Wenn sich der Himmel verdunkelt - Mark R. Talbot - E-Book

Wenn sich der Himmel verdunkelt E-Book

Mark R. Talbot

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Beschreibung

Wenn das Leid uns überwältigt, ist es leicht, zu verzweifeln und sogar an Gottes Güte zu zweifeln. Wenn die Wolken des Leids heranrollen, können wir alles aus den Augen verlieren – außer unserem Schmerz. In diesen Momenten, wenn sich der Himmel verdunkelt, müssen wir uns an die Bibel wenden, um die Gewissheit zu finden, dass Gott uns durchtragen kann und wird. In diesem Buch erzählt Mark Talbot von den Leiden einiger der größten Heiligen der Bibel. Sie gehen voran und zeigen uns, was es bedeutet, in den dunkelsten Zeiten des Lebens treu und hoffnungsvoll zu bleiben – und helfen uns so, uns zuversichtlich an Gottes sicheres Versprechen zu klammern, dass er uns niemals verlassen oder aufgeben wird, sondern bei uns ist und uns trägt, bis sich die Stürme legen und die Wolken sich verziehen.

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Impressum

Wenn sich der Himmel verdunkelt:

Hilfe und Hoffnung in Zeiten des Leides, Mark R. Talbot, Band 1

Solid Rock Verlag, c/o Postflex #2889, Emsdettener Str. 10, 48268 Greven

www.solidrockverlag.de

Veröffentlicht unter dem englischen Originaltitel:

When the Stars Disappear:

Help and Hope from Stories of Suffering in Scripture (Vol 1),

Copyright © 2020 by Mark R. Talbot

Published by Crossway, a publishing ministry of Good News Publishers, Wheaton, Illinois 60187, U.S.A.

This edition published by arrangement with Crossway. All rights reserved.

Diese Ausgabe wird aufgrund eines Vertrages mit Crossway veröffentlicht.

Alle Rechte vorbehalten.

Zitierte Bibelstellen:

Soweit nicht anders vermerkt:

Direkte Übersetzung aus dem Englischen.

Bibelstellen mit einem * versehen:

Bibeltext der Neuen Genfer Übersetzung – Neues Testament und Psalmen.

Copyright © 2011 Genfer Bibelgesellschaft.

Wiedergegeben mit freundlicher Genehmigung. Alle Rechte vorbehalten.

Bibelstellen mit zwei ** versehen:

Bibeltext der Schlachter, Copyright © 2000 Genfer Bibelgesellschaft.

Wiedergegeben mit freundlicher Genehmigung. Alle Rechte vorbehalten.

Paperback ISBN: 978-3-949836-17-6

Tolino ePub ISBN: 978-3-949836-19-0

Übersetzung: Solid Rock Verlag

Cover Design: Solid Rock Verlag und Harald Klein Design

Cover Foto: Bild von Tobias Hämmer auf Pixabay

Lektorat: Solid Rock Verlag

Satz und Design: Harald Klein, www.haraldklein.design

Trotz aller Sorgfalt können Fehler unterlaufen. Solltest du einen entdecken, freuen wir uns über einen Hinweis an [email protected].

Talbots Erfahrung mit Leid verleiht ihm ein Herz voller Empathie für jeden, der darum ringt, die schweren Wege Gottes zu verstehen. Seine Stringenz als christlicher Philosoph befähigt ihn, die beunruhigendsten Fragen zu stellen, die uns im Hinblick auf menschliches Leid umtreiben, ohne deren Schwierigkeit herunterzuspielen oder in Verzweiflung zu verfallen. Talbot verwendet Geschichten aus der Bibel, um die klare praktische und theologische Orientierungshilfe zu geben, die leidende Gläubige brauchen, um voller Hoffnung weitergehen zu können. Dieses wunderbare Buch wird die Leser mit der Gewissheit trösten, dass wir in unserem Leid nie allein sind, sondern von unserem ewig liebenden Erlöser getragen werden.

PHILIP GRAHAM RYKEN, Präsident, Wheaton College

Bücher, die Linderung für das Problem des Leids anbieten, gibt es wie Sand am Meer. Aber dieses ist anders. Es ist eine sorgfältige, geistliche und einfühlsame Aufbereitung, die sich nicht vor den emotionalen und unkonventionellen Dimensionen unseres Lebens drückt. Vor allem aber geht es um die menschlichen Herausforderungen: Jesus sagte zu seinen Jüngern: „In der Welt werdet ihr hart bedrängt. Doch ihr braucht euch nicht zu fürchten: Ich habe die Welt besiegt.“ (Joh 16,33*). Talbot stellt einen hohen Anspruch an die Treue zur Bibel, wenn er drei alttestamentliche Figuren – Naemi, Hiob und Jeremia – und die neutestamentlichen Passagen, die in die gleiche Richtung gehen, betrachtet. Talbot schenkt hier dem Leid und dem christlichen Leben besondere Aufmerksamkeit. Es handelt sich nicht um eine rein theoretische Herangehensweise an das Thema, obwohl es sehr durchdacht geschrieben ist. Dem aufmerksamen Leser wird Lust auf die weiteren Bände gemacht. Uneingeschränkt empfehlenswert.

PAUL HELM, ehemaliger Professor für Geschichte und Religionsphilosophie, King‘s College London

Wenn du Christ bist und leidest – oder dich das Leid eines geliebten Menschen belastet – dann ist dieses Buch für dich. Talbot – ein Philosoph und Theologe, der auch an den Rollstuhl gefesselt ist und chronisch leidet – weiß, wovon er spricht. Er bietet tiefgründige, biblische Reflexionen, die den schwierigen Fragen nicht ausweichen oder versuchen, die manchmal überwältigende Realität von Schmerz und Verlust weg zu diskutieren. Wenn sich der Himmel verdunkelt ist ein Geschenk für jeden Christen, der nach etwas Ausschau hält, das ihm einen Grund zur Hoffnung gibt.

TIMOTHY LARSEN, McManis Professor für christliches Gedankengut, Wheaton College

Während meiner jahrzehntelangen Tetraplegie und chronischen Schmerzen war die Bibel für mich eine Quelle großen Trostes und Ermutigung. Und damit meine ich nicht nur die Psalmen oder Verse über Leid. Für mich sind es die Geschichten von gottesfürchtigen Männern und Frauen in der Bibel, die trotz unvorstellbaren Leids Mut und Ausdauer ausstrahlen. Durch ihr Vorbild habe ich gelernt, auf Gott zu vertrauen, auch wenn mich schmerzhafte Herausforderungen in die Tiefe zu ziehen drohen. Deshalb liebe ich dieses neue Buch: Wenn sich der Himmel verdunkelt. Mark Talbot gibt dem Leser eine bemerkenswerte Ausarbeitung über leidende Heilige an die Hand und darüber, wie ihre Fehler und Siege uns das Durchhalten lehren. Ich empfehle dieses herausragende Buch mit wahren biblischen Geschichten, die dein Herz inspirieren und erfrischen werden!

JONI EARECKSON TADA, Gründerin des Joni and Friends International Disability Center

Wenn sich der Himmel verdunkelt führt uns durch eine tiefgreifende, ernüchternde und kraftvolle Begegnung mit dem schweren Leid dreier entscheidender Figuren des Alten Testaments. Denjenigen, die leiden, bietet es neue Hoffnung, Trost und Einsicht, wie man solche Prüfungen verstehen und ertragen kann. Es lehrt biblisch fundiert und weise bezüglich der innewohnenden Gnade Gottes und den endgültigen Ausgang unserer Reise. Talbots einzigartige Kombination aus Weisheit, pastoraler Einsicht, biblischer Gewandtheit und philosophischem und theologischem Können, gepaart mit seiner langen persönlichen Leidenserfahrung, bilden die Grundlage für dieses einzigartige Werk.

STANTON L. JONES, emeritierter Rektor und emeritierter Professor für Psychologie, Wheaton College

Ich kann mir keine bessere Art und Weise vorstellen, mit den schwierigen Fragen zum Leid von Gläubigen umzugehen, als in die Worte und Geschichten der Bibel einzutauchen, und Talbot taucht in diesem ersten von vier Bänden tief. Er stellt die Realität persönlicher schmerzhafter Erfahrungen in den sicheren Kontext der Offenbarung Gottes, die nicht nur das Leid von Christen voll anerkennt, sondern letztendlich durch seinen Sohn auch die Hoffnung auf Gott neu entfacht.

KATHLEEN NIELSON, Autorin, Referentin, Senior Adviser, The Gospel Coalition

Mark Talbot schreibt aus der Tiefe seiner eigenen Erfahrung, einem gründlichen Verständnis der philosophischen Fragen rund um das Thema Theodizee und einem sorgfältigen Studium der Bibel. Er bietet hier eine hervorragende Hilfe für Menschen, die durch das Tal der tiefsten Finsternis gehen, und für diejenigen, die als Flügel des Herrn für die Bedrängten fungieren (Rut 2,12). Mit scharfer Einsicht, einem fesselnden literarischen Stil und einem tiefen Bekenntnis zur Autorität der Bibel präsentiert Talbot eine kraftvolle, praktische und seelsorgerliche Behandlung eines Themas, dem wir alle irgendwann im Leben begegnen.

DANIEL I. BLOCK, Gunther H. Knoedler Professor Emeritus für Altes Testament, Wheaton College

Angesichts abgrundtiefen Leids können Worte dem Ernst der Lage oft nicht gerecht werden, aber manchmal helfen sie uns, unseren Kummer zu überwinden und uns an dem Gott festzuhalten, der noch nicht offenbart hat, warum uns so tiefes Leid umgibt und uns widerfährt. In diesem tiefgründigen und ergreifenden Buch nimmt Talbot uns mit auf eine erschreckende Reise in die Tiefen des Leids, um sicherzustellen, dass wir total ehrlich damit umgehen, und um uns zu helfen damit wir verstehen, dass es um unsere Seelen geht, wenn wir uns an die Barmherzigkeit Gottes klammern. Dieses Buch ist nichts für schwache Nerven, aber eine Hilfe für jeden, dessen Leben leidgeprüft ist und der nicht aufgeben will.

RICHARD LINTS, Senior Distinguished Professor für Theologie, emeritierter Rektor, Gordon-Conwell Theological Seminary

Talbots einzigartige Mischung aus sorgfältiger wissenschaftlicher Arbeit und unverwechselbarem christlichen Glauben und Hoffnung zeigt sich in Wenn sich der Himmel verdunkelt, das als verlässlicher Ratgeber und Begleiter für alle dient, denen ein Unglück widerfahren ist. Durch Talbots getreue Bibelexegese und praktische theologische Anwendung ist dieses Buch ein Geschenk für die Kirche.

MARK A. YARHOUSE, Dr. Arthur P. Rech und Mrs. Jean May Rech Stiftungslehrstuhl für Psychologie, Wheaton College

Jeder, der gelitten hat, egal wie sehr, sollte dieses Buch lesen. Es hat mir geholfen. Wir werden daran erinnert, im Gebet ehrlich mit Gott darüber zu sprechen, wie wir über unser Leid denken, beispielsweise indem wir ihm Fragen stellen, wie es die leidenden Psalmisten tun. Dann aber ordnet Talbot unser Leid in die biblische Handlung von Schöpfung, Sündenfall, Erlösung und Neuschöpfung ein und erinnert uns daran, dass wir immer versuchen sollten zu verstehen, wie Gott unser Leid benutzt, um diese Handlung zu verwirklichen. Er erklärt, wie unser Leid uns hilft, unsere Beziehung zu Christus und seinem Leiden besser zu verstehen. Indem er immer wieder auf die Bibel zurückgreift, zeigt er uns wie Naemi, Hiob und Jeremia ihr Leid verarbeitet haben und darüber letztendlich zu Vertrauen und Hoffnung in Gott gekommen sind.

G. K. BEALE, J. Gresham Machen Professor für Neues Testament, Westminster Theological Seminary

Es gibt eine große Zahl Bücher, die sich mit dem Leid und dem Bösen auseinandersetzen, und sie sind sehr vielfältig, aber Talbot hat in seinen geplanten vier Bänden zu diesem Thema einige neue Ansätze gefunden. In diesem ersten Band vermeidet er philosophische und abstrakte Fragen und konzentriert sich stattdessen auf eine Handvoll Menschen der Bibel, die sehr unterschiedliches Leid erfahren haben: Naemi, Hiob, Jeremia und einige der Psalmisten. Indem Talbot uns durch ihre dunkelsten Stunden führt, und uns somit ihren Kummer deutlich macht, zeigt er gleichzeitig, dass Gott seinen leidenden Menschen inmitten ihres Leides oft Gnade schenkt, die ihr Leben verändert, anstatt das Leid einfach so schnell wie möglich zu beseitigen.

D. A. CARSON, Leitender Theologe, The Gospel Coalition

Für

Tory Houriet, Paul Winters und Buck McCabe

und für

Cindy

Altwerden mit der Geliebten aus Jugendtagen,

nur das bringt wahrhaft wachsenden Genuß

in immer neuen Bezügen und Umständen.

— Hans Walter Wolff,

Anthropologie des Alten Testaments, §19

An meine Leser

Dieses Buch begann mit meinen Überlegungen zu der schrecklichen Tragödie, mit der das erste Kapitel beginnt. Es ist das erste von vier Büchern, von denen jedes einen Teil der Antwort der Bibel auf die Fragen, „Warum gibt es überhaupt Leid?“, „Warum leiden Christen?“, „Warum leide ich?“ und „Warum gibt es so viel Leid?“ bietet. Jeder Christ kann mit Leid konfrontiert sein, von kleinen Kindern, die gerade erst begonnen haben, auf Christus zu vertrauen, bis zu älteren Menschen, die vielleicht schon ihr ganzes Leben lang unserem Herrn nachfolgen, von denen, die noch nicht eingeschult sind, bis zu denen, die einen Doktortitel haben.

Und jedem Christen kann das Leid Rätsel aufgeben. Deshalb ist es für einige von uns wichtig, diese Rätsel zu lösen, indem wir Bücher schreiben, die von fast allen Christen verstanden werden können.

Das ist es, was ich zu tun versuche. Ich möchte, dass diese Reihe von Büchern von jedem gelesen werden kann, der bereit ist, sorgfältig darüber nachzudenken, warum Christen leiden. Deshalb habe ich mich bemüht, klare und einfache Prosa zu schreiben und so weit wie möglich Formulierungen zu vermeiden, die jemanden davon abhalten könnten, weiterzulesen. Gleichzeitig habe ich aber auch nicht versucht, die Probleme, die unser Leid aufwirft, zu verharmlosen. Wichtige Dinge einfach auszudrücken ist keine leichte Aufgabe. Der Leserleitfaden am Ende des Buches kann dir helfen, dich diesem Buch und den drei Begleitbüchern auf sinnvolle Weise zu nähern.

Dieses Buch will dir helfen zu erkennen, dass dein Leid, so schrecklich es auch sein mag, nicht schlimmer ist als das Leid, das einige von Gottes Kindern bereits erfahren haben. Ihre Geschichten, wie sie in der Bibel zu finden sind, zeigen uns, dass wir mit unserem Leid nicht allein sind. Sie zeigen uns, dass selbst das schwerste Leid überstanden werden kann und dass auch wir, wie diese Menschen vor uns, aus diesen Leidenserfahrungen unbeschädigt in unserem Glauben und unserer Hoffnung auf Gott hervorkommen können.

Kapitel 1

Wenn sich der Himmel verdunkelt

Der Mensch, der von einer Frau geboren wird,

hat nur wenige Tage und diese sind voller Schwierigkeiten.

Hiob 14,1

In der Welt werdet ihr hart bedrängt.

Johannes 16,33*

Das Telefon klingelte an einem Sonntagmorgen gegen neun Uhr, als wir uns gerade für die Kirche fertig machten. Ich hörte, wie der Anrufbeantworter ansprang. Auf dem Weg zur Garage drückte ich auf die „Play“-Taste. Eine vertraute Stimme sagte: „Dr. Talbot, hier ist Graham. Sind Sie da?“a Nach ein paar Sekunden des Wartens hörte ich ihn sagen: „Hm“, und dann auflegen.

Es war September. Graham hatte im Mai seinen Abschluss am Wheaton College gemacht und war dann für ein Aufbaustudium in Philosophie nach Übersee gegangen. Er hatte Philosophie studiert, nachdem er im Herbst seines ersten Studienjahres einen meiner Einführungskurse belegt hatte. Wir hatten in diesem Jahr viel miteinander gesprochen. Ich war ermutigt durch die Tiefe seines christlichen Engagements, erheitert durch seinen lebendigen Humor und erfreut über seinen scharfen, aktiven Verstand.

Nach diesem Kurs hatten wir einige Jahre lang keinen Kontakt mehr. Dann traf ich ihn zufällig zu Beginn des letzten Semesters seines Abschlussjahres. Er sagte, er würde gerne mit mir reden. Beim Mittagessen beschrieb er die Depression, die ihn seit Jahren quälte. Er hatte Gott angefleht, sie von ihm zu nehmen. Aber nichts hatte sich geändert. Und daher war er jetzt müde, zutiefst deprimiert und unsicher. Wie konnte er sich sicher sein, dass der christliche Glaube wahr ist, wenn Gott seine verzweifelten Gebete nicht erhört hatte?

Wir verabredeten uns zu regelmäßigen Gesprächen. Er erzählte mir, dass er schon seit mehreren Jahren in Therapie war. Ich kannte andere chronisch depressive Studenten und wusste daher, wie tiefgreifend ihr Leiden sein konnte. Er war dankbar, als ich ihm anbot, mit seinen Eltern zu sprechen, was ich dann auch unverzüglich tat.

Wenn ich mit depressiven und suizidgefährdeten Studenten zu tun habe, bitte ich sie oft, mir zu versprechen, mich zu jeder Tages- und Nachtzeit anzurufen, wenn sie verzweifelt sind. Graham hatte es versprochen, aber an diesem Sonntagmorgen hatte er nicht verzweifelt geklungen. Nachdem ich seine Sprachnachricht abgehört hatte, dachte ich, dass er vielleicht vorübergehend wieder in den USA war und sich nur zum Mittagessen treffen wollte.

Am Montagnachmittag kam ich von einer Sitzung nach Hause und fand eine weitere Nachricht vor, diesmal von Grahams Vater. Sie hatten die Nachricht erhalten, dass Graham von einem Zug erfasst und getötet worden war. Ich rief sie an. Sie hatten versucht, die zuständigen Behörden zu erreichen, aber sie hatten noch nichts Näheres erfahren können. Ich behielt meine Befürchtungen für mich. Doch als ich am nächsten Tag nach Hause kam, hatte Grahams Vater eine weitere Nachricht hinterlassen: Es schien klar, dass Grahams Tod ein Selbstmord war.

Als ich die einzelnen Informationen zusammensetzte, wurde mir klar, dass Graham sein Versprechen gehalten hatte. Er hatte mich weniger als eine Stunde, bevor er sich vor den Zug warf, angerufen.

SCHRECKLICHES LEID

Tiefes Leid bedeutet, etwas zu erleben, das so tiefgreifend und erschütternd ist, dass es unser Bewusstsein beherrscht, uns zu überwältigen droht und uns oft dazu verleitet, die Hoffnung zu verlieren, dass unser Leben jemals wieder gut werden kann. Eine Katastrophe ist „ein außerordentlich schwerwiegendes Ereignis, das durch großen Verlust und anhaltende Not und Bedrängnis gekennzeichnet ist“1. Sowohl Unglücksfälle (wie der Verlust eines Kindes durch Selbstmord) als auch chronische Erkrankungen (wie die ständige Pflege eines schwer behinderten Kindes oder Grahams scheinbar unendlicher Kampf mit Depressionen) können tiefes Leid verursachen.

Grahams Tod war eine Katastrophe. Katastrophen beginnen, wie Erdbeben, mit einem tragischen Kern, von dem Wellen des Leids ausgehen. Für die Beobachter mag das Leben der Betroffenen bald wieder ganz normal erscheinen. Aber für die Betroffenen selbst kann es tiefe innere Bruchlinien geben, die einen gänzlich erschütterten Glauben beschreiben. Die damit verbundenen Umwälzungen können so massiv sein, dass es scheint, als könne das Leben nie wieder gut werden.

Diese Bruchlinien äußern sich oft in einer Reihe von hartnäckigen, unbeantworteten Fragen. Grahams Eltern stellen diese Fragen immer wieder:

Wie konnte Gott zulassen, dass unserem Sohn so etwas passiert? Wir wissen, dass Gott allmächtig ist und alles lenkt. Warum also hat er diesen Lauf der Dinge nicht geändert?

Als Christen haben wir immer geglaubt, dass Gott unser himmlischer Vater ist, der Glaubensgebete erhört. Wir beteten und glaubten, dass Gott Graham helfen würde, seine Depression zu überwinden, warum also half Gott ihm nicht?

Und warum hat Gott unseren Sohn überhaupt mit dieser Bürde belastet, zumal er als Allwissender immer wusste, dass sie Graham in den Tod treiben würde?

„Warum“, so fragen sie, „hat Gott es nicht so eingerichtet, dass wenigstens einer der drei Menschen, die Graham in seiner letzten Stunde anzurufen versuchte, ans Telefon ging und ihm vielleicht geholfen hätte, die Kraft zu finden, weiterzuleben?“

Dieses Buch entstand als Antwort auf diese Katastrophe. Wenn wir an der Seite leidender Gläubiger stehen, stellen wir uns unsere eigenen Fragen. In diesem Fall habe ich mich wiederholt gefragt: Hätte ich Graham mehr helfen können? Hätte ich etwas zu ihm sagen können, das sein Leben erträglicher gemacht hätte? Hätte ich ihm helfen können zu erkennen, dass Gott in seinen dunklen Zeiten bei ihm war, auch wenn er die Dunkelheit nicht von ihm genommen hat? Und wie kann ich jetzt seine Eltern trösten? Gibt es Möglichkeiten, ihnen zu helfen, ihre Trauer zu bewältigen, die sie völlig orientierungslos macht?

Eine solche Katastrophe offenbart, wie wenig die meisten von uns darüber nachgedacht haben, was wir unter solchen Umständen sagen oder tun sollten. Gibt es bei tiefem Leid Phasen, in denen unterschiedliche Reaktionen angebracht sind? Gibt es eine frühe Phase intensiver Trauer, in der wir nicht viel sagen sollten, und in der das Beste, was wir tun können, ist, zu beten, dass Gott seinen trauernden Kindern hilft, ihren Glauben zu bewahren? Ist es jemals angebracht, Trauernden zu sagen, was viele von uns durch ihr eigenes Leid gelernt haben, nämlich dass ein Tag kommen wird, an dem sie trotz ihres Unglücks wieder etwas Frieden empfinden werden? Sollten wir sie ermutigen zu glauben, dass sie eines Tages zufriedenstellende Antworten auf alle ihre Fragen erhalten werden? Und was sollen wir Menschen sagen, die nicht gläubig sind? Ist Gott in irgendeiner Weise gut zu ihnen in ihrem Leid?

DIESES TAL DER TRÄNEN

Auf diese Fragen werde ich im weiteren Verlauf eingehen. Aber unabhängig davon, wie sie beantwortet werden, müssen sich alle Christen mit dem möglichen Umfang und der möglichen Tiefe dessen, was wir vielleicht erleiden müssen, auseinandersetzen. Die Bibel ermuntert uns nicht zu der Annahme, dass unser Leben ohne Leid sein wird. Sie zeigt, dass die Kinder Gottes immer gelitten haben. Wir können tiefes, lebenszerstörendes Leid empfinden.

In der Bibel haben Eigennamen eine große Bedeutung. Und so ist es bezeichnend, dass sogar David, dessen Name „von Gott geliebt“2 bedeutet, rufen konnte:

Sei du mir auch in Zukunft gnädig, HERR! Noch bin ich in großer Bedrängnis,

sind meine Augen trüb vor Traurigkeit,

erschöpft bin ich an Leib und Seele.

Voller Kummer schwindet mein Leben dahin,

mit Stöhnen sehe ich zu, wie meine Jahre verrinnen.

[…] hat mir die Kraft genommen.

Meine Glieder sind wie gelähmt.

(Ps 31,10–11*)

Wie Hiob feststellte, ist das Leid ein fester Bestandteil des menschlichen Lebens (vergleiche Hiob 14,1), wenn auch in unterschiedlicher Form und Ausprägung. Grahams Eltern haben eine fast unvorstellbare Katastrophe erlitten, aber nicht jedes Leid bedeutet, dass wir so tiefe und erschütternde Verletzungen erfahren, dass sie unser Leben beherrschen, und selbst tiefes und zerstörerisches Leid muss nicht unbedingt unseren Glauben erschüttern. Doch wie Henri Blocher bemerkt, stellt uns das Leid oft vor ein Problem im ursprünglichen Sinne dieses Wortes – das heißt es stellt uns ein Hindernis in den Weg, „etwas, das uns die Sicht versperrt, weil es sich unseren … Bemühungen widersetzt, es zu verstehen“3. Wir sollten also nicht in Angst geraten oder erschrecken, wenn uns Leid sprachlos macht. Leid verwirrt uns oft, obwohl dies (wie wir in Kapitel 4 sehen werden) die Kinder Gottes nicht überraschen sollte.

Wer die Bücher Ruth und Hiob liest, weiß, dass Gottes Heilige im Alten Testament manchmal schwer gelitten haben, genauso wie Leser der Psalmen und Jeremias wissen, dass einige dauerhaft gelitten haben. Und trotz der gegenteiligen Behauptungen einiger christlicher Lehrer sollten wir nicht erwarten, dass es bei uns als Gottesvolk des Neuen Testaments anders sein wird.4 Denn wir sind Teil der Schöpfung, die der Vergänglichkeit unterworfen ist und die ihre Erlösung herbeisehnt (vergleiche Röm 8,18-25). Der Hebräerbrief sagt uns auch, dass Gott Leid dazu benutzen kann, uns zu unserem Besten zu erziehen (siehe Hebr 12,3-11).

Auch sind wir dazu berufen, um Christi willen zu leiden (vergleiche zum Beispiel 2.Tim 1,8 und 2,3 mit Phil 1,29). „Hier auf Erden“, sagte unser Herr zu seinen Jüngern in seiner Abschiedsrede im Johannesevangelium, „werdet ihr viele Prüfungen und Sorgen haben“ (Joh 16,33). Der Apostel Paulus eröffnete den zweiten Korintherbrief mit der Bemerkung, dass er und Timotheus reichlich an den Leiden Christi teilhatten (vergleiche 1,5). Ihr Leid war in der Tat so schrecklich gewesen, dass sie „am Leben verzweifelten“ und das Gefühl hatten, dass „das Todesurteil bereits über sie verhängt sei“ (1,8-9). Kein Wunder, dass Paulus erklärte: „Wenn die Hoffnung, die Christus uns gegeben hat, nicht über das Leben in der jetzigen Welt hinausreicht, sind wir bedauernswerter als alle anderen Menschen.“ (1.Kor 15,19*).

Wir Christen sollten uns also nicht wundern, wenn wir genauso viel oder sogar mehr leiden als Nichtchristen, da uns Leid ebenso ereilt wie alle anderen, allerdings werden wir insbesondere als Christen leiden.

Meine Geschichte

Als ich siebzehn war, stürzte ich von einer Seilschaukel wie aus einem Tarzanfilm etwa 15 Meter in die Tiefe, brach mir den Rücken und war von der Hüfte abwärts teilweise gelähmt. Ich verbrachte sechs Monate in Krankenhäusern. Anfangs hatte ich kein Gefühl in den Beinen, konnte sie nicht bewegen und hatte auch keine Kontrolle über Darm und Blase. Weil mir so übel war, dass ich nicht essen konnte, nahm ich 25 Kilo von 90 kg ab. Nachdem sich mein Rücken ein wenig stabilisiert hatte und ich meine Beine wieder einigermaßen bewegen konnte, versuchten die Ärzte, mir zu helfen, noch mehr zu erreichen, indem sie mich jeden Morgen zum Frühstück kriechen ließen. Zu dieser Zeit hatte ich einen verkalkten Blasenstein, der sich um den Blasenkatheter, der in den ersten Wochen notwendig gewesen war, gebildet hatte. Der Katheter wurde später zwar entfernt, aber der Stein blieb unentdeckt und verursachte heftige Blasenentzündungen, die mich inkontinent machten. So nässte ich jeden Morgen, wenn ich auf den Boden gelegt wurde, ein und da es sinnlos war, mich umzuziehen, war ich den ganzen Tag über durchnässt. Als ich das Krankenhaus verließ, nachdem der Stein endlich entdeckt und entfernt worden war, konnte ich meine Blase in den meisten Situationen unter Kontrolle halten und mit einem Stock unbeholfen gehen.

Ich bin jetzt in den Sechzigern, und die Folgen meines Sturzes werden immer schlimmer. Ich muss mich um Dinge sorgen, über die die meisten Menschen nicht einmal nachdenken. In den letzten zwei Jahrzehnten hatte ich manchmal Krämpfe in den Beinen, die mir den Schlaf raubten. Und in den letzten Jahren hat die Unfähigkeit, viel zu gehen, die Knochendichte in meinen Hüften so stark verringert, dass ich mir bei einem Sturz vor ein paar Jahren die linke Hüfte brach und nun an den Rollstuhl gebunden bin. Manche Komplikationen haben meine Reisetätigkeit eingeschränkt und andere haben mich manchmal sogar in Lebensgefahr gebracht.

Über fünfzig Jahren lang habe ich mir Gedanken darüber gemacht, welche Rolle Gott in meinem Leid spielt. Aber es war nicht in erster Linie meine Lähmung, die mich am meisten über menschliches Leid gelehrt hat. Diese Lektionen habe ich auf andere Weise gelernt. Wie Graham weiß auch ich, was es heißt, verzweifelt darum zu beten, dass Gott einige der leidvolleren Aspekte meines Lebens verändert. Ich habe Zeiten zutiefst verwirrender Ratlosigkeit erlebt, in denen ich Nacht für Nacht keinen Schlaf fand, weil ich absolut nicht verstehen konnte, wie Gott in seiner Güte irgendeine Rolle bei dem spielen konnte, was mir widerfuhr. Ich habe Verletzungen erlitten, die so tiefgreifend und verstörend waren, dass sie mein Bewusstsein beherrschten und sich anfühlten, als könnte ich den christlichen Glauben verlieren, der mir fast mein ganzes Leben lang Orientierung gegeben hat. Wie schon der leidende Psalmist habe auch ich mich wie eine kleine Eule allein in der Wüste gefühlt und das Gefühl gehabt, meine Tage vergingen wie Rauch, und mein Herz verkümmere wie verdorrtes Gras (vergleiche Ps 102,4-12).

Ich bin niemand, der sich über Narben Scherze erlaubt, weil er noch nie eine Wunde gefühlt hat.

Mein Ziel

Obwohl dieses Buch als Antwort auf eine bestimmte Katastrophe entstanden ist, ist es für alle Christen geschrieben, die durch Kummer, Sorgen, Krankheiten, Prüfungen, Verrat, Verfolgung und Bedrängnis, die wir selbst und andere erleiden, verwirrt oder erschüttert sind. Dabei ist es egal, ob das Leid akut und vielleicht katastrophal ist, ob es chronisch und möglicherweise überwältigend ist, oder einfach nur bedeutsam genug, sodass wir uns fragen, was das soll. Ich hoffe, das Buch wird einige der Hindernisse aus dem Weg räumen, die das Leid dem christlichen Glauben und der Hoffnung in den Weg legt. Ich möchte euch, meinen lieben Mitchristen, helfen, darauf zu vertrauen, dass unser Leid Teil von Gottes liebevoller Fürsorge für uns als sein Volk ist, und dass wir am Ende jedes Bisschen davon als ein unerbetenes Geschenk von ihm erkennen werden, egal wie schwierig oder verwirrend es jetzt auch sein mag. Ich werde dies anhand der Bibel zeigen, untermauert durch persönliche Erfahrungen. Wie Augustinus sagte: „Ich ernähre euch mit dem, was ich selbst zu mir nehme. … Ich gebe euch Nahrung aus der Speisekammer, von der auch ich lebe, nämlich aus den Vorratskammern des Herrn.“5

Die Geschichte eines Sturms, eines Schiffbruchs und einer giftigen Schlange

In der Apostelgeschichte berichtet Lukas über ein Ereignis im Leben des Apostels Paulus, das uns hilft, unsere eigenen Erfahrungen mit tiefem Leid zu verstehen.

Als Gott Paulus vom Verfolger der Kirche zum Prediger des Evangeliums berief, zeigte ihm der Herr, wie sehr er um seines Namens willen leiden würde (siehe Apg 9,10-16). Einen Teil dieses Leids erlebte Paulus während eines Sturms und eines Schiffbruchs auf dem Mittelmeer (vergleiche Apg 27-28). Zu dieser Zeit war er ein Gefangener, der nach Rom geführt wurde, um vor dem Kaiser zu erscheinen. Lukas begleitete ihn und berichtet, welche Bedrängnisse sie erlitten, bis hin zu dem Umstand, dass die Besatzung die Ladung und die Schiffsausrüstung über Bord werfen musste, und alle so besorgt waren, dass sie zwei Wochen lang nichts aßen. Schließlich lief das Schiff auf ein Riff auf und alle schwammen ans Ufer, nachdem der zuständige römische Zenturio seine Soldaten überredet hatte, Paulus und die anderen Gefangenen nicht zu töten, um ihre Flucht zu verhindern. Als wäre das alles nicht schon schlimm genug gewesen, wurde Paulus, als sie endlich an Land waren, auch noch von einer giftigen Schlange gebissen.

Wenn sich der Himmel verdunkelt

Die wichtigste Lektion dieser Geschichte für uns ist, dass Gott die Kontrolle über alles behält, selbst wenn die Beteiligten alle Hoffnung verlieren. Denn an einer Stelle dieser Geschichte bemerkt Lukas, dass „aber während mehrerer Tage weder Sonne noch Sterne sichtbar waren und ein heftiger Sturm anhielt, schwand endlich alle Hoffnung, dass wir gerettet werden könnten.“ (Apg 27,20**). In der Antike orientierten sich die Seefahrer an der Sonne und den Sternen. Als der Sturm also die Lichter des Himmels auslöschte, war die Lage für die Besatzung und die Passagiere in der Tat sehr ernst. Doch dann stand Paulus auf und sagte allen, sie sollten Mut fassen, denn Gott habe ihm in einem Traum versichert, dass er vor dem Kaiser erscheinen werde und in der Zwischenzeit auch für die Sicherheit aller sorgen werde.

Was Paulus und seinen Gefährten in diesem Sturm widerfuhr, als sich tagelang weder die Sonne noch die Sterne zeigten, kann als Metapher für das dienen, was uns oft widerfährt, wenn wir leiden.6 Wie ich in meinem zweiten Band ausführlicher erkläre, hat Gott uns als Geschöpfe erschaffen, die Dinge brauchen und wollen,die ständig auf der Jagd nach unterschiedlichen Gütern sind – Luft, Nahrung, Wasser, Unterkunft, Sicherheit, Gesundheit, Liebe und Glück. Das Streben nach diesen Gütern setzt voraus, dass wir so zu leben lernen, dass wir das auch bekommen, was wir wollen und brauchen. Eine bestimmte Richtung im Leben einzuschlagen, um unsere Wünsche und Bedürfnisse zu befriedigen, erfordert, dass wir uns orientieren können, so wie die Seeleute in der Apostelgeschichte die Sonne und die Sterne sehen mussten, um das Mittelmeer zu befahren.

Geschichten helfen uns, in unserem Leben Orientierung zu finden. Sie helfen uns, uns zurechtzufinden, indem sie uns irgendwo in einer Handlung platzieren, die einen Anfang, eine Mitte und ein Ende hat.b Zwei unterschiedliche Arten von Geschichten sind nötig, um unserem Leben seinen vollen Sinn zu geben: eine individuelle Geschichte und eine allgemeine. Die individuelle Geschichte handelt von der Bedeutung unseres persönlichen Lebens. Jeder von uns muss sich in einer Geschichte wiederfinden, die uns mit den Menschen, Orten und Dingen um uns herum verbindet, die beschreibt, woher wir kommen, wo wir uns befinden und wohin wir zu gehen glauben, sodass wir eine hoffnungsvolle Zukunft antizipieren können, in der wir bekommen, was wir wollen und brauchen.7 Die allgemeine Geschichte beantwortet die Frage nach dem Sinn des menschlichen Lebens. Sind wir zum Beispiel das Produkt blinder, bedeutungsloser kosmischer Kräfte, oder wurden wir von Gott geschaffen, um einen bestimmten Zweck zu erfüllen? Geht es im menschlichen Leben nur darum, Geld zu verdienen oder unser persönliches Glück zu suchen? Oder geht es darum, anderen zu dienen und Gott zu glauben und zu gehorchen? Metaphorisch gesehen sind diese beiden Arten von Geschichten jene Sterne, die uns den Weg weisen und uns helfen, die unbekannten Gewässer des Lebens zu durchqueren.

Leid stellt diese Geschichten oft in Frage und erschüttert unser Vertrauen. Selbst leichte Kopfschmerzen können dazu führen, dass ich einen kleinen Teil meiner persönlichen Geschichte anzweifle, in der ich davon ausgehe, in ein paar Stunden relativ schmerzfrei zu sein. Und tiefes Leid kann das Licht der Sterne, die uns leiten, völlig auslöschen, indem es uns an der allgemeinen Geschichte zweifeln lässt, die wir im Blick auf die Bedeutung des menschlichen Lebens übernommen haben. Grahams Eltern, zum Beispiel, haben Zweifel, ob Gott wirklich unser himmlischer Vater ist, der Gebete des Glaubens erhört. Wenn man die Orientierung so gänzlich verliert, verliert man auch die Hoffnung, sinnvoll und zufrieden weiterleben zu können.

Doch wie Lukas’ Bericht über das Leid von Paulus und seinen Schiffskameraden zeigt, sollten wir auch dann, wenn wir die Orientierung verlieren, nicht zu dem Schluss kommen, dass Gott sie auch verloren hätte. Die Stürme des Lebens unterliegen der Providenzc Gottes – das heißt, er sieht die Zukunft und sorgtim Voraus für die Bedürfnisse seines Volkes (vergleiche Ps 107,23-29; Jona 1,4; Mk 4,35-41). So wie er die Sonne und die Sterne ins Leben gerufen hat, um uns Licht zu spenden und uns zu leiten (vergleiche 1.Mose 1,14-19), so hat er uns biblische Geschichten wie die des Paulus gegeben, damit unser Glaube, unsere Hoffnung und unsere Liebe lebendig bleiben.

Paulus erlitt drei weitere Schiffbrüche, darunter einen, bei dem er eine Nacht und einen Tag auf dem offenen Meer trieb. Er wurde eingekerkert und wiederholt ausgepeitscht, geschlagen und auch gesteinigt. Er war in Gefahr, sowohl durch Flüsse und Räuber als auch durch Juden, Heiden und falsche Christen. Er erlebte viele kalte und schlaflose Nächte und Tage voll Hunger und Durst. Und darüber hinaus war er ständig in Sorge um alle Gemeinden.8 Aber gerade weil er in all diesen Leiden Gott und seine Treue kennengelernt hatte (vergleiche Röm 5,3-5 mit 2.Kor 1,3-7), konnte er zuversichtlich verkünden: „Wenn Gott für uns ist, wer kann gegen uns sein?“ Denn wie sollte er, „der seinen eigenen Sohn nicht verschont hat, sondern ihn für uns hingegeben hat, […] uns mit ihm nicht auch aus lauter Gnade alle Dinge schenken?“ (Röm 8,31-32). Dank dieser Überzeugungen konnte Paulus Gott glauben, als er ihm zusicherte, ihn und seine Schiffskameraden zu retten. Obwohl sich der Himmel verdunkelt hatte, behielt Paulus die Orientierung, indem er dem, was Gott ihm in diesem Traum gesagt hatte, glaubte.

Schon bevor Gott Paulus den bemerkenswerten Beweis seiner Providenz erbrachte und ihn und seine Schiffskameraden aus dem schrecklichen Sturm errettete, forderte Paulus seine Leser im Neuen Testament bereits auf, der guten Nachricht zu vertrauen, zu deren Verkündigung Gott ihn berufen hatte. Diese gute Nachricht ist die Geschichte des endgültigen Triumphs, den wir in Christus erfahren werden, des Triumphs, dass Gott uns in der Liebe Christi bewahrt und uns so letztlich von allem Bösen befreit. Paulus‘ Glaube an diese Geschichte hallt in dem Brief an die römischen Christen wider, den er kurz vor seiner Verhaftung und seiner gefährlichen Reise über das Mittelmeer schrieb. Er kommt in seiner Einstellung zum Leid zum Ausdruck:

Doch nicht nur darüber freuen wir uns; wir freuen uns auch über die Nöte, die wir jetzt durchmachen. Denn wir wissen, dass Not uns lehrt durchzuhalten, und wer gelernt hat durchzuhalten, ist bewährt, und bewährt zu sein festigt die Hoffnung. Und in unserer Hoffnung werden wir nicht enttäuscht. (Röm 5,3-5a*)

Er zeigt sich in seinem Vertrauen auf Gottes perfekte Providenz:

Eines aber wissen wir: Alles trägt zum Besten derer bei, die Gott lieben; sie sind ja in Übereinstimmung mit seinem Plan berufen. (Röm 8,28*)

Und er zeigt sich in seiner unerschütterlichen Zuversicht, dass nichts – absolut nichts! – Christen von der Liebe Gottes in Christus trennen kann: „Was kann uns da noch von Christus und seiner Liebe trennen? Not? Angst? Verfolgung? Hunger? Entbehrungen? Lebensgefahr? Das Schwert des Henkers?“ (Röm 8,35*). Nein! Ganz gewiss nicht! Denn „trotz alledem“, so Paulus, „haben wir einen überwältigenden Sieg durch Christus, der uns geliebt hat“ (8,36-37).

Natürlich klingen diese großen Erklärungen manchmal nicht glaubhaft. Manchmal sind wir so überwältigt von dem, was uns widerfahren ist, dass wir nicht verstehen können, wie Gott dadurch zu unserem Besten wirken kann. Wie kann dies, so fragen wir uns, aus der Hand eines liebenden Erlösers kommen? Manchmal, wie es bei Graham der Fall war und wie es jetzt bei seinen Eltern der Fall ist, scheint es, als sei unser Leid so schlimm, so katastrophal, dass wir uns nicht vorstellen können, wie es jemals Teil irgendeines „überwältigenden Sieges“ sein kann, der uns eines Tages durch Christus zuteilwerden wird. Manchmal droht unser Leid also tatsächlich unseren Glauben an die christliche Geschichte zu zerstören, die uns auf unserem irdischen Weg bis dahin geleitet hat. Manchmal werden die Sterne des Glaubens und der Hoffnung verdunkelt.

Vielleicht bist du in diesem Augenblick verwirrt über dein eigenes Leid oder das eines anderen. Vielleicht befindest du dich inmitten eines großen oder lang anhaltenden Sturms des Leids, der die Lichter des Himmels auszulöschen droht und dich dazu verleitet, alle Hoffnung zu verlieren, dass du jemals wieder Gutes erfahren wirst. Wenn das so ist, dann hoffe ich, dass die Botschaft dieses Buches eine ähnliche Rolle spielen wird wie die des Apostels Paulus, als er mitten im Sturm bei seinen verzweifelten Gefährten stand und ihnen sagte, dass Gott ihm versprochen habe, dass er sie retten würde. Paulus verkündete eine Botschaft der Hoffnung inmitten der Hoffnungslosigkeit. Er wusste, dass Gott nie die Orientierung verliert, egal wie schlimm die Dinge auch scheinen mögen, und dass Gott nichts versprechen würde, was er nicht halten kann. Und Gott tat, was er vorhergesagt hatte, denn er hat alle Stürme des Lebens souverän im Griff. Er kann – und wird letztlich – seine Kinder auch durch die schlimmsten Stürme sicher hindurchführen. Wir haben sein Wort, dass wir, wenn (ob in diesem oder im nächsten Leben) die Stürme endlich nachlassen und der Himmel sich aufklart, nach oben blicken und wieder die Sonne, den Mond und die Sterne sehen werden und dann erkennen, dass unser liebender himmlischer Vater uns auf unserem ganzen Weg begleitet hat.

a Ich habe den Namen meines Schülers und einige Details seiner Geschichte geändert, um die Privatsphäre der Eltern zu schützen.

b Weitere Informationen über den Stellenwert von Geschichten in unserem Leben findest du in Kapitel 4, insbesondere S. 75-78.

c Anmerkung des Übersetzers: Der lateinische Ursprung, der die Grundlage für den von uns verwendeten Begriff Providenz und auch den englischen Begriff providence bildet, deckt ein sehr umfangreiches Feld ab: Dieses reicht von etwas vor sich, weiter entfernt, zu sehen, über voraussehen, bis hin zu Vorsorge treffen, Vorkehrungen treffen und Dinge im Voraus beschaffen. Dies ist der Hauptgrund warum wir auf diesen alten deutschen Begriff zurückgreifen (was übrigens durch Talbots Ausführungen bestätigt wird, der hier speziell durch kursive Schreibweise den Aspekt des Vorsorgens betonen möchte).

Kapitel 2

Leidende Heilige

Gottes Kinder müssen manchmal schrecklich leiden

So gingen die beiden, bis sie nach Bethlehem kamen.

Und es geschah, als sie in Bethlehem ankamen,

da geriet die ganze Stadt in Bewegung ihretwegen,

und man fragte: Ist das die Naemi?

Sie aber sprach: Nennt mich nicht Naemi,

sondern nennt mich Mara;

denn der Allmächtige hat es mir sehr bitter gemacht!

Voll zog ich aus, aber leer hat mich der HERR wieder heimgebracht.

Warum nennt ihr mich denn Naemi,

da doch der HERR mich gedemütigt

und der Allmächtige mich betrübt hat?

Ruth 1,19-21**

Danach tat Hiob seinen Mund auf und verfluchte den Tag seiner Geburt.

Und Hiob begann und sprach:

O wäre doch der Tag ausgelöscht, da ich geboren wurde,

und die Nacht, die sprach: Ein Knabe ist gezeugt!

Hätten sich doch die Sterne ihrer [Morgen]dämmerung verfinstert,

hätte sie doch auf Licht gehofft, ohne dass es erschienen wäre;

hätte sie doch die Strahlen der Morgenröte nicht geschaut!

Doch sie verschloss mir nicht die Pforte des Mutterleibes

und verbarg nicht den Jammer vor meinen Augen.

Hiob 3,1-3.9-10**

HERR, du hast mich überredet, und ich habe mich überreden lassen;

du bist mir zu stark geworden und hast mich überwunden!

So bin ich zum täglichen Gelächter geworden;

jedermann spottet über mich!

Verflucht sei der Tag, an dem ich geboren wurde;

der Tag, an dem mich meine Mutter zur Welt gebracht hat,

sei nicht gesegnet!

Verflucht sei der Mann,

der meinem Vater die frohe Botschaft gebracht hat:

„Dir ist ein Knabe geboren!“, […].

Warum bin ich doch aus dem Mutterschoß hervorgegangen,

um Mühsal und Kummer zu sehen,

und damit meine Tage in Schande vergehen?

Jeremia 20,7.14-15.18**

Einer der schlimmsten Aspekte des Leids ist, dass es uns zu isolieren droht. Wenn große Stürme des Leids über uns hereinbrechen, kann das Gefühl der Einsamkeit überwältigend werden. Wenn die Wolken den Himmel langsam verdunkeln, verlieren wir vielleicht alles außer unserem Leid aus den Augen, das sich immer höher auftürmt. Es ist nicht ungewöhnlich, in tiefem Leid das Gefühl zu haben, dass niemand sonst je so sehr gelitten hat.

Leid sollte Christen dazu veranlassen, sich der Bibel zuzuwenden, doch das wird nicht geschehen, wenn wir das Gefühl haben, dass sie nicht viel zu dem zu sagen hat, was wir gerade erleben.9 Ein aufmerksames Lesen der Bibel zeigt jedoch, dass, ganz gleich wie schlimm unser Leid auch ist, einige Heilige Gottes ebenso gelitten haben. Die Meere des Leids sind nicht unbefahren. In diesem Kapitel wird beschrieben, wie drei Heilige des Alten Testaments in die Tiefen der Verzweiflung stürzten. Es endet mit Jeremia, der über sein schreckliches Leid so in Verzweiflung verfiel, dass er Gott anklagte und das Leben verfluchte. Wenn du die letzten Zeilen dieses Kapitels liest, möchtest du vielleicht gar nicht erst umblättern, um das nächste Kapitel zu beginnen. Doch genau das ist es, was wir brauchen: Wir müssen spüren, wie die Bibel die Tiefen menschlichen Leids, die einen am Leben verzweifeln lassen, auslotet.

Dies mag zunächst entmutigend erscheinen. Geteiltes Leid ist halbes Leid, aber bloßes Teilen von Leid ist nicht genug. Wir brauchen mehr, als nur zu wissen, dass auch andere gelitten haben. Wir müssen wissen, wie wir unseren Glauben und unsere Hoffnung auch inmitten unseres Leids bewahren können. Und wir brauchen die Gewissheit, dass Gott uns hindurch tragen wird. Also: umblättern und weiterlesen! Kapitel 3 bietet Leidenden einige „Atemübungen“ aus den Psalmen. Und dann wird Kapitel 4 die Geschichten dieser drei Heiligen aus dem Alten Testament vervollständigen, um zu zeigen, wie Gott sie befreit hat.

Das Erzählen dieser Geschichten macht deutlich, dass Leid nahezu von Anfang an den Kern der biblischen Perspektive bildete. Es hat Gott nie überrascht, und so sollte es auch uns nicht überraschen.

Ruths Geschichte: Naemi war durch Trauer nicht wiederzuerkennen

Die im ersten Kapitel des Buches Ruth geschilderten Ereignisse stellen eindeutig ein persönliches Unglück dar. Wegen einer Hungersnot in Juda nahm Elimelech seine Frau Naemi und ihre beiden Söhne mit nach Moab, wo er starb und die Söhne sich moabitische Frauen nahmen. Naemis Söhne starben, noch bevor sie Kinder hatten, und so blieb sie als kinderlose Witwe in einem fremden Land zurück. In der Antike war dies eine gefährliche Situation. Und tatsächlich brachte Naemi ihre Hoffnungslosigkeit zum Ausdruck, indem sie versuchte, ihre Schwiegertöchter davon abzuhalten, mit ihr nach Bethlehem zurückzukehren (vergleiche 1,8-13).

Wie bei Gottes alttestamentlichem Volk üblich, sah Naemi ihr Leid als von Gott bestimmt an, was sie mit den Worten ausdrückte, dass „des Herrn Hand“ sie „getroffen“ habe, dass der Herr sie „leer nach Bethlehem zurückgebracht“ habe, dass der Herr gegen sie „ausgesagt“ habe und dass „der Allmächtige dieses Leid“ über sie gebracht habe (vergleiche Verse 13.21). Diese Ausdrücke – insbesondere die letzten beiden – deuten darauf hin, dass sie auch glaubte, Gott bestrafe sie für irgendeine Sünde.10 Je nachdem, wie wir das Hebräische auslegen, könnte das überraschte „Ist das Naemi?“ der Frauen von Bethlehem bei ihrer Ankunft zu Hause darauf hindeuten, dass Naemis Elend so schwer auf ihr lastete, dass sie kaum wiederzuerkennen war (1,19). Angesichts der Bedeutung von Personennamen im antiken Nahen Osten zeigt Naemis Antwort – „Nennt mich nicht Naemi“ (was liebenswert bedeutet), sondern „nennt mich Mara“ (was bitter bedeutet), „denn der Allmächtige hat mich sehr bitter behandelt“ (1,20) –, dass sie spürte, dass Bitterkeit den Rest ihres Lebens prägen würde. Für die gesamte Zeitspanne, die das erste Kapitel des Buches Ruth umfasst, verliert die Frau, deren Name „angenehm“ bedeutet, alle Hoffnung, dass ihr Leben jemals wieder angenehm sein könnte.

Über die seelische Verfassung Naemis, als sie um eine Namensänderung bat, können wir nicht viel sagen. Doch trotz der Rolle, die Gott ihrer Meinung nach in ihrem Leid spielte, hat sie wahrscheinlich nicht an seiner Güte gezweifelt noch sich dem Ungehorsam zugewandt.11 Wenn das der Fall war, dann zeigt ihr Leben, dass selbst tiefes Leid nicht zwangsläufig den Glauben eines Gläubigen untergräbt oder zu Rebellion führt.

Hiobs Geschichte: Sein Todeswunsch

Manchmal erschüttert Leid einen Gläubigen noch viel mehr. Hiobs Leid veranlasste ihn zum Beispiel, sowohl die Nacht seiner Empfängnis als auch den Tag seiner Geburt zu verfluchen (vergleiche Hiob 3,1-3). Er fragte Gott, warum er ihn überhaupt aus dem Mutterleib geholt habe, und erklärte, es wäre besser gewesen, er hätte nie existiert (vergleiche 10,18-19). Wir neigen dazu, solche Behauptungen aufzustellen, wenn das, was uns widerfährt, so schlimm erscheint, dass wir meinen, es gebe keine Hoffnung mehr, dass unser Leben jemals wieder gut werden könnte.12 Und tatsächlich erklärte Hiob an einer Stelle, er werde „nie wieder Glück sehen“ (7,7).

Es ist wichtig, diese Worte im Zusammenhang zu lesen: Gott selbst hielt Hiob trotz seiner Unvollkommenheit für „untadelig und rechtschaffen“ (1,8; 2,3). Er hatte Hiob mit unermesslichem Reichtum und zehn Kindern gesegnet.d Doch an einem Tag verlor Hiob seinen Reichtum und seine Kinder (vergleiche 1,13-19). Diese schreckliche Wendung der Ereignisse stürzte ihn anfangs in tiefe, aber auch anbetende Trauer: „Nackt bin ich aus dem Leib meiner Mutter gekommen; nackt werde ich wieder dahingehen. Der HERR hat gegeben, der HERR hat genommen; der Name des HERRN sei gelobt!“ (1,21**). Doch dann erkrankte er an einer unerträglich schmerzhaften und entstellenden Krankheit, die ihn „von der Fußsohle bis zum Scheitel“ (2,7) mit abscheulichen Wunden bedeckte. Er wurde so abstoßend, dass seine Frau ihm riet, Gott zu verfluchen und zu sterben (vergleiche 2,9).13 Tatsächlich war er so sehr entstellt, dass ihn die Freunde, die kamen, um ihn zu trösten, nicht sofort erkannten (vergleiche 2,12). Und als sie schließlich anfingen, mit ihm zu sprechen, verschlimmerten sie sein Leid noch, durch die Annahme, dass es der Beweis dafür sei, dass Gott ihn für seine Sünde straft.

In dieser schrecklichen Situation kam Hiob schnell an den Punkt, an dem er nur noch sterben wollte:

Warum wird denen, die im Elend sitzen, Licht gegeben

und denen, die verbittert sind, Leben;

die sich nach dem Tod sehnen, doch er kommt nicht,

und die nach ihm mehr graben, als nach verborgenen Schätzen;

die jubeln würden

und sich freuen, wenn sie endlich im Grab wären?

Warum wird dem Mann, dessen Weg verborgen ist, Licht geschenkt,

wenn ihn Gott ringsum eingeschlossen hat?

Denn mein Seufzen tritt an die Stelle des Brotes,

und mein Stöhnen wird wie Wasser ausgegossen. […]

Ich habe keine Entspannung und kann nicht ruhen,

es gibt keine Ruhe für mich, nur Leid.

(3,20-24.26)

Als seine Freunde anfingen, mit ihm zu sprechen, nahmen sie an, sein Leid beweise, dass Gott ihn bestraft. Das machte es ihm schwer, seine Gefühle auszudrücken. Er erklärte, wenn sein Unglück gewogen werden könne, dann würde es mehr wiegen als der Sand am Meer (vergleiche 6,2-3). Er sagte, dass Gottes Pfeile in ihm steckten und seinen Geist vergifteten, und dass alle Schrecken Gottes gegen ihn gerichtet seien (vergleiche 6,4). Deshalb betete er, Gott möge ihn einfach töten (vergleiche 6,8-9). Jeder Augenblick des menschlichen Daseins begann schwer und hoffnungslos zu werden, besonders die schlaflosen und angsterfüllten Nächte:

Hat der Mensch nicht ein schweres Leben auf Erden,

und sind seine Tage nicht wie die Tage eines Tagelöhners?

Wie ein Sklave, der sich nach dem Schatten sehnt,

und wie ein Tagelöhner, der auf seinen Lohn wartet,

so wurden mir Monate voller Leere beschert

und Nächte voller Leid wurden mir zugeteilt.

Sobald ich mich niederlege, sage ich: Wann werde ich aufstehen?

Doch die Nacht ist lang und ich wälze mich auf meinem Bett bis zur Morgendämmerung …

Wenn ich sage: „Mein Bett wird mich trösten,

mein Lager wird meine Beschwerden erleichtern“,

dann schickst du mir Albträume

und machst mir mit Visionen Angst.

(7,1-4.13-14)

Deshalb, so erklärte er, ziehe er es vor, erwürgt und getötet zu werden (vergleiche 7,15). Die Tatsache, dass ihm Gott keine Verschnaufpause gönnte, erfüllte Hiob mit solcher Bitterkeit, dass er sein Leben verabscheute (vergleiche 9,13-21). Es hatte den Anschein, als sei ihm jeder Trost, einschließlich des Todes, verwehrt worden.

Wie Naemi hielt Hiob die Freuden und Sorgen des Lebens für gottgegeben und glaubte daher, dass Gott für sein Leid verantwortlich sei (vergleiche 1,21; 2,10). Doch von diesen Wahrheiten war es nur ein kleiner Fehltritt hin zu der Schlussfolgerung, Gott sei nicht gut zu ihm. Er scheint diesen Schritt irgendwann im ersten Zyklus des Austauschs mit seinen Freunden gemacht zu haben, wahrscheinlich als er begann, Gott in der zweiten Person anzusprechen:

Bin ich denn das Meer oder ein Seeungeheuer,

dass du eine Wache gegen mich aufstellst? …

Ich habe Angst vor dem Leben! Ich will nicht ewig leben;

lass mich in Ruhe, denn meine Tage sind ein Hauch!

Was ist der Mensch, dass du dich so mit ihm beschäftigst,

dein Herz auf ihn ausrichtest,

ihn jeden Morgen aufsuchst

und ihn ständig prüfst?

Wann wirst du endlich deinen Blick von mir abwenden

und mich in Ruhe lassen, damit ich meinen Speichel

herunterschlucken kann?

Wenn ich sündige, was tue ich dir an, der du die Menschen

beobachtest?

Warum bin ich dein Ziel geworden?

Wie bin ich dir zur Last geworden?

Warum vergibst du mir meine Übertretung nicht

und vergibst mir meine Schuld nicht?

(7,12.16-21; vergleiche 10,1-22)

Zumindest scheint Hiob das Gefühl zu haben, dass Gott zu streng mit ihm war.

Episoden aus der Lebensgeschichte Jeremias: Sein Angriff auf Gott

Aber es geht noch schlimmer. Hiob scheint zwar das Gefühl gehabt zu haben, dass Gott zu streng mit ihm war, aber er scheint nie an Gottes Gerechtigkeit gezweifelt zu haben.

So bitter er auch klagte, so scheint er doch geglaubt zu haben, dass er, wenn er vor Gott erscheinen könnte, fair behandelt werden würde (vergleiche Hiob 23,1-10).14 Die Umstände, unter denen Jeremia litt, veranlassten diesen jedoch dazu, Gottes Charakter zu verleumden und, zumindest vorübergehend, seinen Glauben über Bord zu werfen und seine Berufung aufzugeben.

Seine Geschichte zu erzählen, braucht Zeit, aber die Lektionen, die wir daraus lernen, sind es wert.

Jeremias Leben

Jeremias Leid war viel schlimmer als das von Naemi oder Hiob. Ihr Leid war nur ein Teil eines ansonsten angenehmen Lebens. Sein Leid war praktisch die einzige Realität, die er kannte. Gott hatte Jeremia schon vor seiner Geburt zum Propheten ausersehen und ihm dann, als er noch ein Teenager war, eine Botschaft gegeben, die allem entgegenstand, was seine Landsleute hören wollten (vergleiche Jer 1,5-10.13-19). Gott befahl ihm auch, sich von seinem Volk abzusondern, verbot ihm zu heiraten (vergleiche 16,1-2)15 und verbot ihm, mit seinen Landsleuten zu trauern oder ihnen irgendein Mitgefühl zu zeigen (vergleiche 16,5). Er sollte nicht für sie beten (vergleiche 7,16; 11,14; 14,11) oder mit ihnen feiern, essen oder trinken (vergleiche 16,8). Stattdessen saß er allein, von Gott mit Empörung über ihre Sünden erfüllt (vergleiche 15,17), denn sein Leben und seine Worte sollten jene trostlose Unfruchtbarkeit im Voraus erahnen lassen, die Gott über sein abtrünniges Volk bringen würde.

Wie nicht anders zu erwarten war, reagierten Jeremias Landsleute mit Feindseligkeit, Spott, Ausgrenzung, Drohungen, Intrigen und Verfolgung. In seinem ganzen Buch halfen ihm nur vier Menschen. Alle anderen verspotteten ihn und machten sich ständig über ihn lustig (vergleiche 20,7). In der Tat wurde er „zum Gespött der Leute“, weil er nicht damit aufhören konnte, seine Botschaft vom drohenden Unheil zu verkünden, selbst als Gott deren Erfüllung hinauszögerte (17,15-16 mit 20,8). In seinen eigenen Worten: „Ich werde überall gehasst, wo ich hingehe“ (15,10). Darüber hinaus bedrohten ihn die Leute in seinem Heimatdorf, einschließlich seiner Brüder (vergleiche 12,6), und schmiedeten heimlich Pläne, ihn zu töten (vergleiche 11,18-19.21; 18,18.22-23). Zu einem Zeitpunkt, als die Last seiner Mission ihn besonders niederdrückte, flehte er zu Gott: „Herr, mach mir keine Angst!“ (17,17).

Jeremias Fluch

Diese Ereignisse sind in Jeremias „Bekenntnissen“ nachzulesen – einer Reihe von Klageliedern, in denen er sich bei Gott beklagte, ihn anflehte und manchmal sogar versuchte, ihn anzuklagen, wenn er seine Verwirrung, seinen Zorn, seine Bitterkeit und seine Qual über die Erfüllung seiner prophetischen Berufung zum Ausdruck brachte.16 Seine Verzweiflung und Sorge wuchsen, bis sie in der Glaubenskrise gipfelten, von der in Jeremia 20 berichtet wird: Nachdem er eine seiner drastischsten Katastrophenprognosen für die Könige und das Volk von Juda und Jerusalem verkündet hatte, griff ihn der Priester Paschur an und ließ ihn foltern. Danach beklagte Jeremia, dass Gott ihn zum Urteilsverkünder berufen hatte:

Verflucht sei der Tag,

an dem ich geboren wurde!

Der Tag, an dem mich meine Mutter zur Welt brachte,

er sei nicht gesegnet!

Verflucht sei der Mann, der meinem Vater die Botschaft brachte:

„Dir wurde ein Sohn geboren!“ …

Dieser Mann sei wie die Städte,

die der HERR ohne Erbarmen vernichtete;

am Morgen soll er Wehklagen hören

und Kriegsgeschrei zu Mittag,

weil er mich nicht im Mutterleib tötete,

sodass meine Mutter mein Grab gewesen wäre

und sie für immer schwanger geblieben wäre!

Warum bin ich nur aus dem Mutterleib herausgekommen

um Mühsal und Kummer zu sehen,

und meine Tage in Schande zu verbringen?

(20,14-18)

Diese Flüche sind schlimmer als die Hiobs, denn Jeremia wusste, dass Gott ihn schon vor seiner Geburt zum Propheten berufen hatte.

---ENDE DER LESEPROBE---