Bachstraße 1. Wenige Stunden davor gegen 13.30 Uhr wurde zur Sicherheit bei einem gemeinsamen Spaziergang noch einmal geprüft, ob der Zubringerbus vom Bahnhof Dresden Neustadt wirklich zum Flugplatz Leipzig fährt. Es war der Fall.

Abschiedsbrief und Testament

Der Computer war mir eine große Hilfe: für Tabellen mit allen einzelnen Konten und natürlich einer Gesamtbilanz; für Anweisungstexte, wo die Policen, Sparbücher, Schecks und Schlüssel zu finden sind; für Karteikarten mit Adressen von Verwandten, Bekannten und natürlich die eigenen Urlaubsadressen; für den Abschiedsbrief an die Kinder und das gemeinsame Testament. Gesetzt den Fall, der eine, andere oder auch wir beide landeten im kalten Ozean.

Hoffentlich bleibt wenigstens das eine unnötige Arbeit. Aber sicher ist sicher! Früher hatten wir dieses beunruhigende Gefühl nie - wie weit wir auch in die schlimme, chaotische und sozialistische Sowjetunion gefahren waren. Jetzt, da es in das sprichwörtliche Land der Freiheit und Menschenwürde geht, packt uns die kalte Angst und wir schreiben zum ersten Mal in unserem Leben vor der Urlaubsreise ein Testament.

Die neue Zeit hat uns ein ungewohntes Gefühl gebracht. Es passt genau hinein in die täglichen Schlagzeilen der Boulevardpresse, die Brandnachrichten von RTL, die stündlich tagsüber und des nachts tönenden Sirenen von Überfallwagen.

DER ERSTE TAG:Dresden -London, Mittwoch, 8. Juli 1992Mit British Airways nach London - Taxifahrt im Rolls-Royce - Cannizaro Hotel in London

Mit British Airways nach London

Es ist 12.00 Uhr. Renate sitzt da und kaut. Vor wenigen Augenblicken ist die Post gekommen mit meinem Heimatartikel im Jahrbuch "Weg und Ziel". Ich kann ihn also mit zu meiner Tante nach Amerikaner nehmen. In einer Dreiviertelstunde geht es ab zum Bahnhof.

17.55 Uhr, wir sind in Hannover auf dem Flugplatz. Alles hat bisher gut funktioniert. Pünktlich um 14.00 Uhr begann unsere Reise mit dem freundlichen Fahrer eines VW-Busses am Bahnhof Dresden-Neustadt. 15.15 Uhr sind wir dann auf dem Flugplatz in Leipzig angekommen. Nach reibungsloser Abfertigung stieg die Boeing 737 um 16.25 Uhr in Richtung Hannover auf. Der Himmel war schwach bewölkt. Man hatte guten Blick auf die schnurgerade abgezirkelten Getreideflächen. Mir kam das alles sehr schnell vor. Ich dachte nicht, daß wir schon so weit sind. Aber nach einer Viertelstunde schwebte das Flugzeug bereits über Magdeburg und nach einer halben Stunde über Hannover.

Amüsant war eine Pantomimenschau während des Fluges: Vorn stand eine etwas vollschlanke junge Frau im Britisch-Airways-Kostüm mit Streifen in Dunkelblau, Grau und Rot. Vor den Bankreihen wies sie wortlos mit dem Finger auf die Piktogramme einer Sicherheitsvorschrift, während eine Stimme über den Lautsprecher in Englisch Erklärungen abgab. Danach holte die Dame aus einem Kasten ein Sauerstoffgerät, stülpte es sich über die Nase und gestikulierte wild mit den Händen, um deutlich zu machen, was bei einer Havarie zu tun sei. Zum Schluss zog sie eine gelbe Schwimmweste über den Kopf, verwies wortlos auf den Verschluss, auf eine Reißschnur und das Pusteventil. Alles, ohne auch nur einen Ton zu sagen und als Anschauung zu dem englischen Lautsprechertext, der im ganzen Flugzeug übertragen wurde.

Abbildung 1: Am frühen Morgen im Garten des Hotels in London, vor der Fahrt zum Flugplatz.

Nach dieser Prozedur kam der Imbiss gerade recht. Es gab Aufschnitt, ein Brötchen, etwas Käse, Orangensaft, Kuchen und Kaffee.

Das Flugzeug flog von Leipzig nach Hannover nicht in allzu großer Höhe. Es setzte dann um 16.55 Uhr zur Landung an. Kurz vor dem Aufsetzen gab der Flugzeugführer noch einmal Vollgas. Die Boeing zog wieder steil hoch, flog eine riesige Rechtskurve für etwa zwanzig Minuten, setzte zum zweiten Mal zur Landung an und bewegte sich dann langsam zum Hannoverischen Flughafengebäude. Hier wurden wir hinausgebeten und hielten uns über eine Stunde auf. Ich rief meine Cousine Ursel an. Die Tochter erklärte mir am Telefon, Mutter und Vater wären bei Bekannten zum Geburtstag.

Als Renate sich etwas im Flughafengebäude umschaute, den Ort „für kleine Mädchen" besuchte, stellte ich mich abseits in ein ruhiges Eckchen und diktierte die ersten Eindrücke, wie sie hier niedergeschrieben sind.

19.15 Uhr stiegen wir in Richtung London bis auf 10700 Höhenmeter auf. Der Himmel war erst noch offen und nur zum Teil bewölkt. Zwischen den Wolkenhäufchen sah man unten die Felder. Typisch beim Flug über die alten Bundesländer gegenüber den neuen Ländern waren die kleinen unregelmäßig abgeteilten Felder in der Landwirtschaft. Man konnte direkt von oben ausmachen, was ehemals DDR- und BRD-Gebiet war. Auf einen Schlag entlang einer Linie von Nord nach Süd änderte sich urplötzlich die Feldgröße. Aus dem Schachbrettmuster für Riesen wurde kleinkariertes Pepita.

Eine halbe Stunde nach dem Aufstieg lag unter uns bereits Amsterdam, und um 20.30 Uhr zeigten sich die ersten Häuser von London. Dazwischen über dem Ärmelkanal dehnte sich eine geschlossene und wunderschön anzusehende weiße Wolkendecke.

Taxifahrt im Rolls Roys

Auf dem Londoner Heathrow-Flughafen angekommen, suchten wir uns ein Taxi. Ich nahm an, solche Autos gäbe es nur im Film. Aber tatsächlich, eingestiegen sind wir in einen uralten eckigen schwarzen Rolls Royce mit Chrombeschlägen, dessen Fahrersitz von den herrschaftlichen Polstern durch eine Glaswand mit Schiebefenster abgeteilt war. Der Fahrgastraum bot genügend Platz für einen Discotanz. Damit sollte uns der Fahrer in das Cannizaro Hotel bringen.

Eingestellt auf etwa acht Kilometer, wie es mir auf dem Reisebüro gesagt worden war, bekam ich einen immer größeren Schreck als das Taxameter von 1 auf 5, auf 10, auf 20 und bis auf 31,80 Pfund angestiegen ist. Das waren etwa 100 DM - der Urlaub fing gut an. Es half aber alles nichts, man müsste es unter Ulk verbuchen, um sich nicht schon den ersten Urlaubstag zu verderben.

Der Fahrer fand das Hotel nach einigem Suchen.

Cannizaro Hotel in London

Das Cannizaro Hotel ist ein ehemaliges herrschaftliches Palais unmittelbar in der Nähe des königlichen Golfclubs in Wimbledon. Sündhaft teure Zimmer, ein wunderschön gekacheltes Bad, alte Stiche an den Wänden, Fernsehapparat und zwei französische Betten.

Nach Ankunft im Hotel hatten wir uns etwas aufgefrischt und sind dann zu einem Spaziergang in die Umgebung für etwa eine halbe Stunde aufgebrochen.

In der Nähe des Hotels befanden sich nur feudale Villen, die aber zum großen Teil zum Verkauf - "For Sale" - angeboten wurden. Wahrscheinlich auch Villen, die vermietet werden an Spitzenspieler und deren Begleiter, wenn in Wimbledon jährlich das große Tennisturnier stattfindet.

Um 22.00 Uhr Londoner Zeit waren wir wieder im Hotel, inspizierten und benutzten das Badezimmer. Dann wurde der erste Urlaubstag mit einem kleinen Flachmann und großer Wirkung begossen. Beweis dafür ist unser eheliches Gespräch während meines abendlichen Diktates:

Renate: "Mein Mann sitzt nackicht im Chippendale Sessel!"

Abbildung 2: Wir warten auf das englische Frühstück im Londoner Hotel Cannizaro.

Armin: „Und die Ehefrau säuft!"

Das muss noch einmal gesagt werden: Ein ganz feudales Bad, marmorgekachelt bis oben an die Decke, alles weiß, die Handtücher, ein Bademantel - er hängt im Bad zur Benutzung - der Föhn an der Wand, ein Telefon im Bad. Es gibt einen in Gold gefassten Spiegel, und auf der Frisiertoilette steht ein ganzes Sortiment von Kölnisch Wasser und Parfüm.

Renate ruft mich, ob der Bademantel wohl zum Mitnehmen sei. Ich schaue mir die am Bademantel hängende Karte an: "This bathroom is provided for your personel use while staying in the hotel!"

Also wohl doch nichts mit dem Verpacken des Bademantels in den eigenen Koffer.

Das Wasser im Bad rauscht, ich spreche in das Diktiergerät. Hoffentlich ist meine Stimme zu verstehen. Der Fernseher läuft im Schlafzimmer, und über Lautsprecher wird im Bad der Ton übertragen.

Auf dem Schreibtisch im Schlafzimmer steht eine Schale mit Zimt-, Eukalyptus- und Rosenblättern, getrockneten Naturstoffen, die ätherische Öle enthalten. Sie füllen den Raum mit einem zurückhaltenden und frischen Duft. In einem Fach des Schreibtisches liegt eine in Leder gebundene Bibel. Aber das Tollste ist doch das Bad.

Wir wählen auf einer Bestellliste ein englisches Frühstück für sieben Uhr den folgenden Tag und hängen das Blatt außen an den Türknauf.

Der erste Urlaubstag war schon sehr reich an Erlebnissen. Er neigt sich dem Ende zu. Wir gehen schlafen. Es ist die Spitze meiner bisherigen Hotel-Erlebnisse.

DER ZWEITE TAG: London - Detroit, Donnerstag, den 9. Juli 1992Londoner Frühstück im Cannizaro Hotel - Mit der Piccadilly-Linie zum Flughafen Heathrow - Erste Eindrücke von der Boeing - Der Start - Lunch und Dejeuner hoch über dem Atlantik - Zwischenlandung in Montreal - In Detroit angekommen

Londoner Frühstück im Cannizaro Hotel

Es ist sechs Uhr Londoner Zeit. Wir haben sehr gut geschlafen. Ich bin schon frisch und rasiert. In einer Stunde kommt das Frühstück.

Ich diktiere leise und nehme an, Renate schläft noch. Aber schon recht munter und ironisch tönt es aus den Bettdecken: "Mein Mann hat ein neues Hobby!"

Schon lange habe ich auf irgend so eine Stichelei gewartet. Aber vielleicht irre ich mich auch, und es war eine anerkennende Bemerkung, jedoch in die eigene individuelle Ausdrucksform meines Eheweibes gekleidet.

Noch eine Bemerkung zum gestrigen Tag: Mir ist aufgefallen, daß die Engländer nicht deutsch sprechen. Sind sie zu stolz, eine andere Sprache zu erlernen im Bewusstsein der Bedeutung ihrer eigenen englischen Weltsprache? Ob sie sich darauf verlassen, daß alle Fremden englisch sprechen und verstehen? Oder haben sie nur eben Probleme mit den Deutschen und der deutschen Sprache?

Die mimischen Gebärden bei der Erläuterung der Sicherheitsvorschriften im Flugzeug, die verständnislosen Blicke des Taxifahrers und sogar der Damen am Informationsstand von Britisch Airways auf dem Londoner Flughafen Heathrow, als ich mich in deutscher Sprache nach dem Terminal 4 erkundigte, deuten darauf hin, daß es sich bei den mangelnden Sprachkenntnissen nicht um Einzelfälle handelt. Auch hier im Cannizaro Hotel müssen wir uns mit meinen sehr unvollkommenen Englischkenntnissen behelfen. An der Rezeption wird nicht deutsch gesprochen, und auch der Zimmerkellner versteht unsere Sprache nicht.

Mir ist das vor allem deshalb aufgefallen, weil ich bei allen unseren bisherigen Reisen, in welchem Land auch immer, den Eindruck hatte, daß die Angestellten in den touristischen Zentren und Einrichtungen bemüht waren, auf die Sprache des Fremden einzugehen. Das war in allen Republiken der ehemaligen Sowjetunion so, in den Ländern des Balkans, im französischen Elsass, in Dänemark und sogar in Norwegen.

Schaue ich aus dem Hotelfenster, fällt mir die Beschreibung des englischen Wetters ein. Der Himmel ist mit dunklen Wolken verhangen, der Blick lässt im grauen feuchten Dunst einen herrschaftlichen Vorgarten und die Hotelauffahrt mehr ahnen als klar erkennen.

Das Frühstück wird pünktlich von einer Zimmerkellnerin gebracht: Kaffee, Milch, Grapefruitsaft, Joghurt, ein kleines Brötchen, ein etwas trockenes Plunderstück, vier Käsescheibchen, zwei dicke Scheiben Schinken, vier kleine Baxters Marmeladedöschen mit Honig, Erdbeer- und Orangenkonfitüre. Die Letztere durchsetzt mit kleinen wohlschmeckenden Würfeln eingezuckerter Orangenschalen. Zu all dem werden noch zwei wie aus Körnern gepresste grobe Scheiben gereicht. Die Erfahrung lässt vermuten, daß es sich um Backwerk handelt. Man meint, es hätten sich Pellets auf den Frühstückstisch verirrt. Doch ehrlich zugegeben, schmeckten sie recht gut zu dem gleichzeitig gereichten Aprikosenkompott.

Das Besteck ist schwer, silbern, altenglisch.

Mit der Piccadilly-Linie zum Flughafen Heathrow

Zwölf Uhr mittags, Londoner Zeit. Wir sitzen exklusiv in der Clubklasse einer Boeing 737. In einer Viertelstunde geht der Flug ab in Richtung Montreal und Detroit.

Heute früh pünktlich 8.30 Uhr kam das Taxi. Wir warteten schon am Hotelausgang. Der Fahrer, wahrscheinlich ein Inder in schwarzem Anzug und mit Krawatte, fuhr uns, diesmal mit modernerem Auto, zur Wimbledoner U-Bahnstation. Hier eingestiegen, brachte uns die Distrikt-Linie ohne die geringsten Probleme und Schwierigkeiten bis zum Earls Court und von dort die Piccadilly-Linie zum Terminal 4 in Heathrow. Alles für insgesamt 3,50 englische Pfund, einem Zehntel des Preises von gestern. Viel länger als die gestrige Taxifahrt hatte es heute auch nicht gedauert. Nach höchstens einer Stunde waren wir schon auf dem Flugplatz. Dort hat es dann allerdings erst einmal Schwierigkeiten bereitet, sich durchzufragen und zu informieren, wohin mit Ticket und Gepäck und welche Reihenfolge bei der Abfertigung einzuhalten ist.

Abbildung 3: Das Bad im Londoner Hotel.

Zuerst waren wir bei der Gepäckkontrolle und -abfertigung, dann beim „Scheck in". Die Dame dort hat uns darüber informiert, in der Touristenklasse wären alle Plätze besetzt. Ein erster Schreck schlug in Freude um, als man uns in der Clubklasse Plätze zuwies.

Erste Eindrücke von der Boeing

Gegenwärtig sitzen wir also in einem intimen Salon mit 28 Plätzen in der Clubklasse. Vor uns an der Stirnseite des Salons eine Filmleinwand. Wir werden informiert:

Reisende in die USA müssen vor Einreise ein Formular für die Einwanderungsbehörde ausfüllen. Formular weiß: Für alle Bürger, die ein gültiges Visum für die USA besitzen. Formular grün: Für alle Bürger solcher Länder, mit denen die USA eine Vereinbarung über Visaverzicht besitzt. Dazu gehört auch die Bundesrepublik Deutschland. Formular blau: Für Reisende auf der Durchreise und ohne gültiges Visum für die USA.

Ich informiere mich in einer Bordzeitschrift von British Airways über die Boeing. Es gibt die Boeing 737 in zwei Ausführungen, die 737-200 und die 737-400, die eine für 106 und die andere für 141 Fluggäste, ihre Reichweiten 2963 und 4133 Kilometer, ihre Geschwindigkeiten 0,72 und 0,74 Mach bei 10 000 Meter Flughöhe. Die 747, in der wir jetzt sitzen, gibt es in der Ausführung 400, 200 und 100. Unsere ist wohl die 200-100 mit einer Kapazität von 373 Passagieren, einer Reichweite von 11 100 Kilometer, einer Geschwindigkeit von 0,84 Mach, Länge 70,7 Meter, Spannweite 59,6 Meter.

Das Flugzeug ist noch an der Gate. Trotzdem haben wir schon den ersten Saft serviert bekommen. Und eben wird von der Stewardess mit Pinzette ein wunderbar heißes Tuch aus einer Schale herübergereicht, getränkt mit parfümiertem Wasser.

Der Start

Punkt 12.30 Uhr. Das Flugzeug beginnt zu rollen, rückwärts weg von der Gate. Ich habe einen herrlichen Platz. Fünf bis sieben Meter schräg hinter mir sehe ich die Ansaugöffnungen des Düsentriebwerkes. Neben mir zwei, drei Fenster für einen herrlichen Ausblick. Im Augenblich ist jedoch nicht viel mehr zu sehen als Londoner Nebel.

Es beginnen die Sicherheitsinformationen. Diesmal werden sie auf der Filmeinwand vor uns übertragen und ohne gestikulierende Stewardess. Das Flugzeug hat zehn Notausgänge mit prallgefüllten Auslaufrutschen für den Fall einer Notlandung, die sich automatisch füllen. Die Schwimmweste für jeden Fluggast ist in seinem Sitz. Wir werden angewiesen, in gefährlichen Situationen die Schuhe auszuziehen.

Jetzt rollt das Flugzeug schon eine ganze Viertelstunde, seitdem wir uns von der Gate gelöst haben. Währenddessen habe ich den Esstisch gefunden, und zwar versenkbar links in der Armlehne meines Sitzes.

Die Maschine rollt langsam aus und dreht sich um ihre Achse. Neben uns draußen steht eine British Airways Boeing 767, eine Zwischenlösung zwischen 737 und 747, mit 247 bzw. 193 Passagieren.

Die Startbahn beginnt etwa hundert Meter links von unserem Standort. Eben ist dort eine 737 gestartet. Vom Lösen der Bremsen bis zum Abheben dauerte es knapp 30 Sekunden.

Jetzt fährt eine 747 auf den Anrollpunkt, gleich dahinter eine 767. Wir müssten auch bald an der Reihe sein. Es ist interessant, das zu beobachten. Ich glaube, die 747 hat eben 50 Sekunden bis zum Anheben benötigt.

Vor uns breitet sich eine Riesenstartbahn, und daneben in Warteposition steht eine ganze Reihe von Boeings. Drei sind seit unserer Ankunft bereits gestartet und es warten immer noch drei oder vier. Die nächste startet. Wir müssten dann folgen. Hinter uns stehen weitere Maschinen wartend in Position.

Alles läuft etwa so ab: Eine Boeing rollt an, rollt durch, startet. Die nächste ist am Anrollpunkt, rollt an, startet, während die nächste sich in Bereitschaft begeben hat usw. In Abständen von etwa einer halben Minute starten die Maschinen.

Hinter uns jetzt sieben, acht Maschinen. Wir auf dem Anrollpunkt. Der Flugzeugführer gibt Gas, die Düsen heulen auf: 21, 22, 23, 24, 25, immer greller wird der Ton der Triebwerke, 26, 27, 28, 29, 30, 31, 32, das grelle Heulen wird gleichmäßiger und weniger schmerzhaft, 33, 34, 35, 36, ............ 55, 56, 57, 58, 59, 60 - jetzt, die Räder heben ab, steil steigt die schwere Maschine auf. Im Magen wird es hohl. Die Boeing liegt schräg, erkennbar am Vorhang in der Tür vor uns, der bald einen Winkel von 15 Grad mit der Türfüllung bildet. In Sekunden werden unter uns die Bäume und Häuser kleiner, die Startbahnen schmaler, bis sie ganz verschwinden und sich vor den Bullaugen ein dichter Wolkennebel ausbreitet.

Wir haben vierzig Sekunden zum Abheben benötigt. Es ist diesig. Wir sind noch nicht sehr hoch, aber schon in den Wolken. Links neben mir heulen die Antriebsaggregate, nicht allzu laut, aber trotzdem stark vernehmbar.

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Lunch und Dejeuner hoch über dem Atlantik

Wir lernen eine positive Seite der Marktwirtschaft kennen. Es fing damit an, dass die Stewards mit einem riesigen Getränkewagen vorbeikamen, mit Cognac, Sekt, mehreren Wein- und Biersorten, mit Cocktails, Sherry, Säften und Mineralwasser. Wir trinken Cognac, Wein und Bier.

Dann kamen die Stewards vorbei mit einem Geschenkbeutel für Frauen und Männer: Zahnputzzeug, Rasierzeug, Erfrischungsdeo, Kamm, Zahnstocher, Wollsocken und ein Kopfhörer. Der Letztere nur zur Benutzung im Flugzeug und nicht zum Mitnehmen.

Ich probiere den Kopfhörer gleich aus: Klassische Musik auf einem Kanal, auf einem zweiten Beat und einem dritten der Ton zum Film, der auf der Leinwand läuft. Mein Kanal ist der mit Antonin Dvorak. Renate lässt die Hörer immer noch eingepackt.

Da die Hörer über meinen Kopf gestülpt sind und ich ab und zu auch angesprochen werde, fällt die Antwort immer etwas zu laut aus. Ich habe schon dreimal den Hinweis erhalten: "Schrei nicht so!"

Abbildung 4: Das erste Abendessen im Hause meines Cousins Karl Hiller, Ingenieur bei General Motors.

Jetzt geht es wieder weiter mit Getränken. Den ersten Cognac hatte ich vorhin getrunken. Geht es so weiter, bin ich bei der Ankunft in Detroit beschwipst.

Vor uns, an der Filmleinwand, wird Jelzin ins Bild gesetzt, wahrscheinlich in Wien.