Wenn erst die Kastanien platzen - Karl J. Herrmann - E-Book

Wenn erst die Kastanien platzen E-Book

Karl J. Herrmann

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Beschreibung

Berlin, 1967: Seit sechs Jahren teilt eine Mauer diese Stadt. Die Wunde der Teilung will nur schwer verheilen, dennoch normalisiert sich das Leben für die meisten Menschen wieder. Für einen Jungen aus dem Ostteil war der Status der Teilung von Anfang an Normalität. Er zog erst vor einem Jahr in diese geteilte Stadt und erlebte gerade seine ersten amourösen Abenteuer. Dann aber sollte sein Leben einen völlig anderen Verlauf nehmen. Er wird zu den Grenztruppen der DDR einberufen.

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Der Regen prasselte gegen die Fensterscheiben der Straßenbahn. Im zweiten Waggon saß ein junger Mann, der die an ihm vorbeiziehenden Häuserzeilen betrachtete. Es waren alte Berliner Mietshäuser, die heute bei diesem Sauwetter noch grauer aussahen als sonst.

An jeder Haltestelle stiegen Menschen aus, öffneten ihre Regenschirme und hasteten davon.

Es waren kaum noch Fahrgäste die zustiegen, denn die Bahn näherte sich der Endhaltestelle.

Mit einer rot aufleuchtenden Signalleuchte und einem nervtötenden Klingelton schlossen sich die Türen.

Die Straßenbahn ratterte über ausgefahrene Gleise der Endhaltestelle entgegen, um mit quietschenden Bremsen am Endpunkt stehen zu bleiben.

In der Bahn befanden sich nur noch ganz wenige Leute, die sich anschickten, hier auszusteigen.

Auch der junge Mann im zweiten Waggon erhob sich ganz allmählich, als ob er überhaupt keine Lust hätte, die Bahn zu verlassen.

Der Straßenbahnfahrer ging bereits durch die einzelnen Wagen, um zu kontrollieren, dass hier auch wirklich alle Fahrgäste ausgestiegen waren.

„Na, nun mal raus an die frische Luft“, wandte er sich dem jungen Mann zu.

„Regen soll ja gut fürs Wachstum sein“, nervte der Fahrer weiter. Der junge Kerl hatte heute überhaupt keinen Sinn für solche Sprüche.

Er schaute den Straßenbahnfahrer übelgelaunt an und pöbelte: „Mann, ich bin schon über eins achtzig!“, stülpte sich die Kapuze seines Parkas über den Kopf und stapfte, ohne sich weiter um den Fahrer zu kümmern, davon.

In der Bahn hatte er noch einmal den Brief gelesen, der ihn aufforderte heute in der Hauptstraße 69 vorstellig zu werden.

Er ließ sich nicht gern rumkommandieren und schon gar nicht von den Leuten, die ihn heute zu sich bestellt hatten.

„Wo ist denn nun diese blöde Nummer 69?“

Er schob die Kapuze seines Parkas etwas hoch, um sich zu orientieren. Durch die Regentropfen war seine Sicht stark behindert, dennoch erkannte er die Nummer 114. Also ab auf die andere Straßenseite, denn dort mussten die ungeraden Zahlen sein.

Der junge Mann versuchte die Pfützen, die sich auf dem Bürgersteig angesammelt hatten so gut wie möglich zu umgehen.

Dabei musste er unwillkürlich an Napoleon denken, denn dieser sollte ja dafür verantwortlich sein, dass es in Deutschland überhaupt Hausnummern gab.

Wie hätte er denn sonst auch das gesuchte Haus finden sollen?

Seine Gedanken schweiften noch weiter ab und dabei landete er bei den Hugenotten, die sich in dieser Gegend in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts angesiedelt hatten. Nicht umsonst hieß dieser Ortsteil Französisch-Buchholz.

Sein Gedankenfluss wurde jäh unterbrochen, denn er hatte das Haus Nummer 69 erreicht. Zögernd blieb er stehen und betrachtete das alte Mietshaus.

Der Regen hatte etwas nachgelassen, dennoch war das Schild an der Haustür, das den Besuchern den Weg weisen sollte, total aufgeweicht.

Er betrat den Hausflur und suchte nach einem weiteren Hinweisschild. Ihm stieg sofort dieser typisch muffige Kellergeruch in die Nase. Die alte Tür zum Keller stand offen und unten brannte Licht.

Im Erdgeschoß gab es nur eine Wohnung, deren Tür leicht angelehnt war. Ein breites Lederband, das man um die Türklinke gebunden hatte, verhinderte ein Zuschlagen der Wohnungstür.

Vorsichtig betrat der junge Mann die Wohnung, die im ersten Moment aussah wie eine Arztpraxis.

Unvermittelt stand er in einem Wartezimmer, in dem sich schon einige Jungs in seinem Alter auf ihren Stühlen lümmelten.

Mit einem freundlichen „Guten Tag“ begrüßte er die Anwesenden und setzte sich auf einen der Stühle, die noch frei waren.

Kurze Zeit später ging die Tür zu einem weiteren Raum auf und es erschien ein Mann in Uniform, über der er einen weißen Kittel trug. In strengem, militärischen Befehlston brüllte er in das Wartezimmer: „Baumann! Herbert!“

„Was denn, ich schon?“, dachte der junge Mann und erhob sich. Er folgte dem Mann in Uniform durch eine zweiflügelige Tür, über der in großer Schrift „MUSTERUNG“ stand.

Neben dem Uniformierten, der ihn freundlich gebeten hatte mitzukommen, befanden sich noch drei weitere Weißkittel im Raum. Auch sie trugen unter ihren weißen Kitteln Uniformen.

„Bitte nehmen Sie Platz“, sagte einer der Männer.

„Sie sind Baumann, Herbert?“

„ Geboren am…?Wohnhaft in…?“

Alle Angaben stimmten und der junge Mann nickte.

„Na, dann machen Sie sich mal bis auf die Unterhose frei.“

Es wurde gemessen, gewogen, sich die Füße angesehen und der Oberkörper hin und her gedreht. Nachdem noch der Blutdruck bestimmt und in alle Körperöffnungen geschaut wurde, stand fest: „Voll dienstfähig.“

Der Untersuchte konnte sich nun wieder anziehen und setzte sich auf seinen Stuhl.

„Haben sie irgendwelche Vorlieben für eine bestimmte Waffengattung?“, fragte einer der Uniformierten.

Darüber hatte er sich noch keine Gedanken gemacht und was heißt denn hier überhaupt Vorlieben?

Zwar hatte er im Fußballverein mit einigen der Spieler gesprochen, die ihren Wehrdienst bereits hinter sich hatten, aber keiner hatte ihm gesagt, wohin er sich melden sollte.

„Ich habe keinerlei Vorlieben, Hauptsache die achtzehn Monate gehen schnell vorbei.“

Das wollte sein Gegenüber nun überhaupt nicht hören, denn dieser wollte ihn gerade davon überzeugen länger zu dienen.

„Auf gar keinen Fall!“, wehrte sich der junge Mann.

„Aber bedenken Sie doch einmal, nach den drei Jahren könnten Sie sofort ein Studium aufnehmen.“

„Ich habe überhaupt nicht vor, zu studieren“, war seine Antwort. Die ganze Diskussion verlief nicht so, wie es sich der Uniformierte vorgestellt hatte.

Er versuchte dennoch immer weiter auf den jungen Mann einzureden, aber der schaltete auf stur.

Mit lauter Stimme und einer Zornesfalte auf der Stirn beendete der Weißkittel die Musterung.

„Herr Baumann, Sie hören von uns!“

Der Angesprochene erhob sich und wünschte den Herren hinter dem langen Tisch noch einen wunderschönen Tag. Dabei setzte er sein freundlichstes Lächeln auf, was die vier Uniformierten noch weiter auf die Palme trieb.

Als er wieder auf die Straße trat, hatte der Regen völlig aufgehört.

Den Weg zur Straßenbahn kannte er ja nun, da hörte er hinter sich eine Stimme, die seinen Namen rief.

„Hey Bert, was machst du denn hier?“

Er drehte sich um und erkannte sofort Winne aus seiner Ausbildungsklasse.

„Ich denke du bist krankgeschrieben, wieso rennst du denn hier draußen rum?“, wunderte er sich und sah Winne mit strengem Blick recht vorwurfsvoll an. „Mensch, nicht so laut, die Leute kennen mich hier doch alle!“, blaffte Winne zurück.

Winne, der eigentlich Winfried hieß, war ein strammer, völlig unsportlicher Typ. Genau das Gegenteil von Bert, der groß, schlank und durchtrainiert war.

Dennoch waren beide auf einer Wellenlänge und hatten sich in der Zeit, in der sie gemeinsam die Berufsschule besuchten, angefreundet.

„Ich komme gerade von der Musterung“, sagte Bert.

„Da war ick ooch schon“, erwiderte Winne,

„Ham se dir ooch in den Arsch jekiekt?“, wollte er mit seiner Berliner Kodderschnauze wissen.

„Na klar, das volle Programm!“

Dabei verriet Bert‘s Gesichtsausdruck, wie unangenehm ihm die ganze Sache war.

Winne überlegte kurz und sagte dann: „Sag mal, hast du Zeit? Wollen wir ein Bier trinken gehen?“

Bert hatte heute den ganzen Tag vom Betrieb frei bekommen, um sich mustern zu lassen. Fußballtraining war heute auch nicht und so erklärte er sich bereit für ein Bier.

Beide schlenderten sie an der Endhaltestelle vorbei, wo Bert vor mehr als zwei Stunden ausgestiegen war.

Als sie um die Ecke bogen, sahen sie auch schon die Gaststätte „Zum Eisernen Gustav.“

Die Regenwolken hatten sich nun endgültig verzogen und die Gaststätte hatte gerade geöffnet. Es war früher Nachmittag und die ersten Gäste kamen bereits von der Arbeit.

Winne und Bert traten in den Gastraum und schauten sich nach einem freien Tisch um.

„Ihr könnt euch gleich hier an den Stammtisch setzen“, begrüßte der Wirt die beiden Jungs, anscheinend kannte er Winne recht gut.

Noch bevor die beiden etwas sagen konnten, zapfte der Wirt auch schon zwei Bier.

„Wollt ihr etwas essen? Ich habe heute extra frische Rinderrouladen gemacht.“

Bert schaute Winne an. „Na, warum denn eigentlich nicht“, er hatte schon etwas Hunger, denn das Frühstück lag ja nun schon ein paar Stunden zurück.

„Also ich nehme eine Roulade“, sagte Bert.

Winne rief dem Wirt, der gerade im Begriff war in die Küche zu gehen, hinterher: „ Also wir nehmen dann die Rouladen, zweimal bitte!“

Der Wirt war im Eiltempo aus seiner Küche zurück, um die frisch gezapften Biere auf den Tisch zu stellen.

„Na, dann zum Wohle, die Herren!“

Die beiden Freunde stießen auf das Wiedersehen, das für beide völlig unerwartet kam an und ließen sich ihre kühle Blonde schmecken.

„Sag mal Bert, hast du am Wochenende etwas vor?“, begann Winne zögerlich und schaute seinen Freund dabei an, als hätte er etwas ausgefressen.

„Ich habe da so eine Ische kennengelernt und nun bin ich bei der Renovierung ihrer Wohnung, da könnte ich gut Hilfe gebrauchen.“

Jetzt wurde Bert so einiges klar. Erstens warum er ihn zum Bier eingeladen hatte und zweitens warum er krankgeschrieben war.

„Wir haben uns alle Sorgen um dich gemacht, dass du mit hohem Fieber zu Hause im Bett liegst. Aber was machst du? Du renovierst die Wohnung deiner Freundin, du alter Sack!“

Winne war seine Verlegenheit deutlich anzusehen und Bert ließ ihn eine Weile zappeln.

„Also am Sonntag geht es auf keinen Fall, da habe ich ein Punktspiel. Sonnabend würde es eventuell gehen.“

Dabei tat Bert so wichtig, als ob er sich jede Minute von seiner Freizeit mühsam freischaufeln müsste.

„Da soll ich dir also bei der Renovierung der Wohnung helfen?“

Winne schnaufte durch: „Das wäre echt super von dir, die Bude ist völlig runtergekommen. Ich habe schon die ganzen Tapeten abgerissen, aber es muss noch sehr viel gemacht werden.“

Bert war nun nicht der Typ Mensch, der jemanden hängen lässt, der Hilfe benötigt und schon gar nicht einen seiner besten Freunde.

„Wie lange werden wir denn brauchen?“, wollte Bert wissen.

„Na zwei bis drei Wochenenden müssen wir bestimmt einplanen.“

„Hast du denn schon Tapeten, Farben und den ganzen Krempel besorgt?“

„Na, klar habe ich alles schon, auch Steckdosen, Kabel und Schalter, muss sicher alles neu gemacht werden.“

Das stellte für die beiden kein größeres Problem dar, sie standen schließlich kurz vor ihrer Facharbeiterprüfung zum Elektromonteur. Der Wirt hatte inzwischen zwei Teller mit dampfenden Rinderrouladen auf den Tisch gestellt.

„Noch zwei Bier, die Herren?“

„Ja gerne“, sagte Winne zum Wirt und „lass es dir gut schmecken“, zu Bert.

Beide aßen mit allergrößtem Appetit ihre Roulade und unterhielten sich nur sparsam, bis die Teller leer waren.

„Wo befindet sich denn diese Luxuswohnung?“, wollte Bert wissen.

Winne hatte gerade seinen letzten Bissen verdrückt und griff zum Bier.

„Im tiefsten Prenzlauer Berg, am Kollwitzplatz, zweiter Hinterhof, vier Treppen.“

„Ach du Sch…“, dachte Bert.

Er kannte die Altbautreppen von seinem letzten Besuch bei einem Sportsfreund, der in dieser Gegend wohnte.

In der Villa, in der Bert mit seiner Familie zu Hause war, gab es nur eine ganz kurze Treppe, die man mit ein paar Schritten schnell überwinden konnte.

Aber vier Treppen Altbau, das war schon eine andere Nummer.

„Na, ich werde es schon überleben“, war sich Bert sicher.

„Wann wollen wir uns denn treffen?“, fragte er Winne, der gerade sein zweites Bier geleert hatte.

„Also ich würde vorschlagen, Sonnabend um acht Uhr und wenn wir keine Lust mehr haben, dann können wir jederzeit aufhören.“

Das war durchaus in Bert‘s Interesse, denn er hatte ja am Sonntag wieder ein Punktspiel.

Der „Eiserne Gustav“ füllte sich ganz allmählich. Es war später Nachmittag und viele Arbeiter, die jetzt mit der Straßenbahn ankamen, wollten nun hier noch schnell ihr Feierabendbier trinken.

Auch ein Kumpel von Winne trat ein und setzte sich zu den beiden an den Stammtisch.

„Bring uns doch bitte mal drei Bier und für mich zwei Currywürste mit Kartoffelsalat“, sagte er zum Wirt.

Der Kumpel war Betonfacharbeiter und arbeitete bei der Errichtung des Fernsehturmes mit.

Er hatte viele Geschichten zu erzählen, was alles beim Bau dieser riesigen Betonröhre schiefgegangen war.

Bert und Winne hörten interessiert zu.

Auch mit dem Bau des Hotels „Stadt Berlin“ und des Centrum-Warenhauses hatte man zu dieser Zeit bereits begonnen.

Der Alexanderplatz wurde in den sechziger Jahren total umgebaut.

Der Kumpel verdiente auf dem Bau ganz gutes Geld und so lud er Winne und Bert zu einer zweiten Runde Bier ein.

Die drei unterhielten sich ganz angeregt und so verging die Zeit wie im Fluge. Draußen wurde es bereits dunkel und Bert schickte sich nun an, seine Rechnung zu bezahlen.

„Lass stecken, du bist heute mein Gast“, begann Winne großspurig.

„Schließlich willst du mir ja bei der Renovierung der Wohnung helfen.“

Winne hatte immer reichlich Penunse in der Tasche, seine Eltern führten einen Gemüseladen mit einer kleinen Landwirtschaft im Nebenerwerb.

Sein Vater fuhr wochentags stets mit einem Framo-Pritschenwagen durch die Gegend. Entweder holte er Obst und Gemüse vom Großmarkt oder von seiner eigenen Landwirtschaft.

Winne half seinem Vater des Öfteren bei der Arbeit. Er hatte eigentlich überhaupt keine Zeit für eine Freundin.

Seine Lehre musste er auch noch absolvieren, aber er war ein guter Schüler. Das Lernen fiel ihm leicht und so musste er nicht allzu viel für die Berufsschule tun.

Bert hatte da schon mehr Schwierigkeiten, ihm fiel dafür die praktische Arbeit leichter.

„Also dann bis Sonnabend“; verabschiedete sich Bert von Winne und seinem Kumpel. Er schnappte sich seinen Parka und verließ die Gastwirtschaft.

Der Weg zur Straßenbahn dauerte nur ein paar Minuten und mit der Linie 49 ging die Fahrt bis zur Pankower Kirche, wo Bert in die Straßenbahnlinie 22 umstieg.

Seine Mutter hatte mit dem Essen auf ihn gewartet und es so lange im Bett warm gehalten.

Bert konnte ihr ja nun nicht sagen, dass er bereits eine Portion verdrückt hatte, also aß er ein zweites Mal mit seiner Familie.

„Ich habe nach der Musterung noch Winne getroffen“, versuchte er sich zu entschuldigen. Seine Eltern kannten Winne ganz gut, denn er hatte Bert schon öfters in dessen Elternhaus besucht.

„Übrigens bin ich voll dienstfähig“, führte Bert sein Gespräch fort und aß dabei das von seiner Mutter im Bett warmgehaltene Mittagessen.

„Na, dann werden sie dich ja bald einziehen“, bemerkte sein Großvater.

„Stellt euch mal vor, die wollten, dass ich mich für drei Jahre verpflichte, da haben sie sich aber geschnitten.“

Vater und Großvater hörten aufmerksam zu, denn beide hatten schon einen Krieg aktiv miterlebt. Sein Großvater den ersten und sein Vater den zweiten Weltkrieg.

Soweit sollte es nun nicht mehr kommen, aber gerade in Berlin standen sich die Großmächte gegenüber.

Die Stadt glich in den sechziger Jahren einem Pulverfass.

Der kalte Krieg war in vollem Gange und die DDR versuchte eine schlagkräftige Armee aufzubauen.

Auf dem gesamten Gebiet der DDR waren die Sowjets, der große Bruder, wie es im Volksmund hieß, stationiert.

Für den Schutz der Staatsgrenze musste man aber selbst sorgen. Nachdem am 13. August 1961 die Grenze dicht gemacht wurde, rekrutierte man ab dem Jahr 1962 jeden dienstfähigen jungen Mann, der dann seinen Wehrdienst in der NVA oder bei den Grenztruppen ableisten musste.

Für die meisten Jungs war es eine verlorene Zeit, denn sie mussten für anderthalb Jahre auf ihr schönes, ziviles Leben verzichten.

Auch Bert gehörte zu dieser Kategorie. Er war gerade achtzehn Jahre alt und genoss das Leben eines Jugendlichen in diesem Alter in vollen Zügen.

*

Am Sonnabend klingelte der Wecker bereits um halb sieben.

Bert wollte auf gar keinen Fall zu spät kommen, denn eine Sache war ihm in seinem Leben sehr wichtig und das war Pünktlichkeit.

Er hasste es, wenn sich andere Menschen nicht an die verabredeten Zeiten hielten.

Nachdem er gefrühstückt hatte, schmierte er sich noch ein paar Stullen zum Mitnehmen.

Anschließend packte er einige Arbeitssachen in seine Sporttasche und machte sich auf den Weg.

Die Fahrt mit der Straßenbahn dauerte eine halbe Stunde, danach waren es noch zehn Minuten Fußmarsch bis zum Kollwitzplatz.

Pünktlich kurz vor acht stand er dann vor dem Eingang des besagten Hauses.

Er hatte gerade seine Sporttasche abgestellt, da war auch schon das Geknatter eines Mopeds zu hören.

Winne bog mit seinem KR 50 um die Ecke.

An dem Kleinroller hing noch ein alter Fahrradanhänger, der bis oben mit Tapeziertisch, Farbeimer, Kabel und noch einigen anderen Sachen vollgepackt war.

Die beiden Freunde begrüßten sich und machten sich sogleich an das Ausladen des Hängers.

Die Sachen wurden so aufgeteilt, dass jeder nur einmal die Treppen bis zum vierten Stock erklimmen musste.

Bert ging vollgepackt mit Sporttasche, Tapeziertisch und einem Farbeimer voran. Winne folgte ihm mit Kabel und einem Eimer mit Pinseln, Bürsten sowie dem nötigsten Werkzeug für die heutige Arbeit.

„Ich warte dann oben auf dich“, sagte Bert und ging langsam Stufe für Stufe bis in den vierten Stock.

Winne dagegen machte auf jedem Treppenpodest eine kleine Pause. Er setzte sich jedes Mal auf das Fensterbrett des jeweiligen Treppenhausfensters und schnaufte wie eine Dampflokomotive.

Bert war inzwischen im vierten Stock angekommen, stellte alle Sachen ab und setzte sich auf die letzte Stufe. Sein Blick fiel dabei auf die schöne Bleiverglasung der Treppenhausfenster.

Nach einer gefühlten Ewigkeit trudelte endlich Winne oben ein, um in seinen Taschen nach dem Schlüssel für die Wohnungstür zu kramen.

Beim Eintreten in die Räumlichkeiten stellte Bert fest, dass sowohl die Stube als auch die Küche relativ groß waren.

Als erstes stach ihm ein uralter Gasherd ins Auge.

Aber für ein oder zwei Personen konnte man aus dieser Wohnung durchaus etwas machen.

Bert schaute sich die alte Elektroanlage an. Unter dem Zähler befanden sich drei Sicherungen.

„Müsste reichen“, dachte er sich.

„Gib mir doch mal den Schraubenzieher“, wandte er sich an Winne.

Er schraubte die Abdeckungen der Lichtschalter ab und sah sich die Enden der Kabel ganz genau an. Es waren uralte Leitungen, deren Isolierungen schon so porös waren, dass bei jeder Berührung Stücke davon abfielen.

„Muss alles raus!“, stellte Bert ernüchternd fest.

„Na, dann verlieren wir nicht viel Zeit“, pflichtete ihm Winne bei.

Mit Hammer und Meißel machten sich nun beide ans Werk, nachdem festgelegt worden war, wo die Steckdosen neu installiert werden sollten.

Bis zum Mittag waren dann alle Kabelschlitze und Löcher für die Schalterdosen fertig.

Nun war erst einmal Brotzeit angesagt. Beide setzten sich jeweils auf einen umgedrehten Baueimer und ließen sich ihre Stullen schmecken.

Winne hatte vorsorglich noch zwei Flaschen Bier in einem der Eimer zwischen Pinseln, Spachteln und dem restlichen Werkzeug deponiert.

„Wie heißt denn deine Freundin eigentlich?“, wollte Bert wissen.

„Roswitha und sie kommt von der Ostsee“, begann Winne freimütig zu plaudern.

„Ich war im Sommer mit einem Kumpel auf dem Darß in Prerow am FKK-Strand zelten. Wir sind mit unseren Mopeds hoch. Im Anhänger hatten wir alles bei, was man beim Zelten so braucht, Luftmatratzen, Schlafsäcke, Zelt und den ganzen Kram. Roswitha‘s Eltern betreiben den Kiosk auf dem Zeltplatz.“

Winne machte eine kurze Pause.

„Beim Einkaufen habe ich Roswitha gesehen und so haben wir uns kennengelernt. Als sie erfuhr, dass ich aus Berlin komme, wuchs sofort ihr Interesse. Sie sagte mir, dass sie noch in diesem Jahr in Berlin ihr Studium aufnehmen würde, daraufhin haben wir uns angefreundet. Dass daraus mehr entstehen würde, konnte ich damals noch nicht ahnen.“

Winne erhob sich, ging zum Fenster und schaute in den Innenhof. Auch Bert gesellte sich zu ihm, beide noch mit ihrer Flasche Bier in der Hand.

Der Innenhof sah nicht sehr einladend aus, eine uralte Bank gammelte vor sich hin.

„Sag mal, willst du hier die schöne Aussicht genießen oder wollen wir endlich weiterarbeiten?“

Winne schaute Bert erschrocken an.

„Na klar, weiterarbeiten“, pflichtete ihm Winne bei.

„Lass uns heute noch alle Gipsarbeiten erledigen und die Wände spachteln, dann können wir nächste Woche mit dem Tapezieren beginnen“, schlug Bert vor.

Winne war froh und erleichtert, dass Bert so mitzog. Sie machten noch bis kurz nach drei, füllten den ganzen Schutt in die Eimer, nahmen alles mit nach unten und kippten den ganzen Dreck in die Mülltonnen.

An den nächsten zwei Sonnabenden hatten sie noch gut zu tun. Schalter und Steckdosen mussten installiert werden.

Küche sowie Wohnzimmer bekamen neue Tapeten. Als letztes wurden Fenster, Türen und Scheuerleisten mit neuer Farbe gestrichen.

Die beiden Jungs betrachteten ihr gemeinsames Werk, sie hatten ihr Bestes gegeben und waren auch durchaus mit dem Ergebnis zufrieden.

Die Wohnung machte jetzt einen frischen Eindruck. Es fehlten nur noch ein paar Möbel und das Liebesnest von Roswitha und Winne wäre fertig.

*

Die S-Bahn nach Oranienburg war an diesem Morgen nicht sehr voll, als Bert in Pankow zustieg.

In der Bahn befanden sich bereits seine Mitschüler aus der Berufsschule. Sie waren an diesem Tag auf dem Weg nach Hennigsdorf, wo sie im Stahl- und Walzwerk ihre praktische Ausbildung absolvierten.

In diesem Werk wurde gerade eine neue Walzstraße gebaut. Bert war mit seiner gesamten Ausbildungsklasse daran beteiligt.

Ihr Lehrmeister, Herr Mettke, war ein sehr erfahrener Monteur und leitete die Ausbildung.

Bis zur Facharbeiterprüfung war es nicht mehr lange hin und so erledigten die Lehrlinge die gleichen Arbeiten, wie die Monteure aus ihrem Kombinat.

Zur allerschwersten Arbeit gehörte das Kabelziehen. Dabei wurden die Kabel, die gehörige Durchmesser erreichen konnten von riesigen Holztrommeln in die Kabelschächte verlegt.

Die Kabelmonteure, die alle Jungs nur Kabelmöpse nannten, stellten dann die Verbindungen und die Endtöpfe her.

Wenn die Kabel endlich an den Stellen lagen wo sie hin sollten, konnte es mit dem Verdrahten der Schaltschränke weitergehen.

Das war Bert‘s Lieblingsarbeit, dabei konnte er so richtig aufgehen.

Nach monströsen Schaltplänen wurden diese Arbeiten ausgeführt, wobei man schon die erforderliche Gelassenheit und Ruhe an den Tag legen musste. Fehler bei den Arbeiten hätten erhebliche Auswirkungen haben können.

In der Zwischenzeit hatte die Bahn bereits den Bahnhof Blankenburg erreicht, wo als letzter Winne zustieg.

Er fuhr jeden Morgen die Strecke zum S-Bahnhof mit seinem Moped und stellte es dort ab.

Am Bahnhof Birkenwerder stiegen alle aus, um mit dem Personenzug nach Hennigsdorf weiter zu fahren.

Aber was war das?

Wo sich ansonsten hunderte Leute tummelten war es gespenstisch leer, kein Mensch weit und breit.

„Heute ist doch Dienstag und nicht etwa Wochenende“, wunderten sich die Lehrlinge.

31. Oktober, war da was?

Na klar, fast in der ganzen DDR war Reformationstag, also Feiertag. Nur in Berlin war dieser Tag kein Feiertag und so mussten die Berliner arbeiten.

Es war ein merkwürdiges Gefühl ganz allein im leeren Personenzug zu sitzen, der sonst rappelvoll mit Arbeitern aus dem Stahl- und Walzwerk und dem LEW war.

Die Lehrlingstruppe ließ sich davon aber nicht unterkriegen und so wurde auf dem Weg zum Werk viel rumgeblödelt, bevor der Arbeitstag begann.

Bert bekam heute eine Aufgabe, die er hasste.

Jeden Tag war ein anderer Lehrling an der Reihe, sich um das Frühstück seiner Kollegen zu kümmern.

Im Stahlwerk gab es eine große Kantine, in der sich die Arbeiter mit belegten Brötchen, Bouletten und Bockwürsten versorgen konnten.

Jeden Morgen wurde eine Liste ausgelegt, in der jeder der Jungs die Möglichkeit hatte, seine Wünsche einzutragen.

Für denjenigen Lehrling, der mit dem Einkaufen betraut war, konnte schon mal eine ganze Stunde draufgehen. Mit einem Mal war das meistens nicht zu machen, also ging es mehrmals in die Kantine.

Dafür hatten dann die anderen Jungs ihr Frühstück pünktlich zur Pause und es wurde weiter keine Zeit verloren.

Die neue Walzstraße sollte bis Ende des Jahres in Betrieb gehen, deshalb galt es, sich ran zu halten.

Um zehn nach vier war jeden Tag Feierabend, der Zug fuhr kurz vor fünf.

Bert hatte heute Abend noch Fußballtraining, denn am Wochenende empfing seine Mannschaft den 1. FC Union zum Punktspiel.

Das Training begann immer um achtzehn Uhr. In der dunklen Jahreszeit wurde unter Flutlicht trainiert.

Unter künstlichem Licht zu spielen gefiel Bert, ganz besonders, wenn es neblig und feucht war. Der kurz geschnittene Rasen war dann immer so schön glitschig und man konnte herrlich grätschen.

Auch die Abendspiele unter Flutlicht waren sein Ding, denn diese Atmosphäre war unbeschreiblich.

Als Bert am Montag zur Berufsschule kam, war seine Stimmung im Keller, hatte es doch für seine Truppe am Wochenende eine schöne Klatsche gegen Union gegeben.

Auch Milan, ein Klassenkamerad spielte Fußball bei Tiefbau Berlin.

Jeden Montag gab es die Berliner Fußballwoche, wo man die Ergebnisse und Spielberichte des Wochenendes nachlesen konnte.

Milan schaute Bert mit einer Mischung aus Bedauern und Schadenfreude an und sagte zu ihm: „Also sieben Dinger gegen Union sind doch keine Schande“, dabei klopfte er ihn versöhnlich auf die Schulter.

„Du wirst lachen, wir haben sogar eins zu null geführt.“ Bert versuchte diese herbe Niederlage etwas erträglicher zu machen.

Milan spielte mit seiner Truppe eine Liga tiefer, er war ein äußerst talentierter Fußballer, ein bulliger Mittelstürmer, wie man ihn nur selten findet. Den Abwerbungsversuchen von Bert hielt er aber leider stand.

Bert‘s Laune verbesserte sich erst gegen Mittag, als er den Brief gelesen hatte, den er am Morgen von Winne bekam. Es war eine Einladung für die Einweihungsfeier ihrer neuen Wohnung, unterschrieben von Roswitha.

Darüber freute sich Bert ganz außerordentlich, hatte er doch einige Arbeitsstunden bei der Renovierung dieser alten Bruchbude investiert.

Bis zur Einweihungsfeier waren es aber noch ganze zwei Wochen Zeit. Eine Woche Berufsschule und eine Woche praktische Arbeit im Stahlwerk.

Es gab in der Ausbildungsklasse eine Intelligenzbestie, Hajo, ein hoch aufgeschossener Schlacks. Er erlernte den Beruf des Elektromonteurs nur, um später Elektrotechnik studieren zu dürfen.

Jede freie Minute nutzte er aus, um in der Werkstatt des Stahlwerkes Fernsehantennen zu produzieren.

Er hatte es zur Perfektion gebracht, denn diese Antennen wurden nach einer akkuraten Bauanleitung gefertigt.

Das Grundmaterial war schnell gefunden, nämlich Aluminiumsammelschienen, so wie sie beim Bau der Walzstraße verwendet wurden.

Natürlich hatten auch die anderen Lehrlinge großes Interesse am Bau dieser Antennen, also wurde gesägt, gebohrt und gefeilt, was das Zeug hielt.

Der Aktionismus seiner Schützlinge blieb Lehrmeister Mettke aber leider nicht verborgen.

„Leute, so geht das aber nicht, ihr könnt doch hier nicht auch noch während der Arbeitszeit Fernsehantennen bauen.“

„Mensch Meesta, privat jeht vor Katastrophe“, sagte Hajo augenzwinkernd.

„Nehmt wenigstens keine Sammelschienen, verwendet lieber Abfälle“, versuchte Meister Mettke die Sucht nach Antennen noch in geregelte Bahnen zu lenken.

Auch Bert hatte seine Antenne endlich so weit fertig, sie musste jetzt nur noch aus dem Werk gebracht werden.

Am Freitag nahm er seine Sporttasche, vollgestopft mit Trainingsklamotten mit zur Arbeit. Die Antenne wickelte er fein säuberlich zerlegt in seine Sportsachen ein, sodass sie beim eventuellen Öffnen der Tasche sicher nicht aufgefallen wäre.

Der Werkschutz bestand meistens lediglich aus einem Pförtner, der voll damit beschäftigt war die Betriebsausweise zu kontrollieren. Taschenkontrollen fanden nur selten statt, was sollte man auch schon aus einem Stahlwerk entwenden?

Erst Jahre später hörte Bert von Erich Honecker, dass er alles richtig gemacht hatte.

Da forderte er die Werktätigen auf einem der Parteitage dazu auf, noch viel mehr aus den Betrieben rauszuholen.

Die Fernsehantenne kam unbeschadet zu Hause an. Er machte sich auch gleich ans Werk, alles ordentlich zu montieren.

Ihren Platz fand sie dann auf dem Dachboden, direkt am Giebel zur Straße. Das Antennenkabel führte bis in das Wohnzimmer, unerkannt hinter dem Fallrohr verlegt.

Hajo hatte neben der Antennenbauanleitung auch noch einen Schaltplan für den passenden Konverter parat.

Er versorgte seine Mitschüler mit Dioden, Widerständen und dem ganzen Kleinkram, danach wurde wild drauf los gelötet.

Auch Bert baute seinen Konverter in einer alten Zigarrenkiste seines Großvaters.

Die alte Zimmerantenne hatte nun ausgedient und es konnte neben dem Programm der ARD auch noch das ZDF in hervorragender Bild- und Tonqualität empfangen werden. Ganz zur Freude seiner Eltern, sie waren beide absolute Liebhaber alter deutscher Filme. Auch die Volksmusiksendungen waren für sie nun ein absoluter Genuss.

*

Das Badewasser lief aus dem Hahn des alten Badeofens plätschernd in die gusseiserne Badewanne, wobei der Badezusatz einen sehr angenehmen Duft verströmte.

Bert bereite sich an diesem Sonnabendnachmittag auf den Besuch der Einweihungsfeier bei Roswitha vor.

Er setzte sich in das wohlriechende, heiße Wasser und entspannte Körper und Seele.

Nach einer kleinen Ewigkeit der Entspannung schlug seine kleine Schwester mit der Faust an die Badezimmertür.

„Ich muss mal“, erklang ihre Stimme von draußen.

„Bin gleich fertig, Sekunde!“ Bert trocknete sich ab, zog den Bademantel über und ging in sein Zimmer.

Er sah sich im Kleiderschrank um, was er heute Abend anziehen könnte.

Bert achtete schon sehr auf seine Garderobe, deshalb hatte er sich im Exquisit ein paar Hemden und Pullover gekauft. Die waren dort zwar extrem teuer, aber er wollte sich auf alle Fälle in seiner Kleidung wohlfühlen.

Zu seinen kostbarsten Schätzen gehörten unter anderem einige Schlaghosen, die im Moment total angesagt waren.

Leider gab es sie nirgends zu kaufen, sodass Bert öfters in einer kleinen Schneiderei in der Blankenburger Straße auftauchte.

Der Schneidermeister kannte ihn schon und bewunderte immer die schönen Stoffe, die ihn Bert bei seinen Besuchen mitbrachte.

Zwei Onkel von ihm arbeiteten in der Textilindustrie, die ihn stets mit Stoffen versorgten. Meistens waren diese für den Export bestimmt, die dann aber von Zeit zu Zeit direkt bei Bert landeten.

Bis so eine Hose fertig war, vergingen schon einige Wochen, immer wieder unterbrochen durch viele Anproben.

Der Schneidermeister gab sich alle Mühe, hatte er doch stets die neuesten Schnittbögen aus dem Westen parat.

Wichtig war nur, dass der Schlag ordentlich ausfiel, so, dass die Hose die Schuhe total bedeckte.

Auch kleine Gimmicks, wie Schnallen, Ketten und so manch eine Applikation machten diese Hosen zu kleinen Kunstwerken.

So musste Bert schon knapp zwei Monatseinkommen für eine neue Hose hinblättern.

Als Lehrling war sein Solär nicht so üppig, gerade mal achtzig Mark verdiente er im Monat. Aber dafür brauchte er zu Hause kein Kostgeld abzugeben. Er hatte mit seinen Eltern eine Übereinkunft getroffen, dass Kost und Logis frei waren, er sich aber um seine Garderobe selbst kümmern müsste.

Bert war ein sparsamer junger Mann, der kaum Geld ausgab, nur wenn er am Wochenende um die Häuser zog, brauchte er etwas Kleingeld.

Er zog sich also seine allerneueste Schlaghose an und schwankte noch etwas zwischen Hemd und Pullover.

Da es draußen aber schon ziemlich kalt war und er auch nicht wusste, ob Roswitha die Bude geheizt hatte, wählte er einen schicken Pullover.

Er betrachtete sich noch einmal vor dem Spiegel und stellte fest, dass alles in Ordnung war.

So, jetzt wurde es aber höchste Zeit: Schuhe angezogen, Parka übergeworfen und der ganzen Familie „Tschüss“ gesagt.

Bert konnte das Haus aber leider nicht ohne einen Spruch seiner Mutter verlassen.

„Denk an deine gute Kinderstube!“, waren ihre letzten Worte, die er hörte bevor er die Haustür ins Schloss zog.

Das Jahr neigte sich allmählich dem Ende entgegen und so war auf den Berliner Straßen schon eine leichte Schneedecke auszumachen. Aber bald verwandelte sich das schöne Weiß in einen grauen Matsch.

Bert ging ganz vorsichtig zur Straßenbahn, immer darauf bedacht sich seine neue Hose nicht unnötig einzusauen, also ging er jeder Pfütze bewusst aus dem Weg.

Die Bahn kam pünktlich und beim Blick auf seine Uhr stellte er fest, dass er es gerade noch rechtzeitig schaffen würde.

Die Straße bis zum Kollwitzplatz, die er nun schon des Öfteren gegangen war, lag im Schummerlicht.

Die Dunkelheit hatte bereits eingesetzt und auch das Haus, in dem Roswitha nun wohnte war nur ganz spärlich beleuchtet.

Bert ging durch das erste Treppenhaus und direkt in den Innenhof, um kurz danach die vier Treppen bis zur Wohnung von Roswitha zu erklimmen. Einige Male war er schon mit Winne diese alte Treppe gegangen, aber diesmal kam es ihm bis in den vierten Stock gar nicht so hoch vor.

Plötzlich stand er vor der Wohnungstür, atmete noch ein letztes Mal kräftig durch und betätigte die Klingel am Namensschild von Roswitha.

Die Tür öffnete sich und eine schlanke, dunkelhaarige Frau stand vor ihm.

„Hallo, ich bin Roswitha, komm rein!“

Bert war erstaunt, äußerlich passte sie überhaupt nicht zu Winne. Sie war durchaus eine hübsche Erscheinung und sichtlich auch etwas größer als ihr Freund.

Bert hielt ihr einen Strauß entgegen, den er sich noch schnell in einem der Blumenläden in der Dimitroffstraße gekauft hatte.

Mit einem Lächeln und einem kräftigen Händedruck begrüßte er die Gastgeberin.

„Vielen Dank für die Einladung, dass ich Bert heiße, weißt du sicher schon.“

„Nun komm doch erst einmal rein“, beide standen immer noch zwischen Tür und Angel.

Bert betrat den kleinen Korridor, an der Garderobe sah er schon viele Jacken und Mäntel. Er hängte seinen Parka auf und folgte Roswitha in die Küche.

Er hatte die Wohnung ja nur in leerem Zustand gesehen, jetzt aber war sie total gemütlich eingerichtet. In der Mitte der Küche stand ein großer Holztisch mit sechs Stühlen. Auf dem Tisch präsentierten sich Teller mit belegten Brötchen und Bouletten, außerdem standen auf ihm noch zwei Schüsseln mit Kartoffelsalat und sauren Gurken. Der Topf, der auf dem Gasherd stand, dampfte vor sich hin, gefüllt mit Bockwürsten. Überall standen brennende Kerzen, sodass eine wundervolle Atmosphäre entstand.

In dem Moment betrat Winne die Küche.

„Hallo Bert, schön dass du da bist! Komm, ich stell dich erstmal den anderen vor.“

Bert betrat das Wohnzimmer.

„Leute, das ist Bert, mein Freund und Unterstützer bei der Renovierung.“

Im Wohnzimmer saßen schon so etwa zehn Bekannte von Roswitha. Winne stellte sie alle im Einzelnen vor, natürlich konnte sich Bert nicht alle Namen auf Anhieb merken.

Es waren größtenteils Mädels, alles Kommilitoninnen von Roswitha. Sie hatten in diesem Herbst ihr Studium an der Humboldt-Uni begonnen.

Die erste Zeit in Berlin wohnte Roswitha bei einer Freundin in einer WG, ehe sie nun ihre eigene Wohnung beziehen konnte.

Nun hatte Bert erst einmal Zeit sich das Wohnzimmer genauer zu betrachten, denn hier war die Handschrift einer Frau zu spüren, alles war total schick eingerichtet.

Als Erstes entdeckte Bert eine riesige Couch, davor ein Tischchen mit zwei Sesseln.

Auf der anderen Seite versteckte sich hinter einem Vorhang ein Wandklappbett. Dieses Gebilde war gut zwei Meter breit und etwa einen Meter fünfzig hoch. Wenn man den Vorhang zur Seite schob und das Bett ausklappte, entstand eine Liegefläche, die gut für zwei Personen reichte.

Außerdem gab es noch eine kleine Kommode und an den Wänden hingen überall Bilder. Erst jetzt merkte Bert, dass sich die Renovierung wirklich gelohnt hatte.

Von Roswitha erfuhr er außerdem, dass alle Möbel aus dem An- und Verkauf stammten, was man ihnen aber nicht ansah, sie waren hervorragend in Schuss.

„So, ich möchte mich zu allererst bei Bert und Winne bedanken“, begann sie eine kleine Rede.

Natürlich schmeichelte es Bert, dass sie sich zuerst bei ihm bedankte.

„Die beiden haben aus einer alten Bruchbude eine wirklich schöne Wohnung geschaffen. Auch bei den anderen, die bei der Einrichtung geholfen haben, vielen herzlichen Dank. So, nun erheben wir aber endlich die Gläser!“

Jeder bekam ein Glas Sekt und alle Gäste stießen auf eine schöne Zeit in der neuen Wohnung an.

„Das Buffet ist eröffnet!“, rief Roswitha in den Raum und alle Anwesenden begaben sich in die Küche, um sich ihre Teller zu füllen.

Jeder suchte sich ein Plätzchen, die Leute unterhielten sich angeregt und aßen dabei.

Die Bilder an den Wänden interessierten Bert sehr. Es waren Drucke von Spitzweg und Zille, aber auch viele persönliche Fotos hingen hier. Eines zeigte Roswitha am Strand, wahrscheinlich mit ihren Eltern.

Ganz plötzlich stand eine junge Frau neben Bert und hielt ihm eine geöffnete Flasche Bier hin.

„Das auf dem Foto, das ist Roswitha mit ihren Eltern am Strand von Prerow, ich war im Sommer auch dort und habe zwei Wochen Urlaub gemacht.“

„Na, da waren wir ja beide an der Ostsee, ich fahre jedes Jahr auf die Insel Rügen und verbringe dort mit der Familie meinen Urlaub“, berichtete Bert.

Er hielt immer noch seine geöffnete Flasche Bier in der Hand.

„Dann stoßen wir doch auf die Freunde der Ostsee an.“

Die junge Frau berührte mit ihrem Weinglas leicht seine Bierflasche und sagte: „Ich bin übrigens die Babsi.“

„Wollen wir uns hinsetzen?“, Babsi deutete auf einen Berg Kissen, der neben der Couch lag.

Es kam noch eine weitere Studentin hinzu und die drei unterhielten sich ganz angeregt.

Dabei erfuhr Bert, dass die Mädels im Spätsommer eine Wandertour durch die Hohe Tatra unternommen hatten. Sie schilderten ihre Erlebnisse in allen Einzelheiten und hatten viel zu lachen, anscheinend war es eine lustige Truppe.

Sie schwärmten auch schon von ihrer nächsten Tour, die im Juli kommenden Jahres in das Rilagebirge führen sollte.

„Ist nicht ganz ungefährlich, dort gibt es Bären“, gab Bert zu bedenken. „Da braucht ihr sicherlich männliche Begleitung.“

„Haben wir“, Babsi deutete auf ihre Freundin.

„Ihr Freund und sein Kumpel sind auch dabei“, Babsi schaute Bert nun zum ersten Mal direkt in die Augen.

„Weißt du Bert, wenn du Lust hast, dann komm doch einfach mit.“

Bert zögerte noch und überlegte ob er im Juli Zeit hätte. Die Punktspiele wären dann vorbei, nur der Ostseeurlaub seiner Familie müsste wohl ohne ihn stattfinden.

Insgesamt hatte er nur drei Wochen Urlaub, aber diese Idee mit dem Wanderurlaub reizte ihn schon.

„Abgemacht, ich bin im nächsten Jahr dabei.“ Die drei stießen auf den neuen Wanderfreund an.

Winne kam kauend auf Bert und den beiden Mädels zu, in der Hand hielt er eine angebissene Boulette.

„Na, alles klar bei euch?“

„Ja, wir planen gerade unsere nächste Wandertour, Ziel soll das Rilakloster sein“, strahlten ihn die beiden jungen Frauen an.

„Das wäre mir zu anstrengend“, war sich Winne sicher.

„Außerdem seid ihr doch noch viel zu jung für so ein Kloster“, dabei schaute er die Mädels schelmisch an.

„Habt ihr noch genug zu trinken?“, fragte er und stopfte sich den Rest der Boulette in den Mund.

Bert schaute auf seine leere Bierflasche und sagte: „Ich geh mal in die Küche und hole noch was.“

Er schaute sich die Weinflaschen, die in der Küche überall herumstanden an und entschied sich für einen Rotwein.

Babsi war ihm inzwischen gefolgt.

„Was rauchen die denn hier für ein fürchterliches Kraut“, dabei deutete sie auf die beiden Pärchen, die es sich in der Küche gemütlich gemacht hatten.

„Das stinkt ja furchtbar, wollen wir ein wenig vor die Tür gehen?“

Bert schaute Babsi verblüfft an.

„Vor die Tür?“

„Ins Treppenhaus?“

„Na so furchtbar toll gemütlich ist es da draußen aber auch nicht“, dachte er.

Bert konnte sich dem Blick von Babsi nur schwer entziehen und so musterte er sie nun zum ersten Mal richtig.

Sie trug ein schwarzes Stirnband und ihre Lockenpracht türmte sich hoch auf. Von dort fielen einige Strähnen herab, sodass das Band von ihren dunkelbraunen Haaren fast verdeckt wurde.

Beide betraten das Treppenhaus und noch bevor Bert die Wohnungstür schließen konnte, begann eine wilde Knutscherei. Bert nahm Babsi in die Arme und sog den Duft ihrer Haare ein. Der Treppenhausautomat stellte mit einem klackenden Geräusch seine Arbeit ein und es wurde dunkel.

Selbst als irgendein Hausbewohner unten im Treppenhaus den Taster drückte und es wieder hell wurde, ließen sich beide nicht stören. Sie waren völlig mit sich selbst beschäftigt und vergaßen alles, was um sie herum geschah.

Babsi war es, die zuerst die Worte wieder fand.

„Das war mein erster Geschlechtsverkehr in einem Treppenhaus“, sagte sie leise.

„Meiner auch und nicht nur im Treppenhaus.“

Bert hatte nun selbst den Lichttaster für die Beleuchtung gedrückt und schaute in große, braune Augen.

„Das hätte ich nicht gedacht, da wirst du hoffentlich dein Leben lang an mich denken.“

„Na, ob ich mir das so lange merken kann?“

Babsi boxte ihm in die Rippen.

„Hey, sei nicht so frech!“

Als die beiden wieder die Wohnung betraten, war die Stimmung auf dem Höhepunkt.

Der Alkoholkonsum hatte sein übriges getan und die Musikanlage war voll aufgedreht.

Zwei Pärchen tanzten und die anderen Gäste taten so, als ob sie die Abwesenheit der beiden überhaupt nicht bemerkt hätten. Bert holte für Babsi ein Glas Rotwein und für sich ein Bier. Auf den Kissen in der Ecke saßen schon einige Leute und es wurde heftig diskutiert. Die beiden setzten sich auch dazu und lauschten der Unterhaltung.

Halb auf dem Schoß von Bert sitzend begann Babsi ihre ganze Lebensgeschichte zu erzählen.

Angeblich waren ihre Vorfahren vor etwa zweihundert Jahren von Frankreich nach Deutschland eingewandert.

Sie hatte eine große Familie, unter anderem noch drei Geschwister, zwei Schwestern und einen Bruder.

Als sie erfuhr, dass Bert Fußball spielt, war sie total aus dem Häuschen. Ihr Bruder war ebenfalls Fußballer und sie verstand sich mit ihm so gut, dass sie ihn oft zu den Spielen begleitete.

Bert folgte ihren Ausführungen nur mit einem halbem Ohr, ihn beschäftigte eine ganz andere Frage.

Waren sie beide nun ein Pärchen?

Schließlich hatte sie ihm vor ein paar Minuten die Unschuld geraubt und Bert wusste nicht, wie er sich nun verhalten sollte.

Er hatte überhaupt keinen Bock auf eine Beziehung, eine Freundin passte einfach nicht in seine Lebensplanung. Bert wollte weiterhin seine Freiheit genießen, obwohl Babsi ein sehr hübsches und kluges Mädchen war.

Bei seinen ganzen Überlegungen fiel ihm plötzlich ein, dass er am nächsten Tag ein Punktspiel hatte. Das Spiel sollte um vierzehn Uhr stattfinden und so warf er einen Blick auf die Uhr an der Wand.

Der Zeiger stand bereits auf kurz vor zwölf und so versuchte er Babsi, Roswitha und Winne zu erklären, dass er nun los müsse. Bert stand auf, aber Babsi hielt seine Hand fest.

Sie versuchte mit allen Mitteln Bert umzustimmen und ihn zum Dableiben zu überreden.

Aber Bert nahm seinen Sport schon einigermaßen ernst und eine vernünftige Vorbereitung gehörte für ihn schließlich dazu.

„Wir sehen uns spätestens im Juli zur Wandertour durch das Rilagebirge“, wandte er sich an Babsi.

Sie schaute ihn etwas traurig an und sagte: „Ich hoffe doch, dass wir uns vorher noch einmal sehen.“

In Bert tobte immer noch ein Gefühlschaos, die ganze Sache wurde ihm nun doch ziemlich unangenehm. Auf der einen Seite wollte er Babsi nicht vor den Kopf stoßen und andererseits war er doch sehr froh, sie kennengelernt zu haben.

Zögernd stand Bert auf und holte sich seinen Parka. Er bedankte sich bei Roswitha und Winne für die gelungene Einweihungsfeier, nahm Babsi noch einmal kurz in den Arm und machte sich auf den Heimweg.

*

Bert stand am Tresen im Treskow-Eck und trank gerade sein zweites Bier.

Hier kehrte er immer nach gewonnenen Fußballspielen ein. So war es auch heute, seine Mannschaft hatte gegen Berolina Stralau gespielt und mit 4:2 gewonnen.

Der Wirt kannte Bert schon seit einiger Zeit und wusste auch, dass er bei Einheit Pankow Fußball spielt. Auch unter der Woche nach dem Training genehmigte sich Bert hier immer seine zwei Bier.

Die trank er stets im Stehen am Tresen, das hatte zwei Vorteile.

Erstens kam man nicht in die Versuchung zu versacken und zweitens kostete ein Bier, wenn man es im Stehen trank nur fünfunddreißig Pfennige. Im Sitzen wurden dagegen für jedes Bier fünfundvierzig Pfennige abkassiert.

Die Plätze an den Tischen waren gut besetzt, auch sein Großvater saß oft hier und spielte mit einigen Männern Doppelkopf. Heute aber sah er ihn nicht, wahrscheinlich war er zu Hause und löste seine geliebten Kreuzworträtsel.

Bert hatte sein zweites Glas geleert, kramte etwas Geld aus seiner Tasche und legte siebzig Pfennige auf den Tresen, danach verabschiedete er sich vom Wirt und verließ das Treskow-Eck.

Es waren nur wenige Meter bis zu seinem Elternhaus. Im Souterrain der Villa hatte sich Bert vor kurzer Zeit ein eigenes Zimmer eingerichtet.

Das Zimmer nebenan bewohnte sein Großvater. Beide Räume waren etwa gleich groß und jeweils mit einem Kachelofen ausgestattet.

Bei diesem miesen Wetter jetzt im Dezember wurden die Öfen täglich angeheizt.

Als Bert sein Zimmer betrat, war es mollig warm, seine Mutter hatte sicherlich einige Male nachgelegt.

Vom Souterrain führte eine alte, hölzerne Treppe bis in die erste Etage der Villa, wo seine Eltern und seine kleine Schwester wohnten.

Öffnete man die Tür zu der Wohnung, betrat man zuerst einen kleinen Korridor. Von dort führte der Weg direkt in die große Wohnküche.

In der Mitte der Küche stand der klobige Küchentisch, an dem die Familie stets ihre Speisen zu sich nahm. Außer am Sonntag, da wurde immer im großen Wohnzimmer gegessen.

Sowohl das Wohnzimmer, als auch das Zimmer seiner Schwester waren Durchgangszimmer.

Der letzte Raum war das elterliche Schlafzimmer, hier stand ein wunderschöner, riesiger Kachelofen. Er reichte bei einer Deckenhöhe von über drei Meter bis ganz nach oben. Sehr schön verzierte Kacheln machten das Design dieses Ofens aus. Leider wurde er niemals angeheizt, denn seine Eltern schliefen stets kalt.

Auf dem Balkon, der zur Straßenseite zeigte, saß öfters der Vater von Bert und rauchte eine Zigarre.

Von der Rückseite der Villa ging der Blick bis auf den Kohlenhof, der sich in der Treskowstraße befand.

Jeden Morgen wurde dort ein LKW gestartet, um mit ihm zum Güterbahnhof Greifswalder Straße zu fahren.

Hier wurden dann die Briketts aus Güterzugwagen von den Kohlenträgern hochkant in Holzkästen gestapelt, um sie anschließend in die einzelnen Haushalte zu liefern.

Bert‘s Familie war stets darauf bedacht, noch vor dem Winterbeginn genügend Kohlen im Keller zu haben.

Hilfreich waren dabei die Kohlenkarten, in denen die Mengen Briketts und Holz eingetragen waren, die jedem Haushalt zustanden.

Die Villa mit ihren großen, hohen Räumen verschlang im Winterhalbjahr Unmengen an Brennmaterial.

Zwar verfügte die Villa über einen Gasanschluss, aber die Außenwandgasheizer waren bei Minusgraden hoffnungslos überfordert und so liefen die Kachelöfen im Dauerbetrieb.

Kohlenkutte musste also rechtzeitig ran, um genügend Vorräte anzulegen. Für jeden Zentner Briketts musste die Familie zwei Mark neununddreißig hinblättern.

Sollten sie auch gleich im Keller gestapelt werden, waren weitere sechsundfünfzig Pfennige fällig. Diese Arbeit erledigte Bert aber immer selbst, also schüttete Kutte die Briketts einfach nur in den Kohlenbunker.

Es kam auch schon mal vor, dass die Kohlen auf Karte nicht reichten und so musste HO-Kohle gekauft werden. Die kostete dann aber satte vier Mark und zehn Pfennige.

*

Es war nun schon ein gutes Jahr her, seitdem Bert mit der ganzen Familie nach Berlin gezogen war. Ihre Heimat in der Lausitz mussten sie aufgeben, da immer größere Teile der Landschaft von den Kohlebaggern aufgefressen wurden. Bert hatte schnell wieder neue Freunde gefunden, sei es in seiner Ausbildungsklasse oder im Fußballverein.

Auch Jimmy, ein alter Freund, mit dem er schon gemeinsam die Sportschule besucht hatte, war nach der zehnten Klasse nach Berlin ins Internat des SC Dynamo gewechselt.

Dort betrieb er weiterhin Leistungssport und erlernte den Beruf eines Werkzeugmachers.

Jimmy war bekannt wie ein bunter Hund, kannte Hinz und Kunz und hatte überall seine Hände im Spiel. Die beiden Freunde trafen sich nun wieder öfters.

Der Vater von Jimmy betrieb in Weißwasser eine Mercedes-Werkstatt. An den Wochenenden übernahm Jimmy manchmal Überführungsfahrten mit gebrauchten Westautos in seine Heimatstadt. Dort wurden diese dann aufgemöbelt und wieder teuer weiterverkauft. Wie die gebrauchten Mercedes ihren Weg von Westberlin in den Ostteil der Stadt fanden, blieb lange ein Geheimnis.