Wenn Sie einen Moment Zeit haben - Christian Knull - E-Book

Wenn Sie einen Moment Zeit haben E-Book

Christian Knull

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Beschreibung

Ein Irokese an der Ahr, eine randvolle Tasse Globuli und eine am falschen Tag eingetragene Beerdigung. So beginnen die Geschichten der Anni Kredelbach. Es sind kleine Dramen des Alltags, die die alte Dame mit Witz und überraschenden Ideen meistert. "Wenn Sie einen Moment Zeit haben" enthält 24 Geschichten aus dem Leben von Frau Kredelbach.

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INHALT

Zwei Anarchisten

Die Vier aus Düren

Der Irokese von der Ahr

Lilien wecken Tote auf

Eine Tasse Globuli

Die Aprikosendiät

Das Leben hat Streifen

Knoten in den Schuhen

Rezepte zum Advent

Wenn Sie einen Moment Zeit haben

Weiß man, ob die Augen haben?

Bin ich ein schlechter Mensch?

Frau Wilden und Herr Pollock

Eine ganz andere Liga

Ich koche mit Kompost

Trägt er eine Fliege?

Nur Schäfchen gezählt

Na, Schätzchen?

Einmal Melaten

Altes Eisen

Beim Mählwurms Pitter

Wegen dem Reim

Die Dodden

Danke, Frau Kredelbach

Zwei Anarchisten

Mit Frau Kredelbach kann man über Oberländer diskutieren. Das geht nicht mit jedem. Nicht jeder ist an Brot interessiert. Frau Kredelbach schon. Sie ist sehr an Brot interessiert. An anderen Dingen auch. Ich habe von Jean Anthelme Brillat-Savarin erzählt.

Ist das ein Franzos?

Ja, sage ich, ein Franzose, nach dem ein Käse benannt wurde. Das ist in Frankreich eine hohe Auszeichnung. Sie gilt mehr als ein Orden, und das sagt viel, denn die Franzosen wissen Orden zu schätzen.

Bin nicht so ein Käsefreund.

Orden?

Mm.

Aber Plätzchen essen Sie gerne, sage ich.

Ja, Plätzchen.

Und Sie kochen gut. Wenn ich an die Suppe aus Petersilienwurzel denke.

Pastinaken, sagte Frau Kredelbach.

Wir tranken gleich zu Beginn einen Obstler, und Frau Kredelbach sagte, so einen kalten November haben wir schon lange nicht mehr gehabt, und jetzt, nach dem Apfelkuchen, glimmt in ihren Augen ein verwegenes Leuchten. Auf dem Tisch steht ein Teller Zimtkipferl, greifen Sie zu, ist mit gemahlenen Haselnüssen gemacht, sagt sie, und wir reden über Kipferl und Plätzchen und Pastinaken und sind uns einig, dass gutes Essen das Leben bereichert. Und dann erzähle ich ihr, was Brillat-Savarin geschrieben hat. Sage mir, was du isst, und ich sage dir, wer du bist.

Da hat er recht, sagt Frau Kredelbach, der Franzos. Beim Brot achte ich darauf, dass es saftig ist, ich nehme gerne was mit Dinkel oder Khorosan. Kennen Sie? Ich probiere manchmal was Neues. Sie auch? Gibt interessante Getreidesorten, ich weiß gar nicht, wie die alle heißen. Emmer habe ich mir gemerkt, weil das nach Käse klingt. Ein bisschen nussig, säuerlich, das mag ich, aber ich esse ja nicht viel.

Und dann sagt Frau Kredelbach, Oberländer ist langweilig, und ich sage, stimmt und sage, Ihre Fenster sind nicht dicht, man spürt den Wind, es drückt kalte Luft rein, und Frau Kredelbach zieht die Schultern unter ihrer Schürze hoch und sagt, einen dürfen wir noch, oder?

Sie besitzt winzige Schnapsgläser, kaum größer als Fingerhüte, und ich hole den Apfelschnaps aus dem Küchenschrank und gieße uns noch zwei Obstler ein.

Prost, sagt sie, wie der Schabau wärmt, merken Sie auch, oder?

Tut gut, sage ich.

Schneiden Sie Ihr Brot selbst?

Ich sehe ihr an, dass sie ein bisschen erschrocken über ihre Frage ist, aber dann entdecke ich in ihren Augenwinkeln den Schalk, mit dem sie mich so gerne überrascht, und sie sagt, wissen Sie, was ich meine?

Ob ich ein ganzes Brot kaufe?

Ich nehme es immer am Stück, sagt sie und schneide selbst. Aber jetzt, wo die Gelenke steif werden, säbele ich mir krumme Scheiben ab.

Ich kauf das Brot auch am Stück, sage ich, aber warum lassen Sie es sich nicht schneiden?

Frau Kredelbach musterte mich.

Wie die Frau Wilden?

Ihre Empörung ist nicht zu überhören.

Frau Wilden aus der ersten Etage ist das Metronom des Hauses. Sie hat die Woche in ein Korsett geschnürt, und in diesem Rhythmus arbeitet sie die Tage ab. Wir brauchen keinen Kalender, wir hören, welchen Wochentag wir haben. Montags streift Frau Wilden sich gelbe Gummihandschuhe über und putzt Fenster, im Radio läuft Schlagermusik. Jeden dritten Dienstag lässt sie für ihre hochtoupierten Haare beim Friseur frischen Beton anrühren, mittwochs stürmt sie mit Handtasche und Schirm aus dem Haus, um die Straßenbahn zum Südfriedhof zu nehmen, wo ihr Mann begraben ist. Und jeden Donnerstag desinfiziert sie mit einer Sprühflasche Sakrotan das Bad (wäje dä Bakterie) und saugt den taubenblauen Velourteppich im Wohnzimmer. Sie saugt ihn in Längsrichtung. Frau Kredelbach sagt in Ost-West-Richtung, sie sagt es genüsslich und bezeichnet damit Frau Wildens Methode, ihren hochflorigen Teppichboden in ein gleichmäßiges Licht zu setzen, denn im üblichen Vor und Zurück gesaugt, würde der Boden farblich changieren, was dem Auge von Frau Wilden ein Graus ist. Also saugt sie eine Bahn, wir hören die Geräusche im Haus, stellt den Staubsauger aus und trippelt mit dem Gerät unter dem Arm am Zimmerrand, weil sie die Fasern durch ihre Fußabdrücke nicht aufrauen will, zurück in den Osten, wo sie den Staubsauger erneut aufheulen lässt, dann folgt die nächste Bahn. Abends ist sie so erschöpft, dass sie früher ins Bett geht, und freitags kauft Frau Wilden ein. Könnte ich auch samstags machen, sagt sie, aber da kommen mir die Rentner in die Quere, dauert mir zu lang.

Manchmal begegne ich ihr beim Bäcker. Frau Wilden verlangt Oberländer, nie etwas anderes als Oberländer, weil das angeblich nicht krümelt, weiß Frau Kredelbach, und sagt, bitte schneiden.

Nein, mach ich nicht, protestiert Frau Kredelbach.

Sie findet meinen Vorschlag, sich das Brot in der Bäckerei schneiden zu lassen, nicht gut.

Ich lasse mir das Brot nicht schneiden. Wird ja trocken. Dann lieber unegale Scheiben. Finde ich sogar gut. Manchmal ist mir nach einer dünnen Scheibe, geschieht alle paar Tage, manchmal ist es mir egal, und dann habe ich Lust auf eine dicke, das Leben ist ja auch nicht jeden Tag gleich.

Sie schaut mich an.

Da haben Sie recht, sage ich.

Ja, ne?

Ja.

Aber Oberländer ist langweilig.

Prost, sage ich.

Sie hebt das Glas.

Ich hebe mein Glas.

Das Einverständnis zweier Anarchisten.

Mein Karl konnte kein Brot schneiden, erzählt Frau Kredelbach, damals, und lehnt sich zurück. Er fing immer großzügig an, ziemlich breit, zack das Messer in den Laib, und wenn er unten angekommen war, mit dem Brotmesser auf dem Brettchen, war die Scheibe dünn. Oben dick, unten dünn.

Frau Kredelbach fährt mit ihrer Hand durch die Luft.

Dönn wie en Breefmark, sagt sie. Bovve deck. Ene Keil. Konnten Sie unter die Tür legen, blieb die auf. Habe ich nicht gemacht, sagt sie schnell, der Karl war schon beleidigt, wenn ich die Scheibe nur angeguckt habe. Hat gesagt, das Messer wäre nicht gut. War aber nicht das Messer. Mögen Sie noch ein Plätzchen? Was anderes? Fing immer zu dick an, mein Karl, der war so. Meine Erfahrung ist, mer kann de Minsche donoh beordeile, wie se ehr Bruud schnigge.

Bitte?

Man kann die Menschen danach beurteilen, wie sie ihr Brot schneiden. Das könnten Sie Ihrem Franzosen sagen, dem Brillat-Sowieso.

Der ist schon tot.

Der lebt nicht mehr? Aber der hat die Menschen nach dem Essen beurteilt?

Ja.

Der kannte bestimmt Leute, die gönnen können. Leute, die gönnen können, schneiden dicke Remmel. Aus den Kanten können Sie drei Scheiben machen. Oder die Kniesbüggel, wo man nicht satt wird. Es gibt auch die, die das Brot von links und von rechts anschneiden, an beiden Enden, furchtbar, oder die Träumer, die sich in den Finger schneiden, und die Gewissenhaften. Kannte der bestimmt alle. Und schon mustert Frau Kredelbach mich und fragt, was sind Sie eigentlich?

Als ich nichts sage, redet Frau Kredelbach wieder von ihrem Mann.

Der Karl war ein Guter, schade, dass Sie den nicht kennengelernt haben, wirklich schade, bisschen vorlaut, große Worte in der Wirtschaft, aber ein Guter. Nor Bruud schnigge kunnt dä nit. Wir haben ja nie gestritten, sagt sie treuherzig, na ja, fast nie, höchstens in der Küche.

Sie blickt mich versonnen an.

Was wollen Sie machen, wenn der Mann einen Keil produziert und die Scheibe überrascht in der Hand dreht, und dann sagt, warte! Und es dann andersrum macht? Und mir das schiefe Gegenstück hinlegt, also oben dünn und unten dick? Ich habe immer begradigt, mein Leben lang begradigt, denn der Karl hat auch noch schräg geschnitten, diagonal, glauben Sie nicht, war aber so, schräg, ich musste jahrelang am Brotlaib die Ecke abschneiden und die Ränder, bis das gerade war, und wenn ich danach die erste richtige Scheibe schneiden wollte, dann waren wir satt, wir essen nicht viel.

Sie sind bescheiden, sage ich.

Bei uns joov et ovens emmer Fizzelsche.

Was aßen Sie?

Die Ecken. Und für jeden einen Keil. Der kam extra. Ich nahm meistens den mit der dicken Kruste. Der hatte keinen Boden, aber das machte mir nichts, und der Karl nahm den ohne Kruste mit dickem Boden. Der Rest war Puzzle. Wir sagten Puzzle met Flönz und legten die Brotstücke hier, wo Sie sitzen, auf dem Küchentisch aus. Dann ham mr de Woosch op däm Bruud zuräschjestiffelt.

Schön, sage ich.

Ja, so war das, sagt sie, mit der Wurst und dem Brot und dem Karl.

Frau Kredelbach sitzt in Erinnerungen vertieft da, bis sich ihr Gesicht belebt.

In 14 Tagen haben wir den ersten Advent.

Ich komme auf einen Kaffee vorbei, sage ich.

Schön, sagt sie, alls bliev wie et es.

Und dann guckt sie mich an und hat eine Spannung um die Augen, hebt ihre Hand und sagt, und mittlerweile bin ich die, die die krummen Dinger schneidet.

Die Vier aus Düren

Die Marta hat vier Mal geheiratet.

Frau Kredelbach stützt sich mit der linken Hand auf der feuchten Treppenstufe ab, drückt sich hoch, vier Mal, sagt sie, kommt in die Senkrechte und wischt die Hand, die gerade noch auf dem Terrazzo des Treppenhauses lag, am Arbeitskittel ab. Alle Finger ragen wie ein Menetekel in die Luft, in der anderen Hand tropft der Feudel.

Vier Mal. Und der ihre Männer leben mit ihr in dem Dorf. Alle vier. In Düren. Nicht in Düren. Hinter Düren. Also nicht mit ihr, schon jeder in seinem Haus. Auf dem Land, wo jeder jeden kennt. Die Leute zerreißen sich bestimmt das Maul. Vier Männer. Bitte? Nacheinander geheiratet, nicht gleichzeitig. Das wäre ja noch schöner. Und wissen Sie, was die Marta mir erzählt hat? Sie lebt jetzt mit dem vierten zusammen, sie sagt, die ersten drei verstehen sich prima. Was sagen Sie dazu? Die gehen sogar einen trinken.

Frau Kredelbach schaut irritiert auf ihre Füße. Aus dem Aufnehmer tropft Wasser in ihre Schuhe.

Können Sie sich das vorstellen? Die brauchen die Frau nicht mehr! Die Marta. Die gehen alleine. Aber Entschuldigung, Sie wollten gerade etwas sagen.

Ich will nichts sagen, ich will das Haus verlassen und die Treppe runtergehen, auf der Frau Kredelbach steht, aber jetzt versperren Eimer und Schrubber den Weg, und es ist mir unangenehm an meiner betagten Nachbarin vorbeizusteigen, wenn sie auf den Knien liegt und die Treppe putzt, aber ich kann es nicht ändern. Ich darf ihr das Putzen nicht abnehmen, das will sie nicht, und wenn wir uns begegnen, sie mit Kittel und einem Eimer warmen Spülwassers, dann murmele ich eine Entschuldigung, sage, jetzt mache ich alles dreckig, oder, ich habe schmutzige Schuhe, oder, soll ich noch mal hoch?, ich habe es nicht eilig. Je kleiner ich mich mache, desto besser fühle ich mich.

Ich will mir Wanderschuhe kaufen, sage ich.

Vier Männer auf einem Haufen, und das in der Nachbarschaft, wie finden Sie das? Was sagten Sie, wo wollen Sie hinlaufen?

Über die Pyrenäen.

Was man alles erfährt bei einem Klassentreffen. Ich habe nicht alle von damals wiedererkannt. Ob es einen Anlass gab?

Für das Klassentreffen, sage ich. Gab es ein Jubiläum?

Hundert Jahre Schulabschluss, sagt Frau Kredelbach.

Ach, sage ich.

Ich war auf der Manderscheider Straße, oben auf der Berrenrather, Volksschule. Wollen Sie zu Fuß rüber?

Wie viele Jahre?, frage ich, aber Frau Kredelbach möchte ihren Witz nicht erklären, wir waren nur noch sechs, die sich trafen, sagt sie mit belegter Stimme. Sie wollen wirklich zu Fuß über die Berge?

Ich will pilgern.

Sie?

Es gibt einen einsamen Weg von Frankreich nach Spanien, Kapellen, Berggasthöfe, soll sehr schön sein, sage ich, und komme mir vor wie ein Prediger auf der Kanzel, weil ich fünf Stufen über Frau Kredelbach stehe und die Arme ausgebreitet habe, 300 Kilometer bis Saragossa. Ich verschweige, dass der Weg in Pau startet, weil der Name in ihren Ohren missverständlich klingen wird,. Man läuft an dem Kloster vorbei, in dem der Heilige Gral lag, sage ich.

Spanien?

Spanien.

Ich komme nur bis Knollendorf, sagt Frau Kredelbach. Hier um die Ecke haben wir uns getroffen. In der Kneipe in der Gustavstraße, die Knollendorf heißt, und die Gisela, die das Treffen organisiert hat, stellt mich einer Frau vor. Ich dachte, die Frau wäre Gast in der Wirtschaft. Stehe ich der Erika gegenüber. Ich hätte sie nicht wiedererkannt. Die Stimme noch wie früher, die schon, aber der Rest …

Frau Kredelbachs Mundwinkel zucken.

Sie senkt ihre Stimme.

Ich will es nicht laut sagen, aber als ich die sah, habe ich gedacht, das ist eine alte Frau, und ich konnte ihrem Gesicht ablesen, Frau Kredelbach holt Luft und ruft: Dat hätt de och vun mir jedaach.

Sie lacht ein bisschen laut und ein bisschen albern, und ich denke, dass es trotzig und verzweifelt klingt.

Nach all der Zeit. Sechs alte Leute. Man guckt sich die Frauen an und vergleicht. Was aus denen geworden ist. Waren nicht alle glücklich, glauben Sie mir. Die meisten waren sogar tot. So viele aus unserer Klasse. Ein paar sind auch nicht gefunden worden, es steht nicht mehr jeder im Telefonbuch, ist zu lange her. Und ich mit meinem krummen Rücken und den Gichtfingern war fast noch am beweglichsten.

Sie machen ja viel, sage ich, deute nach unten und mein schlechtes Gewissen übertönt das Teufelchen, das sich gerade freut, nicht selbst die Stufen wischen zu müssen.

Nur die Treppe, sonst mache ich doch nichts, sagt sie und seufzt. Gibt es da auch Stufen, wo Sie hinwollen? Über die Berge? Oder mehr so Geröll? Wissen Sie bestimmt nicht, oder? Pilgern, na ja.

Frau Kredelbach seufzt wieder, dieses Mal sehr tief, dann geht ein Ruck durch ihren Körper.

Und was die alles erreicht haben im Leben. Musste jede aufzählen. Kinder. Die meisten hatten Kinder. Konnte ich mithalten. Ich habe ein Foto von Hubert gezeigt und gesagt, dass der einen großen Bus fährt und wahrscheinlich jede von denen schon rumgejückelt hat.

Und?

Hatt die nicht beeindruckt. Haben von ihren Männern erzählt, die meisten hatten einen, also gehabt, die sind alle unter der Erde. Bis auf die Vier in Düren. Die immer einen trinken gehen. Die natürlich nicht. Haben Sie schon geübt?

Was?

Das Wandern.

Ich kaufe mir erst neue Schuhe.

Das ist gut. Man muss üben. Auch das Gedächtnis. Jede hatte andere Erinnerungen an damals. Das ist erstaunlich. Man erinnert sich nicht an das Gleiche. Alle unterschiedlich. Was wir aber alle wussten, war, dass wir auch Jungs in der Klasse hatten. Früher. Wissen Sie was? Ich war ein Mauerblümchen.

Kann ich mir nicht vorstellen.

Hab früher nichts gesagt. Das war jetzt im Knollendorf anders. Die haben mir zugehört. Da waren die still, wenn ich gesprochen hab, und Sie glauben gar nicht, wie schlecht die angezogen waren. Beige Blousons, wahrscheinlich tragen die die Sachen von ihren Männern auf, wo gehen Sie einkaufen? Die Schuhe? Globetrotter?

Da wollte ich hin.

Meinen Sie, ich hätte mich noch an die Lehrer erinnert? An die erste ja, Schwarz hieß die und schrieb uns die Buchstaben an die Tafel. Wir hatten jeder kleine Schiefertäfelchen, mit Holzrahmen und Buchstaben am Rand. Die Buchstaben waren silbern und saßen in einer Vertiefung. Die waren in den Rahmen eingeprägt, das war praktisch, wir konnten sie mit dem Griffel abfahren und übertragen.

Sütterlin? Hören Sie mal, so lange ist das nicht her, und ein Schwämmchen war dran. Ich habe meine Tafel geliebt, die war orange. Oder war die grün? Sehen Sie. So ist meine Erinnerung. Nichts mehr da, alles verblasst. Sogar die Farben. Jungen und Mädchen saßen getrennt, das weiß ich noch, hat mich wohl mehr interessiert, als die Farbe der Schultafel. Links die Mädchen, rechts die Jungs, in der Mitte traf man sich, da saß immer ein Junge und ein Mädchen in einer Bank. Sie wollen bestimmt durch.

Frau Kredelbach schiebt den Eimer zur Seite. Mehr Platz entsteht dadurch nicht, denn sie stützt sich mitten auf der Treppe auf ihren Schrubber.

Ich habe den ganzen Abend mit der Erika jeschwaad. Wir hatten was nachzuholen. Mit der hatte ich in der Schule kein einziges Wort gesprochen, das muss man sich mal vorstellen, acht Jahre lang nicht. Die meisten waren dick geworden. Die Monika kam mit Rollator, an den hatte sie sich einen Rückspiegel dranjeklemmp. Damit sie sich nicht umdrehen muss. Sechs Leute nur, ist das nicht schrecklich? Eine hatte noch zugesagt, die Elisabeth, wir wären eigentlich sieben gewesen, mit der Elisabeth sieben, aber die war dann nicht da. Sie hat gesagt, sie hätte ihren Urlaub verlängert. Glauben Sie das?

Wo war sie?, frage ich.

Die saß zu Hause und traute sich nicht, denke ich mir. Macht ja Druck so ein Treffen, wegen dem Leben. Und der Männer. Das kommt alles auf den Tisch. Vorher sind wir durch die alte Schule gegangen. Mit einem Lehrer. Einem von heute, nicht von damals, ein junger Lehrer. Das war ein Unterschied. Der war nett, gar nicht streng. Die alten Räume, die Gänge, die Klassenzimmer. Die Klinken an den Türen waren noch die gleichen. Stellen Sie sich das mal vor. Hatten wir schon mal die Hand drauf gelegt. Wir durften in die Turnhalle reingucken, noch das alte Parkett. Und ein Foto haben wir gemacht. Das habe ich jetzt nicht dabei, sonst würde ich es Ihnen zeigen. Von der alten Schule am Manderscheider Platz. Wir im alten Klassenraum. Alle saßen vorne. Das geht, wenn man nicht so viele ist.

Bei Gelegenheit, sagt Kredelbach, nicht jetzt, ich halte Sie nur auf, bei Gelegenheit könnten Sie das Foto aus dem Telefon holen. Da ist das noch drin. Und auf den Stick ziehen, den Sie neulich hatten. Das drucke ich mir bei DM aus, zur Erinnerung. Sie wollen endlich durch, merke ich. Sie wollen was Neues erleben, mit Wanderschuhen, nicht immer die alten Kamellen hören, verstehe ich ja.

Der Irokese von der Ahr

Wenn ich meine Freundin Gerda sehen wollte, war das eine Weltreise, sagt Frau Kredelbach. Glauben Sie nicht, was ich dabei erlebt habe. Die Gerda. Wohnt in Insul. Wissen Sie, wo das liegt? Nein? Sie gucken so, als hätten Sie Insel verstanden. Ist nicht am Meer.

Frau Kredelbach kichert zufrieden, weil sie einen Witz gemacht hat und verschluckt sich. Sie muss husten. Sie muss sehr husten, und der Husten flattert durch ihre Küche wie ein Vogel, der nicht landen kann.

Lassen Sie sich Zeit, sage ich, und während Frau Kredelbach hustet, denke ich, wie viel mir die Gespräche mit ihr bedeuten. Trinken Sie was, sage ich, ich möchte hören, was Sie in Insul erlebt haben.

Ahr, stößt sie hervor, klopft sich auf die Brust, röchelt und keucht, Insul an der Ahr, und sie hustet weiter. Da wohnt die Gerda. Meine Güte. Jetzt trinke ich einen Schluck. So. Jetzt ist es besser. Insul. Kennen Sie nicht, hab ich mir gedacht, Sie fliegen ja immer. Nach Insul nimmt man die Bahn, wenn sie fährt, geht im Moment nicht, aber früher schon. Die Bahn fährt nicht ganz hin. An die Ahr ja, das schon, aber nur an den Anfang der Ahr, ans Ende nicht, also nicht bis dahin, wo die herkommt, die Ahr, an die Quelle, und da ist Insul. Kurz davor, nicht ganz hinten in der Eifel. Aber schon am Fluss. Haben Sie eine Vorstellung?

So ungefähr, sage ich.