Wenn Ameisen und Frauen in Eile sind... - Kreutzer Wesslund - E-Book

Wenn Ameisen und Frauen in Eile sind... E-Book

Kreutzer Wesslund

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Beschreibung

In ihrem Kopf wimmelt es nur so vor arbeitswütigen Ameisen. Aber diesmal waren sie zu weit gegangen. Hatten sie ihr, der Vollzeitunternehmerin, tatsächlich gerade nahegelegt, auf eine zwei monatige Rucksackreise zu gehen? Mit ihrer 30 Jahre jüngeren Tochter? >>Wenn Ameisen und Frauen in Eile sind...<< ist die ungeschönte Geschichte zweier Schwedinnen, die sich gemeinsam auf den Weg machen, um die wahre, die wirkliche Nachhaltigkeit Europas zu entdecken. Unwissenheit, Vorurteile, der öffentliche Druck und nächtliche Angstdämonen bringen das Mutter-Tochter-Gespann immer wieder an seine Grenzen. Bis der Generationskonflikt in Rom zum ersten Mal zu eskalieren droht. Mit einer angemessenen Portion Humor berichtet die Autorin über ungewöhnliche Bekanntschaften und spannende Erlebnisse mit faszinierenden Menschen in 19 Ländern. Diese zweiteilige Romanreihe führt den Leser an bekannte und unbekannte Schauplätze Europas. Sie lüftet, nicht ganz ohne Selbstironie, die verborgenen Geheimnisse hinter den polierten Fassaden der Nachhaltigkeit.

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Eine Mutter-Tochter-Nachhaltigkeits-Odyssee durch Europa

Es gibt nette Menschen und weniger nette, Besonders kluge und etwas dumme, Sehr starke und eher schwache. Es gibt die extrem mutigen und dann gibt es noch solche wie uns: abenteuerhungrige Angsthasen.

Simone und Linnéa

Das Leben ist wie ein Buch und wer nicht reist, liest nur eine Seite. Augustinus Aurelius

Innehållsförteckning

Alle Vergangenheit ist nur ein Prolog. Shakespeare

Wenn Ameisen und Frauen in Eile sind, droht immer ein Erdbeben. Konfuzius

Pläne sind nichts. Planung ist alles. Eisenhower

Schließe ab, mit dem was war. Sei glücklich, mit dem, was ist. Sei offen für das, das kommt. Unbekannt

Was Gastfreundschaft wert ist, weiß nur, wer von draußen kommt, aus der Fremde. Romano Guardini

Reisen ist Entdecken, dass alle unrecht haben mit dem, was sie über andere Länder denken. Aldous Huxley

Reisen ist tödlich für Vorurteile. Mark Twain

Wer ein Ziel hat, nimmt auch schlechte Straßen in Kauf. Kyrilla Spiecker

Des Menschen Seele gleicht dem Wasser. Vom Himmel kommt es, zum Himmel steigt es, und wieder nieder zur Erde muss es, ewig wechselnd. Johann Wolfgang von Goethe

Wenn du das Fliegen einmal erlebt hast, wirst du für immer auf Erden wandeln, mit deinen Augen himmelwärts gerichtet. Leonardo Da Vinci

Arm ist nicht, wer wenig hat, sondern wer viel braucht. Seneca

Manche Menschen können den Regen spüren, andere werden nur nass. Bob Marley

Ein Geheimnis ist so viel wert wie der der es uns anvertraut.Carlos Ruiz Zafón

Wenn einer keine Angst hat, hat er keine Phantasie. Erich Kästner

Gesundheit ist die erste Pflicht im Leben. Oscar Wilde

Was wir wissen, ist ein Tropfen, was wir nicht wissen, ein Ozean. Isaac Newton

Langfristig ist die schärfste Waffe von allen ein freundlicher und sanfter Geist. Anne Frank

Karte, Logo, Reisefotos

Einklang des Denkens schafft Freundschaft. Demokrit von Abdera

Es lebt nur der, der lebend sich am Leben freut. Menander der Athener

Bekanntschaften, wenn sie sich auch gleichgültig ankündigen, haben oft die wichtigsten Folgen. Johann Wolfgang von Goethe

Du kannst den Wind nicht ändern, aber du kannst die Segel richtig setzen. Aristoteles

Nach dem Sternenhimmel ist das Größte und Schönste, was Gott erschaffen hat, das Meer. Adalbert Stifter

Italienisch ist eine Gebärdensprache, deren Verständlichkeit durch Worte erschwert wird. Anthony Quinn

Wenn wir uns nicht schämen, es zu denken, sollten wir uns nicht schämen, es zu sagen. Cicero

Ich habe eine Stadt aus Backstein vorgefunden, und ich habe Euch eine Stadt aus Marmor hinterlassen. Augustus

Mut ist nicht, die Kraft zu haben, weiterzuma- chen. Mut ist, weiterzumachen, wenn man keine Kraft hat. Napoleon Bonaparte

Der Mensch ist ein Wolf für den Menschen. Thomas Hobbes

Die größte Freiheit ist es, keinen Käfig zu brau- chen. Kurt Tucholsky

Böses Wetter, böses Wetter! Es entladen sich die Götter, Reinigen ihr Wolkenhaus, Und die Menschen badens aus. Franz Grillparzer

Erst die Fremde lehrt uns, was wir an der Heimat haben. Theodor Fontane

Wer in der Zukunft lesen will, muss in der Vergangenheit blättern. André Malraux

Es ist das Schicksal jeder Generation, in einer Welt unter Bedingungen leben zu müssen, die sie nicht geschaffen hat. John F. Kennedy

Einige Passivhausübernachtungen

Alle Vergangenheit ist nur ein Prolog.Shakespeare

»Obacht«, rief der junge Mann mir zu.

Zu spät, ich lag bereits inmitten der kniehohen weißen Pracht. Auf Schnee war ich wirklich nicht eingestellt. Der Mai stand vor der Tür.

Ich spürte, wie feuchter Matsch in meine roten Sneakers eindrang und sich meine Socken bis zu den Knöcheln hoch vollsogen. Widerwillig rappelte ich mich auf, klopfte den feuchten Schneematsch von meiner Allwetterhose, zog den gestrickten Leihpullover zurecht und sah nervös den Berg hinunter. Mein Herz raste und meine Blase drückte.

»Geh ned so nah an den Rand«, hörte ich die gleiche Stimme ein weiteres Mal zu mir sprechen.

David hatte den blau-weißen Schirm bereits hinter uns ausgebreitet. Der erste Karabinerhaken klickte ein und dann ein weiterer. Ein Helm wurde mir in meine schwitzige Hand gedrückt. Was machte ich hier eigentlich?

Meine Tochter hockte auf dem einzigen schneefreien Stein und hob nun ihr Handy, bereit, diesen Moment für die Ewigkeit festzuhalten.

»Fix da ein Punktn am Horizont. Sengd's de Kirch?«

Ich sah haarfeine Schlangenlinien und viele winzige Flecken zwischen hellgrünen Wiesen und dunklen Wäldern, im Tal. Einer der Punkte konnte vielleicht ein Gotteshaus sein. Ich fixierte ihn und nickte. Es war hoch, verdammt hoch. Eintausendfünfhundertneunundsechzig Meter glaubte ich an der Seilbahnstation gelesen zu haben.

Leicht vorgebeugt lugte ich noch einmal, etwas verunsichert, vom Hochries hinunter ins Tal. Dann schloss ich die Augen. Ich erinnerte mich an die Achterbahnfahrten aus meiner Kindheit: Was man nicht sah, war auch nicht gefährlich.

»Du musst scho hingucken«, wiederholte mein inzwischen sehr enganliegender Begleiter hinter mir, aber der Kirchenpunkt verschwamm immer wieder vor meinen Augen.

»Du brauchst di feschthalten.« Er deutete auf die Gurte an seiner Seite.

»Und vergiss ned, einfach im Sitzbett neihupfen.« Da meinte er wohl den schlafsackähnlichen Kindersitz, der an meinem Hinterteil baumelte.

»Wann i ruf LAUF, dann laufst du so schnell du koaust aufn Abgrund zua«, waren seine letzten Worte.

Er rief, ich lief.

Das überdimensionale Kreuz thronte auf dem Gipfel des Berges. Ich versuchte, mich zu erinnern, wie genau ich eigentlich in diese wagemutige Situation gekommen war und warum.

Wir mussten erst springen, um landen zu können, Mussten fallen, um wieder aufzustehen, Sollten Angst überwinden, um mutig zu werden, Mussten vertrauen, um zu wachsen, Erkennen, um zu verstehen, Verlieren, um zu gewinnen.

Wenn Ameisen und Frauen in Eile sind, droht immer ein Erdbeben.Konfuzius

»Ich weiß nicht. Eigentlich wollte ich mit dem Rucksack durch Europa reisen«, kam es aus der anderen Leitung, »aber ich habe noch niemanden gefunden, der mich begleiten will. Meine Freunde sind alle entweder schon am Studieren oder müssen arbeiten. Naja und alleine …«

Eigentlich hatte ich nur eine rhetorisch gemeinte Mutterfrage gestellt:

»Kind, was willst du denn die letzten Monate vor deinem Studium noch so machen?«

Aber das, was sie da gerade sagte, ließ mich aufhorchen. Ich spürte, wie meine Ameisen sich sammelten, allen voran die Königin. Sie begab sich in Habachtstellung, blätterte im Kopf meine Termine durch, wägte Vor- und Nachteile ab und zwang mich letztendlich zu der einzig dienlichen Antwort:

»Ich kann doch mitkommen!«

Natürlich hatte die Ameisenkönigin mal wieder viel zu spontan ihren Mund aufgemacht, aber vielleicht wollte sie auch nur die Reaktion ihres Gegenübers auf Facetime testen. Mut hatte sie.

»Warum nicht«, war die zwar etwas passive, aber vor allem doch völlig überraschende Antwort von Linnéa, meiner 20-jährigen Tochter.

Siehst du, grinste die Königin in sich hinein. Die erste Hürde war genommen. Wähle nun dein Ziel mit Bedacht.

Sie pfiff ihre Arbeiter zurück und ich begab mich wieder in meine Winterdepression. So war das Ende Januar in Schweden. Es war kalt und dunkel. Noch drei Monate kein Blatt am Baum und kein Licht am Ende des Tunnels. Eine Urlaubsreise mit meiner Tochter durch Europa, in die Sonne, in die Wärme, nur wir beide: das wäre sicher eine willkommene Abwechslung. Oder hatte ich gerade die Büchse der Pandora geöffnet?

Vor 23 Jahren war ich von Lübeck in die schwedische Holzbau-Metropole Småland ausgewandert. Holzbau hatte ich studiert und Holzhäuser wollte ich bauen, in einem Land, in dem solche nicht als kümmerliche Bungalows geächtet wurden. Doch dann wurde ich Passivhaus-infiziert.

Ich hatte den Auftrag Passivhaus-Holzhäuser, für einen Schwedenhaus-Hersteller, als Exportschlager nach Deutschland, zu entwickeln. So kam ich von Schweden aus zum ersten Mal in Kontakt mit dem deutschen Passivhaus Institut in Darmstadt. Ich wurde sofort entflammt wie ein Osterfeuer. Gebäude, die so gut gedämmt waren, dass sie kaum Heizenergie brauchten – das war die Zukunft! So sollte man bauen. So musste man bauen. So und nicht anders.

Nichts und niemand konnten mich bremsen. Mich, die 27-jährige, ambitionierte, blondierte, deutsche Ingenieurin. Ich wusste genau, was ich zu tun hatte, trampelte meinen neuen Chefs auf die Füße, stellte schwedische Holzbautraditionen infrage und machte mich so richtig unbeliebt in der Baubranche meiner neuen Heimat. Rückblickend wundert es mich, dass ich nicht als landesverräterischer Querulant ausgewiesen wurde. Aber so sind sie nicht, die Schweden. Sie sagen dir nichts Unangenehmes, jedenfalls nicht ins Gesicht.

Nun stand ich kurz vor dem magischen Alter Fünfzig und begann schwermütig auf mein Leben zurückzublicken. War ich zu einer Einzelkämpferin mutiert?

Vor zwölf Jahren hatte ich meine eigene Passivhaus-Firma gegründet. Seitdem reise ich als Missionarin quer durchs Land, halte Vorträge, baue Passivhaus-Schulen und habe durchaus Erfolg in meinem Beruf als Energieberaterin.

Heute wohne ich mit meinem Mann Tommy in einem selbstgebauten, runden Passivhaus, mitten im Wald.

Unsere Familie hatte sich vor zehn Jahren, mit unserem Sohn Leon, noch einmal vergrößert. Eigentlich sollte ich glücklich sein, genau hier und genau so, wie es gerade war. Trotzdem hatte ich Zweifel. Sollte es das schon gewesen sein? Irgendetwas fehlte mir. Brauchte ich ein neues Abenteuer? Eine letzte große Reise? Oder war mein Zug bereits abgefahren? War ich etwa schon zu alt, kraftlos und eingerostet?

Als junge Frau war ich sportlich, hatte, wie meine Vormütter, die Figur einer Ausdauerläuferin. Heute, 30 Jahre später und 15 Kilogramm üppiger, reichte meine Kondition gerade noch für einfache Yogaübungen. Meine Haare hatte ich mir vor kurzem abgeschnitten – sie, dem Alter zum Trotz, zu einer P!nk-Frisur kürzen lassen. Allerdings hingen meine dünnen, blonden Haarsträhnen nur schlaff über den abrasierten unteren Haaransatz und brachten nicht wirklich den erwünschten rebellischen Effekt.

Außerdem bin ich der geborene Angsthase. Angst gehört zu den Stärken meiner Schwächen.

Es begann bereits als Teenager. Nach jedem Diskobesuch – und das waren viele – musste mich irgendein Freund nach Hause bringen. Einmal hatte mich ein Bekannter für die Liebe seines Lebens sitzen gelassen. Ich rannte die drei Kilometer vom Jugendclub bis nach Hause, als hätte ich eine olympische Medaille zu erwarten.

Lauf, Simone, lauf.

Als ein Mädchen in meiner Nachbarschaft von einem Mann, der sich als angeblicher Elektriker Eintritt in ihre Wohnung verschaffte, misshandelt wurde, bekamen meine Ängste konkrete Bilder.

Es ist mir auch heute noch ein Graus, alleine in unserem Haus, am Waldrand zu übernachten. Wenn Tommy auf Reisen ist, muss mein kleiner Sohn Leon immer in Papas Bett schlafen. Als ob der Knirps mich vor allem Bösen der Dunkelheit bewahren könnte.

Im Flur habe ich sogar einmal Legosteine ausgelegt. Ich glaubte damit vermeintliche Einbrecher, die natürlich schwedentypisch beim Betreten des Hauses ihre Schuhe auszogen, mit schmerzhaften Fußsohlen zum Davonlaufen animieren zu können.

Simone alleine zu Haus.

Ständig plagt mich die Angst zu scheitern, nicht abzuliefern, nicht auszureichen. Auch wenn man in Schweden die Gleichberechtigung der Frau betont, so ist die Baubranche noch immer eine Männerdomäne. Ich musste doppelt so hart arbeiten, um die Hälfte der Anerkennung eines Mannes zu erhalten.

Manchmal ist der richtige Weg nicht der einfachste Weg.

Umso überraschter war ich, als ich vor ein paar Jahren hörte, wie ich scherzhaft von meinen männlichen Berufskollegen genannt wurde: die eiserne Lady.

Anscheinend spiele ich die Rolle der taffen, selbstbewussten Geschäftsfrau gut. Eine robuste Fassade verbirgt die weiche Dämmung in meinem Inneren. Nur wenige wissen von dem zerbrechlichen, sensiblen Kern und noch weniger kennen den Auslöser.

Vor ein paar Jahren hatte es auch mich erwischt, wie viele andere Branchenkollegen zuvor: ein Burnout deaktivierte meinen kompletten Energievorrat.

Ich bin ruhiger geworden, verwende meine Energie bewusster und lasse stattdessen die Realität Geschichte schreiben. Ich habe zwar noch immer genügend Ameisen im Kopf, die mich animieren und nicht zur Ruhe kommen lassen, aber ich wusste sie im Zaum zu halten … bis zu diesem Moment. Gerade hatte mich ihre Spontanität erneut überrumpelt. Jetzt sahen sie mal wieder ihre Chance: Fahr mit deiner Tochter durch die Welt, riefen sie aufgeregt.

Ich habe eine starke Bindung zu meiner Tochter Linnéa. Sie ist meine Schwedenprinzessin, meine Perle.

Dass sie lebt, ist ein kleines Wunder und kein bisschen selbstverständlich. Es war eine schwierige Geburt vor 20 Jahren, die mit einem Notkaiserschnitt endete. Vielleicht waren es diese 17 Stunden voller Todesangst, die den engen Knoten unseres Bandes flochten.

Nicht alle Bande in meinem Leben waren so beständig wie dieses. So wurde auch Linnéa, wie ich, ein Trennungskind.

Seit ihrem siebten Lebensjahr wohnte sie abwechselnd eine Woche bei mir, mitten im småländischen Wald und dann wieder eine Woche bei ihrem Papa, in der Stadt.

Kurze Trennungen waren wir gewohnt und ehrlich gesagt, die taten uns auch gut. Ich dachte zurück, an die unendliche Anzahl zugeknallter Türen und die zig Male, die sie wütend in den Wald rannte, um ihrer nervigen Mutter zu entkommen. Eigentlich sollte ich froh sein über die räumliche Distanz, die wir im Moment hatten.

Seit fünf Monaten befand sich Linnéa nämlich in Darmstadt, 1.000 Kilometer von mir entfernt. Sie war das erste Mal, so richtig lange, alleine von zu Hause weg.

Nach dem Abitur wollte sie unbedingt eine Pause vom Lernen einlegen. Sie wollte eigenes Geld verdienen, ein bisschen Abenteuer und gerne für ein Praktikum ins Ausland.

Ich verschaffte ihr ein Vorstellungsgespräch beim Passivhaus Institut und sie nahm es an, das sechsmonatige Praktikum bei der iPHA, der international Passive House Association.

Jetzt vermissten wir einander, obwohl wir uns im September zu einem Workshop in Irland trafen, ich sie im November in Darmstadt besuchte und wir natürlich auch Weihnachten zusammen verbracht hatten. Mal abgesehen davon, gingen täglich so um die zehn bis 20 Textmitteilungen bei mir ein.

Linnéa ist ein Herdenmensch und Herdenmenschen brauchen eine Herde. Ihre Herde ist groß. Sie besteht aus zwei eigenständigen Familien, vielen Freunden und einem weitreichenden sozialen Netzwerk. Sie würde sich am liebsten um alle kümmern. Mit hochgesteckten Zielen will sie es immer jedem recht machen. Dabei setzt sie sich selbst ständig unter Druck.

Außerdem ist auch Linnéa ein Angsthase. Leider habe ich diese überflüssige Begabung an mein Kind vererbt.

Sie will nachts nicht alleine sein, nicht zu Hause, nicht im Hotel und auch nicht in ihrer WG-Wohnung, in Darmstadt. Geht das einmal nicht zu vermeiden, lässt sie in der gesamten Wohnung das Licht brennen und das, obwohl sie im Hellen nicht einschlafen kann. Linnéa hat außerdem unbeschreibliche Angst vor Insekten aller Art. Spinnen, Käfer, Ameisen sind ihr ein Greul. Wenn sie eines dieser Krabbeltierchen in ihrer Nähe entdeckt, schreit sie immer, als wäre Norman Bates mit einem Messer hinter dem Duschvorhang aufgetaucht.

Und sie hat Entscheidungsängste. Jede Entscheidung muss zunächst von ihrer gesamten Herde, am liebsten einstimmig, angenommen werden. Mein Kind steht ständig unter Strom. Ihr Stresspegel könnte die Schutzdeiche eines Jahrhunderthochwassers zum Überfluten bringen.

Dabei ist Linnéa empfindsam und sensibel, genau wie die Herkunft ihres Namens sie beschreibt. Sie ist eine Linnéa: die Landschaftsblume von Småland.

Mein zartes Pflänzchen hat Schneewittchen-weiße Haut und braune, schulterlange Haare. Ihre Augen sind eine Mischung aus Grün, von mir und Braun, von ihrem Vater.

Sie ist ein schlankes, fast dünnes Mädchen, etwas kleiner als ich, aber mit genauso starkem Willen und großem Ehrgeiz.

Zwei Generationen wollten nun also gemeinsam auf Reisen gehen. Wir hatten das gleiche Ziel. Aber hatten wir auch den gleichen Weg?

Ich gehöre zur sogenannten Generation X. Ein ehemaliges Schlüsselkind, das nach dem Mauerfall, frei von Konsequenzen, die geballte Überflussgesellschaft genießen durfte. Ich bin ganz klar ein akademisches Arbeiterklassekind. In mir schlummert noch immer der Punkrocker, verkleidet als akkurate Ingenieurin. Meine veralteten Ameisen stammen aus zwei verschiedenen Gesellschaftsordnungen. Sie wollen beides: soziale Gerechtigkeit und Wirtschaftswachstum.

Im Osten Deutschlands groß geworden zu sein, bedeutete für mich außerdem auch, kaum Englisch sprechen zu können.

Und meine wenigen Freunde auf Facebook kannte ich tatsächlich fast alle persönlich.

Linnéa gehört zur Generation Z, deren Lebensstil und Aussehen von Influencern bestimmt wird. Der Wert eines Menschen errechnet sich aus der Anzahl seiner Likes und Abonnenten. Eine zwiespältige Generation, deren Konsumbedarf genauso groß ist, wie ihre Ängste. Die einen kleben sich mit Sekundenkleber made in China auf Straßen fest, die anderen shoppen Kleider fünf zum Preis von vier, von derselben Diktatur.

Bei Fridays for Future demonstrieren sie auf den Straßen, die anderen sechs Tage in der Woche fehlt ihnen die Orientierung.

Extreme auf beiden Seiten. Schwer, sich in solch einer Welt zurechtzufinden, noch dazu, wo alles, absolut alles, auf den sozialen Medien gefeiert oder niedergemacht wird.

Wir, Mutter und Tochter, haben aber auch eine Menge Gemeinsamkeiten, die unser Zusammensein regelmäßig auf die Probe stellen: Dickköpfigkeit, Ungeduld, Gerechtigkeitssinn, Selbstzweifel, Ängste und Ameisen, viele Ameisen.

Alles Fremde ist für uns mit Unsicherheit verbunden. Dazu kommen die Ängste, allen Erwartungen, die wahrscheinlich gar keiner an uns hat, gerecht zu werden. Die äußere Fassade muss halten, ohne dabei den inneren Kern zu offenbaren oder gar zu verletzen.

Außerdem sind Linnéa und ich Stadtmenschen. Natürlich lieben wir die Natur, aber eher aus sicherer Distanz und schon gar nicht mitten in der Nacht. Erst Tommy gelang es, uns ab und an zu Fahrradtouren, Zeltausflügen und längeren Wanderungen zu überreden.

Hatte ich tatsächlich gerade eine Mutter-Tochter-Rucksackreise in die Fremde vorgeschlagen? War ich denn völlig lebensmüde?

Ich lag also die kommende Nacht wach und ließ mir die Vorteile und Nachteile einer Europareise mit Linnéa noch einmal durch den Kopf gehen.

Vorteile:

Linnéa und ich Tag und Nacht zusammen,

Dem grauen Alltag entfliehen,

Neue Menschen treffen,

Endlich Englisch lernen,

Durch Europa reisen,

Nachteile:

Linnéa und ich Tag und Nacht zusammen,

Meinen Mann, Leon und meinen Hund alleine lassen,

Mein sicheres Zuhause im Wald verlassen,

Meine Firma alleine lassen,

Meine laufenden Passivhausprojekte abgeben,

Keine Einnahmen,

Hohe Kosten,

Ängste.

Das waren ganz klar zu viele Nachteile, vermittelte ich anschließend meinem enttäuschten Armeisenvolk und widersetzte mich, in dieser Nacht, ausdrücklich einer äußerst argwöhnischen Königin.

Aber wer, wie ich, den Kopf voller Ameisen und den Hintern voller Hummeln hatte, der wusste, so schnell gaben diese nützlichen Insekten nicht auf.

Bereits am nächsten Morgen hatte mir die Ameisenkönigin ihren Geschäftsplan per Einschreiben zukommen lassen:

Mach aus dem Mutter-Tochter-Trip eine offizielle Studienreise, gab sie ihre Idee zum Besten. Damit kannst du das Finanzielle lösen. Überwindet eure Ängste zusammen, schlug sie mir vor. Reist ökologisch, mit dem Zug, durch Europa. Übernachtet in Passivhäusern. Ernährt und kleidet euch umweltbewusst. Und teilt die Erlebnisse eurer Nachhaltigkeitsreise, auf Instagram, mit der Welt: #PassiveVoyage.

Hatte die Ameisenregentin gerade einen Masterplan in meinem Kopf ausgeklügelt?

War diese Reise unsere letzte Chance auf eine gemeinsame Zeit?

Wenn ich es gut plante, alles voraussah, nichts dem Zufall überließ, könnten wir es vielleicht zusammen schaffen.

Nachhaltigkeit ist nicht nur Bauen und Wohnen, sondern so viel mehr. Kleidung, Nahrung, Reisen, unsere gesamte Lebenseinstellung. Ich überlegte.

Sich nachhaltig zu kleiden, war möglich. Ich dachte an die Kleidungsstücke aus Holzfasern, die wir bereits auf einer Tagung vorgestellt hatten. Mit nur einem T-Shirt sparte man um die 1.000 Liter Wasser, 150 Milliliter chemische Produkte und 75 Prozent Kohlendioxid, verglichen mit einem konventionellen T-Shirt aus Baumwolle. Daran erinnerte ich mich.

Ganz auf Fleisch zu verzichten, ist für viele Menschen bereits völlig normal. Für uns nicht. Wir könnten auf unserer Reise die vegetarische Küche Europas testen, freute ich mich. Wir sind beide gute und leidenschaftliche Köchinnen und ließen uns gerne inspirieren. Aber würde Linnéa das mitmachen? Zwei Monate ganz ohne Fleisch?

Mir kamen weitere Gedanken in den, inzwischen voller Ameisen nur so wimmelnden, Kopf. Warum nicht auch auf Verpackungsmüll verzichten und Alternativen finden? Wir könnten Thermosflaschen und Mehrweggeschirr einpacken und versuchen, unseren Reiseproviant nachhaltig aufzufüllen.

Warum nicht tatsächlich über unsere Reiserfahrungen auf den sozialen Medien berichten? Vielleicht könnten wir Klimaschützer treffen oder Journalisten oder Politiker?

Wahrscheinlich würden wir selbst Unmengen dabei lernen und könnten unseren Lernprozess mit anderen teilen und sie inspirieren.

Zeigen wir Europa die guten Beispiele, die Lösungen, die Klimaerfolge. Es gab so viel Gutes, wovon die Wenigsten wussten. Vielleicht könnten wir mit unserer Reise wirklich etwas bewirken?

Ich hatte mich von meinen Ameisen so in Rage bringen lassen, dass ich alles um mich herum vergaß und nur noch ein Ziel hatte.

Entgegen aller Regeln der Vernunft wollte ich mit meiner 30 Jahre jüngeren Tochter Linnéa zwei Monate lang auf Reisen gehen. Fremde Menschen treffen, fremde Länder sehen, fremde Traditionen erleben, fremde Übernachtungsplätze testen, fremde Sprachen sprechen.

Ich hatte tatsächlich den Verstand verloren.

***

Pläne sind nichts. Planung ist alles.Eisenhower

So sind sie, die Monarchen, sie treffen weitreichende Entscheidungen. Danach überlassen sie die ganze Arbeit dem Fußvolk.

Ich begann also mit der Planung der Planung. Angenommen, Linnéa befindet meine Idee für gut, was bräuchten wir dann alles, um unsere Nachhaltigkeitsreise durchführen zu können?

Alles dem Zufall zu überlassen, einfach planlos draufloszufahren, das lag nicht in meiner Natur und auch mein Energiespeicher war dafür einfach nicht mehr voll genug.

Eigentlich sollte ich jeden Stress vermeiden, sowohl negativen als auch positiven, und die Warnsignale frühzeitig erkennen. Ich sollte das tun, was man Frauen kurz vor den Fünfzigern nahelegt: Stricken, Gartenarbeit und Meditation. Ganz sicher kamen keine dieser Frauenzeitschriftenweisheiten im Tagesablauf einer Nachhaltigkeitsreise vor. Das ließ in mir die bekannten Warnglocken läuten. Pass auf! Mach langsam! Vermeide Stress! Hätten sie doch bloß etwas lauter geläutet und die Ameisenarmee zum Zapfenstreich kommandiert.

Ich weiß, wie ich bin und ich wusste, welchen Druck ich mir und Linnéa machen konnte.

Wir mussten die Planung zwischen uns aufteilten. Daran führte kein Weg vorbei. Außerdem brauchten wir deutliche Stopp-Zeichen für den sicheren Erhalt unserer Mutter-Tochter-Beziehung.

Grün, Gelb, Rot, schlug ich vor, als Verhaltensregel in der Verhaltensregelliste. War das etwa übertrieben?

Ich schrieb nieder, was sie und was ich zu tun hätten, vor der Reise, während der Reise und nach der Reise. Am nächsten Tag präsentierte ich meine Ergebnisse einer verblüfften Tochter, in 1.000 Kilometern Entfernung.

»Was sagst du?«

»Du meinst es also wirklich ernst?«

»Du nicht?«

»Doch, doch, na klar.«

Ich merkte schon seit einiger Zeit, an Linnéas gedrückter Stimmung, dass sie Sehnsucht hatte. Vielleicht würde sie die Planung unserer Reise ablenken, ihr ein Ziel schenken, auf das sie sich freuen konnte.

Sie vermisste ihre Herde und lustigerweise auch unser einsames Passivhaus, im Wald. Sie klagte erst über extreme Hitze in ihrem WG-Zimmer, dann über Straßenlärm und seit Herbst über eisige Kälte, die durch alle Ritzen der ungedämmten Fenster und Wandanschlüsse hineinzog.

Mit meinen neu erstellten Listen bekam Linnéa nun eine konkrete Reiseplanung mit Aufgabenverteilung, wie sie nur eine wie ich, im Sternzeichen Jungfrau Geborene, verfassen konnte.

Ich wusste nicht, ob es die Überrumpelung war oder ob sie die Reiseidee wirklich gut fand. In jedem Fall bekam ich einen, für ihre Verhältnisse, unglaublich positiven Zuspruch:

»Ok. Wir machen die Reise.«

Glücklich über den Erfolg, stürzte ich mich in die detaillierte Ausarbeitung meiner Listen. Zuerst die Reiseroute, dann der Reisezeitplan. Tag für Tag. Ich rief deutsche Branchenkollegen an und bat um Hilfe bei der Suche nach Passivhaus-Übernachtungsstätten.

Wir hatten zwei Monate Vorbereitungszeit, um zwei Reisemonate zu planen. Was ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht wusste, es sollten am Ende noch zwei weitere Monate dazukommen, um das Erlebte einigermaßen verdauen zu können.

Mein Mann Tommy wusste es von Anfang an: ich würde nicht nur zwei Monate komplett abwesend sein, sondern ein ganzes halbes Jahr. Er ist der Alleswisser in unserer Familie, der Tüftler, der Macher, der Problemlöser. Tommy hatte recht. So war es immer, wenn ich arbeitete, wenn ich malte, wenn ich schrieb. Ich verschwand in meine eigene Welt, tief, unergründlich, angespannt und alleine mit meinen Ameisen.

Wenn sie erst einmal losgelassen waren, meine Insekten, dann formatierten sie sich, vermehrten sich und blockierten alle Eingänge zur Wahrnehmung und zur Teilnahme an meiner Umgebung.

Ich entschied mich dafür, Sponsoren zu suchen, obwohl ich wusste, dass genau dies mir am Ende das Genick brechen könnte: die Abhängigkeit und der Druck abzuliefern, komme was wolle.

Ich würde niemals jemanden enttäuschen, der auf mich setzte. Also bildete ich mir ein, dass jeder Sponsor, den ich in der Baubranche fand, von mir auch eine Gegenleistung erwartete. Denn auch nachhaltige Hersteller spendieren ihr Geld nicht nur aus einer Laune heraus an eine Mutter-Tochter-Europa-Reisegemeinschaft. Ich bot an, Firmenbesuche und damit Reportagen über diese Hersteller in unsere Reiseplanung miteinzubinden. Weitere Extrastationen kamen zu dem bereits engen Zeitplan hinzu. Keine gute Basis für einen ehemaligen Burnouter.

Linnéa hatte in den letzten Monaten eine beeindruckende Persönlichkeitsentwicklung hingelegt, vom Berufseinsteiger zur selbstbewussten PR-Praktikantin. Fast alle ihre Korrespondenzen führte sie auf Englisch und ihr Kontaktnetz in der jungen europäischen Passivhausszene wuchs täglich. Mein Fokus war deutsch und schwedisch, Linnéas hingegen international.

Daher stand auf ihrer Liste, die englischsprachigen Kontakte ausfindig zu machen, während ich mich auf die Kollegen und Freunde konzentrierte, die der deutschen Sprache mächtig waren.

Wir facetimeten jeden Tag, manchmal mehrfach. Unsere Reiseroute nahm Gestalt an: Schweden, Dänemark, Deutschland, Österreich, Italien, Kroatien, Rumänien, Griechenland, Frankreich, Spanien, Portugal, Luxemburg, Belgien, die Niederlande und zurück nach Hause. Das war die grobe Orientierung.

Entlang dieser Route suchten wir unsere Passivhauskontakte: Deutschland und Österreich waren ein Selbstläufer. Linnéas Kontakte zu Portugal und Spanien: sonnenklar.

Zwei Wochen waren wie im Fluge vergangen und wir füllten die Reiseliste. Fast ein Drittel unserer Übernachtungen stand fest.

Da erwachte ich eines Nachts schweißgebadet aus einem Traum, der keiner war. Vor mehreren Monaten hatte ich begonnen, ein Ehemaligentreffen meiner Fachhochschule in Lübeck zu organisieren, das von meinen neugepolten Ameisen völlig vergessen worden war.

An diesem Datum waren wir nun laut meiner akribisch geplanten Reiseroute in Athen.

Es war drei Uhr morgens. Ich krabbelte, schockiert über meine eigene Dummheit, aus dem gemütlichen Nachtlager, öffnete den Computer und begann umzuplanen. Wir müssten nach der Hälfte der Reise zurück nach Norddeutschland. Ich verschob die Reisedaten, nahm Abschied von der Baumesse in München, die ich gerne besucht hätte und schickte E-Mails an meine bereits zugesagten Kontakte. Hoffentlich sprang keiner ab.

Meine verschlafenen Männer stießen zum Frühstück zu mir und schüttelten verständnislos den Kopf.

»Was hat Mamma denn nun schon wieder mit ihren Ameisen?«, hörte ich meinen Sohn stöhnen.

Linnéa überraschte ein weiteres Mal mit ihrer Gelassenheit:

»Kein Problem, dann fliegen wir kurz von Athen zurück nach Hamburg«, waren ihre ersten Gedanken, bis sie selbst den Fehler in der normalerweise so einfachen Lösung erkannte. Fliegen war natürlich keine Option auf einer Nachhaltigkeitsreise.

»Wir müssen die Route ändern«, schlug ich vor. »Schweden, Finnland, Estland, Lettland, Litauen, Polen, Österreich, die Slowakei, Bulgarien, Griechenland, Italien, Deutschland, Tschechien, Schweiz, Frankreich, Spanien, Portugal, Belgien, die Niederlande, Dänemark und zurück nach Hause.« Dieser Weg ergab sich aus meiner nächtlichen Ameisenaktivität.

»Was denkst du?«

»Ok«, kam es fast sorgenfrei zurück. Obwohl ihr sicher die direkte Reise in den Süden lieber gewesen wäre.

»Übrigens, die Briten haben sich über LinkedIn bei mir gemeldet. Die möchten, dass wir auch auf die Insel kommen und deren Passivhausarbeit vorstellen. Schaffen wir das?«

Ich dachte kurz nach. Dann müssten wir die Reise um mindestens zwei Wochen verlängern. War das wirklich eine gute Idee?

»Naja, wir wollen schließlich nicht für einen zweiten Brexit verantwortlich gemacht werden«, stimmte ich am Ende zu.

»Wenn du die Britenplanung übernimmst, dann von mir aus.«

Wir machten uns erneut ans Werk, neue Länder, neue Kontakte, neue Passivhäuser.

Die mittlerweile hochmotivierte Linnéa kümmerte sich derweil um Interrail. Wir entschieden uns, den Empfehlungen von Kollegen zu folgen und ein Erste Klasse Ticket zu kaufen. Den Sponsoren sei Dank. Dass uns dieses am Ende nicht viel nützen würde, ahnten wir bis dato noch nicht.

Überhaupt waren die Interrail-TikTok-Videos, die Linnéa mir als Vorfreude auf unsere baldige Reise permanent zuschickte, so weit von der bevorstehenden Wirklichkeit entfernt, wie Deutschland von der Klimaneutralität.

Auf der jährlichen Passivhaustagung im März, in Wiesbaden, war fast die Hälfte unserer Reiseplanung in Sack und Tüten. Dort hatte Linnéa ihren großen Auftritt und stellte unsere geplante Reise dem Fachpublikum vor. Ich war extrem stolz, wie souverän sie das tat.

Selbst der Erfinder des Passivhauses beendete seine Eingangspredigt mit einem Hinweis auf unseren Nachhaltigkeitsstrip. Wow. Wir hatten es geschafft. Nun würden sich hunderte, ja tausende Passivhauskollegen mit Reiseideen und Projekten auf uns stürzen, uns ihr energieeffizientes Zuhause anbieten, uns Kontakte vermitteln, uns mit neuen Sponsoren helfen.

Weit gefehlt.

Diese erste Euphorie legte sich spätestens am Ende der Konferenz. Nur ein neuer Kontakt nach Bulgarien und einer nach Holland waren die spärliche Ausbeute unserer, wie wir glaubten, gut gesetzten Saat. Tatsächlich gab es sogar Gegenstimmen, speziell aus Italien, Frankreich und Holland. Hier schienen die Akteure der Szene nicht zusammenarbeiten zu wollen. Wir wurden nicht nur nicht unterstützt, sondern die Wahl unserer Gastgeber sogar infrage gestellt. Die Enttäuschung war groß, zumindest bei mir. Linnéa dagegen wurde immer cooler.

»Ach Mamma, das wird schon, die melden sich sicher später von zu Hause aus … und wenn nicht, dann suchen wir uns eben ein Hotel.«

Für mich war die diesjährige Passivhaustagung eine Ernüchterung. Seit Corona die Welt überrollt hatte, waren diese so wichtigen Energiebooster vollständig eingebrochen. Aussteller blieben weg, hybride Vorträge machten die persönliche Anwesenheit unpersönlich und fehlende Einnahmen ließen selbst die so wichtige Abendveranstaltung billig und wertlos erscheinen.

Linnéas Praktikum in Deutschland war mit dieser Tagung beendet und sie zog mit uns wieder zurück nach Schweden.

Zog war in diesem Zusammenhang auch so gemeint. Trotz mitgebrachter Dachbox und geteilter hinterer Sitzbank, konnten wir nur mit Mühe ihren anscheinend weit aufgestockten Einpersonenhaushalt in unserem schwedischen Mittelklassewagen unterbringen.

Von diesem Moment an blieben uns noch genau drei Wochen bis zum Start unseres Abenteuers. Und die wurden ein Vorgeschmack auf die kommenden zwei Monate.

Linnéa hatte nämlich eine Menge anderer Dinge zu tun, als mit ihrer Mutter Listen zu erstellen. Sie wollte Freunde treffen, Papa und die anderen Geschwister besuchen und Abschiede feiern. Außerdem sollte sie endlich ihren Beziehungsstatus klären, Single oder wieder zusammen mit ihrem On-Off-Freund.

Natürlich war das ganz normal, aber meine Irritation wuchs und damit mein innerer Stress.

Ich fühlte mich alleine gelassen mit all der Verantwortung. Für mich ging es nicht nur um die Reise, sondern auch um meine Familie und meine berufliche Existenz. Beides setzte ich aufs Spiel, wenn ich über viele Wochen nicht erreichbar war.

Ich wollte alles vorbereitet wissen, alle Tage geplant haben, keine Ungewissheiten offenlassen. Der Punkrocker in mir war von der Ameisenkönigin komplett entmündigt worden, so sehr, dass ich selbst Angst vor ihr bekam.

Respekt hatte ich auch vor den vollständig fremden Begegnungen in den kommenden Wochen. Vielleicht war ein Serienmörder dabei, der nur angab in einem Passivhaus zu wohnen. Durch die dick gedämmten Wände und die Dreifachverglasung würde man unsere Schreie nicht hören. Die Lüftungsanlage würde den modrigen Geruch zweier Leichen sicher schnell verschwinden lassen.

Diese Ängste konnte ich natürlich nicht mit Linnéa teilen. Allerdings erwies sich das auch als unnötig, denn sie hatte eigene, düstere Fantasien. Ihre Entführungstheorien waren in keinster Weise weniger gruselig als meine Mordgedanken. Sie gingen vom kompletten Baltikum, über den Balkan, bis zur, von ihr selbstdeklarierten Sicherheitszone, Griechenland.

Wir versuchten immer wieder, diese Ängste unter Kontrolle zu bekommen und mir halfen dabei Listen: Kontaktlisten (mit bei Google kontrollierten Profilangaben), Tag-für-Tag-Listen, To-Do-Listen, Zugroutenlisten und Sponsorenlisten.

Es kamen noch ein paar neue Passivhauskontakte hinzu, so wie Linnéa es vorausgesehen hatte, aber der große Ansturm blieb aus und die Arbeit wieder an mir hängen.

So wurde die Suche nach geeigneten Passivhausgastgebern auf unserer Route eine einzige Puzzlearbeit. Ich suchte Kontakte in der Passivhausdatenbank, ich googelte Artikel über geeignete Gebäude, in der von uns ausgesuchten Region, und machte etliche Besitzer ausfindig. Einige fanden unsere Idee interessant und luden uns ein, andere lehnten direkt ab, hatten an dem besagten Datum bereits eigene Pläne oder antworteten gar nicht erst.

Ich schrieb weitere Architekten und Hersteller an und nach und nach füllte sich unsere Gastgeberliste.

Insgesamt brachte ich es auf 25 Sponsoren. Meine Ameisenkönigin platzte vor Stolz. Das gab mir zwar die versprochene finanzielle Sicherheit, machte mir aber auch einen enormen Druck. Stress baute sich auf, im Kopf und im Körper.

Ich ging zu einem Doktor der Naprapathie, um Rücken und Schultern auf die kommenden Rucksacktorturen vorzubereiten. Er drückte, presste und zog meinen völlig angespannten Körper in eine wohl angemessene anatomische Form zurück.

Ich holte speziell angefertigte Gastgeschenke vom lokalen Souvenirladen, leerte mein Handy vom Fotoballast der letzten Jahre und verteilte meine zurückbleibenden Bauprojekte auf meinen Mann und meine Kollegen.

Tommy war ohne Zweifel der Pfeiler meiner gesamten Planung: mein Rettungsanker, der Deckel meines Topfes, der Handschuh, der wie angegossen über meine Handfläche passte.

Linnéa bereitete Instagram vor, legte unsere Reiseroute aus, schrieb Texte und drehte bereits erste, kleine Videos von unseren Vorbereitungen. Das hatte sie in den letzten Monaten als PR-Verantwortliche in Darmstadt gelernt. Ich war beeindruckt.

1.000 Follower waren mein völlig überschätztes Ziel vor Reiseantritt. Trotz des Insidermarketings, das zumindest Passivhausliebhaber zum Folgen hätte animieren müssen, war das Ergebnis ernüchternd. Nicht einmal 200 Menschen folgten uns. Davon waren die Hälfte Familie und Freunde, die teilweise nur aus Mitleid extra einen Instagram Account angelegt hatten.

Es war mir ein Rätsel. Linnéas frische Art der Einträge und die bereits richtig guten Kurzvideos sollten doch gerade bei jungen Menschen ankommen!? Aber nichts.

Wir legten einen, im Nachhinein betrachtet, äußerst ambitionierten Social Media Plan an. Mindestens drei Posts pro Tag: den ersten mit einem Interview des Übernachtungsplatzbesitzers, den zweiten als Tagesrückblick, mit passender regionaler Musik und den dritten von einem Firmenbesuch oder anderen Aktivitäten, die einen eigenen Post verdienten.

Außerdem hatte Linnéa auf TikTok gelernt: wir brauchten eine wiederkehrende Choreografie. Gesagt, gesucht, getestet.

Wir hopsten mit unseren Popos aneinander, klatschten in verschiedenen, teils unbequemen Posen ab, reimten und sangen.

Das mit dem Singen verwarfen wir allerdings gleich wieder, mangels nicht vorhandenen Talents. Entweder kamen wir uns unseriös und albern vor oder abgedroschen und nachgemacht.

Also entwickelten wir etwas Eigenes, passend zu unserer Reise, und hofften auf Nachahmer im Netz: For our Planet. Take the Train. Build Passive Houses. And change your Life.

Wir formten mit unseren Armen vor der Brust erst die Rundung der Erde, dann mit der rechten Hand eine Schlangenlinie für die Zuggleise, mit beiden Händen ein Schrägdach auf dem Kopf fürs Passivhaus und am Ende in fast reiner Gebärdensprache Wechseln für den Hinweis auf vegetarisches Essen umzusteigen.

Würde jemand dieses Ritual mit uns vor der Kamera zelebrieren wollen? Es gab weitaus Dämlicheres im Netz und wir hatten immerhin eine Botschaft.

Noch eine Woche. Der Countdown startete mit der Earth Hour.

Hatten wir auch nichts vergessen oder etwa viel zu viel im Gepäck? Wir packten unsere gesponserten Rucksäcke ein und aus und um. Alleine unsere Gastgeschenke wogen mehrere Kilos. Wir gingen mit dem Gepäck durch den Wald, runter zum See und waren uns danach ziemlich sicher: keiner von uns beiden würde 20 Kilogramm, über zwei Monate lang, täglich auf dem Rücken tragen können und wollen.

Also packten wir ein weiteres Mal aus. Da wir Tommy nach nur einer Woche, in Riga und nach vier Wochen zum zweiten Mal, in Lübeck, wiedersehen würden, packten wir nun strategisch in Etappen. Tommy wurde unsere Versorgungsstation auf dieser Reise und mein Stapel an Listen bekam eine weitere hinzu.

Wir hatten außerdem mit unseren neu errungenen Interrailkarten bereits einige Züge gebucht und wurden dabei in unserer Naivität eiskalt vom digitalen Steinzeitalter überrollt.

Für uns ist es seit Jahren eine mühelose Selbstverständlichkeit: das Fahrkartenkaufen im Internet. Man bucht den Zug, den Tag, die Personen und klick, Sekunden später erhält man das Ticket oder die Platzkarte per E-Mail oder in der App.

Da waren wir wohl etwas verwöhnt, wir Schweden. Nicht, dass die Zugverbindungen, die Fahrzeiten, Verspätungen oder der Komfort in unserem Land als besonders positiv genannt werden müssten, ganz sicher nicht, aber, dass wir uns in den nächsten Wochen noch etliche Male einen schwedischen X2000-Zug herbeiwünschen würden, hatten wir so nicht erwartet.

Als erste große Interrailüberraschung entpuppte sich das erforderliche Vorbuchen von Sitzplätzen, die man auf bedeutend mehr Reisen dazukaufen musste, als von uns erwartet.

Wir buchten die ersten Platzkarten von Warschau nach Wien und von Wien nach Krakau, bezahlten und erhielten die prompte Mitteilung, dass die Platzkarten demnächst mit der Post zugesendet werden würden.

Demnächst? Was war damit gemeint? Wir gingen in einer Woche auf Reisen!

Am Freitag vor dem Start unseres Abenteuers hielten wir noch immer keine Platzkarten für Polen in den Händen.

Aber wir hatten die Generalprobe unserer Reise mehr oder weniger gut überstanden.

»Ich bin fix und fertig«, teilte Linnéa mir erschöpft mit. »Wenn das so die nächsten Wochen weitergeht, bleibe ich lieber zu Hause.« Sie lag mit ausgestreckten Armen und Beinen auf dem Sofa.

Tommy lachte lauthals.

»Willkommen in meiner Welt! Einer Welt voller Ameisen.«

Gut, ich gebe es zu, die Generalprobe war eher eine Feuerprobe gewesen. Wir besuchten in nur acht Stunden, fast ohne Pause, drei Passivhausschulen in Älmhult, einen nachhaltigen Beton-Sandwichwand-Fabrikanten in Alvesta und einen Hersteller von Lüftungsanlagen in Växjö.

Ich musste gestehen, ich hatte meine Tochter ein wenig an ihre Grenzen gebracht. Aber so extrem konnten die kommenden Wochen unmöglich werden. Wir würden ja nicht täglich acht Stunden lang mit Studienbesuchen, Interviews und Fremdensmalltalk verbringen. Und da waren die Zeiten fürs Filmeschneiden, Instagram-Posten, Tagebucheinträge-Schreiben und Reisen-Vorbuchen noch gar nicht mit eingerechnet. Unmöglich konnte so der Alltag der nächsten Wochen für uns aussehen, oder!?

Alles fing doch so harmlos an. Eine Rucksackreise durch Europa, vor dem Studium, war Linnéas Idee. Nun durfte sie wochenlang kein Fleisch essen, musste trotz neuerworbenem Führerschein und bekannter Billigflüge auf Bus und Bahn umsteigen. Statt in der Sonne unter Palmen zu liegen, sollte sie sich mit mir staubige Fabriken ansehen.

Ich war bereits so gestresst von den Vorbereitungen, dass meine Pfeile im Spannungsbogen problemlos in alle Richtungen hätten losgehen können. Die Segel standen auf Sturm.

Wir wollten nur noch los, allen beweisen, dass es gar nicht so schlimm werden konnte, wie unsere Ängste es uns ausmalten. Sicher lagen wunderbare Zeiten vor uns. Sonne und gastfreundliche Menschen warteten bestimmt schon gespannt auf ihre schwedischen Besucher: Mutter X und Tochter Z.

Europa, wir kommen!

Schließe ab, mit dem was war. Sei glücklich, mit dem, was ist. Sei offen für das, das kommt.Unbekannt

And here we go, hieß Linnéas erster, offizieller Instagram Reisepost. Für mich bedeutete das: Abschiednehmen von meinem Mann Tommy, meinem zehnjährigen Sohn Leon und unserem Miniature Australian Shepherd Amber auf dem Bahnhof, in Växjö.

Es war herrlichster Sonnenschein am 2. April 2023, morgens um acht. Die noch immer vorhandenen Minusgrade zwangen uns allerdings, trotz Strahlungswärme, zum zweckmäßigen Zwiebelprinzip: Sport-BH, Unterhemd, dünnes T-Shirt aus Holz, langärmeliger Pulli, dicker Holz-Hoodie, gesponserte Regenjacke und Poncho passten locker übereinander. Ausziehen ging schließlich immer.

Tommy parkte den Volvo hinter dem lokalen World Trade Center und konnte sich mal wieder die spitzen Kommentare zur Sichtbarkeit der Wärmeverluste in der verpfuschten Fassade des Neubaus nicht verkneifen.

»Das ist so peinlich. Als Wahrzeichen der Stadt und dann leckt die Wärme aus allen Anschlüssen.« Er rollte mit den Augen. »Sieh dir den Kondensstreifen in der Brüstung unter der Verglasung an.«

Eigentlich ist Tommy Lüftungstechniker, aber seit einigen Jahren verfolgten auch ihn die konstruktiven Mängel, verursacht durch unwissende Bauingenieure und nachlässige Handwerker.

Ein merkwürdiges Hobby hatte sich unsere Familie da über die Jahre zugelegt. Ich sehe was, was du nicht siehst und das sind Wärmebrücken in Gebäuden.

Wir überquerten die Überführung zum Bahnsteig 1. Hier sollte in zehn Minuten unser Abenteuer beginnen. Auf dem Bahnhof war verhältnismäßig viel Betrieb für einen Sonntagmorgen.

Drei junge Mädchen in schwarzen Trainingsanzügen und roten Mützen wärmten sich in einem gläsernen Wartehäuschen, am Anfang des Bahnsteiges. Eine weitere Gruppe Schüler, allesamt in schwarzen Steppjacken, schwarzen Mützen und grauen Jeans, bei denen der Schritt bis zu den Kniekehlen herunterhing, diskutierten eifrig über eines ihrer Handys.

Wir blieben in der Mitte des Bahnsteiges stehen. Fährt man Erster Klasse, dann will man das auch von Anfang an genießen und der Erste Klasse Wagen ist entweder ganz vorne oder ganz hinten. Egal an welches Ende der Plattform wir uns stellen würden, er wäre ganz sicher auf der anderen Seite. Murphys Gesetz: Alles, was schiefgehen kann, wird auch schiefgehen.

Leon hatte die Kapuze seiner neongrünen Winterjacke weit über den Kopf gezogen und vergrub seine Nase unter der Kragenschnur des moosgrünen Hoodies. Er war beleidigt, dass ich fortging, das spürte ich. Aber nach außen hin wollte er cool sein. Er käme schon klar, er bräuchte mich sowieso nicht mehr, er wäre schließlich schon zehn Jahre alt, sagten mir seine Blicke. Die Hände waren wie Schneckenköpfe in das Jackenärmelgehäuse eingezogenen, sodass Mamas Hände sie unter gar keinen Umständen mehr festhalten konnten.

Ich drückte ihn an mich, er drückte mich weg. Ich stupste ihn an, er stupste zurück. Ich boxte ihm sanft an die Brust, er boxte in meine Richtung, ich wich aus. Er verfehlte sein Ziel. Ich lachte, er schaute mich grimmig an und rollte mit den Augen.

»Mensch, Mamma, lass das.«

Ich beugte mich zu ihm vor. »Ich habe dich ganz doll lieb«, flüsterte ich ihm ins Ohr, »bis zum Mond und zurück.«

»Ich habe dich auch lieb«, kam es, kaum hörbar, zurück.

Ich meinte sogar so etwas Ähnliches wie ein winziges Lächeln gesehen zu haben.

Ich drückte meine beiden Männer noch einmal fest an mich. Jetzt fiel mir doch das Herz in die Hose. Solange waren wir noch nie voneinander getrennt. Tränen krochen aus meinen Augen. Ich wand mich schnell zur Seite und es gelang mir, sie ohne geoutet zu werden, abzuwischen. Ich drehte mich zurück und Tommy lächelte mich an, so wie er es immer tat, mein großer, starker Mann.

»Mach dir keine Sorgen. Wir kriegen das hin. Ich bin ja nicht alleine, Leons andere Geschwister und die Oma helfen uns sicher, wenn es hart auf hart kommt.«

Ja, wenn du Hilfe annehmen würdest, dachte ich, sprach es aber nicht aus.

Ich atmete noch einmal tief den so vertrauten Geruch meines Mannes ein: Kaminholz, Badetonne und Kiefernwald. Ich ließ ihn ein letztes Mal mit seinem stoppeligen Dreitagebart meine Mundwinkel aufrauen und genoss jeden Pikser, als wäre es das letzte Mal. Dabei käme er in bereits einer Woche nach Riga, um sich dort mit uns einige Passivhäuser anzusehen.

Dann trennte uns der Bahnhofslautsprecher mit der Ankündigung: Der Zug fährt gleich pünktlich ein.

Ein Satz den wir in den kommenden Wochen eher selten hören sollten.

Er kam, der Öresund Zug, der uns zehn Minuten weiter bis zur ersten Umsteigestation Alvesta bringen würde. Wir liefen zurück zum Bahnsteiganfang und fanden die Erste Klasse komplett leer im Wagen 11. Nur wir zwei, Mutter und Tochter. Wir nahmen uns gegenseitig die Rucksäcke ab und gingen ein letztes Mal zurück zur automatischen Wagentür. Da standen sie mit ihren roten Nasen, die Zurückgebliebenen, die Verlassenen.

Ein Signal ertönte, die Türen schlossen sich und plötzlich waren Linnéa und ich ganz alleine. Nur wir beide, durch dick und dünn, der junge Morgenmuffel und die alte Nervensäge.

It‘s a beautiful DAY TO SMILE! teilte mir mein nachhaltiger Bambus-Kaffeebecher in seiner Reiselust mit. In ihn wollte ich mir nun täglich meinen Kaffee füllen lassen, um Reisemüll zu vermeiden. Außerdem hatten wir eigene Müsli-Power-Riegel gebacken und Zitronen-Ingwer-Shots aus unseren Reisevorbereitungen mitgenommen. Es war keine Überraschung, dass die Rucksäcke so schwer waren.

»Zusammen kriegen wir das schon hin.« Es klang beinahe wie ein Mantra. Ich lächelte Linnéa an, die mir, eingemummelt in ihrer Mehrschichtenkleidung, gegenübersaß.

»Jetzt freue ich mich erstmal auf Micke in Stockholm.«

Es war 16 Uhr, als wir das Stockholmer Fährterminal Stadsgården durchquerten.

Dass unser erstes Reel bei Instagram bereits die Nachhaltigkeit unserer Reise infrage stellte, überraschte uns dann doch.

Ihr postet euch hinter einem Werbeplakat der Vikingline? Ihr wolltet doch nur mit dem Zug fahren! Wie kann das denn nachhaltig sein? Ihr seid gar nicht glaubwürdig!

Das ging ja gut los. Und ich dachte, in der Liebe und der Nachhaltigkeit wäre alles erlaubt? Jetzt waren also auch wir in die verruchte Falle der allgemeinen Greenwash-Mafia getappt.

»Wir hätten natürlich die paar Kilometer auch schwimmen können«, versuchte ich meine Tochter aufzuheitern, die den Absender der Instagram-Nachricht kannte und sich ernsthaft darüber ärgerte.

»Das ist nicht witzig! Fähren sind angeblich fast so schlimm wie Flugzeuge.«

Google hatte uns das gerade mitgeteilt: Flugzeuge haben einen Kohlendioxidausstoß von 380 Gramm pro Flugkilometer, Fähren mit Fahrzeugen an Bord immerhin noch 128.

Manchmal nervten mich diese Extremisten. Wir bekommen die Menschheit nie dazu, auf alles zu verzichten. Kann nicht jeder nur ein bisschen seinen Lebensstil vergrünen: weniger und bewusster reisen, den Fleischkonsum reduzieren, Häuser dämmen und fair trade einkaufen? Brächte uns das nicht viel weiter, als alles zu verbieten?

Ich öffnete die Minibar und fand in ihr einen vielversprechenden Prosecco.

»Jetzt lass uns erstmal anstoßen, auf uns und unsere Reise.« Ich öffnete die kleine Flasche. »Gräm dich nicht, ich sehe das eher so: gerade sparen wir mit jedem zurückgelegten Kilometer 250 Gramm Kohlendioxid ein.« Ich reichte ihr aufmunternd das Glas und sie nippte vorsichtig.

Alles was blubbert ist so gar nichts für Linnéa. Sie trank keine Limo, kein Sprudelwasser, keinen Sekt. Enttäuscht stellte sie das Glas zur Seite und legte sich aufs Bett.

Ihr Handy lud auf dem Schreibtisch vor dem Spiegel und wir entschieden uns zu einer kurzen Pause. Die Augen ein wenig zu machen und den Post vergessen. Wir waren froh, dass Nils-Erik uns diese Kabine dazugebucht hatte, obwohl die achtstündige Überfahrt von Stockholm nach Åland bereits um Mitternacht für uns endete. Übernachten würden wir hier nicht – auf uns wartete ein fantastisches Passivhaus in Mariehamn.

Der erste Tag war schon anstrengend genug gewesen und emotionaler als erwartetet. Müde legte ich mich zu Linnéa.

Unser X2000-Schnellzug von Alvesta kam pünktlich halb zwölf auf dem Stockholmer Hauptbahnhof an. Dort wartete Micke bereits auf uns. Mit zwei vollgepackten Süßigkeiten-Ostereiern, die sich als unser Lunchpaket entpuppten, fuhren wir zu einem Strohballenhaus in Ekerö, eine gute Autostunde von Stockholm entfernt.

Die Sonne schien und wir hatten uns ununterbrochen unterhalten. Micke gehörte zu den Personen unseres Freundeskreises, denen man jede interessierte Frage abnahm. Er wollte alles wissen über unsere Reisepläne, Linnéas Praktikum, die zurückgebliebenen Jungs zu Hause.

Micke war ein echter Freund, seit 15 Jahren, und ein Teil meiner persönlichen, schwedischen Passivhausszene. Seine 60 Lenze sah man ihm nicht an. Dass aus seinem noch immer vollen schwarzen Haar nur ein paar graue Strähnchen hervorlugten, war seinen nordeuropäischen Genen zu verdanken.

Um den Hals trug er heute den grünen Schal seiner Lieblingsfußballmannschaft Hammerby, die gerade ein wichtiges Heimspiel absolvierte, das er nun extra für uns verpasste.

Micke ist aufgeschlossen und sozial und hat breite Interessen, die weit über Nachhaltigkeit, Tierschutz, Kultur und Sport hinausgingen. Er ist der Eine, der immer lacht und wie gesagt, Micke ist ein echter Freund.

Er fuhr uns zu einem Projekt, das ich unbedingt sehen wollte, denn Häuser mit natürlichen Baustoffen sind hip und durchaus eine Ergänzung zum energieeffizienten Bauen. Es war ein Rohbau und die Strohballen waren, trotz Ummantelung mit einer Folie, gut zu erkennen. Mir gefielen das Material und das Konzept. Wir würden auf unserer Reise noch einige Gebäude mit dieser Konstruktionsweise besuchen und ich dachte, das hier wäre ein guter Einstieg.

Mit gemischten Gefühlen ging dann doch wieder meine ewige Berufskrankheit mit mir durch und mein Leiden hieß Passivhaus.

Wenn ich Formen, Fenster und Details sah, die so gar nicht meinen Passivhauswerten entsprachen, trat meine Ameisenarmee hervor. Und sie demonstrierte auch hier mit selbstgemalten Plakaten: Das darfst du nicht mögen! Das spricht gegen deine Philosophie der Nachhaltigkeit! Du musst dir treu bleiben!

Ich wünschte, ich wäre da offener, kein solcher Prinzipienreiter, denn es gab einiges was mir auch gefiel.

Doch das Strohballenhaus hier hatte keine nachhaltige Architektur und die Fenster waren keine nachhaltigen Komponenten. Meine 23 Jahre Kampf um jede Kilowattstunde hatten tiefe Furchen in mir hinterlassen. Vielleicht, so hoffte ich, würde diese Reise mit Linnéa sie ein wenig glätten.

Kurz vor Abfahrt der Fähre kam noch eine zweite gute Seele zum Stockholmer Pier, um uns standesgemäß zu verabschieden.

Meine Freundin Jasenka.

Jasenka hatte es mal wieder voll erwischt. Eine Angina mit hohem Fieber hatte sie niedergestreckt. Dass diese Frau noch lebte, war ein Wunder. Sie war permanent im Hochstress, weit über den normalen Level hinaus. Die Arbeit, die erwachsenen Kinder, die Eltern im Balkan und in den letzten Jahren erst Corona und danach der Ukraine Krieg, der alte Wunden wieder aufriss.

Jasenka und ihr Mann kamen vor 28 Jahren als Flüchtlinge aus Sarajevo nach Schweden und beide sind, wie ich, in Osteuropa kommunistisch geprägt worden. Wir haben ähnliche Werte und ähnliche Erinnerungen zu bewältigen, das schweißte zusammen.

Mit Nichtansteckungsabstand und kurzem Hejdå-Winken wollte sich meine Freundin, trotz Fieber, unseren Abschied nicht entgehen lassen.

»Passt auf euch auf, ihr rockt das! Für uns alle«, hustete sie uns unter ihrer beigen Daunenjacke entgegen.

Ein Schlüsselanhänger mit zwei sich umarmenden Bärchen sollte ihr Talisman für uns auf dieser Reise werden. Bei mir kullerten wieder die Tränen.

Kurzfristig kamen mir bei diesem dramatischen Abschied nachfolgende Titanic Szenen in den Sinn: Leonardo gewinnt im Kartenspiel. Überglücklich schafft er es auf sein Traumschiff.

Drei Kinostunden später: Der Ozeanriese war gesunken. Leonardo rutscht tot von der Tür ins kalte Meer.

Ich wollte in keiner Weise ängstlich rüberkommen, aber ich meinte hier Parallelen erkannt zu haben. Obwohl, wer Angst hatte, würde in kritischen Situationen besonders aufmerksam und vorsichtig agieren, hatte ich gelesen. Als Alternative könnte man auch zu Hause bleiben und damit sämtliche Risiken vermeiden.

Zu spät, unsere Fähre stand bereit.

»Zusammen kriegen wir das schon hin«, wiederholte ich mein Mantra zu Linnéa.

Kurz vor Mitternacht stellten wir uns, den Aufforderungen des Bordpersonals entsprechend, in der Schiffslobby, am Infoschalter bereit zum Landgang. Uns konnte man leicht an einer Hand abzählen. Wir waren die Ausnahme der Regel, die sich auf einer kleinen Insel zwischen Schweden und Finnland, kurzfristig und zwecks Passivhausübernachtung, niederlassen wollte.

Åland hat eine Fläche von 1.600 Quadratkilometern, verteilt auf unglaubliche 6.500 Inseln und Scheren. Auf der Hauptinsel Fast Åland wohnen 90 Prozent der knapp 30.000 Einwohner und davon wiederum der größte Teil in der einzigen richtigen Stadt Mariehamn.

Hier wollte uns nun unser erster Passivhausgastgeber Nils-Erik vom Anleger abholen. Ich hatte ihn vor ein paar Jahren das letzte Mal gesehen und erinnerte mich an einen stylischen, älteren Herren, der inzwischen so um die 80 sein müsste. Er hatte damals ausschließlich dunkelblaue Anzüge getragen, immer wie aus dem Ei gepellt. Dieses innere Bild bestätigte sich beim Öffnen der Schiebetüren zur Wartehalle.

»Das ist er«, flüsterte ich zu Linnéa und fuchtelte aufgeregt mit den Armen. Unser Gastgeber schmunzelte dezent zurück und hob kurz die Hand zum Gruße. Ein langer schwarzer Mantel und ein grauer, im Kragen eingefädelter Kaschmirschal verhüllten – da war ich mir sicher – selbst zu dieser späten Stunde, einen feinen Zwirn. Vielleicht verbarg sich ein Seidenpyjama darunter.

Nils-Erik zog mich auf eine magische Art und Weise an. Er hatte dieses gewisse Etwas feiner Leute. Mit einer unangenehm angenehmen Ruhe führte er uns durch den Schnee zu seinem, natürlich schwarzen, Neuwagen. Er nahm uns höflich die Rucksäcke ab. Aber ohne unser Gepäck fühlten wir uns neben ihm noch einen kleinen Hauch mehr wie sich herumtreibende Landstreicher.

Er stellte freundlich Fragen zum Reiseverlauf und wartete mit weise gelegten Pausen auf unsere detaillierten Berichte. Ich falle immer wieder auf diese Taktik der Gesprächsführung herein. Die, wenn auch meistens wohlwollenden Künstlerpausen, erweckten in mir regelmäßig die Plauderlust und ich verriet nach nur kurzer Zeit sämtliche persönliche Details. Stille liegt mir einfach nicht, da fühle ich mich in fremder Gesellschaft unwohl.

Also kaute ich dem armen Nils-Erik, zu so später Stunde, auf der nur fünfminütigen Autofahrt zu seinem Passivhaus, bereits die Ohren ab. Ich schämte mich noch am nächsten Tag für meine Unbeherrschtheit.

Das ist nicht ladylike, teilte mir meine Ameisenkönigin wiederholt mit.

Ich bin ja auch keine, konterte ich zickig zurück.

Wir stiefelten durch den Neuschnee vom Dreier-Carport zum Passivhaus des ehemaligen Geschäftsführers und Miteigentümers der nordischen Vikingline Fähren.

Viele reiche Menschen vertraten den Standpunkt, ihren Reichtum auch nach außen hin sichtbarmachen zu müssen, aber dieses Haus gehörte ganz klar zur Kategorie: WOW auf eine eher bescheidene Art. Nils-Erik hatte es vor ein paar Jahren, nach den Grundrissen des ursprünglichen Gebäudes, neu erbauen lassen.

Aufgrund von Baumängeln stand das Original viele Jahre leer und wurde schließlich abgerissen.

Wir befanden uns vor einem dreigeschossigen, traditionell quadratischen Ålandhaus mit beiger Holzfassade. Asparagus-grüne Bindebretter an den oberen und unteren Abschlüssen, den Ecken und um die Fensteröffnungen verliehen dem Gebäude seinen typischen Charakter. Erker und Dachgauben umrahmten detailverliebt das Gebäude, das bereits in nächtlicher Dunkelheit einen bleibenden Eindruck bei uns hinterließ.

Nils-Erik, der in den vorangegangenen Minuten alles Wissenswerte aus meinem Leben erfahren durfte, öffnete die Eingangstür zum Treppenhaus. Ein manuell betriebener Fahrstuhl brachte uns und unser Gepäck nach oben in die Dachwohnung.

»Hier wohnt meine Tochter ab und an, wenn sie auf der Insel zu Besuch ist.« Nils-Erik führte uns durch die Gemächer.

Nun gehörte diese Wohnung uns, eine ganze kurze Nacht lang. Zwei Einzelbetten waren liebevoll hergerichtet. Auf dem Tisch stand eine Schale mit verschiedenen Südfrüchten. Im Badezimmer hingen frische Handtücher. Wir fühlten uns sofort wie zu Hause. Wir wussten, diese Nacht würde uns angenehme Temperaturen und frische Luft bescheren, ganz ohne die Fenster öffnen zu müssen. Kein Zug, kein Straßenlärm, keine abgestandene Luft.

»Braucht ihr noch etwas?«

Natürlich nicht, es ist perfekt für Landstreicher wie uns, dachte ich und schüttelte verlegen den Kopf. Viel gesagt hatte Nils-Erik bisher noch nicht, nur dass er uns morgen von unserer Instagramsorge befreien würde. Nachhaltigkeit war sein Steckenpferd seit 50 Jahren in der Geschäftsführung der Vikingline.

»Alles weitere dann morgen früh. Ihr entscheidet, was ihr in Mariehamn noch sehen wollt«, beendete er seine kurze Führung.

»15 Uhr geht eure nächste Fähre nach Åbo. Tee oder Kaffee zum Frühstück?«

»Tack så mycket.« Ich sah ihn dankbar an. »Linnéa trinkt Tee, ich nehme gerne einen Kaffee.«

Nils-Erik überreichte mir formell den Schlüssel und wand sich vornehm winkend dem Gehen zu.

»Gute Nacht«, rief auch Linnéa vom Badezimmer aus, wo sie verzweifelt versuchte, ihre Kontaktlinsen von der über den Tag ausgetrockneten Hornhaut zu pulen.

Was Gastfreundschaft wert ist, weiß nur, wer von draußen kommt, aus der Fremde.Romano Guardini

Ich wurde vom hereinfallenden Sonnenschein wachgeküsst. Das Schlafzimmer war nach Osten hin orientiert, herrlich. Ich wollte vor dem Schlafengehen partout nicht die Jalousien komplett herunterziehen, sehr zur Verzweiflung von Linnéa. Also schlossen wir den Kompromiss, dass ein Spalt offenblieb.

»Sonst fühle ich mich wie in einer Grabkammer«, konterte ich zu meiner Verteidigung.

Der warme Kuss der Strahlen und das mich anstupsende Licht der Morgendämmerung schenkten mir Energie für den Tag. Ich streckte mich und schaute hinüber zu Linnéa. Die lag, von mir weggedreht, regungslos auf ihrem Bett. Beim Aufstehen sah ich, dass ihre Schlafmaske noch aufgezogen war.

Ich schlich zum Badezimmer. Noch eine gute Stunde Zeit bis zum verabredeten Frühstück mit Nils-Erik. In meinem Alter brauchte man etwas länger im Bad, also begann ich den Tag mit einer ausgiebigen Dusche. Das warme Wasser perlte sanft über meinen Körper und ich wiederholte mein gestern begonnenes Mantra: Zusammen kriegen wir das schon hin.

Mein Spiegelbild holte mich in die Realität zurück. Das ist der Nachteil im Passivhaus: mit dem sinnvoll platzierten Abluftventil in der Dusche, sind die Spiegel über dem Waschbecken kondensfrei. Jede Morgenfalte und jeder Altersfleck waren unverschleiert sichtbar. Ich schminkte das, was möglich war über. Bald würde es eher ein Spachteln sein. Ich runzelte die Stirn. Dann zog ich widerwillig meine Sachen vom Vortag an. Das wird ganz sicher eine meiner größten Herausforderungen, nicht täglich die Kleidung wechseln zu können. Das Gefühl ein Schmuddelkind zu sein.

Linnéa war inzwischen offiziell erwacht und fingerte intensiv an ihrem Handy herum. Generation Z: das soziale Leben beginnt morgens in den sozialen Medien.

Ich hörte mich freundlich in den Raum hineinrufen:

»Guten Morgen! Na, gut geschlafen?«

» «, war Linnéas Antwort.

Ich verstand kein Wort.

»Jaa«, kam es erneut aus ihrer Richtung, weiterhin mit dem Rücken zu mir gewandt und mit dem Gesicht im Handy vergraben.

Aha, das war also die Kurzfassung der, für mich, undefinierbaren Hieroglyphen zuvor.

Jetzt erinnerte ich mich auch wieder. Morgens war so gar nicht Linnéas kommunikative Zeit.

Mir blieb nur eine Frage zur Schuldverteilung:

»Ich habe wohl sehr geschnarcht?« Ich wusste, damit übernahm ich die volle Verantwortung für ihre schlechte Laune.

»Mhm, ziemlich«, bejahte sie, noch immer in gedämpfter Tonlage, während sie weiter ihr Handy bearbeitete.

In meiner Fantasie schrieb sie nun gerade ihrem gesamten Freundeskreis, via WhatsApp, Telegram, Snapchat und Messenger Horrorgeschichten von ihrer schnarchenden Mutter.

»Tut mir auch leid«, entschuldigte ich mich schamvoll für eine Tatsache, die ich gerne ändern würde, aber nicht konnte.

Ich versuchte die Vorstellung zu verdrängen, dass nun Linnéas gesamte Community über meinen delikaten Makel Bescheid wusste.

Das war die erste von am Ende 63 ähnlichen Morgenroutinen. Sie brachten mich an den Rand der Verzweiflung und weckten in meinem Kind wahrscheinlich jedes Mal ernsthafte Mordgedanken.

Schließlich zog sie sich an und wir gingen schweigend ein Stockwerk tiefer.

»Guten Morgen und willkommen«, begrüßte uns ein, auch zu dieser frühen Stunde, wieder akkurat gekleideter Ex-Geschäftsführer in seiner Wohnung.

»Ich hoffe, ihr habt gut geschlafen?«

Und da war sie zurück, die auf Knopfdruck freundlich lächelnde Linnéa.

»Guten Morgen! Sehr gut, danke«, strahlte mein Kind heiter den 80-jährigen an.

Na geht doch, wollte ich noch sagen, verkniff mir aber die Stichelei.

Nils-Erik stellte uns freundlich seine Frau vor, eine Dame im gleichen Alter wie er. Das kann man an dieser Stelle ruhig einmal erwähnen, weil es in solchen Kreisen doch eher ungewöhnlich war.

Wir besprachen den Tag, zählten auf, was wir noch sehen wollten und berieten, wie das Interview ablaufen könnte.

»Mit mir braucht ihr nicht zu rechnen«, teilte uns seine adrette bessere Hälfte mit. »Ich möchte auf keinem Foto und in keinem Video zu sehen sein«, äußerte sie sich mit aller Deutlichkeit.

»Von unserer Wohnung wird nichts gefilmt und nichts veröffentlicht.«

Das Zuhause der beiden, von dem wir nur den Eingang und die Wohnküche zu sehen bekamen, ähnelte einem Museum. Überall standen persönliche Erinnerungen und Sammlerstücke. Wahrscheinlich gab es auch wertvolle Kunst und Relikte aus der Seefahrt, das ließ sich von unserer Perspektive aus nur erahnen. Enttäuscht aber einsichtig packten wir die Handys wieder weg.

Zum Frühstück wurden wir mit Köstlichkeiten verwöhnt. Ich bin kein Frühstücksmensch. Von mir aus könnte diese Mahlzeit komplett weggelassen oder auf einen Kaffee reduziert werden. Aber in dieser interessanten Gesellschaft schmeckten das uns servierte Avocadobrot und der wohlgemeinte Fruchtsalat einfach nur köstlich.

Nils-Erik war vorbreitet. Er hatte bereits vor unserer Ankunft in regelmäßigen E-Mails unsere Essenswünsche abgefragt und an seine Frau weitergeleitet.

Auch die vorangegangene Bitte, einen Handwerker zu besuchen, der in der Region mit natürlichen Baustoffen und Lehm arbeitete, konnte uns der gebürtige Åländer erfüllen.

»Ihr habt Glück, die Baufirma hat ein spannendes Sanierungsprojekt nur ein paar Straßen weiter, Richtung Hafen«, berichtete er wohlwissend.

So lernten wir am Vormittag erst eine Menge über die Vikingline und ihre Nachhaltigkeitsprojekte, um damit der engagierten Followerin Antworten zu unserer Ostseeüberquerung geben zu können.

Dann gab uns Nils-Erik ein Interview in der von uns behausten Dachwohnung.

Insgesamt acht Jahre war er auf der Suche nach dem richtigen Energiekonzept, bis er das Passivhaus für sich entdeckte.

Ich stellte ihm als Leitfaden unsere vorbereiteten Fragen und Linnéa nahm seine Antworten in einzelnen Kurzvideos auf. Diese würden wir dann am Abend wieder zu einem Instagram-Film zusammenschneiden.

»Ich musste mir alle Kenntnisse selber aneignen«, erzählte unser Gastgeber, »… bis ich 2014 Simone auf der Passivhaustagung in Aachen traf.« Er nickte gedankenvoll zu mir herüber. »Da bekam ich das erste Mal Fakten.«

Der Åländer führte uns in den Keller seines Hauses, wo er in einem gigantischen Technikraum vier Lüftungsanlagen beherbergte.

»Hier könnte man ja Tanzveranstaltungen abhalten«, lachte ich ihn überrascht an.

Nicht nur sauber, sondern rein, fiel mir ein passender Werbeslogan ein.

Nils-Erik erklärte Linnéa, wie seine Lüftungsanlagen funktionierten. Meiner Vermutung nach verstand sie kein einziges Wort, hing aber interessiert nickend an seinen Lippen.

»Die Wärme der verbrauchten Luft aus dem Badezimmer wärmt im Wärmetauscher die kalte Winterluft vor«, erklärte der stolze Passivhausbesitzer. »und die frische Luft konntet ihr heute Nacht in eurem Schlafzimmer genießen.«

Es waren nur noch vier Stunden bis zur Weiterfahrt mit der nächsten Vikingline-Fähre nach Åbo.