Wenn du diesen Brief findest... - Hannah Brencher - E-Book

Wenn du diesen Brief findest... E-Book

Hannah Brencher

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Beschreibung

Voller Enthusiasmus zog Hannah Brencher mit Anfang 20 nach New York. Schnell fand sie sich jedoch inmitten einer unpersönlichen Welt von gestressten Menschen wieder. Aus einem Impuls heraus begann Hannah, Briefe an Fremde zu schreiben. Adressiert mit »Wenn du diesen Brief findest - dann ist er für dich«, ließ sie sie überall in der Stadt und an öffentlichen Orten zurück. Als Hannah schließlich auf ihrem Blog anbot, handgeschriebene Nachrichten zu verschicken, nahm ihr Projekt eine ganz andere Dimension an. Über Nacht explodierte ihr Postfach förmlich mit Anfragen aus aller Welt. Hannah Brencher hat eine innovative und doch einfache Methode gefunden, die Themen Miteinander und Sinn des Lebens ganz neu und erfolgreich aufzugreifen. Sie inspiriert mit ihrer Geschichte alle, die mehr Mitmenschlichkeit und Nächstenliebe in ihr Leben bringen wollen.

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Das Buch

Um die Unpersönlichkeit des Großstadtlebens zu überwinden, beginnt Hannah, Briefe an fremde Menschen zu schreiben. Adressiert mit »Wenn du diesen Brief findest … dann ist er für dich« lässt sie sie überall an öffentlichen Orten zurück. So geht Hannah einen ungewöhnlichen, emotionalen und poetischen Weg: indem sie sich Fremden gegenüber öffnet, findet sie zu sich selbst.

Die Autorin

Hannah Brencher ist Autorin und Bloggerin. 2011 gründete sie die weltweite Initiative The World Needs More Love Letters mit inzwischen über 25.000 Mitgliedern. Sie verschickt handgeschriebene Briefe an Menschen, die sich nach Zuwendung sehnen. Ihre Initiative begeistert in den Sozialen Medien über 100.000 Menschen und ihren Tedtalk verfolgten über 1,5 Mio. Zuschauer.

Hannah Brencher

Als ich einen Brief schrieb und tausende zurückbekam

Aus dem Amerikanischen von Carina Tessari

Anmerkung der Autorin

Die Namen und charakteristischen Merkmale der Figuren in diesem Buch wurden, mit wenigen Ausnahmen, verändert, um die Schuldigen und Unschuldigen zu schützen. Alle Ereignisse haben stattgefunden, einzelne Passagen jedoch wurden zusammengefasst oder anders angeordnet, um die Zusammenhänge des Buches zu wahren. Ich habe mein Bestes versucht, die Ereignisse mit Hilfe von Nachforschungen, Gesprächen, digitalen Aufzeichnungen und Tagebüchern zu rekonstruieren. Es gibt sicher Dinge, die ich falsch verstanden habe, doch bei allem bin ich meiner Erinnerung treu geblieben.

Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel If you find this letterim Verlag Howard Books, ein Verlag von Simon & Schuster, Inc.

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ISBN 978-3-8437-1444-0

© der deutschen Ausgabe 2016 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin

© der Originalausgabe 2015 by Hannah Brencher

All Rights Reserved including the right of reproduction in whole or in part in any form.

Published by arrangement with the original publisher, Howard Books, a division of Simon & Schuster, Inc., New York.

Übersetzung: Carina Tessari

Lektorat: Barbara Krause

Illustrationen: Sabine Kwauka

Umschlaggestaltung: Sabine Kwauka, Gröbenzell, nach einer Idee von Connie Gabbert

E-Book: LVD GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten.

Für Nate

Für die Sache mit den Engeln, unerschütterlichen Willen und für Größeres als das hier

Journalist: Gibt es etwas, das Sie immer bei sich tragen?

Maya Angelou: Ich bin ein Kind Gottes. Das trage ich bei mir.

Wenn du diesen Brief findest ...

bedeutet das, dass du ein Buch von mir entdeckt hast. Ich habe dieses Buch mit Herzblut geschrieben. Ich habe diese Geschichte erlebt, und dann hatte ich die wundervolle Möglichkeit, sie aufzuschreiben und zu teilen. Ich finde, das ist mit das Beste am Leben: dass wir die Möglichkeit haben, unglaubliche Geschichten zu erleben, die wir dann mit anderen Menschen teilen können.

Obwohl ich dich nicht kenne, mache ich mir Gedanken über dich. Ich frage mich, wie du wohl lachst. Ich frage mich, was dich motiviert und was dich deprimiert. Ich frage mich, wovor du Angst hast. Ich frage mich, wann du das letzte Mal gefragt wurdest, wie es dir geht. Ich hoffe, heute erst. Denn so banal die Frage »Wie geht’s dir?« in unserem hektischen Alltag klingen mag, sie kann für den Menschen, dem man sie stellt, alles bedeuten.

Wir dürfen nicht vergessen, uns füreinander zu interessieren. Oft sind wir so mit unserer Arbeit und unseren Terminen beschäftigt, dass wir völlig vergessen aufzuschauen, und dann versäumen wir es, füreinander da zu sein. Manchmal macht mir die Welt Angst, und dann wird mir bewusst, wie sehr ich andere Menschen brauche – Menschen wie dich. Menschen, die da sind, wenn es nicht so läuft wie gedacht.

Die Welt braucht mehr gute Menschen. Die Welt braucht mehr mutige Menschen. Trau dich, beides zu sein: gut und mutig. Geh da raus. Riskier was. Fang an zu tanzen. Sei für andere da. Sei einfach du selbst, und alles andere fügt sich ganz von allein.

Ich hoffe, dieses Buch wird dir gefallen. Es bedeutet mir viel, es mit dir zu teilen. Und vielleicht entdeckst du ja irgendwo auf diesen Seiten deine eigene Geschichte.

Mit Licht und Liebe,ein Mädchen, das versucht, seinen Weg zu finden

Liebe Leser,

dies ist die Geschichte einer Erzählerin, bei der ihr euch auf nichts verlassen könnt, außer auf ihr Herz.

Ich möchte das ganz offen vorausschicken, bevor wir weitermachen.

Bevor ihr eure Hände zu Fäusten ballt, in eure extra schnellen Laufschuhe springt und wie der Blitz zurück in den Buchladen schießt, um dem Verkäufer ins Ohr zu brüllen: »Siiiiie haaaben miiiiir ein Buuuuuuch verkauffft, auf desssssen Erzäääääählerin ich mich niiiiiicht verlassssssen kannnnn! Grrrrrr!« Nein, das hat er nicht. Ich habe euch von Anfang an gesagt, dass ihr euch nicht auf mich verlassen könnt.

Ich bin unberechenbar. Ich bin eine Träumerin. Ich schreibe Gedichte im Kopf, während ich mit dem Einkaufswagen durch den Supermarkt irre. Und ich werde euch enttäuschen. Weil ich ein Mensch bin. Und weil Menschen so etwas tun. Öfter, als uns lieb ist.

Als ich klein war, habe ich mir immer Geschichten ausgedacht, und wenn ich ehrlich bin, mache ich das heute noch. Meine Mutter rauft sich bestimmt vor Entsetzen die Haare bei dem Gedanken, dass ihr das gerade lest, und fragt sich, ob ich die Geschichte auszuplaudern gedenke, als sie meinen Bruder seinerzeit als Neugeborenen in ein Körbchen gelegt und den Fluss hinuntergeschickt hat. Ich habe die Geschichte in der zweiten Klasse meinen Klassenkameraden erzählt. Tatsächlich war es Moses, nicht mein Bruder.

Aber ich habe ein gutes Herz. Und solange mein Herz uns den Weg weist, werden wir nicht davon abkommen.

Ich werde euch eine verlässliche Schreiberin sein. Treu, wie ich es so gar nicht zu sein wusste, als ich infolge eines einzigen Abos der Zeitschrift Girls’ Life ganze siebzehn Brieffreundinnen hatte, von denen ich keiner einzigen schrieb. Sie dagegen schickten mir eine ganze Zeit lang Briefe und Hochglanzfotos, die ich dann in der Schule herumzeigte, um mit ihnen als meine »Schwestern« anzugeben. Ich selbst nahm jedoch nie einen Stift in die Hand, um zurückzuschreiben. Ich dachte wohl, meine Lebenszeit reiche nur aus, um ihre Post zu empfangen und um mir selbst dafür auf die Schulter zu klopfen, dass ich über eine Sammlung niedlicher Freundinnen aus Kansas und Kentucky verfügte.

Doch dieses Mal wird alles anders werden. Ich werde mich hinsetzen und von Anfang bis Ende alles aufschreiben, als wäre das Ganze ein Liebesbrief, von dem ich hoffe, dass ihr ihn findet. Und wenn ihr diesen Brief findet, dann wünsche ich mir, dass ihr Worte darin lesen werdet, nach denen ihr euch schon lange gesehnt habt. Egal, ob es Einsamkeit ist, die euch zu schaffen macht. Oder das Gefühl, wertlos zu sein. Oder ob ihr nach Halt in einer haltlosen Welt sucht. Diese Geschichte ist für euch. Sie ist für alle, die Angst davor haben, nachts ihr Telefon auszuschalten oder sich morgens zu verabschieden. Für alle Gewinner. Und für alle Verlierer. Und ganz besonders für alle Träumer. Für alle mit gelben Rosen auf dem Küchentresen und starken koffeinhaltigen Getränken in den Händen. Für alle, die immer noch Whitney Houston vermissen oder die sich nachts mit der Frage herumquälen, warum sie überhaupt existieren. Dieses Buch ist für alle, die glauben, dass sie zu klein und unbedeutend sind, um anderen hilfreich zu sein. Für alle, die damit zu kämpfen haben, ihren Platz in einer Welt zu finden, die sie nicht immer mit offenen Armen umfängt.

Ich hätte mir, um ehrlich zu sein, niemals träumen lassen, dass wir uns einmal auf diesem Weg begegnen würden. Bei keinem noch so kleinen Detail dieser Geschichte hatte ich mir vorgestellt, dass irgendwer sie einmal finden oder weitererzählen würde. Ich sah mich immer nur wild gestikulierend vor ein paar Kindern sitzen, die die gleichen feuerroten Ringellöckchen hatten wie ich, und hörte mich sagen: »Eines Tages, in New York City, fing eure Mama an, wildfremden Menschen Liebesbriefe zu schreiben. Sie hinterließ sie überall in der Stadt. Es machte ihr so großen Spaß, dass sie beschloss, nie wieder damit aufzuhören. Andere machten es ihr nach, und auch ihnen machte es so großen Spaß, dass sie beschlossen, nie wieder damit aufzuhören.«

Ich hatte gedacht, dass dies lediglich eine Geschichte sein würde, mit der ich meinen zukünftigen Kindern demonstrieren würde, wie wichtig jedes einzelne von ihnen ist. In einer Welt, in der immer allzu laut davon geredet wird, was es heißt, »wichtig« zu sein, wollte ich ihnen mit Hilfe dieser Geschichte die Wahrheit aufzeigen: Sie sind wichtig, wenn die Sonne aufgeht und wenn sie untergeht. Wenn sie einen Sonnenbrand auf den Schultern haben oder wenn ihnen ihre Schuhe nicht mehr passen. Wenn ihr Gepäck nicht ankommt. Oder wenn sie mit gebrochenem Herzen und einem leeren Platz neben sich aus Paris zurückkehren. Diese Geschichte sollte sie davon überzeugen, dass sie wichtig sind, immer, und dass es nicht darum geht, das nur zu wissen, sondern darum, es zu verinnerlichen.

Ja, das hier sollte die Geschichte sein, die sie immer bei sich tragen könnten, auch wenn ich irgendwann nicht mehr bei ihnen wäre. Aber jetzt seid ihr da. Ihr habt mich irgendwo aufgelesen. Irgendwie habt ihr mich gefunden. Und ich bin fest davon überzeugt, dass es einen Grund dafür gibt.

In enger Verbundenheit

HB

Dicke Liebe

Der Tag, an dem ich nach New York zog, ist in meiner Erinnerung weitaus romantischer, als er tatsächlich war. Meine Mutter würde sagen, die Luft sei trocken gewesen an diesem Morgen und wir hätten auf der gesamten Fahrt zum Bahnhof kein Wort miteinander gesprochen. Ich neige dazu, die ganze Sache aufzubauschen und davon zu schwärmen, wie die Vögel zwitscherten und wie uns die Briefkästen mit ihren kleinen roten Fahnen zum Abschied winkten, während wir durch New Haven, Connecticut, zum Bahnhof fuhren. Meine Mutter würde sagen, ich hätte überall in meinem Zimmer Haarklammern liegen lassen. Ich sage, dass ich alles im Gepäck hatte, was ich an diesem Tag brauchte: Träume verstaut neben Strickjacken, Wünsche versteckt in Gummistiefeln.

Das ist schon immer mein Verhängnis gewesen – meine Mutter kann ein Lied davon singen: Ich bin eine Romantikerin. Ich mische Herzschmerz bei, wo keiner sein sollte. Ich lasse die Dinge zu nah an mich heran. Ich halte länger an allem fest, als mir guttut. Das ganze Leben ist für mich schon immer ein einziger dicker Gedichtband gewesen und jeder einzelne Mensch ein wandelndes Gedicht: von seinen Hoffnungen und Träumen bis hin zu seinen schlechten Angewohnheiten. Das Leben ist nur zu hektisch, um einfach mal innezuhalten und sich länger einer einzelnen Sache zu widmen.

In Wahrheit ging an einem meiner Koffer eine der hinteren Rollen kaputt, und danach war alles aus dem Gleichgewicht. Das rückradlose Gepäck verhöhnte mich vom Rücksitz aus, als meine Mutter und ich vom Highway abfuhren und Kurs auf den Bahnhof von New Haven nahmen.

Ich sagte meiner Mutter nichts von der kaputten Rolle. Sie ist kein ängstlicher Typ, doch es hätte sie beunruhigt. Und sie hätte versucht – mit jeder mütterlichen Faser in ihr – ihrem Küken zu helfen.

Das war ich: das Küken der Familie. Insgesamt waren wir drei Geschwister: mein älterer Halbbruder, mein richtiger Bruder, den ich früher immer meinen irischen Zwilling nannte (ist er nicht), und schließlich ich. Ich beschreibe mich gern als eine Mischung aus der impulsiven Art meiner Mutter und der zupackenden Art meines Vaters. Meiner Mutter verdanke ich es, dass ich mich gern von Menschen in tiefgründige Gespräche verwickeln und von gutaussehenden Spaniern einwickeln lasse. Meinem Vater verdanke ich einen ausgeprägten Hang zum Sammeln. Die beiden bilden ein gutes Team. Seit Jahren schleppt mein Vater messi-artig Dinge in unser Haus, und meine Mutter wartet dann, bis er auf dem Sofa eingeschlafen ist, um alles wieder abzutransportieren und der Wohlfahrt zu spenden. Ich liege irgendwo dazwischen: Ich will alles, was in meine Umlaufbahn gerät, festhalten und gleichzeitig wieder loslassen.

Als ich klein war, wussten viele Menschen gar nicht, dass es mich gibt. Sie waren überrascht, wenn sie hörten, dass das schlaksige, rothaarige Mädchen, das bei Baseballspielen immer schweigend am Zaun saß und Freundschaftsbänder knüpfte, die Schwester der Brencher-Jungs war, dieser Lokalmatadoren, wenn es um Sporthallen, Spielfelder oder sonstige Plätze ging, auf denen um Sieg oder Niederlage gerungen wurde. Lange Zeit lebte ich in deren Schatten. Nicht mit Absicht. Ich blieb einfach gern für mich. Und es gefiel mir, meine eigenen kleinen Welten zu erschaffen, in denen ich alles kontrollieren und so tun konnte, als wären die vielen gutaussehenden Männer und Frauen aus dem JC-Penney-Katalog meine Freunde und nicht irgendwelche Models, die ich ausschnitt und in meine Kindertagebücher klebte.

Ich war die Letzte aus der Familie, die aus dem Haus mit den türkisfarbenen Fensterläden auszog und unsere Eltern allein zurückließ. Mein ältester Bruder war nach dem College mit seiner Freundin zusammengezogen. Er und ich unterschieden uns dahingehend, dass er einfach immer wusste, was er wollte, und diese Ziele konsequent verfolgte. Und ich? Ich bin eher der Typ, der schon eine handfeste Krise bekommt, wenn er sich morgens im Coffeeshop für ein Heißgetränk entscheiden muss. Mein anderer Bruder kämpfte zu jener Zeit mit einem Suchtproblem, weshalb er zu Hause wohnte, wenn er clean war, und außer Haus, wenn er es nicht war.

Während wir auf den Zug warteten, konnte ich sehen, wie meine Mutter etwas in meinen Koffer steckte. Ich versuchte zu vergessen, dass es da war. Ich spielte mit meiner Fahrkarte herum und sehnte die Abfahrt herbei. Ich wusste, dass es ein Brief war. Es war immer ein Brief.

Es gibt drei Dinge, die ihr über meine Mutter wissen müsst. Erstens: Sie ist ein Mensch, dem alle Herzen zufliegen. Zweitens: Es gibt wohl niemanden auf dieser Welt, dem meine Mutter je nahestand, der nicht den Klang eines Kazoos auf seinem Anrufbeantworter kennt. Es ist eine meiner lebendigsten Kindheitserinnerungen: Meine Mutter blättert durch ihr Adressbuch und sucht den Namen von wem auch immer heraus, der laut ihres Kalenders Geburtstag hat. Kurz darauf ist das Wählen des schnurlosen Telefons zu hören. Meine Mutter wartet einen Moment, dann schallt das Kazoo, auf dem sie »Happy Birthday« spielt, durch das ganze Haus.

Die dritte Sache, die ihr über meine Mutter wissen sollt, ist, dass sie ein nostalgischer Mensch ist, und so wie es aussieht, hat sie mir diese Eigenschaft vererbt. Mein ganzes Leben lang hat sie Liebesbriefe für mich versteckt. Da steckte ein Zettel auf einem Stück Schokoladenkuchen, als mich mein erster Liebeskummer am College heimsuchte. Da lag eine Karte auf meinem Armaturenbrett an dem Tag, als Whitney Houston starb. Konfetti rieselte aus dem Umschlag. Noten hüpften auf der Vorderseite auf und ab. Mit rotem Filzstift hatte sie sechs Worte geschrieben: And I will always love you. Wie Brotkrumen folgte ich über die Jahre hinweg den Liebesbriefspuren meiner Mutter.

Jedes Kommen und Gehen, das wir miteinander erlebten, ging mit Briefen, Nachrichten und kleinen Geschenken einher, als könnten Papierschnipsel und Konfetti verhindern, dass zwei Menschen sich je voneinander lösen. Nach dem Umzug in mein erstes Zimmer im Studentenwohnheim zum Beispiel, fand ich ihre winzigen Spuren beim Auspacken der Kisten überall. Da steckten Briefe in Tupperdosen und Zettel in Büchern, die ich noch nicht einmal aufgeschlagen hatte. Das ganze Semester über tauchte in irgendeiner Form meine Mutter auf. Im Unterricht. In Versammlungen. In Pausen. Meine Mutter ist eine wahre Expertin darin, den Menschen um sich herum nicht nur das Gefühl zu geben, dass sie da war, sondern auch den Beweis dafür zu hinterlassen.

Einer der Briefe, die sie mir in meiner ersten Woche am College schickte, enthielt ein langes Zitat aus dem O, The Oprah Magazine, das sie bei einem Arzt im Wartezimmer abgeschrieben hatte. Das Zitat handelte von einer Mutter und ihrer Tochter. Von deren Abnabelung. Die Tochter war gerade dabei, von zu Hause auszuziehen, den Schritt ins Erwachsenenleben zu gehen und damit die sichere Hand der Mutter loszulassen. Das Mädchen wandte sich zur Tür, und die Mutter wollte ihr gerade noch ein paar letzte Worte mit auf den Weg geben, da hielt sie inne. Es war der Moment, in dem sich die Mutter sagen musste: »Ich habe ihr alles gegeben, was ich konnte. Jetzt muss ich darauf vertrauen, dass es genug war. Den Rest muss sie allein sehen, fühlen und verstehen.«

Ich musste schwer schlucken, als ich das Zitat zum ersten Mal las. Ich las es fortan immer laut. Doch egal, wie oft ich es las, ich fühlte mich unter der kritzeligen Handschrift meiner Mutter jedes Mal nackt und entblößt. Die Karte mit dem Zitat ging irgendwie verloren, und meine Mutter konnte sich nicht erinnern, in welcher Ausgabe des Oprah Magazine sie es gefunden hatte. Ich verbrachte den darauffolgenden Sommer damit, jedes einzelne O Magazine in der Stadtbücherei zu durchforsten, um den Beweis dafür zu finden, dass es den Artikel wirklich gab, doch ich fand ihn nicht. Ich suche bis heute danach.

Die Briefe meiner Mutter begleiteten mich mein ganzes Studium hindurch. Ich schätze, ich war eine der einzigen am ganzen College, die einen Grund hatte, nach Unterrichtsschluss an ihr Postfach zu gehen, und das lag hauptsächlich daran, dass meine Mutter weder ein Handy besaß noch in irgendeinem sozialen Netzwerk angemeldet war. Ich hatte ihr bestimmt tausend Mal gesagt, dass sie sich ein Handy zulegen sollte, doch sie gab mir immer nur die gleiche Antwort: »Ich bin über fünfzig Jahre ohne ausgekommen. Warum sollte ich jetzt damit anfangen?«

Ich vermute, dass mir nie klar war, wie viel Kraft in ihren Briefen steckte oder warum sie sie mir schickte, bis meine Großmutter starb. Ich war im ersten Semester, als es passierte. Es war September. Die Luft roch bereits nach Herbst. Meine Großmutter hatte den gesamten Sommer über geistig verwirrt in einem Krankenhausbett gesessen. Sie war wie eine Fremde, die sich die Augen eines Menschen geborgt hatte, den ich liebte. Ich wusste, dass meine Mutter und ihre Geschwister darauf warteten, dass sie erlöst wurde. Sie wollten sie endlich an einem besseren Ort wissen.

Ich zog in dem Bewusstsein in mein erstes Studentenzimmer, dass schon bald der Anruf meiner Eltern kommen würde. Ihr wisst, welchen Anruf ich meine. Ich erinnere mich noch genau an meinen ersten Abend am College. Überall sprangen Studenten aus höheren Semestern in den gleichen Outfits herum, klampften auf Gitarren, rappten, wie es nur Weiße können, und animierten uns zu Kennenlernspielen, bei denen wir nur allzu offenherzig über unsere Sommerferien sprachen. Als ich an der Reihe war, von meinem Sommer zu erzählen, konnte ich mich gerade noch zurückhalten zu sagen: »In diesem Sommer habe ich gelernt, wie der Tod ein Haus abreißt. Stein für Stein. Stück für Stück. Der Tod tritt auf wie ein Arbeiter, der sich unermüdlich ans Werk macht, einen Menschen zu zerstören, den man von ganzem Herzen zu lieben gelernt hat. Bis von diesem Menschen nur noch ein spindeldürres Gerippe übrig ist, das einen aus leeren Augen anstarrt. Das habe ich in diesem Sommer gelernt. Wollt ihr ein Lied darüber singen?«

Der Anruf kam in der dritten Semesterwoche. Nachdem ich meinen Vater die Nachricht hatte überbringen hören, stopfte ich alle schwarzen Kleidungsstücke, die ich besaß, in einen Koffer, fuhr nach Hause, versuchte, mir die geschwollenen Augen zu schminken, lachte, bis ich in Tränen ausbrach, tauschte stumpfsinnige Erinnerungen mit Verwandten aus, sah zu, wie meine Großmutter in einen Sarg gesperrt wurde, und musste begreifen, dass jemanden zu vermissen erst der Anfang der Trauer ist. Anschließend fuhr ich zurück ins College, um mit dem Wintersemester weiterzumachen. Alles geschah ganz schnell, an nur einem Wochenende, als würde man ein Pflaster abreißen und dabei versuchen, so zu tun, als täte es nicht weh. So ist der Tod: Er kann uns in achtundvierzig Stunden mehr lehren, als wir bis dahin in unserem ganzen Leben gelernt haben.

Der Brief meiner Mutter kam nur wenige Tage später in einem goldenen Umschlag. Die Umschläge passten nie zu den Karten, dafür waren es immer die leuchtendsten Farben, die das Kartenregal zu bieten hatte. Silber. Indigo. Lila. Vorn auf der Karte war eine kleine Sonne abgebildet, eine goldene Schablonenzeichnung.

Ich saugte die Worte meiner Mutter noch in der Poststelle in mich auf: Es ist schön draußen. Gestern waren wir mit Scarlett und Chloe wandern. Ich kann jetzt weinen. Endlich. Ich gehe einfach ins Bad, mache die Tür hinter mir zu und spucke auf den Badezimmerboden. Irgendwie fühlt sich das befreiend an.

Ich stellte mir vor, wie meine Mutter auf dem Fliesenboden hockte und spuckte. Spuckte und weinte. Spuckte und weinte. Wie sie versuchte, sich so von ihrer Traurigkeit zu befreien. Wie sie ihren Gefühlen freien Lauf ließ. Es war eine schreckliche Vorstellung. Zu viel für ein Mädchen, in dessen Augen die eigene Mutter immer stark gewesen war. In diesem Moment verstand ich zum ersten Mal, was es mit den Briefen auf sich hatte. Wir können einem Menschen eine völlig andere Geschichte erzählen, wenn wir uns in den Schutz eines Blatt Papiers begeben. Wir können Dinge sagen, für die uns an anderer Stelle der Mut fehlen würde. Wir können dem Blatt Papier die volle Wahrheit anvertrauen, es anschließend zusammenfalten und in den Briefkasten werfen. Weg, weg damit, befreien wir uns von unseren Sorgen.

Bis heute hüte ich diese Zeilen meiner Mutter wie einen Schatz. Wie ein Geheimnis, das nur ich kenne. Die ganzen vier Jahre am College hing die Karte an meiner Wand. Und als ich nach New York zog, lag sie in meinem Gepäck.

»Kann ich dir helfen?«, fragte sie, als ich den Koffer mit der kaputten Rolle auf den Bahnsteig hievte.

»Nein«, sagte ich. »Ich schaff das schon.«

Als sie trotzdem nach dem Koffer greifen wollte, fuhr ich sie an. »Ich muss das allein machen. Du musst lernen, mich loszulassen.«

Sie verstummte. Ich war alles andere als nett zu ihr. Ich reagiere gereizt, wenn ich weiß, dass ein Abschied bevorsteht, mache dicht. Das Letzte, was ich meine Mutter spüren lassen wollte, war, dass mir das alles sehr schwerfiel.

Nüchtern betrachtet würden wir gerade einmal ein paar Stunden voneinander entfernt sein. Doch irgendwie spürten wir beide, dass es diesmal anders war. Das hier war kein Abschied wie vor dem College oder vor einem Ferienlager. Dieser Abschied saß zäh wie ein Kloß im Hals und zwang mich zu hoffen, dass ich genug von ihr gelernt hatte, um von nun an auf eigenen Beinen stehen zu können.

»Hast du alles, was du brauchst?«, fragte sie. Ich nickte. »Das ist für dich. Für die Fahrt. Falls du Hunger bekommst.« Sie holte ein dickes, in Alufolie gewickeltes Päckchen aus ihrer roten Handtasche und steckte es in das Seitenfach meiner Reisetasche. Ohne es auszuwickeln wusste ich, dass es ein Erdnussbutter- und ein Marmeladensandwich waren. Vier Scheiben Vollkornbrot. Erdnussbutter von Trader Joe’s. Himbeermarmelade.

Fünfzehn Jahre lang hatte sie mir diese silberfarbenen Pakete zugesteckt. Sie waren die erste Form von Religion, die ich je kennenlernte, noch vor einer Bibel oder einer Kirchenbank. Einfach mehrere übereinander gestapelte Sandwichs, die sie immer und überall bei sich hatte, um sie an hungrige Menschen zu verteilen, die ihr in New York City über den Weg laufen könnten. Niemals stieg sie ohne sie in einen Zug in die Stadt. Sie brachte mir bei, ein tapferes kleines Mädchen zu sein, das zu Obdachlosen hinging und ihnen Erdnussbutter- und Bananensandwichs entgegenstreckte. Und ganz egal, wie viele Sandwichs sie zum Verteilen dabeihatte, am Ende war immer noch eins für mich übrig. Es war ihre Art, mir zu sagen: »Du schaffst das. Du meisterst diesen Tag, aber mit Hunger im Bauch wird das kein Spaß.« All die Jahre nannten wir das »Dicke Liebe«.

Und das ist es, was meine Mutter mir zeitlebens ans Herz gelegt hat: nach dicker Liebe zu streben. Sie ist so anders als eine dünne Art von Liebe. Sie ist so viel seltener als das, was uns ein Freund in der achten Klasse geben kann. Sie ist gewaltig. Sie ist durchdringend. Sie macht uns zu Menschen, die etwas hinterlassen, wenn wir uns eines Tages umdrehen und auseinandergehen. Und obwohl sie niemand so richtig zu greifen weiß oder ihre Natur versteht, so merkt doch jeder, dass etwas zurückgeblieben ist, denn die Stimmung im Raum hat sich verändert.

Sie umarmte mich, als der Zug einfuhr. »Ich liebe dich. Mach keine Dummheiten. Pass auf dich auf«, flüsterte sie mir zu. Ich hatte das Gefühl, seit Stunden auf diesem Bahnsteig zu stehen.

»Ich liebe dich auch«, flüsterte ich zurück. Wir lösten uns voneinander, und ich stieg ein.

Ich hoffte, dass der Zug so schnell wie möglich abfahren würde. Ich wollte, dass sie nach Hause ging. Abschiede sind, wie gesagt, noch nie mein Ding gewesen. Ich verschwinde lieber bei Nacht und Nebel. Hinterlasse eine Nachricht. Bin schnell weg, statt dem anderen endlos in den Armen zu liegen. Und vor allem will ich nicht diejenige sein, die zurückbleibt. Das ist das Schwierigste an neugewonnenen Freundschaften: Man leiht anderen Menschen einen Platz in seinem Herzen, und dann muss man zusehen, wie man damit zurechtkommt, wenn sie sagen, dass es Zeit wird zu gehen.

Ich versuchte, mich auf die anderen Fahrgäste zu konzentrieren. Sie starrten auf ihre Zeitungen hinunter. Da waren Geschäftsmänner, die in ihren Anzügen aussahen, als würden sie in der Augusthitze gleich ersticken. Mein Blick fiel auf eine Frau, die zwei Reihen weiter draußen vor dem Zug stand. Sie hatte die Augen mit den Händen abgeschirmt und lehnte mit der Stirn an dem getönten Glas. Es war meine Mutter. Sie versuchte, mich zu finden. Ein letztes Mal.

Mit ihrem grauen Haarschopf und der puren Verzweiflung, die ihr ins Gesicht geschrieben stand, sah sie verrückt genug aus, um den Menschen auf den Plätzen vor mir einen Schrecken einzujagen. Es hatte nichts Romantisches an sich, wie sie in diesem Moment dastand. Sie sah aus wie jemand, der nicht wusste, wie er Lebwohl sagen sollte.

Sie lief von einem Fenster zum nächsten, bis sie vor meinem stand. Ich rutschte ganz tief in meinem Sitz nach unten und presste mich so weit wie möglich nach hinten, um zu verhindern, dass sie mich entdeckte. Hätte sie mich entdeckt, hätte sie die Tränen gesehen, die mir über die Wangen liefen. Sie hätte gewusst, dass ich Angst vor dem hatte, was vor mir lag. Angst davor, nie von Bedeutung zu sein. Nie zu begreifen, worum es wirklich geht. Es war, als würde ich jedes Gefühl im Moment seines Entstehens wegpacken, um sich nicht mit ihm auseinandersetzen zu müssen. Derlei Dinge werden zu Ballast, wenn wir uns nicht die Zeit nehmen, sie wieder auszupacken.

Sie spähte noch einen Augenblick durch die Scheibe, dann trat sie ein paar Schritte zurück, ihre rote Tasche am Arm und dazu passende rote Flipflops an den Füßen. Ich legte eine Hand an die Scheibe und schrieb ihr in Gedanken einen Brief.

Mama,

das Leben lacht mich mehr an denn je. Selbst während du gerade etwas hilflos dein Gesicht an die Zugscheibe drückst, wissen wir beide, dass das Leben mich anlacht.

Das hier ist meine Chance, dich stolzer zu machen, als du es jemals warst. Ich weiß, du würdest jetzt sagen, dass du bereits stolz auf mich bist und dass es im Leben nie darum gehen sollte, jemanden stolz zu machen, aber ich kann einfach nicht anders.

Ich habe jetzt die Chance, dir zu zeigen, dass ich meinen Platz im Leben finden kann. Vielleicht auch Gott finden kann (Ich weiß, dass wir uns nicht immer einig waren, was ihn betrifft – wie er aussieht oder wie er riecht –, trotzdem bin ich dir dankbar, dass du mir wenigstens etwas gegeben hast, woran ich glauben kann – etwas, das über meine eigene Existenz hinausgeht, auch wenn ich es noch nicht ganz verstehe. Ich werde die Augen in Manhattan nach ihm offenhalten).

Ich weiß, dass du dir Sorgen um mich machst. Nicht weil du denkst, dass ich es nicht hinbekomme, sondern weil du dir insgeheim immer Sorgen gemacht hast, das Leben könnte

an mir vorbeiziehen, ohne dass ich gelernt habe, wie man in Pfützen springt oder sich verliebt. Ich verspreche dir, dass ich es lernen werde. Wenn es einen Lehrer für solche Dinge gibt, dann muss es New York sein.

Danke, dass du mich loslässt. Auch wenn wir einander noch länger hätten festhalten können, danke, dass du mich loslässt.

In Liebe,dein Mädchen

Ich sagte ihr all das nie. So vieles, was wir denken und anderen Menschen gern sagen würden, sprechen wir im wirklichen Leben nie aus. Stattdessen schließen wir es tief in unserem Innern ein. Es lebt und stirbt in unseren Herzen, da uns der Mut fehlt, auszusprechen, was wir wirklich denken. So viele Menschen gehen, verlassen uns, sterben oder verändern sich, ohne dass wir ihnen je gesagt haben, was wir wirklich für sie empfinden.

Meine Mutter lief auf den Ausgang zu. Langsam setzte sich auch der Zug in Bewegung. Ich sah ihre Gestalt auf dem Bahnsteig immer kleiner werden. Im Stillen gab ich ihr ein Versprechen, von dem ich hoffte, es würde aus dem Fenster des in Richtung Süden fahrenden Zuges flattern und sich in ihren Haaren verfangen. »Ich werde versuchen, dich stolz zu machen. Sehr stolz.«

Wege und Ziele

Es gibt eine bekannte Geschichte über eine junge Frau, die nach New York zieht, um dort ihren Traum zu leben. Ihr Berufsleben ist ein illustres Martyrium aus langen Arbeitstagen, minutiös durchdiktiert von tyrannischen Moderedakteuren, endlosen Kleiderständern mit den Laufsteg-Trends der kommenden Saison und ellenlangen To-do-Listen mit Dutzenden Botengängen, die es zu erledigen gilt. Das alles stets auf Pfennigabsätzen und ein Papptablett mit siedend heißem Caffè Latte jonglierend. Die Protagonistin ist eine Art Rühr-mich-nicht-an-Schönheit. Sie ist bekannt dafür, unbeholfen und tollpatschig zu sein, legt jedoch in Gesprächen einen verblüffenden Ehrgeiz an den Tag. Sie weiß, was sie will. Sie ist in vielerlei Hinsicht die Außenseiterin. Und in ihren Augen funkelt stets dieser große Traum.

Ich kannte diese und ähnliche Geschichten in- und auswendig. Hatte sie verschlungen. Hatte Jahre damit verbracht, sie mir einzuverleiben wie eine Nachspeise, von der ich nicht genug kriegen konnte.

Der Tag, an dem Der Teufel trägt Prada erschien und wir alle so eine Art Heiliger-Gral-Einblick in die Welt des Modejournalismus erhielten, weckte den Heißhunger in mir. Ich wollte die langen To-do-Listen, die noch längeren Arbeitstage und eine Rolle, die mich mit viel Schweiß und unermüdlichem Einsatz an die Spitze meines Bereichs katapultieren würde. Ich wollte das New York City Girl sein, das mit einer kurzen Drehung des Handgelenks ein Taxi anhalten konnte, das mit sorgloser Hingabe die Straße überquerte und das in Kleidungsstücken aller großen Designer umherstolzierte, wobei sie die Eleganz und das Wissen ausstrahlte, dass Schwarz mehr war als nur eine Farbe.

Dennoch gab es da etwas in diesen Geschichten, das mir jedes Mal einen Stich versetzte. Etwas, das mich jedes Mal aufgewühlt zurückließ. Am Ende verliebte sich die junge Frau immer. Ob sie wollte oder nicht. Sie verliebte sich oder entliebte sich kurzzeitig, um sich dann wieder zu verlieben – in der Schlussszene jedenfalls war sie nie allein. Ich war ihr den ganzen Weg bis dorthin gefolgt, hatte mein Kissen fest umklammert und gedacht: Das bin ich, das bin ich. Doch am Ende der Geschichte fühlte ich mich immer verlassen.

In einer Welt, in der mir ständig das Gefühl vermittelt wurde, ich müsste permanent nach »dem einen« Ausschau halten – mein fehlendes Puzzleteil vom Himmel in einem Meer blauer Pappkartonteile finden –, wollte ich etwas anderes. Uns trifft keine Schuld, dass wir dieses Spiel mitspielen. Es gibt mehr als genug Filme, Bücher und Werbespots, mit denen wir Singles davon überzeugt werden sollen, dass wir fehlende Teile sind. Dass wir noch nicht angekommen sind. Dass wir uns beeilen müssen, jemanden kennenzulernen, auch wenn wir noch ganz damit beschäftigt sind, herauszufinden, wer wir selbst in alldem eigentlich sind. Ich wollte die Art Liebesgeschichte, die mich stehen bleiben und die Falten an den Händen des Saxophonspielers im Central Park zählen ließ. Ich wollte danke sagen und es wirklich meinen. Ich wollte tief in mir drin spüren, dass es einen Grund gab, in der Central Station über fremde Koffer zu springen, um gerade noch diesen einen Zug zu erwischen. Ich wollte mit einem Gefühl von Magie aufwachen. Ich wollte in diesem Leben etwas finden, das mir zeigt, dass es das alles wert ist.

Ich wollte lernen, ein Leben zu führen, das zu mir sagt: »Mädchen, dieses ganze verdammte Ding ist deine Liebesgeschichte. Es ist kein Trauerspiel, kein Herz-Schmerz-Lied oder ein leeres Heft, das auf einen Stift wartet, der in es hineinkritzelt. Es ist eine Liebesgeschichte, und sie ist bereit, diese dämlichen Burgmauern hinaufzuklettern, die du errichtet hast. Also, Baby, lass dein Haar herunter.«

Am Anfang gab es da auch jemanden. Doch die Wahrheit ist so schlicht wie einfach: Ich habe mich in einen Kerl verliebt, der mich nicht wollte. Es ist keine schöne Geschichte. Nichts, was man beim Truthahnessen an Thanksgiving oder beim Ostereierfärben mit den Liebsten zum Besten gibt. Aber es war die Geschichte, die ich zu diesem Zeitpunkt meines Lebens mit mir herumtrug.

Ich lernte ihn im letzten Semester am College kennen. Chaotisch und turbulent, wie die Schlussphase des Studiums ist, erinnert sie schon mal an ein Kriegsgebiet. Es ist wie bei Die Tribute von Panem, nur mit Lebensläufen, Jobmessen und Abschiedsessen. Alle versuchen krampfhaft, das Semester irgendwie in die Länge zu ziehen, und begehen eine Kurzschlusshandlung nach der anderen. Sie fangen an, einander ihre Liebe zu gestehen, weil sie entweder (a) glauben, dass sie keine andere Chance mehr dazu haben werden, oder (b) einfach so verzweifelt sind, dass sie sich an irgendwem festklammern wollen, der ihnen das trügerische Gefühl gibt, es wäre noch eine Ewigkeit hin und nicht nur die verschwindend wenigen Tage im Kalender, bis die »wirkliche Welt« über sie hereinbricht.

Die »wirkliche Welt«. So nannten wir es bis zur Verabschiedung. Es waren Tabuwörter, die niemand laut aussprechen durfte. Es war, als spräche man mitten in Hogwarts den Namen Voldemort laut aus. Wir kauften uns Anzüge und Kostüme für Vorstellungsgespräche. Wir entwarfen Lebensläufe und übten, Käseteller und Weingläser zu balancieren und gleichzeitig Visitenkarten zu zücken, um bestens vorbereitet und gleichzeitig entspannt zu wirken, wenn wir einschläfernde Networking-Events besuchten. Wir schlichen bei billigem Natty-Ice-Bier und Barefoot-Wein um das Thema »Wie geht’s weiter« herum, bis irgendjemand zu viel getrunken hatte und anfing zu heulen. Zum Glück war dann immer jemand zur Stelle, der die Runde besänftigte.

»Ganz ruhig. Reden wir nicht mehr davon«, sagte derjenige dann. »Lasst uns aufhören, über die ›wirkliche Welt‹ zu sprechen und einfach den Moment genießen.«

Wir alle versuchten einfach, das Unvermeidliche zu vermeiden: Wie geht’s weiter?

Sein Name war Ryan. Wir lernten uns in einem Englischseminar kennen. Er fragte mich, ob er ein Blatt Papier von mir haben könne. Diese einzelne Seite war wie eine Brücke zwischen uns. Sie war der Anstoß dafür, nach dem Unterricht wie zufällig gemeinsam den Raum zu verlassen und uns über Hausarbeiten und anderen oberflächlichen Kram zu unterhalten. Mir gefiel, wie er lachte und sein ganzes Gesicht dabei rot anlief. Meistens hatte ich gar nicht vor, in seine Richtung zu gehen, doch ich erfand alle möglichen Ausreden, um mich noch ein bisschen länger mit ihm unterhalten zu können. Ohne mich groß anzustrengen gehörten diese wenigen Minuten – in denen wir quatschend irgendwohin liefen, wohin ich gar nicht musste – bald zu den besten meines Tages.

Eines Abends saßen wir zusammen in meinem Auto, nachdem ich ihm angeboten hatte, ihn nach Hause zu fahren. Draußen goss es in Strömen. Die eigentliche Fahrt hatte nur zwei Minuten gedauert, aber wir unterhielten uns weiter. Der Motor lief im Leerlauf. Ich machte ihn aus. Der Regen prasselte unvermindert auf das Autodach. Meine Wangen glühten. Ich wagte nicht, mich zu bewegen, aus Angst, dass das, was auch immer da zwischen uns war, danach weg sein könnte. Ich sah, wie seine Lippen sich weiterbewegten, doch mir war, als hätte ich das Auto längst verlassen. Kann es wirklich so laufen?, dachte ich. Kann man wirklich einfach so jemanden kennenlernen – sich in ein Gespräch verlieren, das sich in ein- und demselben Atemzug anfühlt, als würde es eine Sekunde und zugleich ein ganzes Jahrzehnt dauern – und danach nie mehr die Gleiche sein? Kann eine Verbindung zu einem Fremden dermaßen stark sein?

Mein Magen schlug Purzelbäume. Und wenn ich Magen sage, meine ich eigentlich Herz, aber mir ist nicht ganz klar, warum die Leute sagen, sie spüren etwas im Herzen, wenn sie dem anderen in Wirklichkeit vor Nervosität auf die Füße kotzen könnten. Mein Magen überschlug sich während des gesamten Gesprächs. Und es war mein Magen, der zusammenkrampfte, als er ihren Namen sagte.

Sie hatte einen Namen. Er hatte schon jemanden. Sie hatten eine Geschichte. Doch während er weiter und weiter über seine Freundin sprach, wurde ich weder wütend noch eifersüchtig. Ich dachte einfach nur die ganze Zeit: Die Glückliche. Was hat sie nur für ein Glück, dass sie dich hat. Gleichzeitig spürte ich, wie in mir eine winzig kleine Hoffnung aufkeimte, dass vielleicht eines Tages jemand da draußen genau so über mich sprechen würde. Seine Wangen würden leuchten und seine Augen immer größer werden. Ich wusste, dass es das war, was ich wollte.

Hoffnung. Ich hielt es weiter für Hoffnung, als ich ihm zusah, wie er aus meinem Auto stieg und zu seiner Haustür lief. Ich dachte, es sei Hoffnung, die mir, den peitschenden Regen im Gesicht nicht einmal wahrnehmend, den Weg zu meiner Wohnungstür wies. Ich dachte, es sei Hoffnung – einfach nur Hoffnung –, doch als ich später an diesem Abend in meinem Bett lag und versuchte einzuschlafen, brach plötzlich völlig unerwartet dieses Gefühl von Traurigkeit über mich herein. Dieses dumpfe, leere Gefühl. Ein Teil von mir wünschte sich, ich hätte ihn zuerst kennengelernt, vor ihr. Ein anderer Teil wünschte sich, Geschichten könnten sich über Nacht selbst umschreiben, und am nächsten Morgen würde ich mit einer anderen Geschichte unter dem Kopfkissen aufwachen, so wie die Zahnfee ausgefallene Vorderzähne gegen Dollarscheine austauscht.

Ich hatte nie vor, das andere Mädchen zu sein. Die Heldin zu spielen. Und ich begriff recht schnell, wie unschön dieser ganze Schlamassel ist. Für Freunde. Für die Familie. Es ist nur so schön einfach, sich mit genau den Leuten zu umgeben, die einem sagen, dass man durchhalten soll, dass man am Ende gewinnen kann. Und dann sitzt man zusammen vor dem Computer und seziert sämtliche Fotos auf Facebook, um zu schauen, ob die beiden dichter beieinander oder weiter auseinander stehen als auf dem Bild davor. Rückblickend denke ich, wie verrückt es ist, in einer Kultur zu leben, in der es verherrlicht wird, einem anderen Menschen seinen »Jemand« auszuspannen. Nichts davon fühlt sich herrlich an, wenn man mittendrin steckt. Man fühlt sich einfach nur leer, besonders wenn man gezwungen ist, mit der Wahrheit einzuschlafen: So jemand bist du nicht, Mädchen. So jemand bist du einfach nicht.

Ganz egal, wie man die Sache betrachtete, hier liefen zwei Menschen sehenden Auges in die Katastrophe, da sie einfach nicht wussten, wie sie es ein für allemal gut sein lassen sollten. Ich dachte damals mit praktisch jeder mir zur Verfügung stehenden Gehirnzelle, dass er sie verlassen würde. Und so öffnete ich ihm Türen, die ich geschworen hatte, niemals zu öffnen. Und ich warf Unsicherheiten ab wie Spielkarten. Und ich tat so, als wäre ich die Einzige. Aber nein, ich hatte nie vor, das andere Mädchen zu sein.

Ich hatte vor, die Welt zu verändern, so abgedroschen das klingen mag. Ich wollte etwas bewirken. Ich wollte all das sein, wovon ich immer dachte, ich könnte es sagen, ohne stirnrunzelnd angesehen zu werden, wenn ich gefragt wurde: »Und, was hast du nach dem College vor?«

Wie sich herausstellte, war »die Welt verändern« für die meisten Leute keine zufriedenstellende Antwort. Also gewöhnte ich mir an zu sagen, dass ich nach dem College ein freiwilliges soziales Jahr machen wollte.

Es gibt diese Programme überall auf der Welt. Manche Leute nennen es eine »Auszeit«, aber ich mag diesen Ausdruck ehrlich gesagt nicht, da er klingt, als würde man einfach den großen »Pausenknopf« im Leben drücken, wo doch so viele Menschen erst innerhalb eines solchen Jahres das Leben für sich entdecken. Man verzichtet freiwillig ein Jahr lang auf ein Gehalt und betritt unterversorgtes Neuland. Man lebt mit anderen Freiwilligen zusammen und baut sich gemeinsam ein Leben aus Dingen auf, die vermutlich nur die Mitglieder dieser Gruppe jemals verstehen werden.

Trotzdem sahen mich die Leute weiter an, als stünden mir kleine grüne Antennen vom Kopf ab, wenn ich ihnen von dem freiwilligen Jahr erzählte. Wer sollte so etwas aus freien Stücken tun wollen?

»Es ist wie das Friedenskorps«, sah ich mich dann gezwungen zu sagen und zitierte aus einem Artikel der New York Times über den sprunghaften Anstieg von »Auszeiten«. Prompt ließen sie die Luft aus ihren aufgeblasenen Backen ab. »Oh! Das Friedenskorps! Du bist so ein guter Mensch.« Den Gesprächen ging dann immer kurz darauf die Luft aus.

Zunächst dachte ich, ich würde etwas im Ausland machen. Ich verliebte mich in eine kleine Schule in Port-au-Prince, Haiti, wo die Kinder auf dem Gelände in Uniformen herumtollten, die die Farbe sonnengereifter Beeren hatten. Ich würde ein ganzes Jahr lang als Lehrerin arbeiten und mit den Kindern zusammen im Internat leben.

Am Abend vor dem letzten Bewerbungsgespräch für die Schule in Haiti traf ich mich mit Jen, einer Freundin aus der Highschool, um ihr von dieser einmaligen Chance zu erzählen. Es war zwei Tage vor Weihnachten, wir saßen bei Starbucks bei uns zu Hause, und wie es alte Freundinnen so machen, drehten wir Kaffeebecher in unseren Händen hin und her, schlugen Brücken zurück in unser altes Leben und erzählten uns alles, was seit unserem letzten Treffen passiert war.

Ein Mann am Tisch gegenüber versuchte schon seit einiger Zeit, unsere Aufmerksamkeit zu erregen und uns in ein Gespräch zu verwickeln. Ich bin mir ziemlich sicher, dass er verrückt war. Und betrunken. Er versuchte, uns einen Ehering zu zeigen, den er gekauft oder sich sonst irgendwie beschafft hatte. Jen sah uns schon in seiner Gewalt. Der Mann hörte nicht auf, uns zu belästigen. Da winkten uns plötzlich zwei Leute aus einer anderen Ecke des Coffeeshops zu.

»Sam! Veronica!«, rief die Frau von ihrem Tisch zu uns herüber. Jen musste Sam sein. Ich war Veronica. »Mädels! Ist das lange her! Kommt doch rüber zu uns!«

»Sam!«, kreischte ich und spielte das Spiel der Frau mit. Ich stupste Jen an, und gemeinsam schnappten wir uns unsere Becher und gingen zum Tisch der Frau hinüber, wo sich der Verrückte mit dem Ehering nicht länger in unser Gespräch drängen konnte.

»Das war eine gute Idee«, sagte ich zu der Frau, als wir uns setzten.

»Kein Problem«, erwiderte sie, und als hätte die kleine Rettungsaktion nie stattgefunden, waren sie und der Mann ihr gegenüber schon wieder ins Gespräch vertieft. Jen und ich begannen, weiter über mein freiwilliges Jahr zu quasseln. Als das Wort Haiti fiel, sah mich die Frau argwöhnisch an.

»Du?«, fragte sie. » Du spielst mit dem Gedanken, in Haiti zu unterrichten?« Ihre gesamte Haltung veränderte sich. Sie durchbohrte mich regelrecht mit ihrem Blick.

»Ja! Es ist ein zehnmonatiges Programm in Port-au-Prince. Man wohnt und arbeitet mit den Kindern auf dem Schulgelände …«

»Oh nein, nein, nein«, unterbrach sie mich. »Ein süßes kleines Ding wie du? Man wird dich entführen, umbringen und auf dem Schwarzmarkt verkaufen. Deine Eltern werden dich oder deine Organe niemals wiedersehen.« Der Mann ihr gegenüber hielt den Blick nur starr auf seinen Kaffeebecher gerichtet und drehte ihn abwesend zwischen seinen Fingern hin und her, während sie fortfuhr und uns von ihrem Onkel erzählte, der Plantagen in Haiti besaß. Sie hatte dort die schlimmsten Dinge gesehen. Ich versuchte, mich zu verteidigen, doch sie ließ mich gar nicht zu Wort kommen.

»Nein«, wiederholte sie. »Du wirst aus diesem Flugzeug steigen, und kein Mensch wird dich je wiedersehen.«

Trotz dieses schlechten Omens bei Starbucks zog ich – meine Nieren fest umklammernd – in das letzte Bewerbungsgespräch. Ich erfuhr, dass man das Schulgelände nicht verlassen durfte. Körperliche Bewegung bestand hauptsächlich darin, Löcher im Freien zu graben oder an der Umzäunung des Geländes entlangzujoggen (vorausgesetzt, man fand in dem schweißtreibenden Klima die Energie dafür). Zu Essen gab es Kohlenhydrate, und das reichlich. Spaghetti zum Frühstück. Eventuell zum Mittagessen. Ganz sicher zum Abendessen. Spaghetti hier. Spaghetti da. Spaghetti ü-ber-all. Ich hatte das Gefühl, als würde mir permanent etwas in den Magen boxen, während ich die Fragen in dem Bewusstsein beantwortete, dass der Job nichts für mich war.

Ich zog meine Bewerbung schließlich zurück, und nur wenige Tage später musste ich im Fernsehen mit ansehen, wie die Stadt Port-au-Prince von einem Erdbeben verwüstet wurde. Ich werde nie erfahren, ob es ein Zeichen für irgendetwas war, eine Bestätigung, die noch überzeugender war als die Schüsseln voller Spaghetti. Jedenfalls machte ich mich wieder auf die Suche nach einem Ort, der zu mir passen würde, wenn das College mich ausspuckte.

Ein paar Tage nach Weihnachten traf ich mich mit einer Freundin, die gerade mitten in einem freiwilligen Jahr steckte. Sie lebte in Chicago, wo sie Schulkindern beibrachte, wie man mit Computern umging. Sie hatte sich nie sonderlich für Computer interessiert, doch als sie mir von ihrer Arbeit erzählte, konnte ich ihr die Begeisterung von den leuchtenden Augen ablesen. Es war geradezu elektrisierend. Sie wurde ein ganz anderer Mensch, während sie sprach.

»Es ist nicht leicht«, sagte sie und schob ihren leeren Kaffeebecher auf dem Tisch hin und her. Wir saßen in demselben Starbucks, in dem ein paar Tage zuvor mein Traum von Haiti geplatzt war, umgeben von Geschäftsmännern, die auf dem Weg zur Arbeit noch schnell die New York Times durchblätterten, und Menschen, die ihr komplettes Homeoffice in ausgewiesene Bereiche des Coffeeshops verlegt zu haben schienen. »Du musst Opfer bringen, das ist nicht ohne. Gemeinnützige Arbeit ist kein Kinderspiel. Aber es lohnt sich. Ich merke, wie ich mich verändere.«

»Ihr habt doch auch einen Standort in der Bronx, oder?«, fragte ich. »In eurem Programm, meine ich.«

»Ja, ein Freund von mir arbeitet dort in einer Vorschule. Zwei waren mal Lehrer, und einer ist bei der UNO.«

»UNO wie … Vereinte Nationen?«

»Genau. Die Gruppe hat dort eine kleine NGO, und jeweils einer aus dem Programm ist der New Yorker Vertreter. Er nimmt für sie an Sitzungen teil. Ist bei Vorträgen anwesend. Das ganze coole Zeug, über das er der Organisation dann Bericht erstattet.«

Ich würde in der Bronx, New York, leben. Ich würde in Manhattan arbeiten, als Verbindungsfrau zwischen einer Menschenrechtsorganisation und den Vereinten Nationen. Es war, als würde alles andere um mich herum stehenbleiben, als ich diese drei Buchstaben hörte: UNO.

»Dann … dann meinst du, ich könnte mich für die Stelle bewerben?«, fragte ich sie.

»Probier’s«, erwiderte sie. »Es ist definitiv einen Versuch wert.«

Ich wollte einerseits etwas tun, das ich liebte, andererseits war es mir mindestens genauso wichtig, einen Job zu haben, der handfest war und seriös klang. Die Menschen bei der Abschlussfeier vom College würden dann mit den Köpfen nicken und sagen: »Die da drüben, die wird es schaffen.« Damals war das Grund genug, um diesen drei Buchstaben – UNO – nachzujagen. Ich wollte die Menschen stolz machen. Ich wollte nicht in der Menge untergehen.

Als die E-Mail mit der Zusage für die Stelle in der Bronx kam, war Ryan der Erste, dem ich es erzählte.

In der kurzen Mail wurde ich darüber informiert, dass ich im August nach New York ziehen würde. In der Woche vor dem Umzug würde ich an einem einwöchigen Einführungsseminar in Philadelphia teilnehmen. Dort würde ich die sechsundzwanzig anderen Freiwilligen kennenlernen. Mit vier von ihnen würde ich schließlich zusammenwohnen. Die anderen würden sich auf den Weg nach Chicago, Massachusetts, San Diego, Peru und Südafrika machen. Unsere Mission wäre dieselbe, egal, in welche Ecke der Welt es uns verschlagen würde: Menschen zu helfen und dabei herauszufinden, wie wir sie mehr lieben konnten, als wir es für möglich hielten.

In unserer Fünfergruppe in der Bronx würden wir lernen, gemeinsam zu haushalten, wir würden zusammen essen und zusammen gemeinnützige Arbeit leisten, für die wir jeweils 25 Dollar pro Woche bekommen würden. Zwei meiner Mitbewohnerinnen würden Englisch als Zweitsprache unterrichten. Eine andere Mitbewohnerin würde in einem Frauenhaus für alleinerziehende Mütter arbeiten. Ich wäre die Einzige, die zwischen Manhattan und der Bronx hin- und herpendelte, um für unsere Organisation in der UNO zu arbeiten. Es war nicht das typische New York City Life, aber ich war bereit, alles zu tun, um einen Fuß in die Stadt zu kriegen.

Als ich Ryan die Neuigkeit schrieb, machte er sich sofort auf den Weg, und wir trafen uns in der Mensa. Ich erinnere mich noch, wie er mir mitten in der Schlange für die chinesische Gemüsepfanne um den Hals fiel. Ich erinnere mich deshalb so genau daran, weil ich meiner besten Freundin direkt in die Augen sehen konnte, als er mir zuflüsterte: »Ich bin so stolz auf dich.« Ich hatte ihr noch nichts von der Zusage erzählt. Er war der Erste und Einzige gewesen, an den ich gedacht hatte. Mein schlechtes Gewissen meldete sich schlagartig.

Später an diesem Abend stand ich neben Ryan an einem Fenster, von dem aus wir den gesamten Campus überblicken konnten. Ich erinnere mich noch, wie er mir nachsah, als ich, noch ganz durcheinander von den Neuigkeiten des Tages, von unserem Tisch aufstand, auf dem zahllose Hefte und Bücher verteilt lagen. Noch vor ein paar Wochen hatte sich der Campus groß genug angefühlt, um ihn vielleicht niemals verlassen zu müssen. Während ich nun aus dem Fenster sah und im Geiste die Wege ablief, die ich auswendig kannte, kam ich mir plötzlich vor wie Goldlöckchen, die überrascht feststellt: »Es ist zu klein.«

»Ich kann nicht glauben, dass ich den Job bekommen habe«, sagte ich zu ihm.

»Ich schon«, sagte er. »Du bist längst zu groß für diesen Ort. Immer, wenn ich dich mit Leuten reden sehe, denke ich: Sie ist schon weg.«

Ich schaute ihn an. Früher hatte ich mir immer einen Freund gewünscht, der mich beobachtet, wenn ich nicht hinsehe. Ich hatte mir vorgestellt, wie er sich meine Angewohnheiten und Marotten einprägt, ohne es je zuzugeben. Und wenn unsere Wege sich trennten, sollten sie noch lange wie Kleingeld in seinen Taschen klimpern.

»Ich will das schon so lange«, sagte ich. »Die Stadt, den Job … alles. Ich weiß, es wird kein Spaziergang werden. Es ist eine ziemliche Herausforderung. Aber ich will das mehr als alles andere.«

»Jetzt hast du es. Und du wirst deine Sache gut machen.« Er lächelte mich an. »Ich will wissen, wie deine Geschichte ausgeht.«

Ich will wissen, wie deine Geschichte ausgeht.

Ich versuchte, so zu tun, als hätte er das nicht gesagt.

Ich will wissen, wie deine Geschichte ausgeht.

Ich verstand die Bedeutung des Moments sofort. Hier – genau in diesem Augenblick – begriff ich, dass er nie Teil meiner Geschichte sein würde. Ich sehe das heute noch viel klarer als an jenem Abend, als ich am Fenster stand und betete, die Zeit würde eine Ausnahme machen und stehenbleiben: Manche Menschen sind Wege und andere sind Ziele. Manche Menschen führen uns irgendwohin, bei anderen kommen wir an. Aber wir können nicht mit Gewalt aus Wegen Ziele machen. So funktioniert das einfach nicht.

Trotzdem machten wir weiter so. Vermutlich zu lange. Ich versuchte, meinen Freundinnen begreiflich zu machen, warum ich mich mit dem Platz in der Warteschlange zufriedengab: Es gibt Hoffnung. Es ist hoffnungslos. Es gibt Hoffnung. Es ist hoffnungslos. Wenn ich heute Menschen sehe, die sich über lange Zeit vormachen, eine trostlose Irgendwie-Liebe würde ihnen genügen, stellt sich mir nie die Frage, warum sie das tun: Manchmal geben wir uns einfach mit jedem noch so kläglichen Rest zufrieden, den wir von jemandem bekommen können. Ich wollte die Auserwählte sein. Ich wollte gewinnen. Liebe gehört zwar nicht zu den Dingen, die man gewinnen kann, aber ich wollte es trotzdem unbedingt.

Jedes Mal, wenn wir uns trafen und wieder einmal zwei bis drei Stunden miteinander redeten, hatte ich das Gefühl, dass wir auf der Suche nach irgendeiner Art von Lösung waren. Nach einem Weg, um in der Umlaufbahn des anderen bleiben zu können. Ich weiß nicht, ob aus dem, was wir hatten, eines Tages Liebe geworden wäre, selbst wenn alle Hindernisse aus dem Weg geräumt worden wären, oder ob es einfach nur in unserer Natur liegt, genau an den Menschen festhalten zu wollen, die unser Leben auf den Kopf stellen. Das allerdings reicht nicht immer aus, damit eine Sache hält. Wir würden unseren Abschluss machen. Wir würden wegziehen. Wir würden loslassen.

»Du musst mir unbedingt die Stadt zeigen, wenn ich mal da bin«, sagte er in der Woche vor den Abschlussprüfungen eines Abends zu mir.

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