Wenn die Wahrheit alles ist, was bleibt - Stephanie Schindler - E-Book

Wenn die Wahrheit alles ist, was bleibt E-Book

Stephanie Schindler

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Beschreibung

Ein Schicksal, das zwei Menschen für immer verbindet Adam Winters wird während seiner Arbeit bei einer internationalen Hilfsorganisation in der Ukraine zusammen mit einer Teamkollegin von Separatisten verschleppt und neun Monate misshandelt. Traumatisiert von seiner Zeit in Gefangenschaft gelingt es ihm nach seiner Befreiung nicht mehr, an sein früheres Leben anzuknüpfen. Mit dem Schritt in die Öffentlichkeit rekonstruiert er den Verlust seiner Würde, des Vertrauens und der Identität und erhofft sich, Frieden mit der Vergangenheit zu schliessen. Doch die Erinnerungen wecken eine tief verborgene Sehnsucht, die ihn beinahe zu zerbrechen droht. Ein authentisch geschriebenes Buch, das die verwundbare Struktur des Menschen offenbart.

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STEPHANIE SCHINDLERS Liebe gilt der Sprache, Büchern und der Spiritualität. Seit ihrer Kindheit schreibt sie Geschichten und Tagebücher und holt sich Inspiration für ihr kreatives Werken bei Reisen in ferne Länder. Ihre Texte zeichnen sich durch emotionale Tiefe sowie viel Melancholie aus und sie scheut sich auch nicht, über Tabuthemen zu schreiben.

Stephanie Schindler lebt mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern in Zürich.

Für die Handvoll Menschen, die an mich geglaubt haben.

1 Kor 13,13

«Die Wahrheit ist eine unzerstörbare Pflanze. Man kann sie ruhig unter einen Felsen vergraben, sie stösst trotzdem durch, wenn es an der Zeit ist.»

Frank Thiess

Inhaltsverzeichnis

HEUTE

Kapitel 3: Am Tag der Entführung

HEUTE

Kapitel 5: Endstation

HEUTE

Kapitel 6: Der erste Tag

HEUTE

Kapitel 7: Dort, wo die Verzweiflung wohnt

HEUTE

DAMALS

HEUTE

Kapitel 8: Der Anfang vom Ende

HEUTE

DAMALS

HEUTE

HEUTE

DAMALS

HEUTE

DAMALS

Kapitel 10: Bis zur Erschöpfung

HEUTE

DAMALS

HEUTE

Kapitel 13: Die Befreiung

HEUTE

DAMALS

HEUTE

DAMALS

HEUTE

DAMALS

HEUTE

DAMALS

HEUTE

HEUTE

HEUTE

Leises Ticken, geduldig, routiniert.

Die Wanduhr mit dem lädierten Ziffernblatt schien keine Hektik zu verspüren. Monoton wiederholten die dunklen Zeiger ihre Runden und erinnerten daran, dass es nichts gab, was ihren Rhythmus hätte beeinflussen können. In Momenten, die man für immer festhalten wollte, raste die Zeit davon und es blieb nicht mehr viel von dem, was man ewig hätte hinauszögern wollen. Gleichzeitig bewegte sich die Zeit mit der Zähheit einer klebrigen Masse, wenn die Sehnsucht nach dem Kommenden am stärksten war.

Gerade jetzt, als er sich an seinem eigenen Küchentisch so fremd vorkam, wünschte er sich nichts anderes, als dass die Zeit dahinflog, so schnell wie nur möglich.

Nachdem er von der Visagistin für das Interview zurechtgemacht und für fernsehtauglich befunden worden war, baten sie ihn, in der Küche zu warten. Eine dicke Schicht Make-up und Puder überdeckten nun die dunklen Augenringe, die sich in der letzten Nacht gebildet hatten.

Er hatte heute Morgen versucht, bewusst in den Spiegel zu schauen. Aber der Mensch, der ihm entgegenblickte, war noch immer ein Fremder und im ersten Moment war er versucht, sein Gesicht wie gewohnt abzuwenden. Bisher fand er nie die Kraft, sich mit seinem Spiegelbild auseinanderzusetzen. Darum glitt sein Blick beim Zähneputzen oder Rasieren immer nur flüchtig über sein Antlitz, das der Spiegel ihm unbeteiligt zurückwarf. Heute Morgen überwand er jedoch zum ersten Mal dieses innere Zerwürfnis und stellte sich dem ungewohnten Anblick.

Sein halblanger dunkler Bart verdeckte den grössten Teil seines Gesichts. Es hatte lange gedauert, bis er sich an ihn gewöhnt hatte, doch nun war er ein Teil von ihm geworden. Er hätte den Bart ohne Weiteres abrasieren können. Die Narben, die sich darunter verbargen, waren für ihn ertragbar, doch er konnte sich nicht mehr vorstellen, ohne Gesichtsbehaarung zu sein. Die glatt rasierte Person gab es nicht mehr, sie war ihm noch fremder geworden als sein bärtiges Spiegelbild. Vielleicht gab es aber auch einen Teil in ihm, der mit dem Bart mehr verband als eine neue Identität. Vielleicht hingen daran all die verdrängten Erinnerungen, die sich tief in ihm eingenistet hatten.

Auf seiner Stirn und unter seinen Augen hatten sich Fältchen gebildet, die am Tag zuvor noch nicht da gewesen waren. Sie zeugten von einer unruhigen, schlaflosen Nacht. Die Ringe unter seinen Augen fügten sich schliesslich perfekt in das Bild seines ausgezehrten Gesichts.

Das Make-up konnte zwar die äusseren Zeichen auf seiner Haut verbergen, doch beim genauen Hinsehen war in seinen Augen der eigentliche Schmerz zu erkennen.

Er war sich nicht sicher, ob es ihm oder seinem Spiegelbild gelang, diesen Tag ohne weitere bleibende Schäden zu überstehen. Noch immer war das, was geschehen war, zu tief in ihm verborgen.

Unruhig rieb er seine kalten, zitternden Hände gegeneinander und blickte zurück zur Uhr. Die Zeit spielte mit seiner Geduld. Seit drei Tagen und vier langen Nächten zogen sich die Minuten dahin und er war seither unfähig, sich auch nur für einen Moment von seinen Gedanken zu lösen. Nachts war es immer am schlimmsten. Er konnte sich nicht erinnern, in dieser Nacht ein Auge zugetan zu haben. Stundenlang fragte er sich, ob es klug war, was er tat, und ob er die richtige Entscheidung getroffen hatte. Auch die Stunden, die er umherwandernd in seinem Garten verbrachte, lieferten ihm nur bedingt Antworten. Vor langer Zeit hatte er zwar schon einmal eine vergleichbare Entscheidung getroffen, doch die Tage, die jetzt kamen, bedeuteten für ihn nochmals eine völlig neue Herausforderung. Im Morgengrauen, als die Erschöpfung seiner schlaflosen Nächte ihren Tribut forderte, hatte er beschlossen, bei dieser Entscheidung seinem Herzen zu vertrauen.

Seit knapp einer Stunde wurde sein Wohnzimmer, in dem er sich in den kommenden Tagen sicher und vertraut fühlen sollte, von Mitarbeitern des Fernsehteams ins rechte Licht gerückt. Obwohl sie in einer fast bedächtigen Ruhe arbeiteten, konnte er die Anspannung in ihren Bewegungen spüren. Er hatte sich zwar mittlerweile an neugierige Blicke gewöhnt, doch jetzt fühlte er sich unwohl. Die vielen Leute machten ihn nervös.

Lange hatte er mit sich gehadert und versucht herauszufinden, ob er wirklich in der Lage sei, dieses Interview zu geben. Es hatte Monate gedauert, bis er sich überhaupt überwinden konnte, mit einer vertrauten Person über das Geschehene zu sprechen, und noch länger hatte es gedauert, mit Menschen zu reden, die er nur flüchtig kannte. Er hatte immer versucht, einen Mittelweg zu finden und seine Geschichte so zu erzählen, dass sie für ihn und den Zuhörer ertragbar war. Es war ihm nie sonderlich gut gelungen. Die Erinnerungen waren für beide Seiten einfach zu schmerzhaft. Deshalb war das Schreiben eine willkommene Abwechslung gewesen. Da gab es niemanden, der ihm gegenübersass und mit dessen Emotionen er unmittelbar konfrontiert wurde.

Die Worte waren bereits ausgesprochen und das schreckliche Szenario auf Papier gebracht. Die Herausforderung bestand nun darin, seine Emotionen während des Gesprächs unter Kontrolle zu halten. Ein Vorhaben, das ihm alles abverlangen würde.

Er ignorierte, was gerade in seinem Wohnzimmer geschah, und zog sich einen Moment in sich selbst zurück, indem er sein Gesicht in den Händen vergrub. Langsam atmete er ein paarmal tief durch und versuchte, das leichte Zittern, das nun auch seinen Körper überkam, zu kontrollieren. Es war nicht der Schritt in die Öffentlichkeit, vor dem er sich fürchtete, sondern was dieses Interview mit ihm anrichten würde.

«Mr. Winters?»

Die Stimme der blondhaarigen Visagistin liess ihn wieder aufblicken. Mit ihrem streng geschnittenen, schulterlangen Bob blickte sie ebenso adrett wie selbstbewusst in die Küche.

«Wir wären dann so weit.»

Er hatte das Gefühl, als ob sie bei seinem Anblick einen Moment zögerte, doch ihr Lächeln überspielte, was auch immer ihr gerade durch den Kopf ging.

Er fühlte sich beinahe so wie damals, als er Paula die ersten Seiten seines Manuskripts überreicht hatte. Die Welt, in die er sich schützend zurückgezogen hatte, schien sich plötzlich aufzulösen. Seine Vergangenheit war kurz davor, von jemandem geborgen zu werden. Es war ein furchteinflössendes Gefühl. Bevor er in sein Wohnzimmer zurückkehrte, blieb er noch einmal vor der tickenden Küchenuhr stehen. Die Zeiger hatten ihre Position verändert; sie waren vorangeschritten. Es war an der Zeit, dass auch er es versuchte.

Sein Wohnzimmer war mit drei kleinen Scheinwerfern ausgeleuchtet, die den Raum in ein unerwartet warmes Licht tauchten. Die beiden Terrassentüren, die in seinen Garten führten, waren zwar weit geöffnet, doch der zaghafte Wind würde lediglich noch ein paar Stunden für Abkühlung sorgen. Die Hitze war in den letzten Wochen erbarmungslos gestiegen. Selbst der Ventilator, der leise vor sich hin summte, kühlte den Raum nur schwach. Drei Kameramänner und zwei Ton- und Lichttechniker hatten sich auf kleinen Klappstühlen um sein Sofa positioniert. Die Visagistin sass an seinem Esstisch, auf dessen Mahagoniplatte sie ihre gesamten Utensilien ausgebreitet hatte.

Nate hatte bereits in seinem weissen Ohrensessel Platz genommen und blickte von seinen Notizen auf, als er ihn im Eingang stehen sah. Im Gegensatz zur Visagistin, die ihre wahren Gefühle hinter einer Maske verbarg, war Nate einer der wenigen Menschen, die ihm ein aufrichtiges Lächeln schenkten. Ein Lächeln ganz ohne Mitleid oder Bedauern. Neben seiner professionellen Art war es vor allem seine Menschlichkeit gewesen, die ihn dazu bewogen hatte, diesem Interview zuzustimmen.

Irgendwann hatte er aufgehört zu zählen, wie oft er für ein Interview angefragt worden war. Wahrscheinlich gab es landesweit kaum einen TV- oder Radiosender, der nicht über seine Geschichte berichtet hatte und versuchte, ihn für ein Interview zu kontaktieren oder ihm telefonisch ein paar Worte zu entlocken. Die Entführung und seine Befreiung waren ein gefundenes Fressen für die Presse. Ausserdem musste er bald erfahren, was für grundlegende Konsequenzen das für ihn persönlich haben würde.

Unbehagen und tiefe, irreparable Skepsis überschatteten seither die Beziehung zur Presse. Das Vertrauen war ihm nahezu vollständig abhandengekommen, und das, obwohl er in seinem früheren Leben beruflich mit den Medien verbunden gewesen war.

Nach seinem Collegeabschluss hatte er gemeinsam mit seinem besten Freund Mike, den er bereits seit der Grundschule kannte, fast zwei Jahre lang für eine kleine Lokalzeitung gearbeitet. Mike war ein exzellenter Journalist und sprühte vor innovativen Ideen. Bereits nach wenigen Monaten war er zum Teamleiter aufgestiegen und war knapp ein Jahr später zur Stellvertretung der Geschäftsleitung ernannt worden. Ihre Zusammenarbeit war immer Hand in Hand verlaufen. Sie teilten die gleichen moralischen Wertvorstellungen und Prinzipien, doch ihre Wege hatten sich getrennt, als sie beide fast zeitgleich nach einer neuen beruflichen Herausforderung gestrebt hatten. Mike verschlug ein Jobangebot von CBC nach Kanada, wo er nun mit seiner Frau und den beiden Kindern lebte.

Keine Worte, ob am Telefon oder auf Papier, hatten Adam Winters davon überzeugen können, den Schritt in die Öffentlichkeit zu gehen. Selbst Mike nicht, obwohl er ihn nie direkt danach gefragt hatte. Es war ihm bewusst, dass es Ausnahmen gab und nicht überall neugierige Reporter mit ihren gierigen Krallen auf ihn warteten, doch er konnte und wollte sie nicht sehen.

Bis ein unerwarteter Brief seine Sicht in eine andere Richtung lenkte.

Fast vier Seiten lang war der handgeschriebene Brief, den er von Nate erhalten hatte. Er war ein Journalist aus dem Nordosten, der für einen kleinen Lokalsender arbeitete, von dem Adam zuvor noch nie etwas gehört hatte. Dass er sich schliesslich für den Schritt in die Öffentlichkeit und dabei gleichzeitig gegen eine grosse TV-Produktion entschieden hatte, lag in erster Linie an Nate und den bescheidenen Ansprüchen, die er stellte. Schon bei ihrem ersten Treffen hatte er es verstanden, so etwas wie eine vertraute Atmosphäre zwischen ihnen beiden zu schaffen. Etwas, das ihm seither mit fast keinem fremden Menschen mehr gelungen war.

Nate war ein ruhiger, umsichtiger Mensch, der fähig war, im passenden Moment die richtigen Worte zu finden, und – obwohl es sein Job war, Fragen zu stellen – dies mit grossem Bedacht tat. Bei den Gesprächen, die sie im Vorfeld miteinander geführt hatten, war schnell klar, wie viel ihm daran lag, dieses Interview in vollem gegenseitigen Einverständnis zu führen. Ausserdem war es ihm wichtig, zu erfahren, welche Absichten er mit diesem Interview verfolgte. Selbst wenn Nate nie erahnen konnte, wie viel er sich in Wirklichkeit davon erhoffte.

Die Notizen lagen nun auf seinem Schoss, als er ihm bedeutete, ihm gegenüber auf dem Sofa Platz zu nehmen. Es war ein seltsames Gefühl, in seinen eigenen vier Wänden als Gast behandelt zu werden, doch er quittierte seine Aufforderung mit einem freundlichen Lächeln. Es gab gerade weitaus wichtigere Dinge, über die er sich den Kopf zerbrechen musste. Er setzte sich etwas unsicher auf die Stelle, die für ihn vorgesehen war, und liess den Blick durch den Raum schweifen.

Die beiden Scheinwerfer, die auf ihn gerichtet waren, wirkten im Gegensatz zu den hellen Sonnenstrahlen, die durch die Terrassenfront einfielen, eher unscheinbar. Er kannte sich mit Belichtung ziemlich gut aus und es schien, als ob sie das natürliche Licht nutzten, um möglichst viel von der ursprünglichen Atmosphäre seines Wohnzimmers beizubehalten. Sie hatten damit einen guten Job gemacht. Da er nun auf seinem Platz sass, prüften die Kameramänner erneut ihre Einstellungen sowie die Ton- und Lichttechniker, deren Namen er bereits wieder vergessen hatte, rückten noch einmal alles ins rechte Licht. Ihre Bewegungen wirkten zwar routiniert, doch er spürte eine leichte Unsicherheit über dem Raum schweben.

Was ging in den Köpfen dieser Menschen vor?

Er atmete einmal tief durch und war dankbar für die frische Luft, die durch die Terrassentür wehte. Das Interview hatte noch nicht begonnen, er durfte sich jetzt nicht von diesen Leuten aus der Fassung bringen lassen.

Die Hitze bereitete Nate bereits in den frühen Morgenstunden beträchtliche Mühe. Gerade wischte er sich mit einem weissen Stofftuch zum wiederholten Mal über die Glatze und die kaum vorhandenen grauen Haare in seinem Nacken. Adam Winters wusste nicht genau, wie alt Nate war, doch es würde nicht mehr allzu lange dauern, bis er in den Ruhestand treten würde.

Adams Finger zitterten noch immer, als er nach einem der Wassergläser griff, die er auf seinem Sofatisch für sich und Nate bereitgestellt hatte. Die Flüssigkeit kühlte seinen leeren Magen. Der Kaffee, den er vor ein paar Stunden getrunken hatte, reichte bei Weitem nicht aus, um ihn durch den heutigen Tag zu bringen. Das war ihm durchaus bewusst, doch wie so oft hatte er keinen Bissen hinuntergebracht. Er bezweifelte zwar, dass ein Frühstück in seiner momentanen Verfassung einen bedeutenden Unterschied gemacht hätte, doch vermutlich würde er sich jetzt nicht mehr ganz so kraftlos fühlen. Für seine Hände wünschte er sich eine zweite Tasse Kaffee, sie waren trotz der drückenden Wärme eisig kalt. Im Versuch, sie etwas zu wärmen, rieb er sie mehrmals gegeneinander.

«Sie müssen sich keine Sorgen machen.» Nates ruhige, fast väterliche Stimme lenkte ihn von seinen kühlen Gliedmassen ab. «Wir haben alles besprochen und es bleibt dabei: Wir werden nur über die Themen sprechen, die wir bereits im Vorfeld miteinander festgelegt haben. Ich werde keine der Fragen stellen, die Sie mir ausdrücklich untersagt haben. Und hören Sie», er untermalte seine Worte, indem er sich ihm ein Stück entgegenlehnte, «sollte alles zu viel für Sie werden, können wir das Interview jederzeit unterbrechen.»

Bei ihren zahlreichen Vorgesprächen hatte Nate ihm aufgezeigt, wie er sich vorstellte, in welche Richtung das Interview gehen sollte. Seine Ideen und Ziele waren identisch mit dem, was er ihm bereits im Brief geschildert hatte. Ihm ging es nicht um ein medienwirksames Interview, sondern darum, eine Geschichte zu erzählen. Wahrheitsgetreue Schilderungen und Fakten interessierten ihn, keine an den Haaren herbeigezogenen Spekulationen. Das war theoretisch einfach, denn er konnte sich an Fakten halten. Doch er war nicht hier, um wieder im gleichen Teufelskreis zu landen.

Das Vertrauen zu Nate war zwar da, doch eine gewisse Skepsis blieb. Es gab so viele unausgesprochene Dinge, über die er noch nicht einmal gewagt hatte zu schreiben. Er würde also ganz bestimmt nicht bei einem TV-Interview damit beginnen. Deshalb gab es Bedingungen, die er gefordert hatte. Fragen, die er Nate verboten hatte, die zu sehr in sein Intimleben eindrangen und er niemals beantworten würde. Es gab für ihn klare Grenzen, und diese würde er nicht überschreiten.

Ein letztes Mal liess er den Blick durch den Raum schweifen, während er versuchte, auf seinem Zweiersofa eine möglichst bequeme Sitzposition einzunehmen. Nur in seinem Haus, in dem er sich halbwegs sicher fühlte, war er bereit gewesen, dieses Interview zu geben. Es schaffte zwar Vertrautheit, aber in Wirklichkeit war es schon lange kein Ort mehr, den er als sein Zuhause bezeichnen konnte. Irgendwo zwischen ständiger Angst und Trauer war ihm dieses Gefühl abhandengekommen.

«Bereit?» Nate vergewisserte sich ein letztes Mal mit einem eingehenden Blick bei ihm.

War er das? Würde er überhaupt jemals bereit sein?

Wie von selbst nickte er ihm zu. Es gab jetzt sowieso kein Zurück mehr.

Nate zupfte noch einmal sein Hemd zurecht, bevor er dem Kameramann seinen Daumen als Startzeichen entgegenstreckte. Sein Herz schlug hart gegen seine Brust, als das kleine rote Licht der Kamera in seinem Augenwinkel zu leuchten begann und Nates warme Stimme den Raum erfüllte.

«Es ist eine Geschichte, so unfassbar und entsetzlich, dass sie kaum in Worte zu fassen ist. Am 30. September, vor nun fast zweieinhalb Jahren, wurden zwei Mitarbeiter einer internationalen Hilfsorganisation im Osten der Ukraine von einer Gruppe prorussischer Separatisten entführt und neun Monate lang festgehalten. In dem Buch «9 Monate Angst. Wie mein Traum zum Albtraum wurde», das kurz nach der Veröffentlichung vor drei Monaten auf Platz eins der Bestsellerliste stand, erfahren wir nun die ganze Geschichte einer Zeit voller Erniedrigung, Entmenschlichung und brutalster Folter.

Mein Name ist Nathaniel Bernard und ich heisse Sie herzlich willkommen zu einem Exklusivinterview mit dem Autor des Buches: Adam Winters.»

Sein Herzschlag setzte einen Moment aus, als er realisierte, dass nun die ganze Aufmerksamkeit auf ihn gerichtet war und dieses Interview tatsächlich stattfinden würde.

Nur nicht die Nerven verlieren.

Er versuchte, möglichst ungezwungen zu lächeln, als er Nates Begrüssung erwiderte.

Nate griff nach seinem Buch, das er zwischen Bein und Sessellehne geklemmt hatte, und hielt es direkt in die Kamera.

«Adam, ich möchte ehrlich zu Ihnen sein.» Nate nahm sich Zeit und sprach weiterhin ohne Hektik. «Ich habe die Medienberichte über Ihre Entführung mitverfolgt und war sehr betroffen über das, was Ihnen widerfahren ist. Als ich dann Ihr Buch gelesen habe, wurde mir erst das ganze Ausmass bewusst. Ich war wirklich entsetzt. Es gab Stellen, die so unfassbar grausam waren, dass ich einen Moment innehalten musste, um das Gelesene zu verarbeiten und zu begreifen. Umso mehr freut es mich, Sie heute in Ihrem Haus für dieses Gespräch besuchen zu dürfen.»

Adam nickte nur stumm. Er wusste nicht, was er dazu sagen sollte. Der Anblick des in Schwarz-Weiss eingebundenen Buches, das nur ein einziges Bild auf dem Titelbild zeigte, löste in ihm noch immer gemischte Gefühle aus. Einerseits hatte es ihm und seinem Umfeld viel Linderung verschafft, andererseits wünschte er sich, dieses Buch würde erst gar nicht existieren.

«Es ist nun über eineinhalb Jahre her, seit Sie nach Monaten der Gefangenschaft von einer russischen Spezialeinheit befreit wurden. Wie geht es Ihnen heute?»

Adam schluckte und räusperte sich einmal, bevor er sprach. «Mir geht es im Moment recht gut.»

Es war ein routiniertes Zurückspielen des Balles an den Gegner, eine Antwort, die er aus Macht der langen Gewohnheit allen gab, die ihn danach fragten. Dabei spielte es keine Rolle, ob er die Person nur flüchtig kannte oder ob er ihr nahestand. Anfangs hatte ihn noch ein schlechtes Gewissen geplagt, wenn er diese Antwort gab, denn sie entsprach alles andere als der Wahrheit. Doch mittlerweile war es ihm egal. Er würde sein wahres Befinden bestimmt nicht mit Tausenden oder Millionen Menschen aus aller Welt teilen. Zu wissen, wie es wirklich in ihm aussah, war nur für eine Handvoll Menschen in seinem Leben bestimmt.

«Ihr Buch erschien erst über eineinhalb Jahre nach Ihrer Befreiung. Was hat Sie dazu bewogen, dieses Buch zu schreiben?»

«Um eine Sache schon einmal vorwegzunehmen: Es ging mir dabei nicht um Profit. Ich hatte nie die Absicht oder den Wunsch, ein Buch zu schreiben. Für viele mag das damals in Bezug auf meinen beruflichen Werdegang jedoch vielleicht naheliegend gewesen sein, was womöglich auch einer der Gründe war, weshalb ich bereits zwei Wochen nach der Befreiung die ersten Angebote von Verlegern auf dem Tisch hatte.»

«Das ist ja völlig absurd.»

«Ja, das ist es. In den ersten Wochen war ich kaum in der Lage, richtig zu essen und zu schlafen, geschweige denn, einen klaren Gedanken zu fassen. Wie sollte ich da Zeit haben, um über ein Buch nachzudenken? In gewisser Weise kränkten mich diese Angebote, denn selbst als ich untätig blieb, wurde ich immer wieder angefragt.»

«Weshalb haben Sie sich doch dazu entschlossen, dieses Buch zu schreiben?»

«Mir fiel es eine lange Zeit sehr schwer, über das zu sprechen, was geschehen ist, und ich kam während meiner Therapie an einen Punkt, an dem ich nicht mehr weiterkam. Ich musste einen Weg finden, um mich selbst zu heilen und mich mit meinem Trauma auseinanderzusetzen. Also begann ich, meine Erinnerungen aufzuschreiben.»

«Also war das Schreiben eine Art Therapie für Sie?»

«Ja, auf jeden Fall. Doch das war nicht der Grund, weshalb ich dieses Buch geschrieben habe. Es war mir ein Anliegen, dass meine Familie und Freunde erfahren, was damals geschehen ist. Alles, was sie bis zur Veröffentlichung des Buches wussten, haben sie aus der Presse erfahren, und das war oft sehr verstörend und verletzend für sie. Ich war es ihnen schuldig, meine Wahrheit zu erzählen.»

Nate erwiderte freundlich seinen Blick, bevor er nach seinen Notizen griff, die in seinem Schoss lagen. Auf seiner Stirn schimmerten bereits wieder erste kleine Schweissperlen. «Ich denke, wir fangen am besten ganz von vorne an.»

Eine laue Brise streifte über Adams Nacken. Ein scheuer Vorbote für ein Gewitter, das viel zu weit vor ihnen lag.

«Begonnen hat alles damit, dass Sie sich einen Traum erfüllt haben. Als freischaffender Fotograf waren Sie mehrere Jahre für internationale Magazine wie National Geographic tätig und haben für verschiedene Nachrichtenagenturen im In- und Ausland gearbeitet. Schliesslich wurden Sie angefragt, für ein halbes Jahr nach Osteuropa in die Ukraine zu reisen, um die dortige Entwicklungshilfe mit Bildern zu dokumentieren. Was war Ihre Motivation für ein solches Engagement?»

«Es war schon immer ein Wunsch von mir, für eine Hilfsorganisation tätig zu sein und Menschen in Krisengebieten direkt vor Ort zu unterstützen. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte es sich jedoch einfach nicht ergeben. Vor etwa sieben Jahren wurde mir schon einmal ein Angebot gemacht, doch meine Familie war noch sehr jung, ich wollte meine Frau und unseren Sohn nicht für eine so lange Zeit allein lassen. Als ich schliesslich erneut angefragt wurde, war ich 38 Jahre alt, der Zeitpunkt schien für uns richtig. Mit meiner Arbeit sollte ich dokumentieren, wie die Betroffenen durch die Mitarbeiter unterstützt werden, wie versucht wird, ihnen eine Anlaufstelle zu bieten und welche Ressourcen dafür benötigt werden. Ich sollte die kritischen Zustände in diesem Land und das Leben der Menschen aufzeigen und erhielt so gleichzeitig die Möglichkeit, selbst aktiv zu werden.»

«War Ihre Frau von Anfang an damit einverstanden, dass Sie für mehrere Monate in ein Krisengebiet reisen?»

Adam war klar, worauf Nate hinauswollte. Etwa ein halbes Jahr nach seiner Entführung hatte sich Katherine in den Medien einmal dazu geäussert. Zu einem Zeitpunkt, zu müde und zu erschöpft, um den aufdringlichen Reporter erneut abzuwimmeln, entschlüpften ihr die Worte: «Ich hasse es. Ich wünschte, er hätte dieses Jobangebot nie angenommen.»

Es blieb bei diesem einen Ausrutscher, doch die Schlagzeile war da. Nach seiner Befreiung hatte sie sich mehrmals bei ihm dafür entschuldigt, obwohl es seiner Meinung nach dafür keinen Grund gab. Die Frage nach dem «Was wäre, wenn?» hatte nicht nur seine Frau, sondern auch ihn eine lange Zeit begleitet.

«Es ist nicht so, dass ich mich von heute auf morgen dazu entschlossen habe. Es war schon lange ein Thema, wir haben viel und lange darüber diskutiert. Wir kannten die Risiken. Meine Frau wusste zwar, wie viel mir dieses Projekt bedeutet, doch wir haben solche Entscheidungen immer gemeinsam getroffen. Hätte sie nicht gewollt, dass ich gehe, wäre ich nicht gegangen.»

Nate beliess es bei dieser Antwort und fuhr mit unverändert ruhiger Stimme fort. «Sie sagten, Sie sind schon immer gerne gereist und haben viel von der Welt gesehen. Wie war es für Sie, als Sie in diesem kleinen Dorf in der Ukraine angekommen sind? Ich kann mir vorstellen, es war sehr eindrücklich. Die Zustände sind bis heute recht prekär.»

«Das stimmt. Ich habe mich im Vorfeld natürlich informiert, doch wie ich aus eigener Erfahrung weiss, ist es schwierig, eine Atmosphäre mit Foto- oder Filmaufnahmen einzufangen. Direkt vor Ort zu sein, ist immer etwas anderes. So richtig vorbereiten kann man sich darauf nicht.»

«Dann waren Sie im ersten Moment erschrocken, als Sie dort ankamen?»

«Ich würde nicht unbedingt sagen erschrocken, aber es hat mich aufgewühlt. In die Gesichter dieser Menschen zu blicken, bestätigte meine Entscheidung und gab mir das Gefühl, am richtigen Ort zu sein.»

«Wie sah die Hilfe vor Ort konkret aus?»

«Fast die komplette Infrastruktur in diesem Gebiet wurde zerstört. Häufig war auch die Wasser- und Stromversorgung unterbrochen. Viele leben auf der Strasse oder in dem, was von ihren Häusern übrig geblieben ist. Als ich dort war, ging es darum, die Menschen mit Hilfsgütern wie Nahrungsmittel oder Hygieneartikel zu versorgen. Zudem waren rund um die Uhr Ärzte vor Ort, die kostenlose medizinische und oftmals auch psychologische Unterstützung leisteten.»

Kurz, nur ganz kurz sah er ein Flackern in Nates Augen, bevor er die nächste Frage stellte.

«Sie sind nicht allein entführt worden. Sie wurden zusammen mit der aus Deutschland stammenden Melissa Brahm festgehalten, die wie Sie für die Hilfsorganisation tätig war.»

Ein Schleier legte sich über Adam, als er Melissas Namen hörte, zu dicht, um noch richtig atmen zu können, und zu dünn, um dahinter Schutz zu finden.

«Melissa arbeitete dort als Krankenschwester, ist das richtig?»

«Ja, das ist korrekt.» Seine Hände begannen wieder stärker zu zittern und er fürchtete, seine Gesten und unausgesprochenen Worte, über die Nate problemlos hinwegsehen konnte, würden dem Zuschauer nicht verborgen bleiben. Bevor das Vibrieren in seinen Händen überhandnehmen konnte, faltete er sie in seinem Schoss und lehnte sich Nate ein Stück entgegen. Er musste ruhig bleiben, sonst konnte er dieses Interview nicht zu Ende zu führen.

Nate blickte zurück auf die Notizen. «An diesem schicksalhaften Tag Ihrer Entführung befanden Sie sich gerade in der Kantine der Anlaufstelle, sassen gemeinsam mit Ihren Kollegen beim Mittagessen, als plötzlich Schüsse zu hören waren. Wie haben Sie darauf reagiert? Wird man im Vorfeld auf eine solche Situation vorbereitet?»

«Das Gebiet gilt als Krisengebiet, das ist jedem bewusst, der sich dafür entscheidet, Entwicklungshilfe zu leisten. Man wird über die möglichen Gefahren informiert und es wird erklärt, wie man sich in bestimmten Situationen zu verhalten hat. Ohne dieses Sicherheitstraining darf niemand in das Krisengebiet reisen. Man ist sich der Gefahren also bewusst, doch nach einer Weile stellt sich eine gewisse Routine ein, das Leben in diesem Gebiet wird zum Alltag.

Man kann sich auf so etwas nicht vorbereiten, selbst mit all dem Training und den Vorbereitungen nicht. Ein gewisses Bewusstsein hat vielleicht geholfen, aber in dem Moment, als es geschah, kam es dennoch völlig unerwartet.»

«9 Monate Angst. Wie mein Traum zum Albtraum wurde.»

Kapitel 3 Am Tag der Entführung

Es war aussergewöhnlich warm an diesem Tag. Das Thermometer kletterte seit mehreren Tagen immer wieder über 15 Grad, doch ich erinnere mich, dass für diesen Tag bis zu 20 Grad angekündigt waren. Eigentlich bin ich kein wetterfühliger Mensch und ich hätte nie gedacht, dass mir so etwas Banales wie das Wetter auf die Stimmung schlagen könnte, doch nach dem vergleichsweise kühlen und nassen Sommer war ich dankbar für die Wärme, die uns der Herbst in diesen Tagen schenkte. Im Gegensatz zur Tristesse des Regens halfen die Sonnenstrahlen dabei, mit einer positiven Energie in den Tag zu starten.

Charlie und ich waren seit fünf Uhr morgens auf den Beinen und halfen, Hilfsgüter aus den beiden Lastwagen auszuladen, die mitten in der Nacht aus Deutschland eingetroffen waren. Eigentlich hätte die Lieferung schon vor zwei Tagen ankommen sollen, doch es hatte Verzögerungen an den Grenzübergängen gegeben. Obwohl immer alles relativ gut organisiert war, konnte man solche Dinge nicht vorhersehen. Es gab immer wieder Probleme mit den Behörden und wir waren trotz Verspätungen froh, wenn die Ware überhaupt bei uns ankam. Die Lastwagenfahrer hingegen standen unter Zeitdruck und kamen dementsprechend gereizt und gestresst an der Anlaufstelle an. Die lange Verzögerung hatte ihren Zeitplan und wohl auch ihre Nerven etwas überstrapaziert. Einer der Fahrer gestikulierte mit seinen massigen, kurzen Armen wild in der Luft, während er die Helfer in einem starken deutschen Dialekt herumkommandierte. Ich konnte innerlich nur über seine schroffe Art den Kopf schütteln, liess mir aber nichts anmerken. Auch wir waren wegen der Verspätung etwas ungeduldig geworden. Die Ladungen enthielten nicht nur medizinische Geräte, sondern dringend benötigtes Ersatz- und Verbrauchsmaterial für die Krankenstationen. Jeder, der entbehrlich war, half beim Ausladen der Hilfsgüter. Aus Zeitmangel deponierten wir die Waren erst einmal dort, wo wir gerade Platz fanden. Kaum hatten wir alles ausgeladen, fuhren die beiden Lastwagen wieder zurück in Richtung Westen.

Wir versuchten, uns durch die ganze Hektik nicht aus der Ruhe bringen zu lassen, und verbrachten den restlichen Morgen damit, die Kartons mit den Hilfsgütern in den kleinen Lagerräumen zu verstauen. Je weiter der Morgen voranschritt und die Sonne unsere kalten Hände wärmte, umso mehr hellte sich auch unsere Stimmung auf. Es gab endlos scheinende und bedrückende Tage, obwohl die langen Stunden bis spät in die Nacht oft mein Verschulden waren. Es war mir schier unmöglich, den Tag im Wissen zu beenden, einem wertvollen Schnappschuss entgangen zu sein. So dauerten die Tage oft bis tief in die Nacht und nagten nach einer Weile an meiner Energie.

Ein Tag mit Sonnenschein konnte also nur ein guter Tag werden. Besonders dann, wenn man mit Charlie zusammenarbeitete.

Als ich in der Ukraine ankam, war er schon seit über fünf Monaten bei der Anlaufstelle tätig. Wir haben uns gleich von Anfang an gut verstanden, nicht zuletzt, weil auch er wie ich aus Amerika stammte. Charlie war ein Abenteurer, hatte einen wundervollen schwarzen Humor und war ein noch grösserer Freigeist, als ich es jemals gewesen bin. Ihm war es völlig egal, was andere von ihm dachten. Seine Eigensinnigkeit war bereits in seinen blonden Haaren zu erkennen, die er zu langen Rastas geflochten hatte und üblicherweise in ein knallgelbes Kopftuch wickelte. Seine lockere Kleidung war zwar nicht ganz so auffällig, doch seine Hosen waren immer auf eine höchst unsymmetrische Weise umgekrempelt. Er war eine Frohnatur und gab dieses Gefühl auch weiter. Jeder an der Anlaufstelle kannte und mochte ihn.

Es tat gut, jemanden wie ihn um mich zu haben. Mit ihm konnte ich auch über Dinge sprechen, die mich persönlich beschäftigten. Charlie fand für jedes Problem die richtigen Worte. Selbst wenn mich das Heimweh zu Katherine und Jake wieder einmal überwältigte, gelang es ihm, mich mit seinem Humor und seiner Unbeschwertheit auf einen sorgloseren Weg zu lenken.

Es war kurz vor eins, als wir mit der Arbeit fertig waren, die Sonne stand bereits direkt über uns. Das Schleppen der Kisten und Kartons hatte mich ziemlich erschöpft, ich war durstig und ich schwitzte. Noch heute kann ich mich genau daran erinnern, wie ich meine olivfarbene Jacke draussen vor dem Hauptgebäude auf eine kleine Holzbank gelegt habe. Ich habe oft an sie zurückgedacht, an das Stück Stoff, an dem ich nicht einmal sonderlich hing. Wenn es an diesem Tag nur ein bisschen kälter gewesen wäre, hätte ich sie getragen, als es geschah.

Im Hauptgebäude war wie immer viel los. Es war ein ständiges Kommen und Gehen von Leuten, die sich für eine medizinische Behandlung im Pavillon gegenüber registrieren lassen wollten. Eine Mittagsruhe gab es dort nicht. Umso wichtiger war es, sich abzusprechen, wer wann mit wem zum Mittagessen gehen konnte. Mit der Zeit entwickelte sich eine Routine, sodass sich oft die gleiche Gruppe um die gleiche Zeit im Speisezimmer traf.

Charlie und ich waren die Letzten, die in der kleinen, praktisch eingerichteten Kantine eintrafen. Wie alle Räume des Gebäudes war auch dieser spärlich, aber zweckmässig eingerichtet. Durch die einfache Bauweise wirkten auch die Gänge und Decken schmaler und tiefer, als sie in Wirklichkeit waren. Ausserdem trugen Betonwände, Gipsdecken und Fliesenböden dazu bei, dass die Akustik in allen Räumen äusserst schlecht war. An kalten Tagen, wenn das Klima die Menschen in die Häuser trieb, konnte es im Hauptgebäude beengend werden. Auch in dem kleinen Apartment, das ich während dieser Zeit mit einigen Kollegen teilte, war es nicht anders. Doch ich gewöhnte mich schnell an die begrenzte Bewegungsfreiheit. Schliesslich war ich nicht mit der Erwartung an Komfort dorthin gereist.

Auch die Mahlzeiten waren einfach und bescheiden. Es gab selten Fleisch, was mich kaum störte, dafür viel Gemüse, Salate und kohlenhydratreiche Lebensmittel wie Kartoffeln oder Vollkornbrot. In Anbetracht dessen, wo wir uns befanden, war unser täglich frisch zubereitetes Essen wahrer Luxus.

Natalja, die gute Fee im Haus, die für unser Wohlergehen zuständig war, kam gerade mit einem grossen Topf frisch zubereiteter Gemüsesuppe aus der Küche. Ihre dünnen, rostbraunen Haare wippten dabei energisch hin und her. Sie war ständig in Bewegung, kochte, putzte und war temperamentvoll wie ein feuriges kleines Wiesel. Manchmal hörten wir ihr kraftvolles Organ, das so gar nicht zu ihrem zierlichen Körper passen wollte, bis nach draussen, wenn in der Küche einmal etwas nicht so lief, wie sie sich das vorstellte. Ich glaube, ich habe sie nie irgendwo sitzend gesehen, sie war immer in Bewegung. Trotzdem habe ich sie gemocht. Hatte man sich erst einmal an ihre liebevoll-strenge Art gewöhnt, schaffte sie es, einem das Gefühl von Geborgenheit und Heimat zu vermitteln.

Da ich wieder früh auf den Beinen war und mir die körperliche Arbeit noch immer viel Kraft raubte, war ich dementsprechend hungrig. Ich holte mir einen Teller Suppe und setzte mich mit Charlie, Paul, der aus Österreich stammte und eigentlich Jura studiert hatte, sowie Blair an einen der langen Tische. Blair war 21 und arbeitete erst seit ein paar Wochen für die Hilfsorganisation, doch sie hatte sich sehr schnell eingelebt. Die Tatsache, dass sie jeden Tag mit uns gemeinsam am Tisch sass, hatte wenig mit ihrer Anpassungsfähigkeit zu tun, sondern mit ihrer kaum übersehbaren Schwäche für Charlie.

Wir redeten immer viel, wenn wir zusammensassen. Ich denke, wir waren alle froh, Menschen um uns zu haben, mit denen man über die Eindrücke sprechen konnte, die man dort tagtäglich verarbeiten musste. Es gab aber auch Tage, an denen der Speiseraum beinahe gespenstisch still war.

Das Schicksal derer, die ihre Häuser und Angehörige verloren haben oder bei denen bei einem Angriff ganze Gliedmassen zerfetzt wurden, schlug auch auf die eigene Psyche. Wir waren täglich mit viel Leid konfrontiert und oft gab es dafür einfach keine Worte. Selbst für diejenigen nicht, die dafür ausgebildet waren.

Als Fotograf habe ich während meiner beruflichen Laufbahn viele schreckliche Dinge gesehen: Naturkatastrophen, schlimme Unfälle, Hungersnot und einmal sogar ein tödliches Beziehungsdelikt. Natürlich waren diese Szenen belastend für mich, doch ich konnte alles aus der Distanz durch eine Linse betrachten. In der Ukraine hingegen war ich unmittelbar involviert. Das machte es umso schwieriger.

«Habt ihr von den Unruhen drüben gehört?» Paul stellte die Frage zwischen einem Löffel Suppe und einem Stück Brot, welches er sich gierig in den Mund schob.

Charlie nickte knapp. «Ja. Soll gestern wieder Schiessereien gegeben haben.»

Das war auch das, was ich gehört hatte. Manchmal gab es viel Geschwätz zwischen den Mitarbeitern und den Menschen, die zur Anlaufstelle kamen. Die Gerüchte, die daraus entstanden, verbreiteten sich oft rasend schnell, auch aus Angst. In den meisten Fällen waren es Schiessereien, die von den Soldaten rasch unterbunden werden konnten. Ab und zu waren es auch die Einheimischen selbst, die aus ihrer Notlage mit Gewalt reagierten. Doch es gab natürlich auch immer wieder Angriffe mit Schusswaffen und Bomben. Die Angst galt diesem stillen, unberechenbaren Feind, mit dem auch wir jederzeit rechnen mussten.

Obwohl Charlie eine Frohnatur war und ihn nichts so leicht aus der Ruhe brachte, spürte ich bei ihm eine gewisse Unsicherheit. Die Meldungen von Unruhen kamen immer häufiger, und obwohl die Sicherheitsvorkehrungen für unser Gebiet stetig erhöht wurden, konnte ich nicht leugnen, dass mich die erneute Nachricht von Schiessereien beunruhigte. Wir alle waren uns der Gefahr bewusst und wir hatten gelernt, damit umzugehen, doch der lauernde Feind, die Separatisten, waren immer mitten unter uns.

Paul war zwar ein grosser, breitschultriger Mann, der mit seinem kahl geschorenen Kopf wie ein ranghoher General wirkte, doch er war überaus sensibel. Auch in seinen Augen hatte ich die Unsicherheit gesehen. Manchmal ging dieses Bewusstsein für die Gefahr ein wenig verloren und solche Ereignisse rüttelten uns wieder wach und schärften unsere Sinne. Wir wurden damals von verschiedenen Stellen informiert – irgendwo in meinem Appartement lag ein Stapel Infoblätter –, doch mir war bewusst, dass diese Informationen im Ernstfall nur bedingt weiterhalfen.

Wie es sein würde, wenn man der reellen Gefahr tatsächlich begegnete, konnte keiner von uns erahnen.

Wir verbrachten im Schnitt jeweils eine knappe halbe Stunde gemeinsam beim Mittagessen. Viel Zeit blieb nicht, es gab immer viel zu tun. Und doch waren genau diese Minuten so wertvoll für uns und schweissten uns als Team näher zusammen. Jeder brachte seine eigenen Ansichten in die Gespräche ein, ob wir nun über die Unruhen sprachen oder über Gott und die Welt diskutierten. Oft erzählten wir uns gegenseitig Geschichten aus dem Leben, die unterschiedlicher nicht sein konnten. Nicht alle waren so gesprächig wie Charlie oder Blair, aber mit der Zeit kannte ich die meisten Werdegänge und hörte mir Geschichten über Familiendramen und Beziehungsgeschichten an. Jeder Einzelne war mir auf eine bestimmte Art ans Herz gewachsen, der eine mehr, der andere weniger. Noch heute finde ich es faszinierend, wie wir alle für denselben Zweck zusammengefunden haben.

Wie unterschiedlich wir aber dennoch waren, sollte ich an diesem Tag erfahren.

Die trübe Stimmung klärte sich schnell auf, als Blair herzhaft über einen Witz von Charlie lachte und unsere Gespräche von da an in eine weitaus positivere Richtung verliefen. Schon bald füllte sich der Raum mit Geräuschen von leeren Tellern und Gläsern, die zusammengeschoben wurden. Es war so laut, dass der erste gedämpfte Knall beinahe im Lärm unterging. Zuerst war ich etwas irritiert, doch ich war nicht der Einzige, der auf der Suche nach dem ungewohnten Geräusch aus dem Fenster blickte. Fast tat ich es als harmlose Überreaktion auf die stetige Anspannung ab, als der Knall erneut ertönte. Dieses Mal allerdings lauter, gefolgt von Schreien aus unmittelbarer Nähe.

Im selben Augenblick wurde es still im Raum. Einen Moment lang war ich unfähig, mich zu bewegen, und blickte in die Gesichter meiner Kollegen, die wie ich starr in ihren Tätigkeiten verharrten. Eine eisige Kälte legte sich wie eine dunkle Wolke über meinen Körper. Ich konnte und wollte nicht wahrhaben, dass es nun uns treffen sollte und womöglich bereits Menschen verletzt oder gar getötet worden waren.

Für das, was als Nächstes geschah, hatte ich keine Zeit nachzudenken. Charlie packte mich am Arm und zog mich in Richtung Küche zum Hinterausgang. Auf einmal löste sich die Starre in dem Raum, die nicht mehr als ein paar Sekunden gedauert hatte, und Panik war plötzlich allgegenwärtig. Hinter mir hörte ich bereits Schreie aus dem Korridor und weitere Schüsse. Ich liess mich von Charlie mitreissen und reagierte mit dem Urinstinkt des Menschen: Flüchten und so schnell wie möglich aus dem Haus gelangen. Doch noch bevor wir die Tür zur Küche erreichten und sich die Gruppe durch den engen Durchgang drängen konnte, fielen direkt hinter mir mehrere Schüsse. Gelähmt vor Angst blieb ich inmitten der Gruppe stehen, die sich nun dicht zusammendrängte. Ich wagte nicht, mich zu bewegen und einen weiteren Schritt zu gehen. In diesem Moment spürte ich zum ersten Mal die kalte Angst direkt in meinem Nacken. Sie war so greifbar nah – würde ich mich umdrehen, sähe ich dem Tod ins Auge.

Irgendwo hörte ich ein leises Wimmern. Ich wusste nicht, ob es ein Geräusch aus Furcht war oder ob es Verwundete gab, die sich im selben Raum befanden wie wir. Schnell genug sollte ich es erfahren, als eine harte Stimme uns zum Umdrehen aufforderte. Dicht aneinandergepresst und mit erhobenen Händen drehten wir uns zu der Stimme um. Ich hielt die Luft an, als ich in die vermummten Gesichter dreier Männer blickte, die uns mit ihren Sturmgewehren fixierten. Mein Herzschlag pulsierte laut in meinen Ohren.

Der Anblick wirkte so surreal, dass ich nicht imstande war, einem Gefühl nachzugeben. Neben mir hörte ich meine Kollegen laut aufstöhnen, wiederum andere schluchzten leise. Alles, was ich wahrnahm, waren die Gewehre und die unsichtbaren Gesichter, die sich hinter den schwarzen Masken verbargen. Ich wagte nicht, meine Augen von ihnen abzuwenden.

Das Wichtigste war, Ruhe zu bewahren. Also zwang ich mich, keine hektischen Bewegungen zu machen, und hoffte, die anderen würden sich auch daran halten. Nach all den Broschüren, die ich gelesen habe, und den Seminaren, die ich besucht habe, war Ruhe bewahren das Einzige, woran ich in dieser Situation denken konnte.

Die drei Männer starrten uns mit weit aufgerissenen, fieberhaften Augen an und zielten mit den Gewehren direkt auf unsere Körper. Ich kann mich erinnern, dass ich meinen Blick kaum von den kleinen schwarzen Löchern abwenden konnte, die vor uns in der Luft schwebten; die Gefahr, die von ihnen ausging, war einfach zu gross. Doch ich versuchte, mich auf die Männer zu konzentrieren, so schwer es mir auch fiel.

Der kleine, bullige Mann, der uns am nächsten stand, sprach ein paar undeutliche Worte zu seinem Komplizen und gestikulierte in Richtung Eingang. Seine Stimme war dunkel und kratzig und duldete keine Widerrede. Mit zwei Handgriffen verriegelte ein ebenso stämmiger, aber wesentlich grösserer Mann die Tür zur Kantine. Mit dieser einzigen Bewegung wirkte der Raum plötzlich unglaublich klein, die Wände schienen erdrückend nah. Langsam setzte mein Verstand wieder ein und mit ihm eine erschreckende Erkenntnis: Wir waren eingesperrt und hatten keine Möglichkeit zur Flucht.

Draussen wurden weitere Schüsse abgefeuert und Stimmen von Frauen und Männern, die erfüllt waren von Panik und Schrecken, mischten sich unter die unheilvolle Geräuschkulisse. Ich konnte mich noch immer nicht bewegen und versuchte, trotz des zunehmenden Drucks in meinem Brustkorb, so langsam wie möglich zu atmen. Die Gruppe war unbewusst ein Stück zusammengerückt und ich spürte dicht neben mir zwei zitternde Gestalten.

Ein weiterer Moment verstrich, bevor sich die drei ein Zeichen gaben und mit ihren langen Gewehrläufen einen Schritt auf uns zukamen. Obwohl ich die russische Sprache bis dahin fast kaum beherrschte, hatte ich genügend Wörter aufgeschnappt, um zu verstehen, was «hinsetzen» bedeutet. Wir gehorchten, ohne zu zögern.

Die Männer sprachen in einem unverständlichen, primitiven Dialekt, den ich an diesem Tag nicht zum ersten Mal hörte. Fotos und Videoaufnahmen von vermummten und bewaffneten Männern waren allgegenwärtig. Ihre Kleidung, ihre Waffen und der Klang ihrer Sprache waren in den Köpfen aller Beteiligten. Als ich mich dort auf den kalten Kantinenboden setzte, war ich mir nicht sicher, ob allen wirklich bewusst war, in was für einer Situation wir uns gerade befanden. Die Separatisten waren gekommen, um Angst und Schrecken zu verbreiten, Menschen zu töten und dabei Macht zu demonstrieren. Dass wir alle noch am Leben waren, konnte nur eines bedeuten: Sie benötigten uns für einen ganz bestimmten Zweck.

Die Erkenntnis überwältigte mich und löste die Starre, in der ich mich befand. Meine Hände fingen unkontrolliert an zu zittern.

Wir wurden angewiesen, uns entlang der Wand hinzusetzen, damit sie jeden von uns genau im Blick behalten konnten. Kurz darauf verliessen zwei der Männer den Raum. Zurück blieb ein hagerer Mann, der sich bisher stumm im Hintergrund gehalten hatte und seine Augen konzentriert über den Raum gleiten liess. Ein Finger schussbereit auf dem Abzug. Sein Körper wirkte auf seltsame Weise deformiert. Er hatte eine bucklige Haltung, die ihn in eine leichte Schräglage brachte, weshalb sein Erscheinungsbild etwas schwerfällig wirkte. Das Verstörende war allerdings nicht sein Äusseres, sondern dass er im Gegensatz zu den anderen beiden vollkommen ruhig war.

Keiner von uns sprach ein Wort, als wir darauf warteten, was als Nächstes geschah, und ich wagte kaum zu atmen oder mich zu bewegen. Dennoch versuchte ich, mir einen Überblick zu verschaffen. Es befanden sich genau zwölf Personen in diesem Raum: Schräg gegenüber sass Charlie neben Paul und Blair, die ihren zierlichen Körper fast komplett hinter Charlie verbarg. Auf der anderen Seite kauerten Franz aus dem Ärzteteam, der mit seinen 63 Jahren der älteste in der Gruppe war, daneben Alexandr und ein weiterer Mitarbeiter aus der Krankenstation. Einen Teil von ihren Körpern konnte ich nicht richtig erkennen, da er von der Sitzbank neben ihnen verdeckt wurde, doch auch sie verharrten in derselben Position wie alle anderen: bewegungslos und starr vor Angst. Weiter neben ihnen befanden sich Graziella und ihre Kollegin, die in der Administration arbeiteten, und direkt neben mir Chris, der für die Verteilung der Hilfsgüter zuständig war. Zu meiner Rechten sass Natalja, deren Körper immer wieder von schrecklichen Schluchzern überwältigt wurde, daneben Melissa, die ich aus dem Augenwinkel nicht richtig erkennen konnte.

Alles in mir schrie danach, wegzulaufen und mich aus dieser ausweglosen Situation zu befreien, doch meine Angst war viel zu gross. Ich stand unter Schock und konnte nicht glauben, dass dies tatsächlich geschah.

Draussen waren immer noch einzelne Schüsse und laute Stimmen zu hören. Ich versuchte, einige dumpfe Wortfetzen, die ich auf Russisch aufschnappte, zu verstehen, doch es gelang mir nicht. Es gab in meinem Kopf nur Platz für diesen Mann und sein geladenes Gewehr. Ich bemühte mich, weiterhin ruhig zu atmen und den Geräuschen hinter dem Fenster zu lauschen, das direkt hinter Charlie und Paul einen Spalt weit geöffnet war.

Ich weiss nicht, wie lange ich das Fenster fixierte, als ich plötzlich aus dem Augenwinkel eine Bewegung in unseren Reihen wahrnahm. Noch bevor ich meinen Kopf vollständig zu der Person drehen konnte, hatte der Bucklige zwei bestimmte Schritte in diese Richtung getan und Alexandr mit dem Schaft seines Gewehrs mit voller Wucht gegen die Schläfe geschlagen. Sein Körper sackte bewusstlos auf dem Boden zusammen. Blut sickerte aus der Wunde über seine Wange und sein schlaffer Körper landete direkt vor Graziellas Füssen. Sie stiess einen kurzen spitzen Schrei aus und beugte sich über ihn, während sie dabei auf Italienisch mit erstickter Stimme auf ihn einredete. Einen Moment blieb der vermummte Mann dort stehen und ich befürchtete, er würde auch Graziella bewusstlos schlagen, doch er drehte sich wieder um, vollkommen ruhig, als wäre nichts geschehen.

Das Entsetzen stand allen ins Gesicht geschrieben. Im Gegensatz zu Graziella waren wir alle noch ein Stück weiter zurückgewichen, neben mir spürte ich Nataljas kalte Hand, die gegen meinen Oberschenkel presste.

Die Stimmen von draussen verstummten und ich wusste, es würde nicht mehr lange dauern, bis wir erfuhren, was mit uns geschehen würde.

Es vergingen erste weitere endlose Minuten, bevor die Tür zur Kantine wieder aufgestossen wurde. Vier Männer betraten den Raum. Sie alle trugen dieselbe Tarnkleidung und hielten ihre Gesichter hinter schwarzen Sturmhauben verborgen.

Natalja neben mir schluchzte unaufhörlich. Aus dem Augenwinkel konnte ich eine zögerliche Bewegung wahrnehmen: Melissas Arm, der sich um Nataljas Mitte legte. Meine Sinne waren dermassen geschärft, dass ich in dem Moment ungehalten zusammenzuckte. Jede noch so kleine Bewegung erschien mir wie ein Tropfen Wasser auf heissem Öl. Doch die tröstende Geste blieb zum Glück unbeachtet.

Der Bucklige wechselte ein paar Worte mit den anderen Männern und zeigte mit seinem behandschuhten Finger auf Graziella. Ich bin mir sicher, dass Franz, Charlie und wohl noch ein paar andere die gemurmelten Worte verstehen konnten. Die meisten Mitarbeiter lernten mit der Zeit Russisch, obwohl es Dialekte gab, die nur Einheimische wirklich verstehen konnten. Dem Ausdruck auf ihren Gesichtern zufolge hatten ihnen die wenigen Worte jedoch genügt, um den Sinn zu verstehen. In Charlies Gesicht sah ich blankes Entsetzen und als sich unsere Blicke trafen, wusste ich: Wir waren verloren.

Was auch immer der Bucklige zu den anderen gesagt hatte, veranlasste den stämmigen Riesen dazu, auf Graziella zuzugehen und sie unsanft an ihren langen, pechschwarzen Haaren zu packen. Die Hand in ihrem Nacken liess ihr keine andere Wahl, als in seine Augen zu blicken. Der verzweifelte Versuch, sich mit den Händen aus dieser Umklammerung zu lösen, scheiterte. Plötzlich tat er etwas völlig Unerwartetes, als er sich mit seiner linken Hand die Sturmhaube vom Kopf zog. Ich erschauerte. Zum ersten Mal sah ich das Böse völlig unverhüllt vor mir stehen. Über sein Gesicht schlängelte sich eine hässliche Narbe, die sich von seinem linken Auge bis zu seinem Ohr erstreckte und in seinen blonden, kurzen Haaren verschwand. Seine Haut war voller Furchen und er wirkte wie ein Mann, der in seinem Leben mehr als einen Krieg geführt hatte. Dass er sich uns offenbarte, konnte nur zwei Dinge bedeuten: Entweder würden wir alle sterben oder es war ihm egal, was mit ihm geschah.

Ich konnte den Blick nicht von Graziella abwenden, die weiterhin versuchte, sich mit aller Kraft aus dem Griff zu befreien. Sie wehrte sich lautstark mit Händen und Füssen. Zum ersten Mal spürte ich so etwas wie Wut in mir aufsteigen und fürchtete mich vor den möglichen Konsequenzen, die ihr Verhalten mit sich brachte. Konnte sie denn nicht still sein? Graziella war eine sehr direkte Person und sprach immer aus, was ihr gerade durch den Kopf ging. Normalerweise konnte ich damit gut umgehen, doch in diesem Moment wünschte ich mir, sie hätte ihr italienisches Temperament etwas gezügelt und sich der Situation ergeben.

Wie unglaublich falsch ich lag, musste ich sehr schnell erfahren.

So plötzlich, wie er sie gepackt hatte, so abrupt liess der Mann mit den raspelkurzen, blonden Haaren von Graziella ab. Ihr ganzer Körper zitterte, als sie sich so schnell sie konnte wieder dicht mit dem Rücken zur Wand hinsetzte. Sie sagte danach kein Wort mehr. Stattdessen wandte er sich nun der ganzen Gruppe zu. Ausdruckslos und hohl schienen seine Augen, aber dennoch konnte ich darin ein fiebriges Glänzen erkennen. Als sein Blick auch mein Gesicht streifte, erschauerte ich. Es war das erste Mal, dass ich seine Augen aus der Nähe sah. Seither hat es nie wieder einen Tag gegeben, an dem mich diese Augen nicht bis in den Schlaf verfolgten.

Ich beobachtete ihn aus dem Augenwinkel und lauschte seinen regelmässigen dumpfen Schritten. Keiner von uns schaute ihm direkt in die Augen, zu gross war die Angst, bei dieser grotesken Auswahl seinem Kriterium zu entsprechen. Ich folgte seinen Bewegungen möglichst unauffällig, bis ich realisierte, dass seine Aufmerksamkeit den Frauen in der Gruppe galt. Hilflos sah ich ihm zu und konnte die entsetzliche Vorahnung kaum kontrollieren, die sich in meinem Innern aufbäumte.

Ich weiss nicht, wie lange er im Kreis umherging, wo er stehen blieb und weshalb die einen für ihn nicht infrage kamen, als sich plötzlich abgetragene Stiefel in mein Blickfeld schoben. Obwohl seine nächsten Worte nur geflüstert waren, konnte ich die Worte «schön» und «Frau» verstehen. Keine Sekunde später packte er neben mir nach einem Büschel brauner Haare. Erst als der Platz neben mir besetzt blieb, realisierte ich, dass es nicht Natalja war, nach der er gegriffen hatte. Wie eine Schraubzwinge schloss sich seine Hand um lange Haare, als er Melissa unsanft hochzerrte. Während sie mit einer Hand versuchte, sich aus dem eisernen Griff zu befreien, zog er sie dicht zu sich heran und betrachtete ihr tränenüberströmtes Gesicht.

Wonach suchte er? Was bezweckten diese Männer? Ich versuchte, eine Antwort zu finden, eine Regung, einen Hinweis, doch sein Gesicht blieb ausdruckslos. Ohne weitere Umschweife drehte er sich um und gab Melissa einen heftigen Stoss, der sie direkt in die Arme der anderen Männer trieb. Hilflosigkeit erfüllte mich, doch ich sah keinen anderen Weg, als mich meiner Verzweiflung hinzugeben. Franz hingegen reagierte augenblicklich.

Seine Worte, flehend und bittend, durchbrachen die angespannte Stille. Was er genau sagte, konnte ich nicht verstehen, doch kaum hatte er die Worte ausgesprochen, richtete der Bucklige sein Gewehr auf ihn und schoss mehrmals auf seinen wehrlosen Körper. Markerschütternde Schreie erfüllten den Raum, als Franz leblos vor unseren Füssen zusammenbrach. Er war sofort tot. Eine entsetzliche Kälte breitete sich in mir aus und ich spürte Galle in meinem Rachen. Franz, mit dem ich so oft bis tief in die Nacht philosophierende Gespräche geführt hatte, war seiner eigenen Selbstlosigkeit zum Opfer gefallen.

Ich hatte keine Zeit zu verarbeiten, was gerade geschehen war, denn wir sahen uns noch immer vier geladenen Kalaschnikows gegenüber. Melissa wurde von einem der Männer im Hintergrund festgehalten. Sie konnte sich kaum auf den Beinen halten. Ein gehetzter Ausdruck erschien auf einmal auf dem Gesicht des Blondhaarigen, und da wusste ich: Es war noch nicht vorbei! Als sein Blick nun erneut über unsere Gesichter glitt, hastig und unkonzentrierter als zuvor, geschah das, was ich am meisten fürchtete und mein Leben mit einem Schlag zerstörte: Mit seiner narbigen Pratze packte er mich am Shirt und zog mich auf die Füsse. Die Kraft in seiner Bewegung traf mich mit erschreckender Wucht. In diesem Moment sagte keiner mehr ein Wort. Als ich verzweifelt den Blick meiner Kollegen suchte, sah ich nur noch blutleere Masken aus Angst und Schrecken. An Charlie und seinen wild flackernden Augen blieb ich schliesslich hängen.

Als wir beide gewaltsam aus der Kantine gebracht wurden, konnte ich nur noch einen einzigen Gedanken fassen:

Halt einfach die Klappe, Charlie.

HEUTE

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