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Prinz Ivan Katinouski, von russisch-englischer Abstammung zählt zu den einflussreichsten und vermögendsten Männern am Hof Königin Viktorias. Er ist ein Lebemann und bekannt für seine zahlreichen Liebschaften. Lady Odele Ashford ist seine derzeitige Geliebte, eine bekannte Schönheit und mit Sir Edward Ashford verheiratet. Nach dem Tode der schwerkranken Frau des Prinzen, bittet dieser Lady Odele, ihm eine passende junge englische Ehefrau zu finden, mit der er eine Familie gründen könnte. Diese will eine geeignete unerfahrene Kandidatin finden, um ihr zu ermöglichen, ihre Stelle als seine Geliebte zu behalten und sie denkt sofort an ihre junge Nichte Charlotte von Storrington, die in der nächsten Saison in die Gesellschaft eingeführt werden soll. Lady Odele arrangiert, dass Charlotte mit ihrem Bruder Richard und dessen Freund Shane O'Derry auf das Schloss des Prinzen eingeladen werden, so dass er Charlotte kennenlernen und um ihre Hand anhalten kann. Charlotte ist von dieser arrangierten Ehe entsetzt, da sie Shane liebt, der leider aus einer verarmten Adelsfamilie in Irland stammt und Charlottes Eltern niemals einer solchen Ehe zusagen würden. Um den Prinzen von Charlotte abzulenken, hecken die drei Freunde einen Plan aus und überreden Alana Wickham, die Tochter eines verstorbenen Musiklehrers, die derzeit im Pfarrhaus als Nanny arbeitet, Shanes Cousine zu spielen und mit auf das Schloss mitzukommen. Wird dies genügen, so dass de Prinz nicht um Charlottes Hand anhält und ihr Liebesglück mit Shane zerstört? Werden Alana und Prinz Katinouski ihre Ängste überwinden können und das Glück finden, nachdem sie streben?
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Seitenzahl: 222
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»Noch nie habe ich eine schönere Tote zu ihrem letzten Schlaf gebettet!« rief Mrs. Bootle dramatisch aus, während sie die Tür aufriss und behäbig ins Zimmer gewatschelt kam, ihr gewaltiger Umfang schien das Zimmer mit den auf Hochglanz polierten Möbeln und den zahllosen kleinen Nippes Sachen förmlich zu beherrschen
Das junge Mädchen, das neben dem Kamm saß und einen schweren, schwarzen Serge Rock mit schwarzer Borte besetzte, blickte auf
»Kann ich hinaufgehen?« fragte es.
Mrs. Bootle näherte sich ihr gleich einer Meereswoge »Ich würde ein wenig warten, Liebes. Lass dir Zeit, um darüber nachzudenken. Es bedeutet immer einen Schock, zum ersten Mal einen Toten zu sehen. Sie sind kalt wie Marmor und doch von eigenartiger Schönheit, und deine Mutter ist wunderschön, das kannst du mir glauben, denn nach fünfunddreißigjähriger Praxis als beste Leichenfrau weit und breit weiß ich wahrhaftig, was ich sage.«
»Dessen bin ich gewiss«, sagte Sylvia freundlich. Gleichzeitig stand sie auf und ließ den schweren Rock von ihren Knien auf einen Hocker gleiten, der neben ihrem Sessel stand
Mrs. Bootle machte es sich in einem Armstuhl bequem. »Bevor du hinaufgehst, um dich tüchtig auszuweinen«, sagte sie, »hatte ich eigentlich einen kleinen Wunsch. Meine Arbeit ist, wie ich wohl behaupten kann, so gut wie jede andere Arbeit auch, aber es ist, wie du begreifen wirst, auch eine schwere Arbeit und - nun, ich bin es gewohnt, eine kleine Erfrischung zu mir zu nehmen, sobald meine Arbeit getan ist.«
»Oh, entschuldigen Sie, Mrs. Bootle«, sagte Sylvia rasch, » Sie müssen mich für sehr gedankenlos halten! Ich hole Ihnen gleich etwas zu essen und zu trinken.«
Es ist unrecht, in einem solchen Augenblick Hunger zu haben, dachte sie, sagte sich dann aber, es sei unsinnig, so zu denken. Würde sie jetzt weinen, würde sie jetzt so tun, als sei sie von Kummer und Schmerz gebrochen, wäre es mehr um ihrer selbst als um ihrer Mutter willen Seit sechs Jahren war Mary Wace unheilbar krank gewesen, und niemand wusste besser als Sylvia, was es bedeutete, eine Kranke tagein, tagaus zu versorgen; ohne Pause, ohne einen einzigen freien Tag eine Kranke zu versorgen, die - obwohl sie es nicht wollte - durch die besondere Art ihrer Krankheit nörgelig und gereizt war
Niemand konnte Mary Wace ein längeres Leben gewünscht haben. Sie war mit einem leichten Lächeln auf den Lippen im Schlaf gestorben, und während Sylvia auf das stille Gesicht hinunterblickte, sagte sie sich, dass es Heuchelei sei, so zu tun, als wünsche sie sich ihre Mutter wieder zurück
Doch jetzt, während sie die Eier für Mrs. Boootle bereitete, sah sie sich plötzlich der Tatsache gegenüber, dass sie wirklich viel mehr Grund hatte, um sich selbst zu weinen. Was sollte aus ihr werden? Mit dem Tod der Mutter erlosch auch die Pension, von der sie bisher gelebt hatten. Ich bin einundzwanzig Jahre alt, sagte sich Sylvia, und was weiß ich schon vom Leben? Es gab nur eine Antwort auf diese Frage, denn Sylvia hatte nie die Möglichkeit gehabt, etwas zu lernen.
Endlich waren die Eier fertig, und im Kessel summte das Teewasser. Sylvia brühte den Tee auf, schob die Pastete in das Backrohr und trug dann das Tablett ins Wohnzimmer hinauf.
Mrs. Bootle hatte es sich in dem alten Armstuhl bequem gemacht; sie hatte die Beine ausgestreckt, ihr Kopf ruhte auf ihrem umfangreichen Busen. Als Sylvia die Tür öffnete, erwachte sie mit einem Ruck.
»Ich habe gerade für einen Moment die Augen zugemacht, Liebes«, sagte sie. »Ich bin tatsächlich müde. Das macht dieses Wetter - es könnte wahrhaftig jeden umwerfen, der draußen zu tun hat. Und ich hab’ wirklich genug zu tun. Wir haben hier im Bezirk eine Hilfskraft bitter nötig, die etwas von Krankenpflege versteht. Obwohl - meine alten Kunden würden nach wie vor ja doch nur mich rufen lassen. ‚Mrs. Bootle‘, pflegen sie zu sagen, ‚ich weiß wirklich nicht, wo wir ohne Sie hingekommen wären‘! Und ich bin wirklich nicht imstande, ihnen zu widersprechen.«
»Es muss eine interessante Arbeit sein«, meinte Sylvia.
»Ich habe eine Idee, Liebes!« schrie Mrs. Bootle plötzlich auf »Ist mir gerade eingefallen wie ein Blitz! Ich mochte ja keine Hoffnung in dir erwecken, und ich mag mich täuschen, aber irgendwie habe ich das Gefühl, es konnte für dich genau die richtige Aufgabe sein.«
»Oh, was ist es, Mrs. Bootle? Rasch, erzählen Sie!« rief Sylvia erregt, während sie die Pastete auf dem Tisch absetzte.
»Ich mochte noch nicht allzu viel darüber sagen«, erklärte Mrs. Bootle, »aber eine meiner Patientinnen - eine Dame, eine wirkliche Dame, wenn es jemals eine gab - hat mir in der vergangenen Woche etwas gesagt, an das ich mich gerade erinnert habe. ‚Bootle‘, sagte sie, ‚falls mir etwas zustoßen sollte, möchte ich, dass Sie sich für mich nach einer vertrauenswürdigen Persönlichkeit umsehen, so vertrauenswürdig wie Sie selbst es sind‘— sie pflegt immer so freundlich und anerkennend zu sprechen – ‚die Lucy‘ - das ist ihre kleine Tochter – ‚zu einer bestimmten Adresse bringt. Es ist sehr wichtig, Bootle‘. Nun, ich hab’ natürlich gesehen, dass der Dame nichts zustoßen ist, und habe keinen weiteren Gedanken daran verschwendet, doch gerade heut Morgen - kurz nachdem ich deine Nachricht erhalten hatte, die mich hierherrief – hab‘ ich auf der Straße den Doktor getroffen und mich ’n bisschen mit ihm unterhalten. Er hat ein paar Worte über deine Ma gesagt und dann gemeint: Mrs. Cunningham geht es wieder schlecht. Es ist natürlich die Lunge. Ich kann nichts für sie tun. Ich wäre gar nicht überrascht, wenn es einmal rasch mit ihr zu Ende ginge.
Du kannst dir vorstellen, wie erschrocken ich war, weil ich nie etwas auch nur annähernd so Ernstes in Betracht gezogen hatte. Ist es so schlimm, Doktor? fragte ich, und er nickte. Kümmern Sie sich so bald wie möglich um sie, Mrs. Bootle, sagte er. Das Mädchen von Mrs. Cunningham ist eine dumme Gans und wenig vertrauenswürdig. Ich gehe bestimmt, sobald ich kann, hab’ ich ihm versprochen. Doch über der Arbeit bei deiner Mutter hab’ ich’s bis zu diesem Augenblick total vergessen gehabt.«
»Und Sie glauben, sie könnte mich engagieren, um ihre kleine Tochter irgendwohin zu begleiten?« fragte Sylvia. »Es scheint mir gar nicht sehr - ich meine, es handelt sich dabei um eine wenig dauerhafte Stellung.«
»Wer weiß!« sagte Mrs. Bootle sorglos. »Manchmal entwickeln sich die Dinge ganz anders, als wir es erwarten «
» Oh, Mrs. Bootle, das klingt zu schon, um wahr zu sein!«
»Nun, dann pack die Gelegenheit beim Schopf«, erwiderte Mrs. Bootle. »Spring hinauf und zieh dein bestes Kleid an. Richte dich so nett und ordentlich wie möglich her. Es macht nichts, wenn das Kleid nicht schwarz ist«, fügte sie hinzu, als Sylvia den schwarzen Rock aufnehmen wollte, den sie vorher auf dem Sessel abgelegt hatte. »Es wissen nur sehr wenige Leute in der Stadt, dass deine Mutter gestorben ist, und außerdem ist es schon fast dunkel; wer sieht dich schon? Mrs. Cunningham aber ist fremd hier und hat immer sehr zurückgezogen gelebt. Jetzt beeil dich, Liebe! Zieh dich um, während ich mir hier die Pastete zu Gemüte führe.«
*
Draußen schneite es, und es dämmerte schon stark. Mrs. Bootles breite Gestalt in dem im Wind wild hinter ihr her flatternden, dunklen Wollcape, wirkte im wechselnden, flackernden Licht der Laterne geradezu erschreckend. Sie verließen die Hauptstraße und kamen in offenes Land; wenig später erreichten sie ein weißes Gartentor; es stand offen und führte zu einem lorbeerumsäumten Fahrweg. Außerhalb der Stadt war es sehr ruhig, und Sylvia entdeckte plötzlich, dass sie nervös war und sich vor dem Neuen fürchtete, das sie erwartete.
Mrs. Bootle druckte auf die Klingel, und gleich darauf näherten sich im Innern des Hauses Schritte. Dann ging die Tür auf. Das Mädchen, das sie einließ, war jung und sah verängstigt aus.
»Oh, Sie sind’s, Mrs. Bootle!« rief es. »Wir warten schon so lange auf Sie!«
»Ihr wartet auf mich?« wiederholte Mrs. Bootle und betrat die Halle. Sylvia folgte ihr befangen.
Es war eine große Halle; in ihrem Hintergrund führte eine Treppe hinauf zu einer offenen Galerie, von der aus verschiedene Türen abzweigten. Jetzt wurde eine dieser Türen hastig aufgerissen, und ein Mann erschien in ihrem Rahmen. Als er sah, wer da in der Halle stand, schloss er vorsichtig die Tür hinter sich und ging rasch zur Treppe.
»Mrs Bootle«, sagte er, »endlich!«
»Guten Abend, Doktor«, antwortete Mrs. Bootle freundlich. »Sie haben mich benötigt?«
Dr. Dawson kam die Treppe herab. »Sie benötigt?« entgegnete er. »Seit dem frühen Nachmittag lasse ich Sie in der ganzen Stadt suchen! Wo, um alles in der Welt, haben Sie sich versteckt? Wir haben jedes Haus nach Ihnen durchsucht, sogar die Gastwirtschaften.«
Mrs. Bootle zog ihre schwarzen Handschuhe aus und gab, über ihre geschäftigen Hände hinweg, dem Arzt einen resignierten Blick; so mochte eine zärtliche Mutter ihr zurückgebliebenes Kind ansehen.
»Haben Sie vergessen, dass ich heute Nachmittag mit Mrs. Wace beschäftigt war?«
»Ach, du lieber Himmel!« rief der Doktor aus. »Dort sind Sie also gewesen! Wie entsetzlich nachlässig von mir! An alles habe ich gedacht, nur an Mrs. Wace nicht!«
»Nun, und gerade dort war ich«, sagte Mrs. Bootle. »Und was gibt es Dringendes?«
»Ich habe Ihnen doch schon heute Morgen gesagt, dass es Mrs. Cunningham sehr schlecht geht«, erwiderte Dr. Dawson. »Ich glaube nicht, dass sie die Nacht überleben wird. Ich wollte die Familie verständigen, aber Sie werden es nicht glauben! Sie weigert sich, mir Namen und Adressen anzugeben und verlangt nur nach Ihnen, Mrs. Bootle!«
»Das hatte ich mir denken können«, sagte Mrs. Bootle geschmeichelt. »Ich weiß, was die arme Seele bedrückt, und glaube, sie beruhigen zu können. Ich gehe sofort hinauf. Du wartest hier, Liebes«, wandte sie sich an Sylvia.
»Wo ist Lucy?« fragte Sylvia. »Ich muss das kleine Mädchen sehen.«
Wortlos drehte Mrs. Bootle sich um und ging Sylvia voran. Sie bogen in einen Flur ein, an der ersten Tür verhielt Mrs. Bootle den Schritt und drückte die Klinke nieder.
»Vielleicht schläft das Kind«, flüsterte sie.
Der Raum war nicht ganz dunkel, ein kleines Nachtlicht flackerte auf dem Waschtisch. Jemand schrie leise auf.
»Wer ist da?«
»Ich bin’s, Lucy, Mrs. Bootle. Schläfst du nicht?«
»Oh, Mrs. Bootle, kommen Sie herein!«
Mrs. Bootle und Sylvia betraten das Zimmer. Von ihrem Standort neben der Tür konnte Sylvia nur eine kleine, aufrecht im Bett sitzende Gestalt sehen, dann entzündete Mrs. Bootle das Gaslicht.
»So, das ist besser!« rief sie. »Und jetzt: Warum bist du wach, junge Dame?«
»Ich kann nicht schlafen«, antwortete Lucy. »Mama ist krank, und Annie fürchtet sich. Ich weiß immer genau, wann sie sich fürchtet, dann spricht sie nämlich nicht mit mir. Sie hat mich einfach zu Bett gebracht und ist dann fortgegangen.«
»Nun, und du solltest ein braves Mädchen sein und schlafen«, sagte Mrs Bootle.
»Wer ist das?« fragte Lucy und zeigte auf Sylvia.
»Ich bin Sylvia Wace.« Während Sylvia die Frage des Kindes beantwortete, trat sie naher an das Bett heran. »Deine Mutter hat mich eben gebeten, mich ein bisschen um dich zu kümmern. Vielleicht verreisen wir sogar miteinander. Hättest du Lust?«
»Werden wir mit dem Zug fahren?« fragte Lucy.
Sylvia nickte.
»Oh, das wäre fein!« erwiderte Lucy. »Ich reise so gern mit dem Zug. Mami sagt, sie bekommt Kopfweh davon, aber ich mag Zuge, obwohl sie entsetzlich schmutzig sind.«
»Ich auch«, sagte Sylvia. »Wie alt bist du, Lucy?«
»Ich bin sechs, aber schon beinahe sieben«, erwiderte Lucy »Schon ziemlich alt, nicht wahr?«
»Tatsächlich, sehr alt«, sagte Sylvia ernst.
»Alt genug, um brav zu sein und anderen zu helfen«, warf Mrs Bootle ein. »Jetzt schläfst du erst einmal, junge Dame, und morgen werden Miss Wace und ich schon sehen, was wir wegen deiner Eisenbahnreise unternehmen können.«
Das Kind kuschelte sich gehorsam in die Kissen.
»Ich bin froh, dass Sie zu mir gekommen sind, Mrs. Bootle«, sagte es »Mami hat immerfort nach Ihnen gefragt, und Annie ist überall herumgelaufen und hat Sie gesucht. Sie konnte Sie nirgends finden.«
»Nun, ich bin ja jetzt hier«, erwiderte Mrs. Bootle. »Ich lösche jetzt das Licht aus. Bist du so weit?«
»Ja, ich bin so weit«, antwortete Lucy. »Gute Nacht, Mrs. Bootle. Gute Nacht, Miss Wace. Vergessen Sie unsere Reise nicht!«
»Bestimmt nicht«, versprach Sylvia.
Sie verließ das Zimmer mit Mrs. Bootle, und das Kind blieb mit dem flackernden Nachtlicht allein.
»Nun?« fragte Mrs. Bootle draußen.
»Sie sieht lieb aus«, sagte Sylvia, und während sie sprach, wurde sie sich dessen bewusst, dass sie noch immer die Geldtüte und den Zettel mit der Adresse in der Hand hielt. Sie blickte auf den in fließender, gut ausgebildeter Schrift niedergeschriebenen Namen hinunter: »Sir Robert Sheldon, Sheldon Hall, Picton Fell.« Sorgfältig las sie die Adresse und gewahrte aufblickend, dass Mrs. Bootle sie beobachtete.
»Wo ist denn dieses Picton Fell?« fragte sie.
»Im Norden«, erwiderte Mrs. Bootle. »Da haben Sie eine lange Reise vor sich.«
Sylvia hatte noch einige Fragen auf dem Herzen, doch der Doktor, der von der Galerie her nach Mrs. Bootle rief, vereitelte ihre Absicht. Mrs. Bootle stürzte davon und schloss die Tür des Krankenzimmers hinter sich.
Sylvia ging langsam treppab. Sie steckte die Geldtüte in die Manteltasche, prägte sich noch einmal die Adresse ein und steckte auch den Zettel weg
Sie setzte sich und wärmte sich die Hände über dem Feuer. Mrs. Cunningham muss reich sein, dachte Sylvia, ihre luxuriöse Umgebung musternd. Dann begann. sie wieder an ihrem merkwürdigen Auftrag herumzurätseln. War Lucy wirklich das Kind von Sir Robert Sheldon? Dann musste sie Sheldon und nicht Cunningham heißen. Und wie war es möglich, dass Mrs. Cunningham ein zweites Mal geheiratet hatte, wenn Sir Robert noch lebte? Eine Scheidung - konnte eine Scheidung stattgefunden haben? Der Gedanke allein erschreckte Sylvia. Etwas so Unsittliches schien ihr im Zusammenhang mit Mrs. Cunningham einfach unmöglich.
Schritte näherten sich; Porzellan klirrte; Mrs. Cunninghams Mädchen ging die Galerie entlang. In der einen Hand trug es ein Tablett, einen polierten Zinnkrug mit heißem Wasser in der anderen. Es sah immer noch mürrisch und übellaunig aus, und vor der Tür seiner Herrin angekommen, vollführte es mit dem Tablett unnötigen Lärm. Es setzte den Krug ab, um anklopfen zu können, aber im selben Moment öffnete Dr Dawson die Tür von innen. Er sah das Mädchen einen Augenblick an, und dann hörte Sylvia seine Stimme:
»Sie kommen zu spät«, sagte er scharf, »Ihre Herrin ist tot.«
*
Die Reise dauerte nun schon beinahe neun Stunden, und Lucy, die zu Beginn fröhlich und heiter von einem Abteilfenster zum anderen gehüpft war und alles, was sie sah, mit Begeisterungsschreien begrüßt hatte, schlummerte nun in der Geborgenheit von Sylvias Armen; die dunklen Wimpern bedeckten ihre schläfrigen Augen, und ihr zerzauster, roter Schopf ruhte warm an Sylvias Brust.
Sylvia schloss die Augen, aber sie war nicht schläfrig. Sie dachte nach, fragte sich mit einer sich ständig vertiefenden Angst, was sie und Lucy am Ende ihrer Reise wohl erwarten mochte Sie war körperlich müde, wusste jedoch, dass sie nicht imstande sein würde, ihre Gedanken zu beruhigen, solange sie nicht die Antwort auf all jene Fragen kannte, die sie quälten.
Da hielt der Zug mit einem Stoß, und sie hörte die Träger rufen: »Mickledon! Mickledon! Alles umsteigen, alles umsteigen!«
Rasch dem Kind den Hut aufsetzend und den Muff umhängend, sammelte sie ihre Siebensachen zusammen, trat auf die Plattform hinaus und informierte einen Träger, dass ihre Koffer sich im Gepäckraum befinden.
»Wir wollen nach Picton Fell«, teilte sie ihm mit.
»Aber nicht mehr heute Abend, Ma’am. Der letzte Zug nach Picton Fell ging vor nahezu einer Stunde.«
»Ach, du meine Gute, was sollen wir nur tun?« rief Sylvia aus.
»Der nächste Zug geht morgen früh um fünf Uhr dreißig«, sagte der Träger.
»Und es gibt keine andere Möglichkeit, hinzukommen?«
»Ich weiß nicht, ob Mr. Robb vom ‚Grünen Mann‘ Ihnen ein Beförderungsmittel besorgen kann. Wenn Sie hinübergehen und ihn fragen wollen, kümmere ich mich um das Gepäck. Sie können den ‚Grünen Mann‘ nicht verfehlen, die Straße entlang und gegenüber dem Bahnhof.«
Er zeigte die Richtung an, und Sylvia wanderte, Lucy an der Hand haltend, über die dunkle, schneebedeckte Straße dorthin
Die Gastwirtschaft war ein altes weitläufiges Gebäude. Durch die Haustür betrat Sylvia eine viereckige Halle, die auf der einen Seite zu einem bequemen Aufenthaltsraum führte, wo im Kamin ein freundliches Feuer flackerte; aus dem gegenüberliegenden Schankraum drang lautes und fröhliches Stimmengewirr. Sylvia zögerte und fragte sich, wie sie wohl irgendjemandes Aufmerksamkeit auf sich lenken konnte, als ein hemdärmeliger Mann, der eine große weiße Schurze trug, den Schankraum verließ. Es war ein älterer Mann mit grauem Haar und einem Backenbart, und irgendwie fühlte Sylvia sich warm angerührt von seinem Lächeln und der respektvollen Art, wie er sich vor ihr verbeugte.
»Kann ich Ihnen behilflich sein, Madam?«
»Der Gepäckträger auf dem Bahnhof sagte mir, dass Mr. Robb mir behilflich sein könnte.«
»Ich bin Horatio Robb, stets zu Diensten.«
»Dieses kleine Mädchen und ich möchten nach Picton Fell, aber wir haben den Anschluss verpasst; gibt es irgendein Fuhrwerk, das uns hinbringen könnte?«
»Nach Picton Fell? Das ist ein beträchtlicher Weg um diese Zeit. Und wohin wollen Sie in Picton Fell?«
»Nach Sheldon Hall.«
»Nach Sheldon Hall?« Mr. Robb schien erstaunt. Höflich verneigte er sich noch einmal »Ich werde sehen, ob es sich machen lässt, Madam. Wenn Sie und die junge Dame beim Feuer Platz nehmen wollen . . . und falls Sie etwas essen oder trinken wollen «
»Uns wäre beides willkommen«, sagte Sylvia. »Wir sind seit dem frühen Morgen unterwegs «
Es dauerte nicht lange, bis ein Kellner auftauchte und ihnen sagte, dass ihr Essen im Speisesaal serviert sei. Rasch begaben sie sich dorthin, und während sie aßen, erschien wieder Mr. Robb und ließ wissen, dass er einen Freund überredet habe, sie mit seinem Wagen nach Sheldon Hall zu bringen.
Sie fühlte, dass Horatio Robb mit etwas hinter dem Berg hielt, und doch war er ihr sympathisch; sie fühlte, dass er ein aufrichtiger Mann war, dem man trauen konnte, und sie erkannte, dass in dem Blick, mit dem er sie ansah, mehr als Freundlichkeit lag: Mitgefühl vielleicht oder konnte es - Mitleid sein?
»Mr. Robb?« Mit Anstrengung entschloss sich Sylvia zu dieser Frage.
»Madam?«
»Falls . . . falls ich aus irgendeinem Grund nicht in Sheldon Hall bleiben kann, gibt es bei Ihnen dann eine Übernachtungsmöglichkeit?«
»Mein Haus steht Ihnen zur Verfügung.«
»Danke.«
Sylvia hatte das Gefühl, einen Freund gefunden zu haben und fühlte sich merkwürdig erleichtert.
*
Der Wagen hielt mit einem plötzlichen Stoß, und Sylvia, die vor sich hingedöst hatte, fuhr mit einem erschreckten Schrei hoch. Sie beugte sich vor und wischte mit ihrer behandschuhten Rechten das Wagenfenster blank. Dann sah sie, dass sie erst vor dem Pförtnerhaus und noch nicht vor dem Haus selbst angelangt waren. Draußen war der Mond aufgegangen, und sie konnte ein schmiedeeisernes Tor wahrnehmen, das von steinernen Löwen, mit Wappenschildern in den Klauen, flankiert wurde. Der Kutscher stieß einen Ruf aus, und kurz darauf wurde die Tür des Pförtnerhauses aufgestoßen; im Schein des gelben Lichtes, das nun auf den Schnee fiel, erschien die Gestalt eines Mannes und näherte sich rasch dem Tor.
Sylvia weckte Lucy, die, eng an sie gekuschelt, tief und fest schlief. »Du musst aufwachen, Liebling. Wir sind in wenigen Minuten da.«
Lucy öffnete die Augen und war sofort hellwach. »Wo sind wir?« fragte sie. »Es ist doch nicht Morgen?«
»Nein, es ist noch nicht Morgen«, erwiderte Sylvia. »Weißt du, du bist nicht zu Bett gegangen.«
Lucy lachte nach Kinderart spontan und sorglos auf. »Ich dachte, ich wäre es«, sagte sie. »Bin ich nicht dumm?«
Sylvia bückte sich und küsste sie.
Der Wagen fuhr wieder an. Sylvia strich ihr Haar unter den feschen, schwarzen Hut zurück. Mrs. Bootle hatte gesagt, der erste Eindruck sei wichtig, und sie wünschte, jetzt sehen zu können, wie sie aussah. Um sich nicht langer mit sich selbst zu beschäftigen, wandte sie sich Lucy zu, richtete ihr das Haar und band die Bänder ihres Hutes unter ihrem Kinn fest. Das Kind rutschte unruhig auf seinem Platz herum und versuchte, aus dem Fenster zu schauen.
»Wo ist das Haus, Miss Wace? Ich kann nur Bäume sehen. Wir können doch nicht in Bäumen schlafen, oder doch?«
»Das ist die Anfahrt«, sagte Sylvia und blickte hinaus, wo hohe, schwer mit Schnee beladene Eichen im Mondlicht standen.
Sie suchte in ihrer Handtasche nach einem Taschentuch, als Lucy plötzlich ausrief:
»Oh, dort ist es . . . dort ist das Haus!«
Sylvia blickte auf und verharrte plötzlich reglos, unfähig, für das, was sie sah, Worte zu finden. Eine Kurve hatte den Blick auf Sheldon Hall freigegeben, und Sylvia wusste, dass sie diesen Anblick nie vergessen würde. Von ihrem Standort aus blickten sie über eine ungebrochene Schneefläche, und auf einer kleinen Anhöhe stand majestätisch und allein Sheldon Hall im vollen Mondlicht, der graue Stein, aus dem es erbaut war, ein düsterer Hintergrund für die schimmernde Lichterflut von hundert Fenstern.
Der Wagen hielt am Fuß der steinernen Treppe. Sylvia, die an Lucys und ihre Kleidung rasch letzte Hand anlegte, hörte den Kutscher schwer vom Bock klettern und die Treppe hinaufsteigen.
Er schien an der Glocke gezogen zu haben und war im Begriff, zum Wagen zurückzukehren, als aus dem Tor über ihnen ein Strom goldenen Lichts über die Treppe fiel. Joe öffnete den Wagenschlag.
»Hier sind Sie, Miss. Sicher und unbeschädigt abgeliefert. Ich bringe Ihnen das Gepäck hinauf.«
»Danke.«
Sylvia stieg aus, bezahlte ihn, nahm Lucy an der Hand und stieg die Treppe hinauf. Unter der Tür stand ein weißhaariger Mann, von dem sie annahm, er sei der Butler.
»Guten Abend. Ich mochte Sir Robert Sheldon sprechen.«
Ihre Augen waren ein wenig vom Licht geblendet, trotzdem aber konnte sie das Erstaunen im Gesicht des Butlers sehen und bemerkte, dass er ein wenig zögerte, ehe er fragte:
»Werden Sie von Sir Robert erwartet, Madam?«
»Nein, aber ich wünsche ihn zu sprechen.«
Während sie sprach, machte sie einige Schritte vorwärts und zog Lucy über die Schwelle in eine, wie sie jetzt erst erkannte, große, hohe, eichengetafelte Halle, die von unzähligen Kerzen in silbernen Leuchtern erhellt wurde.
»Wenn Sie einen Augenblick hier warten wollen, Madam, will ich mich erkundigen, ob Sir Robert Sie sehen will.«
In einem offenen Kamm brannte ein Feuer aus Buchenscheiten.
Der Butler durchquerte die Halle in Richtung einer Tür, die dem Kamm beinahe gegenüberlag. Er wartete einen Augenblick, als lausche er, dann öffnete er vorsichtig die Tür. Gelächter und Männerstimmen wurden laut. Durch die halb offenstehende Tür konnte Sylvia einen weißgedeckten, mit silbernen Schüsseln beladenen Tisch sehen. Sir Robert war anwesend und saß gerade beim Dinner! Nun war zumindest eine Furcht gegenstandslos geworden, denn die ganze Zeit über war sie von der Angst gequält worden, sie sei vergeblich so lange und so weit gereist und der Mann, den sie suchte, sei gar nicht zu Hause Wieder horte sie lautes Gelächter, dem plötzliche Stille folgte. Sie horte eine Stimme ausrufen: »Eine Frau und ein Kind, die mich sprechen wollen? Was, zum Teufel, soll das heißen, Bateson?«
Das undeutliche Summen einer leise geführten Unterhaltung folgte; dann die undeutliche, trunken klagende Stimme eines Mannes »Sollte deine Vergangenheit plötzlich hier hereinkommen!«
Die Worte kamen befehlend aus dem Mund jenes Mannes, der zuerst gesprochen hatte, und wieder folgte Gelächter Sylvia fühlte, wie sie blass wurde. Sekundenlang fürchtete sie sich, doch dann, als sie den Butler in die Halle zurückkehren und auf sich zukommen sah, fühlte sie plötzlich Ärger in sich aufsteigen, unterstützt und hervorgerufen von einem Stolz, den sie nie in sich vermutet hatte »Würden Sie und die junge Dame mir folgen, Madam.« Der Butler sprach ruhig, korrekt und teilnahmslos, und dennoch hatte Sylvia, feinfühlig und empfindlich, wie sie nun einmal war, den Eindruck verborgen lauernder Unverschämtheit.
»Seien Sie so freundlich, Sir Robert hierher zu uns zu bitten.« Sie sprach langsam; die Autorität, die sich in ihren Worten ausdruckte, überraschte sogar sie selbst.
Der Butler neigte den Kopf. »Wie Sie wünschen, Madam. Ich werde Sir Robert von Ihrem Wunsch in Kenntnis setzen. «
Sie wartete, bis er herangekommen war. Er sah finster aus, seine schwarzen Brauen stießen beinahe über der Nasenwurzel zusammen. Er war sehr groß und strahlte einen Hochmut, einen kraftvollen Stolz aus, der mit der Pracht seines Hauses in vollkommenem Gleichklang stand.
»Sie wünschen mich zu sehen?«
Sylvia sah zu ihm auf. »Ja«, sagte sie ruhig. »Ich habe Ihnen Ihre Tochter gebracht.«
Während sie sprach, nahm sie Lucy den Hut ab; der Schein der flackernden Kerzenflammen sprühte über das feurige Rot ihres Haares, dessen Farbe unmissverständlich auf Sir Roberts Kopf wiederkehrte.
Es war ein Augenblick der Spannung, ein so atemberaubender Augenblick, dass es Sylvia schien, als sollte das Schweigen, das ihn kennzeichnete, nie wieder gebrochen werden, doch dann fragte Lucy, um sich blickend, mit ihrem klaren, kindlichen Sopran:
»Bleiben wir in diesem großen Haus?«
Sir Robert wandte sich an Sylvia: »Wer ist sie? Wo kommen Sie her?«
Sylvia fühlte ihre Gelassenheit schwinden. »Ihre Mutter trug mir auf, Lucy zu Ihnen zu bringen«, sagte sie. »Ich kannte sie als Mrs. Cunningham, doch sie war, soviel ich verstand, tatsächlich Lady Sheldon.«
Der Ausdruck auf Sir Roberts Gesicht änderte sich nicht. Seine Stimme klang kalt und unpersönlich, als er fragte: »Wo ist sie jetzt?«
»Sie starb gestern.«
Wieder sah er Lucy an, hielt den Blick ihrer lebhaften Augen fest »Wie alt bist du?«
»Ich bin sechs, beinahe sieben.«
»Wann hast du Geburtstag?«
Lucy zögerte einen Augenblick; im Bestreben, sich zu besinnen, legte sie die Stirn in Falten und wurde dem Mann noch ähnlicher.
»Am neunten April«, sagte sie endlich langsam, »werde ich sieben.«
Sir Robert blickte sich um. »Bateson!«
Aus einem dunklen Winkel der Halle, wo er gewartet haben musste, erschien Bateson wie durch einen Zauber
»Ist die Lady noch wach?«
»Ja, Sir Robert «
»Dann führe diese beiden Damen hinauf.«
»Sehr wohl, Sir Robert.«
Bateson trat neben Sylvia. »Wollen Sie mir folgen, Miss?«
Sie fühlte, dass er sie bereits eingestuft hatte, denn er sprach mit weitaus größerer Vertraulichkeit zu ihr als vorher. Sie begriff auch, dass er ihre ringlose Hand bemerkt hatte, weil sie, während sie mit Sir Robert sprach, halb unbewusst ihren Handschuh ausgezogen hatte.
Bateson führte sie eine breite Treppe hinauf.
Sie erreichten einen Treppenabsatz, von dem aus sie die ungeheuer große Halle überblicken konnten, und plötzlich hatte Sylvia den Eindruck, dass sie beobachtet wurden, nicht von einem Menschen beobachtet wurden, sondern von etwas Unermesslichem und Gewaltigem und Überwältigendem.
»Hier entlang, Miss.«
Batesons Stimme trieb sie voran Es war, als hatte er hinzugefugt: »Hier haben Ihresgleichen nichts zu suchen « Vor einer Tür blieb er stehen, klopfte an und öffnete
»Hier entlang, Miss, wenn es recht ist.«
Er führte sie hinein Sylvia ängstigte sich ein wenig vor dem, was sie erwartete. Lucy klammerte sich an ihre Hand, und Sylvia konnte nicht unterscheiden, ob vor Angst oder vor Müdigkeit
Obwohl das Zimmer sehr groß war, wurde es von einem Himmelbett mit blauen Brokatvorhangen beherrscht, das von großen Fächern aus Straußenfedern überragt wurde. In der Mitte des Bettes, von Kissen gestutzt und durch die Hohe und Ausdehnung ihrer Umgebung unbedeutend erscheinend, lag eine kleine alte Frau
»Wer ist das? Was wollen Sie«
Die Stimme war scharf und etwas schrill.