Wenn ich groß bin...halte ich mir auch einen Flüchtling - Monika Liegl - E-Book

Wenn ich groß bin...halte ich mir auch einen Flüchtling E-Book

Monika Liegl

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Beschreibung

Faiaz ist der Protagonist einer wahren Geschichte, in der es um die Flucht aus Afghanistan geht, aber auch um das erfolgreiche Ankommen in der westlichen Gesellschaft. Beschrieben wird die Geschichte von seiner deutschen Patenmutter, die ihn für vier Jahre in ihre Familie aufgenommen hat. Gemeinsam mit dem jungen Mann durchlebt sie alle Höhen und Tiefen seiner Entwicklung: von der posttraumatischen Belastungsstörung, über das Erlernen der deutschen Sprache, bis zur Berufsfindung und dem mühsamen Weg durch die Ausbildung als Verwaltungsfachangestellter bei der Evangelischen Regionalverwaltung. Durch die dramatischen Ereignisse, die sich in Afghanistan immer weiter zuspitzen, wird Faiaz hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch ein sorgenfreies westliches Leben zu führen und der Ohnmacht, dabei zusehen zu müssen, wie seine Familie leidet und um zwanzig Jahre in die Vergangenheit zurückgeworfen wird. Aufgelockert wird die Erzählung durch humoristische Anekdoten, denn der Humor war es, der Faiaz in den schwierigen Zeiten immer wieder geholfen hat, den Kopf über Wasser zu halten. Wenn ich groß bin, halte ich mir auch einen Flüchtling! Faiaz

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Gewidmet meinem Mann und meinen Kindern

Vorwort

Manchmal wird das Leben innerhalb kurzer Zeit komplett auf den Kopf gestellt, zum Beispiel, wenn man sich wie wir entschließt, einen jungen Geflüchteten aus Afghanistan aufzunehmen und dieser dann die nächsten Jahre bleibt. In dieser Zeit passieren Geschichten, die es wert sind, festgehalten zu werden. Darüber hinaus erschließen sich Zusammenhänge, die für alle an der afghanischen Kultur Interessierten spannend sein dürften.

Dieses Buch entstand in enger Absprache mit Faiaz, der 4 Jahre in unserer Familie gelebt hat. Auch die sonstigen im Buch vorkommenden und namentlich erwähnten Personen, gaben mir ihr Einverständnis, in dieser Form über sie zu berichten.

Ich habe mich dazu entschieden, dem Protagonisten meines Erfahrungsberichtes erst am Ende des ersten Kapitels einen Namen zu geben. Denn davor steht er für all die Geflüchteten, die sich 2015 auf den Weg nach Deutschland oder in die Nachbarländer gemacht haben. Erst mit unserer Begegnung wird sein persönliches Schicksal herausgearbeitet, und er erscheint mit seinem Namen.

Ich schreibe dieses Buch für all jene, die sich in die afghanische Seele einfühlen und verstehen möchten, was Flucht bedeutet und wie es mit dem Asylrecht für Afghanen bestellt ist sowie für all jene, die daran arbeiten möchten, dass sich die Verhältnisse verbessern.

Inhaltsverzeichnis

KAPITEL 1

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KAPITEL 4

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REUZFEUER

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BERRASCHUNG AUS DEM

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KAPITEL 6

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AHRE ZURÜCK IN DIE

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KTOBER

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ONTRASTPROGRAMM

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UFÄLLE GIBT ES DOCH GAR NICHT

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ASTFREUNDSCHAFT UMGEKEHRT

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EZEMBER

2021 – A

USBLICKE

SCHLUSSGEDANKEN

NACHWORT

DANKSAGUNG

LITERATURVERWEISE UND ERLÄUTERUNGEN

Kapitel 1

Von einem der auszog, um der Furcht zu entkommen

Es war einmal ein junger Mann, der wollte am liebsten groß, berühmt und reich werden. Leider lebte er in Afghanistan, einem Land, in dem immerzu Bürgerkrieg herrschte. Da seine Eltern zu den Gebildeten im Lande gehörten und ihn förderten, wo sie konnten, schaffte er es – dank seiner Leistungen in Schule und Universität – eine angesehene Stellung in der Verwaltung des Kabuler Innenministeriums zu bekommen.

Leider wüteten in seinem Land seit seiner frühesten Kindheit, Al Qaida1, der IS2, diverse Warlords3 und die Taliban, eine Terroristengruppe, deren Ziel es war, die Traditionen im Land in archaischer Form zu erhalten. Das taten sie alle auf brutalste Art und Weise. Die Taliban waren die letzten Jahre dabei gewesen, ihre Macht in seinem Land weiter auszubauen und wollten nun auch von seiner Stellung profitieren. Sie versuchten, ihn zu zwingen, als Spitzel für sie zu arbeiten, da er als Dokumentar Zugang zu absolut vertraulichen Daten hatte.

Eine Weile war es der Familie gelungen zu verheimlichen, dass ihr Sohn für die Regierung arbeitete. Man sagte, er lebe in Kabul, um dort zu studieren. Jedoch ist das zwischenmenschliche Informationssystem in Afghanistan darauf spezialisiert, solche Dinge schnell aufzudecken. Und da der junge Mann selbst eher selten ein Gebetshaus aufsuchte, kam es so, dass sein Vater nach dem freitäglichen Besuch in der Moschee die Aufforderung erhielt, dafür zu sorgen, dass sein Sohn ab sofort als Kundschafter für die Taliban arbeiten sollte.

Da der junge Mann aber ein guter Mensch war, wollte er, dass auch nur die guten Mächte das Land führen sollten und verweigerte den grausamen, bösen Mächten seine Zusammenarbeit. Das ließen diese sich aber nicht gefallen und drohten damit, ihn zu töten, falls er nicht kooperierte. Eine Weile darauf erhielt sein Vater in der Moschee ein von den Taliban verfasstes, amtlich besiegeltes Dekret, aus dem hervorging, sein Sohn sei „festzunehmen und zu beseitigen“.

Nun hatte der junge Mann aber zu Hause gelernt, dass Kämpfen schlecht und man im Falle der Taliban machtlos sei, weil der Staat keinen Schutz gewähren kann. Denn selbst die Regierung war von Mitgliedern der Taliban unterwandert. Deshalb gab es nur eine Chance zu überleben: Er musste fliehen, und zwar sofort und sehr weit weg. Keinesfalls reichte es aus, nur in die benachbarten Länder zu flüchten, denen die Menschen aus seinem Land bestenfalls gleichgültig waren und wo der gnadenlose Arm der Taliban ebenfalls hinreichen konnte.

Die Flucht

Nachdem sich der junge Mann mehrfach in Kabul beobachtet und verfolgt gefühlt hatte, war es sein Vater gewesen, der alle nötigen Vorkehrungen traf, um ihm zur Flucht zu verhelfen. Zu stark war die Angst gewesen, dass die Taliban ihre Anordnung umsetzen würden. Denn das taten sie immer, wenn man sich ihnen widersetzte, schon allein um ihre Macht zu demonstrieren.

Das Ziel seiner Flucht sollte Deutschland sein. Dafür gab es Gründe. Sein Cousin hatte als Übersetzer für die Deutschen bei der ISAF-Mission4 unter der NATO-Führung gearbeitet. Von ihm kam die Information, dass man gut mit den Deutschen zurechtkam. Auch aus der Geschichte wusste er von der früheren Verbundenheit der Deutschen mit den Afghanen, die schon 1920 unter König Amanullah begonnen hatte. In der Schule hatte er gelernt, dass Deutschland die erste europäische Macht war, die an einem gleichberechtigten Bündnis mit Afghanistan interessiert war. Es baute 1924 sogar eine deutsche Oberschule in Kabul, als Kaderschmiede für die afghanische Elite. Ende der 30er Jahre kamen 70 % der Maschinen aus Deutschland (u.a. von Siemens) und in den 60er Jahren wurde das Goethe-Institut in Kabul gegründet. In den 70er Jahren gab es eine enge Entwicklungszusammenarbeit und eine wissenschaftliche Verzahnung zwischen beiden Ländern. Aus diesem Grund waren auch schon unter der kommunistischen Besatzung in den 80er Jahren viele Landsleute nach Deutschland geflüchtet. Da fast jeder Afghane inzwischen Verwandte oder Freunde in Deutschland hat, ist es ein Sehnsuchtsort derer, die sich gezwungen sehen, ihre Heimat zu verlassen.

So machte er sich also auf die gefährlichste Reise seines Lebens. Bis Pakistan brachte ihn ein Taxi, eines der üblichen Fortbewegungsmittel, wenn man nicht mit dem Auto fuhr. Ein Reisebus wäre zu unsicher gewesen, da die Busse von den Taliban regelmäßig kontrolliert wurden. In Pakistan wartete dann der erste Schleuser auf ihn. Man traf sich in einem Keller, wo schon andere Geflüchtete auf den Weitertransport warteten. Schließlich ging es bei Nacht und Nebel los. Die Aufregung war sehr groß und leider auch berechtigt. Denn schon nach wenigen Stunden flog die Gruppe auf. Es waren Polizisten, die die Flüchtlinge festnahmen, plünderten, als minderwertig beschimpften, misshandelten und für eine Nacht ins Gefängnis steckten. Alle hatten Todesangst, denn sie wussten, sie würden nach Afghanistan zurückgebracht werden.

Der junge Mann hatte sein türkisfarbenes Lieblings-T-Shirt getragen. Es wurde ihm aber schnell von einem der Polizisten weggenommen.

„Das brauchst du jetzt nicht mehr. Die Zeiten an der Uni sind vorbei“, sagte der Uniformierte, nachdem er ihn mit seinen groben Händen auf Wertgegenstände hin durchsucht hatte.

Sie brachten die Geflüchteten am nächsten Tag zurück über die Grenze nach Afghanistan, was überaus gefährlich war. Zum Glück ließ man sie dort aber laufen, ohne sie der örtlichen Polizei zu übergeben. Denn spätestens dann wäre sein Leben vermutlich beendet gewesen.

In Kandahar suchten und fanden sie ihren Schleuser wieder, der es in einem weiteren Versuch schaffte, sie unbemerkt über die Grenze zu bringen und durch Pakistan in den Iran zu transportieren. Wegen fehlender Verkehrswege ging es unterhalb der südlichen afghanischen Grenze durch Pakistan in Richtung Iran. Sie wechselten mehrmals die Transportmittel, mal war es ein Pick-up, mal ein alter russischer Bus, in dem sie zu sechst im Hohlraum über dem Hinterrad in völliger Bewegungslosigkeit eng zusammengepfercht kauerten. Es gab wenig Luft zum Atmen und sie lebten in ständiger Angst, entdeckt zu werden. Noch nie zuvor war es ihm so schlecht gegangen. Zwar war ihm die Brutalität der Dschihadisten von Afghanistan bekannt, aber er hatte sie noch nie am eigenen Leib erlebt.

In den Fahrpausen wurden sie einmal aus dem Bus getreten, weil sie ihre eingeschlafenen Glieder nicht schnell genug reanimieren konnten. Auch hier wieder erlebten sie schwere Misshandlungen und Demütigungen. Das war jedoch nichts gegen die unerträgliche Angst, die sie verfolgte, weil der Ausgang ihrer Flucht völlig unbestimmt war. Man hatte schon davon gehört, dass Schleuser, wenn sie erwischt wurden, das Fahrzeug mit den Geflüchteten mit Benzin übergossen und in die Luft sprengten, um selbst einer Strafe zu entgehen. Deshalb waren die Flüchtlinge froh, als die iranischen Berge näherkamen, denn ab hier ging der Weg über große Strecken zu Fuß in Richtung Türkei weiter. Immer wieder mussten sie sich verstecken, waren hungrig und durstig und konnten nicht schlafen, weil das gefährlich hätte werden können. Sie verbargen sich dann in Erdkuhlen und deckten sich mit Laub zu. Inzwischen war es auch bitterkalt und nass geworden.

Noch hatte der junge Mann keine Zeit, sich Gedanken darüber zu machen, was er zurückgelassen hatte: seine Familie, seine Reputation, seinen Wohlstand, ja sein gesamtes bisheriges Leben. Auch wusste er nicht, wohin genau ihn die Reise führen würde, da er sie nicht geplant hatte und zudem von den Schleusern völlig abhängig war. Die Chefs der Schlepper, mit denen der junge Geflüchtete nach bestimmten Abschnitten der Flucht telefonieren musste, sprachen wie höfliche Geschäftsleute mit ihm. Währenddessen behandelten ihn die Schleuser während der Flucht wie einen räudigen Hund. Doch nur sie kannten die Wege und konnten ihn in Sicherheit bringen. Sein Adrenalinspiegel schoss immer wieder in die Höhe. Es galt nur noch zu überleben. Alles andere zählte nicht mehr.

Die Schleuser brachten die Gruppe dann zu Fuß bis kurz vor die Grenze zur Türkei, die sie allein passieren mussten. Es war eine überaus strapaziöse Tour, zu Fuß durch die iranischen Berge zu laufen, aber die meisten schafften es. Man half sich gegenseitig, aber versuchte dabei auch, die schlimmen Bilder derer zu verdrängen, die es nicht geschafft hatten.

Der erste Ort in der Türkei war Van am Vansee, im Osten von Anatolien. Die Landschaft war wunderschön. Nun fiel vorübergehend die Anspannung von ihm ab, und er konnte sich in relativer Sicherheit einer tiefen Erschöpfung hingeben. Über 24 Stunden fuhr er in einem normalen Reisebus nach Istanbul und von da aus schon bald weiter nach Izmir. Hier ist die Drehscheibe für die Flüchtlinge, deren Ziel Europa ist.

Nun begann der gefährlichste Teil seiner Flucht. In einer der folgenden Nächte sollte er nämlich auf einem weißen, unsicheren Schlauchboot von der Türkei aus in Richtung Griechenland übersetzen, mit zwei Geflüchteten als Bootsführer. Einer der beiden war sein Cousin. Die Freude war groß gewesen, als er in der Türkei unerwartet auf ihn getroffen war.

1.000 Dollar musste jeder Flüchtling für die Überfahrt zahlen, auf einem Boot, das selbst nur einen Wert von 1.000 Dollar hatte. Mit 60 Personen war es völlig überfüllt. Also hatten die Schleuser 60.000 Dollar eingenommen, ein überaus lukratives Geschäft!

Die Männer saßen auf dem Rand des Bootes, mit einem Bein im eiskalten Wasser und dem anderen in der Bootsmitte, wo sich die Frauen und Kinder befanden, die sich dicht aneinanderdrängten. Bei jeder stärkeren Welle schrien sie in Todesangst laut auf. Danach starrten alle wieder gebannt auf die Lichter am rettenden Ufer. Man hielt die Luft an, ob die Tankfüllung bis zur griechischen Insel reichte und hoffte, die dortigen Wachsoldaten würden es bemerken, wenn sie doch noch in Seenot gerieten. Denn oft schon hatte man gehört, dass sich die Griechen wegdrehten, um zu ignorieren, dass schon wieder ein Flüchtlingsboot ankam. Dann konnte man nur hoffen, dass die türkische Seite, von der aus man aufgebrochen war, zu Hilfe eilen würde, bevor alle im kalten Wasser ertranken. Die wenigsten von ihnen konnten schließlich schwimmen.

Kurz bevor das Ufer der kleinen Insel erreicht war, hatte einer der beiden, die das Boot in der Dunkelheit gesteuert hatten, schnell ein Messer gezogen und das Boot seitlich aufgeschlitzt, um es unbrauchbar zu machen. Man hatte ihnen aufgetragen dies unbedingt zu tun, weil man sie sonst unter Umständen mit dem gleichen Boot wieder zurückgeschickt hätte. Doch es kam anders als erwartet. Am Ufer wurden sie bereits von den Hilfsorganisationen der Vereinten Nationen erwartet und ans rettende Land gebracht. Ein Flüchtling, der am Steuer eines solchen Bootes erwischt wird, läuft Gefahr, als professioneller Schlepper behandelt und strafrechtlich verfolgt zu werden. Doch das geschah zum Glück in diesem Fall nicht.

Nun befanden sie sich endlich in Griechenland, dem von Geflüchteten so ersehnten Grenzland der Europäischen Union. Da wusste er, er hatte es endlich geschafft. Die letzten Etappen lagen zwar noch vor ihm, aber er befand sich immerhin auf europäischem Territorium.

Er blieb nur kurze Zeit an diesem ersten Ort, zu kurz, um sich den Namen der kleinen Insel mit den weißen Zelten der UN zu merken. Es blieb auch später noch unklar, ob es Kos oder Chios, Lesbos oder Samos war. Hier gab es jedenfalls eine kleine Verschnaufpause, in der er seinen Fingerabdruck abgeben musste und als Asylsuchender registriert wurde. Noch hatte er keinen blassen Schimmer davon, dass er damit später einen sogenannten „Treffer“ in der Eurodac-Datei auslösen würde. Dies war eine Datenbank, die illegale Einwanderung in die Europäische Union kontrollieren sollte. Die sogenannte Dublin-Verordnung sah nämlich vor, alle Geflüchteten wieder in das Land zurückzubringen, in dem sie zuerst registriert worden waren. Aber vorerst sprach keiner davon. Es sollte zügig weitergehen, und zwar zunächst einmal nach Athen. Der Schiffstransport dorthin wurde gegen Bezahlung von den Griechen selbst organisiert.

Um seine Geldreserven für den weiteren Fluchtweg aufzustocken, ließ er anderen Geflüchteten den Vortritt. Diese bezahlten ihn für diesen Zeitgewinn.

Schließlich war es so weit: Für ihn kam ein wunderbarer Lichtblick auf seiner Flucht. Er konnte sich eine Fahrkarte für einen großen Touristendampfer kaufen und fühlte sich nun etwas freier. Denn nun begann die erste Schiffsreise seines Lebens, abgesehen von der lebensgefährlichen Überfahrt auf dem völlig überladenen weißen Schlauchboot. Zwölf schöne, hoffnungsfrohe Stunden hätte er sich wie ein Tourist fühlen können und nicht länger als Geflüchteter. Leider konnte er die Fahrt nicht wirklich genießen, denn er war sehr müde und gesundheitlich ziemlich angeschlagen. Deshalb blieb er nur eine kurze Zeit auf dem Oberdeck, wo ihm die kalte Gischt des Mittelmeers ins Gesicht spritzte und seine nun stark entzündeten Luftwege noch mehr reizte. Den Rest der Stunden verbrachte er schlafend im Unterdeck und verpasste die ersten Momente der Freiheit in Europa. Seine Mitgeflüchteten flirteten inzwischen etwas unbeholfen mit den europäischen Touristinnen und hatten später in Athen viel darüber zu berichten.

In der griechischen Hauptstadt fand er sich bald auf einem großen Platz wieder und folgte den anderen Afghanen in einem langen Strom. Bald stellte sich heraus, dass man im Obergeschoss eines kleinen Ladens weitere Schleuser finden würde, um die Weiterfahrt über die Balkanroute zu organisieren. Danach waren dann keine Schleuser mehr an seinem Fluchtweg beteiligt.

Von Athen aus ging es mit Bussen durch Nordmazedonien, Montenegro, Kroatien, Slowenien und Österreich, wobei die Gruppe die ganze Zeit über von der Polizei eskortiert wurde. Jeweils vor und hinter den Landesgrenzen standen riesige weiße Zelte der UNO. In jedem der Länder wurden sie gefragt, ob sie bleiben oder weiterreisen wollten. Er fühlte aber, dass es sich um rein rhetorische Fragen handelte. Die Grenzer spulten eher widerwillig einen Fragenkatalog ab. Sie zeigten dabei aber jedes Mal deutlich, dass sie nicht wirklich hofften, dass die Flüchtlinge bleiben wollten. Unser junger Mann hatte noch Geld und wollte unbedingt weiter nach Deutschland.

Dort lebte auch die Schwester seiner Mutter, die ihn zunächst aufnehmen würde. So wurde er gemeinsam mit den anderen Geflüchteten von einem Grenzschutzbeamten zum anderen weitergereicht und abgesehen davon, dass er nun keine Misshandlungen mehr erfuhr, fühlte es sich an, als wären es nun die Grenzsoldaten, die sich als weitere Schleuser betätigten.

Ihm fiel auf, dass die Freundlichkeit der Polizisten, aber auch die Strenge in jedem Land, das er passierte, weiter zunahm und in Österreich vorerst ihren Höhepunkt erreichte. In Wien fand dann nach einer Leibesvisitation die erste komplette körperliche Untersuchung statt. Es gab Geflüchtete, die bis zu diesem Zeitpunkt im Besitz von Waffen als Schutz vor Schleuserübergriffen und sogar von Drogen waren, die sich während der Flucht als hervorragendes Zahlungsmittel erwiesen hatten. Nun aber wurde das alles beschlagnahmt.

Unser Geflüchteter konnte schließlich mit dem nächsten Bus weiter nach Deutschland fahren. Hier landete er nach einer weiteren Tagesreise in Trier, wo er gleich zweimal körperlich untersucht wurde. Er spürte, dass die Gründlichkeit nun, seit er in Deutschland war, ihren Höhepunkt erreicht hatte.

Ankunft in Deutschland

Die Laufstrecke von Kabul nach München beträgt in etwa 5.916 km oder 1.202 Stunden zu Fuß, also ca. 150 Tage, wenn man davon ausgeht, dass man pro Tag etwa 40 km schafft. Unser Geflüchteter brauchte 80 Tage, da er einen großen Teil der Strecke mit den verschiedensten Verkehrsmitteln unterwegs war.

Als er dann nach zweieinhalb Monaten in dem Land seiner Wahl angekommen war, überkam ihn im Haus seiner Tante die völlige Erschöpfung. Er hatte inzwischen hohes Fieber und schlief tagelang nur noch. Dank fürsorglicher Pflege erholte sich sein Körper recht schnell wieder, aber seine Seele blieb in einem zerrütteten Zustand.

Um seinen Aufenthalt zu legitimieren und die Verwandten nicht in Schwierigkeiten zu bringen, musste er nach seiner Erholung schnellstens Asyl vor einer deutschen Behörde beantragen. Ein Cousin brachte ihn also zur nächsten Außenstelle des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge. Von da aus wurde er nacheinander in zwei verschiedene Flüchtlingsheime überstellt.

Dort begann er langsam die Trümmer seines Lebens neu zu sortieren. Aber was er sah, erschütterte ihn. Er war in Deutschland zwar gut aufgenommen worden, denn zu dieser Zeit hieß ein Teil der Menschen die in großen Strömen an den Bahnhöfen ankommenden Flüchtlinge noch willkommen. Schnell begann aber ein anderer Teil sich zu beschweren, das seien viel zu viele, sie hätten die falsche Religion und würden gar nicht zu uns passen. Rechtsextremistisches Gedankengut war mit einem Mal wieder populär geworden. Aber es gab auch viele Menschen, die einfach den Status Quo in Deutschland aufrechterhalten wollten und Angst hatten, von den vielen Fremden überrannt zu werden. Sie wollten, dass alles so bleibt, wie immer, obwohl nichts jemals so geblieben ist, wie es war und das Leben immer Veränderungen unterworfen ist. So waren viele sehr schnell bereit, das Recht auf Asyl noch weiter einzuschränken, wenn nicht sogar aufzugeben. Sie verdrängten, dass es nur einem glücklichen Zufall zu verdanken war, dass sie in einem Teil der Welt geboren worden waren, der ihnen ein Leben in Freiheit ermöglichte.

Die Behörden waren völlig überlastet und schon bald zeigte sich, dass Deutschland die Flüchtlinge nur halbherzig aufgenommen hatte. Es waren fast keine Vorkehrungen getroffen worden, weder zu ihrer adäquaten Unterbringung noch zu ihrer sprachlichen Integration, obwohl man die Flüchtlingswelle schon lange von ferne beobachtet hatte und auch für Deutschland hätte vorhersehen können. Aber da gab es die Dublin-Verordnung, die uns lange Zeit davor schützte, dass wir uns mit dem Thema näher beschäftigen mussten. Die Flüchtlinge sollten entsprechend dieser Verordnung in dem Land bleiben, wo sie zuerst das Territorium der Europäischen Union betreten hatten. Dass diese Länder, also Griechenland und Italien, schon lange überfordert waren, war bekannt, aber man verschloss nur zu gerne die Augen und Ohren davor. Zwar sah man die schlimmen Bilder von ertrinkenden Flüchtlingen im Fernsehen, aber gleichzeitig war man froh, dass Deutschland kein Land an der Außengrenze der EU war.

So lief dann alles schleppend mit den Behörden, und der junge Mann merkte, dass er nicht nur jeden Rückhalt seiner Familie verloren hatte, sondern komplett von Null anfangen musste und auch – und dies war die bitterste Erkenntnis –, dass hier niemand auf ihn gewartet hatte.

Er war gerade in einem Alter, wo man das Leben feiern möchte und sich auf die Suche nach einer Partnerin begibt. Doch er stellte schnell fest, dass er seine Attraktivität für die Frauen ziemlich verloren hatte. Auf der Straße war er plötzlich für das andere Geschlecht fast unsichtbar. Er hatte die falsche Hautfarbe und kein Geld, keine Wohnung, kein Auto und auch keinen Job. Wenn er etwas sagte, war zudem klar, dass er nicht nur ein Ausländer war, sondern ein Geflüchteter, denn sein Deutsch steckte noch in den Kinderschuhen. Er war nun völlig abhängig vom deutschen Staat und dem Wohlwollen seiner Bürger. Zwar gab es ein paar Ehrenamtliche, die sich unter vollem Einsatz um Geflüchtete kümmerten, aber es waren nur wenige, und selbst sie waren überlastet. Denn da waren noch viele andere wie er.

Als Afghane hatte er zudem keinen Zugang zu einem Sprachkurs. Dabei musste er bald die leidvolle Erfahrung machen, dass es in Deutschland zwei Arten von Flüchtlingen gab: die besseren und die schlechteren. Die besseren kamen aus Ländern wie Syrien, Irak, Iran, Eritrea und später auch Somalia. Geflüchtete aus diesen Ländern bekamen bald die Berechtigung zum kostenfreien Deutschunterricht, denn sie hatten eine hohe Bleibewahrscheinlichkeit, wie es im Amtsdeutsch hieß. Daraus lernte der junge Mann, dass seine Aussicht, in Deutschland Asyl zu bekommen, nicht allzu groß war, was seine Ängste noch weiter vergrößerte. Er war aus Furcht geflüchtet, aber nun merkte er, dass er hier ein anderes Fürchten kennenlernen sollte.

Er schaffte es immer weniger morgens aufzustehen. Das Leben schien vorbei, bevor es angefangen hatte. Er war in einem freien Land. Doch die Freiheit in Bezug auf seine Mobilität – er hatte eine sogenannte Wohnsitzauflage5 für den Landkreis, in dem sich seine Gemeinschaftsunterkunft befand – war genauso beschränkt, wie sein Zugang zu Bildung oder auch nur zur einfachen Arbeitssuche. Schließlich fehlten ihm dafür noch die erforderlichen Sprachkompetenzen.

Das verlassene Kind

Seine Unterkunft war ein ehemaliger Fitnessclub, wo er mit vielen anderen Geflüchteten aus den verschiedensten Ländern in einem großen Raum ohne jede Privatsphäre mit nur einer Toilette und einer Dusche untergebracht war. Schon kurz nach seinem Einzug sollte das Gebäude saniert werden, um eine menschenwürdigere Unterkunft daraus zu machen.

Deshalb musste er mit seinen Kameraden erneut an einem anderen Ort im Landkreis untergebracht werden, seine dritte Umverteilung innerhalb eines halben Jahres. Am Tag vor seinem Umzug bekam unser aller Leben jedoch eine neue Wendung.

Ein paar Ehrenamtliche, darunter auch mein Mann und ich, hatten beschlossen, ein kleines Abschiedsfest für unsere abreisenden Sprachschüler auszurichten. Als wir kamen, hatten die Geflüchteten bereits Tische und Sofas aus ihrer Unterkunft ins Freie getragen. Wir durften zu Anfang einen Blick in den großen Schlafsaal werfen. Sechs Quadratmeter stehen jedem Geflüchteten zu, mir erschien es so, als wäre es weniger. Dicht gedrängt standen die Betten nebeneinander. Da war uns klar, dass es von der Wohnsituation her nur besser werden konnte.

Es war ein schöner, warmer Abend im August. Ein Geflüchteter hatte die landestypischen großen Fladenbrote gebacken, Getränke standen als Zeichen der Gastfreundschaft auf dem Tisch, und wir Ehrenamtliche hatten diverse Salate mitgebracht. Da wir gerade Vollmond hatten, herrschte eine ganz besondere Stimmung. Alle waren entspannt, erzählten von zu Hause und zeigten Bilder ihrer Familie oder aus der Heimat. Die Geflüchteten waren traurig, dass sie nun den Ort wechseln mussten, nachdem sie hier Anschluss gefunden hatten. Sogar Deutsch hatten sie mit uns lernen können, eine Möglichkeit, die ihnen der Staat nicht gewährte, obwohl doch ihr ganzes weiteres Leben in unserem Land davon abhängen sollte.