Wer Beine hat, der laufe - Heide Scherer - E-Book

Wer Beine hat, der laufe E-Book

Heide Scherer

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Beschreibung

"Am Ende des Zweiten Weltkriegs kamen 14 Millionen Menschen aus dem Osten des damaligen Deutschen Reiches nach Westdeutschland. Wie war die Flucht 1945 durch zerbombte Städte, Kraterlandschaften und Trümmerwüsten bei minus 20 Grad? Wie war sie für Kinder? Wie für Mütter mit kleinen Kindern? Lange Jahre wurden diese existenziellen Erschütterungen, die Gewalterfahrungen, die eine Flucht bedeutet, in unserem Land zugedeckt. Heide Scherer hat Kriegskinder und Kriegsmütter nach ihren Fluchterlebnissen befragt. Das Ergebnis: sechs bewegende Zeitzeugenberichte vom Ende des Zweiten Weltkriegs. Die aktuelle Flüchtlingskatastrophe ruft bei vielen Menschen in Deutschland tiefe Erinnerungen wach. Ihre Bilder sind 70 Jahre alt: endlose Kolonnen flüchtender Frauen und Kinder auf eisigen Straßen und Wegen, ein zusammengebrochenes Schienennetz, verzweifelt wartende Menschen an überfüllten Notunterkünften. Heide Scherer hat Kriegsmütter und Kriegskinder nach ihren Fluchterlebnissen aus dem Winter 1945 befragt. Einige Interviewpartner sprechen zum ersten Mal außerhalb ihrer Familie über ihre Flucht. Sie denken zurück, werden noch einmal zu den Flüchtenden von damals. Die Erinnerungen zuzulassen kostete sie viel Kraft. Doch sie haben es geschafft. Sie haben die Schrecken des Krieges überlebt."

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1. eBook-Ausgabe 2016

© 2016 Europa Verlag GmbH & Co. KG, Berlin · München

Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich, unter Verwendung eines Fotos von © ullstein bild – Archiv Gerstenberg

Bildnachweis: ullstein bild; S. 14, 15, 45, 48, 53, 54, 105, 148: Privat – die Besitzer haben den Verfasser zur Wiedergabe autorisiert. Sie sind dem Verfasser bekannt; S. 83: Bundesarchiv, Bild 146-1972-093-59/ CC-BY-SA 3.0/via Wikimedia Commons; S. 84: S. Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr

Layout und Satz: BuchHaus Robert Gigler, München

Konvertierung: Brockhaus/Commission

ePub-ISBN: 978-3-95890-041-7

Das eBook einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.

Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Der Nutzer verpflichtet sich, die Urheberrechte anzuerkennen und einzuhalten.

Alle Rechte vorbehalten.

www.europa-verlag.com

»Und meine Seele spannte weit ihre Flügel aus,flog durch die stillen Lande, als flöge sie nach Haus.«Joseph von Eichendorff

Für Veit, Mathis und Annelie Sophie

INHALT

Vorwort

I. Hella von GroteFür die tapferen deutschen Mädchen, die sich als erste bis Berlin durchgeschlagen haben!

II. Elsa GrauerMelde gehorsamst, Gefreiter Paschke – wenn ich nicht heirate, werde ich erschossen!

III. Maria GollmerJetzt musst du weg! Jetzt geht die Flucht los!

IV. Maria-Elisabeth PolskaWir wären heute nicht mehr am Leben ohne meine Schwester

V. Eberhard KerlenErinnerungsleuchtpunkte

VI. Valja BlumWer Beine hat, der laufe!

Nachwort

Dank

Literatur

VORWORT

Sommer 2015 – Winter 1945

2015 ist das Jahr der großen Flucht. Die brennende Aktualität hält Europa in Atem. Täglich sehen wir in den Medien Bilder von Flüchtlingsströmen. Wir sehen Tragödien, die sich im Mittelmeer ereignen. Bootsflüchtlinge, erschöpfte Eltern mit ihren Kindern, unbegleitete minderjährige Flüchtlinge kommen zu uns. Sie berichten von wochenlangen Landmärschen, von organisierten Schleuserfahrten in klapprigen Lieferwagen oder auf alten Schiffen. Vom Krieg traumatisiert suchen alle Zuflucht in Europa, in Deutschland. Sie wollen überleben in einem sicheren Land.

Die Bilder von den Flüchtlingen im Sommer 2015 rufen bei einigen alten Menschen in Deutschland tiefe Erinnerungen wach. Ihre Bilder sind 70 Jahre alt: Flüchtlingszüge, Trecks und überladene Schiffe, die sie nach Dänemark oder in den Westen bringen sollen. Bilder von Notunterkünften in Schulen, in Turnhallen und Kirchen. Überfüllte Züge, lange Kolonnen flüchtender Frauen und Kinder auf eisigen Straßen und Wegen.

Wie ähnlich sind die heutigen Bilder. »Ich kann die Berichte in der Tagesschau fast nicht sehen. Alles kommt wieder hoch«, stöhnt eine energische 86-jährige Frau. Die Flucht der Menschen heute ist die schlimmste Krise seit dem Zweiten Weltkrieg in der EU.

Mich interessierte, wie die Flucht im Winter 1945 durch die zerbombten Städte, durch Trümmerlandschaften und über die Ostsee für die Menschen war. Von 2007 bis 2012 befragte ich ältere Menschen, wie sie als Mütter und als Kinder ihre Flucht im Januar 1945 erlebt hatten. Dabei beschränkte ich mich auf die Gebiete im Osten des damaligen Deutschen Reichs, auf West- und Ostpreußen und auf den Warthegau.

Es waren offene Interviews, in denen die Kinder von damals selbst auswählten, was sie erzählen wollten. Die erlebte Geschichte der Flucht sollte auf der Gefühlsebene durch Gespräche beleuchtet werden. Die Kontakte zu meinen Interviewpartnerinnen und Interviewpartnern kamen über meinen Freundeskreis zustande. Ihre Empfehlungen waren ein guter Weg, um eine vertrauensvolle Erzählatmosphäre für die Zeitzeugen zu schaffen. Ihre Sprache blieb authentisch.

In dem Buch Wer Beine hat, der laufe kommen sechs Interviewte zu Wort: Eine 95-jährige und eine fast 98-jährige Mutter erzählten von ihrer Flucht mit ihren Kindern im Winter 1945. Sie berichteten trotz ihres hohen Alters sehr lebhaft, klar und mit großer Präsenz. Es erstaunt uns, wie unauslöschlich ihre Erlebnisse in ihrem Gedächtnis eingegraben waren. Zwei Frauen und ein Mann erzählen, wie sie mit ihrer Mutter und ihren Geschwistern unterwegs waren. Damals waren sie neun- bis elfjährige Kinder. Eine Interviewte erinnert sich, wie sie als Zwölfjährige mit ihrer 14-jährigen Schwester von der Schulbank weg fliehen musste. Hals über Kopf musste das geschehen.

Der Bogen in den Fluchtgeschichten geht von der Vorkriegszeit über den Kriegsbeginn mit dem Erleben des Einmarsches der deutschen Wehrmacht in Polen über das Zeugnis des Kriegsalltags bis zur überstürzten Flucht.

Einige Interviewpartner erzählten ihre Geschichte zum ersten Mal außerhalb ihrer Familie. Sie tauchten ein in diese Zeit, wurden beim Erzählen wieder zu den Kindern und Müttern von damals. Menschen, die die Kriegsmaschinerie vor sich hertrieb. 23 Kinder und fünf Erwachsene flüchteten in diesen Berichten.

Es kostete die älteren Menschen Kraft, das Wiedererwachen der Erlebnisse zuzulassen. »Aber wir haben es geschafft. Wir haben mit unserer Familie überlebt.« Diese Dankbarkeit über die Rettung ihres Lebens war immer am Ende ihrer Erzählungen zu spüren.

Ich spreche meinen großen Dank an meine InterviewpartnerInnen aus für das mir entgegengebrachte Vertrauen und für ihre Offenheit, besonders auch für ihre Bereitschaft, ihre Erfahrungen zu veröffentlichen und an andere Menschen weiterzugeben.

Heide Schererim Dezember 2015

I. HELLA VON GROTE

Für die tapferen deutschen Mädchen, die sich als erste bis Berlin durchgeschlagen haben!

Es ist der 2. Juni 2007, ein freundlicher, sonniger Vormittag. Ich bin in München nahe der Isar, in einer Straße mit Häusern aus der Gründerzeit.

Meine erste Interviewpartnerin wohnt hier. Sie ist bereit, mir ihre Fluchtgeschichte zu erzählen. Damals, im Januar 1945. Völlig überraschend und überstürzt musste sie mit ihrer Schwester von der Schulbank weg fliehen. Meine Freundin vermittelte mir den Kontakt.

Das Treppenhaus mit der geschwungenen Eichentreppe und dem gedrechseltem Geländer aus der Gründerzeit erinnert mich an mein Elternhaus. Ich bin erwartungsvoll gestimmt. Wen werde ich antreffen? Werden wir zwei Frauen in einer Atmosphäre der behutsamen Offenheit von den Erlebnissen hören? Wie werden ihre Erzählungen auf uns beide wirken?

An der Wohnungstür erwartet mich eine freundliche, ältere Dame. In ihrem Wohnzimmer liegen schon die Unterlagen zu ihrer Flucht auf dem großen Eichentisch. Auch Fotos hat Hella von Grote bereitgelegt. Dann beginnt sie zu erzählen.

Mein Vater war vor dem Krieg Auslandskorrespondent bei verschiedenen großen Zeitungen in Italien und Frankreich. Ja, die Drohung eines Krieges war 1938 zum ersten Mal akut. Wir lebten damals in Paris und sind sofort vor dieser Drohung geflohen. Die Franzosen wollten die Deutschen ja bei Kriegsausbruch internieren, wenn es dazu gekommen wäre. Mein Vater wusste das. Er hat uns in zwei verschiedenen Autos zum Bahnhof bringen lassen und uns in den Zug gesetzt. Wir sind zu meiner Tante nach Lüdenscheid gefahren, ganz normal im Zug, fast ohne Gepäck.

Der Krieg brach dann doch nicht aus. So sind wir im Herbst wieder zurückgefahren. Dort haben wir weiter in unserer kleinen Villa am Rand von Paris gewohnt.

1939 war wieder diese Kriegsdrohung. Aber diesmal hatten meine Eltern nicht daran geglaubt. Im August 1939 sind wir mit unseren Sommerkleidchen zu einer anderen Tante gefahren. Es ging nach Pommern in die Sommerferien. Diese Tante hatte einen sehr großen Bauernhof. Meine Mutter musste damals nach Marienbad zur Kur. Und so waren wir drei Kinder alleine bei meiner Tante geblieben und dort versorgt worden. Das war alles wunderschön. Wir haben das sehr genossen.

Und plötzlich, am 1. September 1939, brach der Krieg wirklich aus.

Und wir waren noch in Deutschland. Meine Mutter kam Gott sei Dank an dem Tag aus Marienbad zurück, sodass wir wieder zusammen waren. Aber nun war natürlich keine Möglichkeit mehr, nach Paris zurückzukehren. Und wir saßen da mit unseren Sommerkleidchen. So sind wir wieder nach Lüdenscheid zurück zu meiner anderen Tante gefahren. Die war sehr großzügig. Außerdem war sie die Lieblingsschwester meiner Mutter. Bis Weihnachten 1939 haben wir dort gewohnt.

Von Paris sind wir dann nach Berlin umgezogen. Mein Vater wurde vom Oberkommando der Wehrmacht, dem OKW, als Sonderführer im Hauptmannsrang eingezogen. Er sprach fantastisch Französisch und als Balte auch Russisch. Man brauchte ihn als Fachwissenschaftler sozusagen. Nach der Eroberung von Paris wurde er als Verbindungsoffizier nach Frankreich entsendet. Dort hat er zwei oder drei Jahre Dienst getan.

Er hat auch unser Haus in Paris wiedergefunden. Das war völlig unzerstört. Unsere Sachen waren alle noch vorhanden. Franzosen hatten in diesem Haus gewohnt. Das Essen stand noch auf dem Tisch. Die Anzüge meines Vaters waren verschwunden und auch alle Papiere. Aber sonst, die ganzen Möbel und das Silberzeug waren noch da. Das wurde alles nach Berlin geholt und dort eingelagert, weil wir ja kein eigenes Haus mehr hatten. Dort sind die Sachen zerbombt und verbrannt.

Die Familie war jetzt in Deutschland und mein Vater alleine in Paris. Aber er kam immer wieder zu Besuch zu uns. Wir hatten in Berlin-Schlachtensee eine möblierte Wohnung gemietet, direkt am See, wahnsinnig romantisch und groß.

Mein Vater wurde vom OKW in die Wlassow-Geschichte einbezogen. Weil er so gut Russisch konnte, hat er die Flugblätter entworfen. Das war eine ganze Gruppe von Offizieren, die General Wlassow überreden wollten und es auch geschafft haben, auf der Seite Deutschlands gegen die Kommunisten zu kämpfen. Wlassow war Weißrusse und kein Kommunist. Aber das ist eine ganz eigene Geschichte. Deswegen war mein Vater in Berlin am OKW und nicht an der Front.

Nun muss ich etwas ausholen: Die Balten wurden von Hitler 1939 aus dem Baltikum umgesiedelt. Das war der Vertrag mit Stalin: alle Deutschen raus, damit Stalin das Gebiet mit Kosaken besetzen konnte. Die baltischen Adelsleute, in der großen Zahl Gutsbesitzer, wurden in Polen, ins Warthegau und in das Gouvernement Warschau umgesiedelt. Polen war indessen aufgeteilt. Dort wurden sie mit den polnischen Gütern entschädigt. Anstelle des Gutes im Baltikum bekamen sie ein Gut in Polen.

Die Umsiedlung hat während des Krieges oder kurz vorher stattgefunden. Denn Stalin ist 1941 in den Krieg eingetreten. Am Anfang waren wir ja mit Russland verbündet. Das war der Hitler-Stalin-Pakt. Der hat gehalten, bis Hitler 1941 Stalin den Krieg erklärt hat. 1943 kamen die ersten schweren Bombenangriffe. Kurz danach wurden die Mütter und Kinder aus Berlin evakuiert.

Eine meiner baltischen Tanten hatte im Warthegau ein Gut von den Nazis bekommen, ein polnisches Gut. Als dann die Evakuierung der Familien aus Berlin stattfand, sind wir auf dieses Gut gefahren und lebten bei meiner Tante.

Im Sommer 1943 sind wir auf dieses Gut gekommen. Ich war zehn, nein elf Jahre vielleicht schon. Bis zur Flucht, also bis zum Januar 1945, sind wir auf diesem Gut gewesen und lebten dort. Auf Deutsch hieß der Ort Gembitz und auf Polnisch Gembice. Das liegt etwas nördlich von Posen und südlich von Schneidemühl.

Die elfjährige Hella (vorne) mit ihrer Familie in Gembitz im Sommer 1944

Wir lebten alle zusammen auf dem Gut. Nach den Sommerferien 1943 stellte sich heraus, dass wir nicht nach Berlin zurückkehren konnten. Denn die Evakuierung sollte dauerhaft sein. So sind meine Schwester und ich zur Schule in eine Nachbarstadt gefahren. Die war etwa 40 km entfernt und hieß Kolmar. Dort war ein Gymnasium. In Kolmar wurden wir eingeschult und lebten in einem möblierten Zimmer. Zu zweit und ohne unsere Familie. Mein jüngerer Bruder kam in die Volksschule in Gembitz.

Der Krieg kam im Dezember 1944 immer näher. Meine Eltern wussten sicher, dass die Russen durchbrechen werden. Aber sie durften uns das überhaupt nicht sagen. Wir Kinder haben nichts davon gewusst. Aber mein Vater war im OKW und hat das sicher gewusst.

Und nun kommen die ganz verworrenen Geschichten:

Im Januar 1945 sind wir nach den Weihnachtsferien wieder in die Schule gebracht worden. Nun konnte man entweder die 10 km mit der Kutsche zur Bahnstation Sarben gebracht werden und dann mit dem Zug über Schneidemühl nach Kolmar fahren. Oder man konnte mit der Kutsche diese 40 km durch den Wald fahren. Das war ja nicht unmöglich für die Pferde. Also sind wir manchmal direkt nach Kolmar gebracht worden. Manchmal eben nur bis zur Bahnstation. Eineinhalb Jahre sind wir dort zur Schule gegangen.

Die beiden Schwestern Hella (oben 1943) und Else (unten 1944) mussten alleine die Flucht nach Berlin antreten.

Nach diesen Weihnachtsferien 1944/45 sind wir im Januar ab Sarben mit dem Zug gefahren. Der Wald war schon so von Partisanen durchsetzt, dass die Kutscher sich weigerten, uns Kinder durch den Wald zu fahren. Ich war damals zwölf und meine Schwester 14 Jahre alt.

Die Schule ging noch ziemlich regelmäßig. Das heißt: Meine Schwester wurde bereits abgestellt, um große Mengen Butterbrote für die ersten Flüchtlingstrecks zu schmieren. Die zogen schon von Ostpreußen aus bei uns durch. Aber das wurde sehr geheim gehalten. Das sollte man nicht erzählen.

Im Warthegau war es verboten zu flüchten. Aber weiter östlich, wo die Russen schon vorgedrungen waren, wurde die Flucht freigegeben. Sukzessive konnten dort die Trecks in Marsch gesetzt werden.

Ich weiß aus Erzählungen, dass meine Tante, die ja aus dem Baltikum kam und die Russen kannte, längst große Erntewagen vorbereitet hatte. Sie hatte die mit Planen ausfüttern lassen und vom Stellmacher große gebogene Stangen über die Wagen zimmern lassen. Alles war schon mit Stroh gefüllt. So standen die Wagen bereits in der Remise und waren zur Flucht fertig. Und das war auch nachher die Rettung für meine Mutter und meinen Bruder. Und für die Frauen, die dort von dem Gut flohen.

Mein Vater ist in den Tagen um den 15. oder 17. Januar vom OKW nach Posen geschickt worden, um dort noch einen Lehrgang zu gestalten. In dem Moment, als dann am 20. Januar die Nachrichten kamen, dass die Russen durch die Linie durchgebrochen wären, die die deutschen Soldaten gezogen hatten, war er in Posen. Meine Mutter hatte ihn dort besucht.

Mein Vater sollte dort sogar noch zum Volkssturm eingezogen werden. Man kam bis 60, 70 Jahren in den Volkssturm. Alles, was laufen konnte, von 14 Jahren an. Der Volkssturm nahm alles, was überhaupt ein Gewehr halten konnte. Mein Vater war damals 48 Jahre alt. Meine Mutter war sieben Jahre jünger, also war sie 41 Jahre alt.

Das OKW hatte vom Einzug zum Volkssturm erfahren und meinen Vater sofort zurückbeordert. Den Einheiten wurde gesagt, sie dürften ihn nicht einziehen. Er müsse zurück nach Berlin. So fuhr er mit dem Militärkonvoi zurück. Und meine Mutter, Gott sei Dank, fuhr im Zug aus Posen wieder aufs Gut.

Wir waren in Kolmar in der Schule. Am Samstag, 20. Januar morgens, kam unser Schuldirektor aufgeregt in die Klassen und sagte: »Kinder, die Russen sind durch. Sie können binnen 24 Stunden hier in Kolmar sein. Lauft nach Hause und sagt euren Familien, ihr müsst fliehen, so schnell ihr könnt!«

Nun waren wir zwei Mädchen ja alleine. Wir hatten in Kolmar keine Familie, wir wohnten in Untermiete. Wir wussten aber, dass der Zug, der uns sonst über Schneidemühl nach Gembitz gebracht hatte, gerade noch gehen sollte. Mit unseren zwei kleinen Handtaschen und unseren Schultornistern sind wir auf den Bahnhof marschiert. Wir hatten gehofft, wir würden mit dem Zug mitkommen.

Auf dem Bahnsteig war eine wilde Menge von verzweifelten Menschen. Die Stadtbevölkerung hatte ja keine Treckwagen. Die war darauf angewiesen zu fliehen. Zu Fuß, mit Fahrrädern oder was auch immer. Insofern versuchten die alle natürlich, in einen Zug zu kommen.

Wir beiden Mädchen sahen, dass das gar nicht möglich war. Der Zug war so überfüllt, dass man überhaupt gar nicht mehr reinkam. Vermutlich ist sogar meine Mutter auf der Rückfahrt in diesem Zug gewesen. Sie sagte später: »Wenn ich das gewusst hätte, ich hätte euch herein geprügelt – irgendwie!« Aber gut, wir wussten das ja alles nicht.

Als der Zug den Bahnsteig verließ, ging ein Winseln durch die Menge. Vor Angst, vor Verzweiflung, vor Empörung, dass man eben nicht mitgekommen war. Und wir zwei Schwestern sind zurückgeblieben.

Und ja, wir beide sind wieder zurück zu der Wirtsfrau, bei der wir wohnten. Und das war ein Glück. Sie war die Witwe eines deutschen Ritterkreuzträgers, also eines Offiziers. Deswegen wurde ihr gesagt, sie würde mit einem Auto abgeholt und nach Westen gebracht werden. Sie und ihre beiden Kinder. Und sie versprach, uns mitzunehmen.

Wir haben den ganzen Tag versucht, eine Telefonverbindung zu dem Gut meiner Tante nach Hause zu kriegen. Wir wussten ja nicht, was wir jetzt tun sollten. Wir hatten gehofft, dass wir noch mit der Kutsche abgeholt werden könnten. Ganz zum Schluss, gegen Abend, haben wir eine Verbindung bekommen. Unsere Tante hat uns gesagt: »Kinder, versucht alleine, nach Berlin zu kommen. Da ist ja euer Vater und die Wohnung in Berlin. Da habt ihr einen Treffpunkt. Wir können euch nicht mehr holen. Eure Mutter ist gerade aus Posen zurückgekehrt. Wir werden trecken.«

Daher weiß ich eben, dass mein Vater in Posen gewesen war und dass meine Mutter vermutlich in diesem Zug nach Schneidemühl gefahren und von dort abgeholt worden ist.

Wie war das für uns Kinder? Wir waren ja noch nicht erwachsen. Als wir mit dem Zug nicht mitgekommen sind, waren wir schon sehr verschreckt. Aber da hatte eben Frau Schmitt zu uns gesagt: »Habt keine Angst, ich nehme euch mit. Es kommt ja ein Auto, das uns holt.«

Frau Schmitt hat uns dann sehr klug den Ratschlag gegeben, doppelte Kleidung anzuziehen. Denn es waren damals minus 20 Grad. Das war dieser eiskalte Winter. Es war der 20. Januar 1945. Und Frau Schmitt gab meiner älteren Schwester, die ziemlich groß und stämmig war, einen wunderschönen Offiziersmantel. Den hatte sie noch von ihrem Mann. »Bring mir den in den Westen. Das ist ein Erinnerungsstück an ihn. Ich will den unbedingt behalten.« Sie hat meiner Schwester diesen Mantel angezogen. So hatte die einen dicken, warmen Mantel. Und ich hatte eben lange Strümpfe, wie die Kinder sie damals hatten, mit ripsenden Strapsen und dann die Trainingshosen darüber. Meinen dicken Faltenrock hatte ich auch darüber. Den liebte ich über alles. Den wollte ich unbedingt mitnehmen. Dann noch einen Mantel und einen Pullover und weiß der Kuckuck, was noch. Und Schuhe? Ja, wir hatten warme Stiefel.

Dann kam das Schlimme.

Wir waren morgens auf dem Bahnhof gewesen und waren nicht mitgekommen. Abends endlich, gegen 11 Uhr, kam ein uraltes Feuerwehrauto, schon fast halb voll. Da wurden wir hineingequetscht, meine Schwester und ich. Und ich, weil ich klein war, wuselte mich gleich nach vorne auf eine Bank oder auch ins Gepäcknetz. Das weiß ich nicht mehr genau. In dem Moment, wo es abfahren sollte, kam ein Parteifunktionär und schmiss meine Schwester aus dem Auto raus, damit er einen Platz kriegte. Es war unglaublich. Aber ich wusste das damals gar nicht. Ich hatte es nicht mitgekriegt.

Ja, so war das. Wir fuhren nach Westen. Stundenlang wurden wir durch die Nacht gekarrt. In Filehne, das ist eine Grenzstadt an der Netze, wurden wir wieder ausgeladen. Dort war eine Schule mit Strohlagern für die Flüchtlinge hergerichtet. Ich fiel auf eines dieser Strohlager. Ich war ganz allein.

Ja, fast ganz allein. Ich war ja auch noch mit Familie Schmitt, mit der Frau und mit den zwei Jungen, zusammen. Meine Schwester war nicht da. Das begriff ich aber erst in dem Moment, als wir alle aus dem Auto ausgekippt wurden und aufs Stroh fielen.

Da hab ich den ganzen nächsten Tag, das war der 21. Januar, völlig verängstigt in dieser Schule auf dem Strohlager gelegen oder gehaust. In dem Lager wurde Kommissbrot mit einer komischen Marmelade verteilt, damit man überhaupt irgendetwas zu essen kriegte.

Am Abend bin ich wohl wieder eingeschlafen. Und mitten in der Nacht stolperte jemand über mich. Es war meine Schwester. Also, wir haben uns da umarmt und waren wieder zusammen.

Meine Schwester war alleine in Kolmar zurückgeblieben. Sie hatte schlimme Dinge an diesem Tag erlebt. Sie ist durch die Straßen geirrt, vorbei an den Büros von den BDM-Führerinnen. Oder auch an so einer Nazi-Dienststelle. Da waren lauter Besoffene drin. Und sie war erst 14 Jahre alt.

Ja. Eine BDM-Führerin hat sie ins Büro geholt, hat ihr eine Uniformhose, eine Soldatenhose, gegeben und gesagt: »Zieh die an!« Sie hat ihr eine Rot-Kreuz-Binde um den Arm gelegt: »Nur so hast du eine Chance, mitgenommen zu werden. Gib vor, du seiest Krankenschwester. Dann werden sie dich irgendwie mitnehmen.«

Sie ist an brennenden Häusern, an Plünderern und herrenlosen Hunden vorbeigeirrt. Es muss ganz furchtbar gewesen sein, dieser Tag. Gegen Abend wurde sie dann tatsächlich in ein Soldatenauto geladen und mitgenommen. Und genau dort, wo die Flüchtlinge aus Kolmar hingeschleppt worden waren, in Filehne, wurde sie auch ausgeladen. Und da waren wir in der Schule. Und meine Schwester stolpert über mich! Die Schutzengel, die haben sich die Hände gegeben. Ohne diese Schutzengel, wirklich, wären wir nie durchgekommen.

Jetzt schweigt Hella von Grote lange. Ich spüre, wie die Erinnerung nach ihr greift. Wir beiden Frauen sitzen still zusammen, ruhig und sicher an ihrem großen Esstisch. Doch die ausgestandene Angst, die Bedrohung ist immer noch präsent, in gewissem Sinn immer noch gegenwärtig in diesem Raum.

Weil meine Schwester ja angeblich Krankenschwester war, hat sie einem Arzt geholfen, Notfälle zu versorgen. Ich meine, was da alles vorbeikam. Da kamen ja die Trecks. Die Leute sind immer wieder oben auf den Kutschböcken erfroren.

Wir zwei Mädchen haben auch Wache gehalten bei diesen Toten, die ebenso steif wie sie gesessen waren, ausgeladen wurden. Dann mussten wir Kinder versuchen, die Angehörigen zu benachrichtigen. Ja, es war hauptsächlich meine Schwester.

In dieser Schule in Filehne war natürlich Chaos. Ich war immer noch mit den zwei Schmitt-Jungs zusammen. Wir waren etwa gleichaltrig. Wir sind durch die Schule getobt, manchmal auch am Tag rausgegangen und ein bisschen herumgestromert. An einer Gulaschkanone haben wir von den Soldaten auch mal eine Suppe gekriegt oder Muckefuck oder so etwas.

Die Toiletten waren derartig verdreckt und eingefroren, dass man da überhaupt nicht drauf konnte. Das war ein großes Problem. Wir haben es auf dem Schulhof zwischen Holzscheiten immer versucht. Aber ich kann mich nicht erinnern, dass ich wirklich schwer gelitten hätte. Wahrscheinlich hat sich der ganze Darm sowieso stillgelegt vor Schreck. Aber Pinkeln, das weiß ich noch, dass das so schwierig war.

Den 22. Januar habe ich, sozusagen wie eine Schnecke eingerollt, vergehen lassen, ohne was zu tun. Auch den 23. und 24. sind wir in dieser Schule gewesen und auch dort geblieben. Denn es kamen die Nachrichten, die Deutschen hätten die Russen wieder zurückgeschlagen. Die Flucht würde verzögert. Man könnte sogar wieder nach Hause zurückkehren.

Also, die ganze Volksmasse blieb dann dort in diesem kleinen Ort Filehne. Das war ja direkt an der Grenze, an der Netze. Eigentlich wurden wir an der Nase herumgeführt. Wahrscheinlich wussten die es selber nicht. Hier war ja die Grenze zwischen Deutschland und Polen.

Die Trecker waren schon weitergezogen. Die wurden durchgelassen. Die sind gar nicht durch diesen Ort gezogen. Das ist ja eine riesenbreite Phalanx an Treckern gewesen, nicht? Die sind auf allen Straßen gezogen. Nur wir, die wir keine Bauernwagen hatten, mussten mit Autos oder Zügen transportiert werden. Deswegen war die Stadtbevölkerung dort in diesem Ort gesammelt worden. Von da aus gingen ja Züge. Oder es hieß, es würden Züge gehen.

Wir hatten an diesem 20. Januar in Kolmar unser ganzes Gepäck gepackt und gedacht, wir könnten das mitnehmen. Aber das Feuerwehrauto nahm nur uns mit. Die ganzen Koffer blieben auf der Straße stehen. Nur ich hatte zufällig meinen Schulranzen auf dem Rücken und hab den die ganze Flucht auch gehabt. Meine Schwester nahm im letzten Moment noch eine zusammengerollte Wolldecke mit, in der sie ihre Lieblingssachen reingestopft hatte. Und die hatten wir in der Schule noch.

Morgens, am 25. Januar, brach in Filehne die Panik aus: Die Russen sind schon durchgebrochen. In wenigen Stunden werden sie auch diesen Ort überrollen. Jetzt hat es geheißen: Vom Bahnhof Kreuz, jenseits des Flusses, fahren Lazarettzüge. Meine Schwester und ich beschlossen: Wir versuchen, in einen dieser Züge reinzukommen.

Nun war es schon relativ gefährlich, über diese Brücke über den Fluss zu gehen. Die war schon längst unterminiert. Und die Polen drohten immer: »Sobald ein größerer Treck kommt, sprengen wir die in die Luft. Dann sind die alle hin, nicht?« So stoppten viele Treckwagen vor dieser Brücke. Aber wir sind alleine zu Fuß rübermarschiert. Da ist nix passiert.

Wir kamen auf dem Bahnhof Kreuz an. Der war weit außerhalb von dem Ort. Tatsächlich stand da ein Lazarettzug. Wir sind eilig, eilig hinaufgeklettert, haben eine Tür aufgekriegt und sind reingekommen. Aber da kam eine resolute Krankenschwester und schmiss uns wieder raus: »Es ist bei Todesstrafe verboten, Privatpersonen mitzunehmen.« Nur die verwundeten Soldaten durften in diesem Zug transportiert werden. Und wir mussten wieder raus.

Ja, dann kam der Stationsvorsteher auf uns zu und fragte: »Kinder, was macht ihr hier? Es ist der allerletzte Zug! Hier kommt kein Zug mehr. Ich gehe jetzt auch weg. Also flieht, so schnell ihr könnt, damit ihr wieder mit anderen Menschen Kontakt kriegt. Denn hier ist nun keine Maus mehr!«

Meine Schwester hat ihre Wolldecke fallen lassen. Ich hatte meinen Ranzen immer noch auf. Wir sind auf dieser Landstraße getrabt. Die führte wieder zurück. Irgendwo ins Ungewisse. Wir wussten überhaupt nicht, wohin diese Straße führte. Wir trabten immer weiter. Und dann kam ein Soldatenauto.

Hella von Grote ist in ihrer Erinnerung. Sie ist aufgewühlt, muss erst wieder zur Ruhe kommen. Sie spricht jetzt mit leiser, belegter Stimme weiter.

Plötzlich griff ein grauer Uniformärmel nach mir.

Der Uniformärmel hob mich hoch und schmiss mich in das Auto. Meine Schwester hinterher. Dann wurde die Plane wieder über das Auto gezurrt. Es sind noch andere Menschen mitgenommen worden. Es war so eng, dass wir uns überhaupt nicht rühren konnten, eingekeilt waren. Und das war auch gut so. Denn der Wagen fing an zu schlingern. Er fuhr nach rechts und fuhr zickzack. Und dann hörten wir plötzlich, obwohl die Plane immer knatterte, ein anderes, ganz bösartiges Knattern. Das waren die Tiefflieger, die uns beschossen. Die Soldaten sind schnell in den Wald rein gefahren. Da ist ja überall Wald. Über Waldwege, holterdiepolter sind sie weitergefahren. Wir sind den ganzen Tag mit den Soldaten herumgekurvt. Wir hatten nichts zu essen. Aber an Essen oder Trinken haben wir gar nicht gedacht. Nein. Es war so kalt.

Am Abend sind wir mit diesen Soldaten auf einem großen Gut gelandet. Die Gutsherrschaften haben zu uns gesagt: »Ihr könnt im Pferdestall schlafen. Da ist Stroh und da sind auch noch ein paar alte Pferdedecken. Hier das Haus ist mit Frauen und kleinen Kindern so überfüllt. Wir können keinen mehr aufnehmen.« Sie haben uns aber wenigstens eine heiße Suppe gegeben. Wir beide sind zu diesem Pferdestall gegangen. Das war am 25. Januar abends. Wir wollten uns da ins Stroh rollen. Aber das war so kalt von unten, von dem Steinfußboden, dass wir doch wieder aufgestanden sind.

Als wir aus der Stalltür gucken, sitzt auf den Stufen vor der Stalltür ein Volkssturmoffizier. Und das ist unser alter Schuldirektor! Der war zusammengesunken, total erschöpft. Meine Schwester, sie war ein bisschen klüger als ich, sagte: »Wenn wir den jetzt sitzen lassen, erfriert er.« Wir hatten es ja schon gewusst, dass man erfrieren kann beim Schlafen.

Und dann haben wir zwei Mädchen ihm mit unseren Händen auf den Rücken und auf die Schulter geklopft. Wir haben ihm die Arme und die Beine massiert. Bis er wieder zu sich kam, wieder aufstand und wieder lebendig war und ein großer Mann. Wir haben ihn schon vorher erkannt, sonst hätten wir das vielleicht nicht getan. Wir haben wirklich eine Stunde lang an ihm herumgearbeitet, um ihn wieder warm zu kriegen.

Am nächsten Morgen hat er uns mit seinem Trupp mitgenommen. Er hat uns gegen Abend in einem Städtchen an der Bahnlinie über Landsberg an der Oder in einen Güterzug manövrieren können. Ein Güterzug voll mit Flüchtlingen. Aber es waren keine Sitzplätze da, gar nichts. Es waren Viehwaggons. Ein bisschen Stroh lag irgendwo in einem oder zwei von diesen Wagen. In einen dieser Güterwagen stiegen wir ein. Wir waren unterdessen so erschöpft, dass wir nur noch schlafen wollten.