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Der Mensch leidet heute vielfach unter Orientierungslosigkeit und Manipulation. Dennoch bohrt die Frage 'Wer bin ich?' in uns allen den Nerv unserer Identität an. Im Spiegel der Gesellschaft und in dem der Bibel soll gezeigt werden, wie wir uns als Kinder, Frauen und Männer neu finden und begreifen können.Ganz wesentlich ist hierfür die Begegnung mit dem anderen Menschen und mit Gott durch Jesus Christus.
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Seitenzahl: 202
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Wer bin ich – wie soll ich sein?
Kind, Frau, Mann in der Identitätsfindung
Klaus Rudolf Berger
© 2014 Folgen Verlag, Wensin
Autor: Klaus Rudolf Berger
Cover: Eduard Rempel, Düren
Lektorat: Mark Rehfuss
ISBN: 978-3-944187-45-7
Verlags-Seite: www.folgenverlag.de
Kontakt: [email protected]
Shop: www.ceBooks.de
Wer bin ich – wie soll ich sein? ist früher als Buch im Verlag und Schriftenmission d. Ev. Gesellschaft f. D., Wuppertal, erschienen.
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Wilhelm Brinkmann in Freundschaft
»Versuche ich mich zu isolieren, als ob ich ich selbst allein und mir genug sein könnte, so verliere ich mich.« Karl Jasper »Wer in der Beziehung steht, nimmt an einer Wirklichkeit teil, das heißt: an einem Sein, das nicht bloß an ihm und nicht bloß außer ihm ist.« Martin Buber
Vorwort
I. Wer bin ich?
1. Zunächst: Mensch unter Menschen
2. Die Entdeckung des eigenen Wesens: körperlich, seelisch, geistig
3. Erlebnis individueller Fähigkeiten
4. Frustration: Anspruch und Wirklichkeit fallen auseinander
II. Wie soll ich sein? – Gesellschaftlich-kulturelle Antworten
1. Kinder, Frauen und Männer im Spiegel der Massenmedien
2. Erfahrungen in der eigenen Familie
3. Frausein – Mannsein: sich wandelnde Selbstverständnisse
4. Immer mehr Singles?
III. Identitätsfindung
1. Im Lebenslauf
2. Durch Begegnungserlebnisse
3. Im Angenommensein durch andere
IV. Wer bin ich – wie soll ich sein? – Biblische Antworten
1. Ich: ein Geschöpf Gottes
2. Ich: ein gottloser Mensch
3. Ich: wieder in Gemeinschaft mit Gott
4. Ich: ein Nachfolger Jesu Christi
V. Vom »neuen Ich« zum standhaften Selbstbewusstsein
1. Gott hat mich angenommen: neue Selbstsicherheit
2. Vom »neuen Ich« zum Du: frei für den anderen
3. Vom angefochtenen Selbstbewusstsein
VI. Identität als Kind, Frau und Mann
1. In der Familie
2. In der Ehe
Unsere Empfehlungen
Die Frage nach der eigenen Person, dem Sein von Ich, von mir, ist spannend und gleichzeitig gefährlich. Sie ist spannend, weil sie aus den Tiefen des eigenen Nichtverstehens kommt und in ein offenes Feld führt, dessen Bestand noch unerschlossen ist. Sie ist gefährlich, weil sie uns in Bereiche eigenen Fühlens führt, die von uns immer dann schnell verdrängt werden, wenn sie uns spüren und ahnen lassen, dass auch Abgründe in uns schlummern.
Wir Menschen sind in unserem Leben fortwährend in den Zusammenhang mit anderen Menschen gestellt. Sie spiegeln uns wer wir sind – d.h. wie wir auf jene wirken und jene deshalb auf uns so oder so reagieren. Verlassen wir den Erfahrungsraum, der von anderen Menschen ausgestaltet wird, spüren und finden wir uns und die uns umgebende Welt.
Da wir Menschen ein offenes System darstellen, das über die Ausstattung unserer Sinnesorgane alles aufnimmt, was um uns herum lebt und sich ereignet, stehen wir permanent in der Herausforderung, uns zu verhalten bzw. reagieren zu müssen. Genau das aber gibt uns in der Widerspiegelung durch andere Menschen über unsere Gefühle und unser Denken einen Eindruck von dem, wer wir denn wohl sind.
Nun ist die heutige Zeit auf ihre Weise sehr Einflussreich, wenn es um die Projektion von möglichen und unmöglichen Seinsweisen des Menschen geht. Im liberalen Klima und im pluralen Wertesystem unserer Gesellschaft können wir täglich Hinweise abrufen, die den modernen, zeitgemäßen Menschen beschreiben. Er muss fit und schön, leistungsstark und offen für alles Neue sein. Er hat Mobilität, Flexibilität und Kooperation zu Leitbegriffen seines Handelns entworfen. Eigene Standpunkte können hier nur ganz vorsichtig vorgetragen, wenige verteidigt und schon gar nicht gefordert werden. Es ist halt alles relativ! Je nach dem, welchen Standpunkt man einnimmt. Die Konservativen halten an den alten Werten wie Treue, Pflicht, Verantwortung und die Progressiven an der Überzeugung der Herrschaftsfreiheit fest. Die einen beschließen, die Erde anzubeten, die anderen rufen nach der Einheit aller Religionen und wieder andere halten überhaupt nichts von Transzendenz und Glauben – sie erklären sich zu Agnostikern. Sie meinen damit, auf intelligente Weise Seinsweisen wie Transzendenz und dem Ausgeliefertsein möglicher Ereignisse, die unvorhergesehen und unbeeinflussbar auf uns zukommen, entfliehen zu können.
In der soeben angegebenen Skizze von Lebensäußerungen und Erfahrungen steht der einzelne Mensch allein und sieht sich dennoch genötigt, die Frage nach dem eigenen Sein, der eigenen Person, der eigenen Identität zu stellen, will er nicht als »Herdenmensch« im Strudel der Masse sich selbst verlieren. Der Prozess der Identitätsfindung, der das Verhältnis von individuellem Anspruch auf ein bestimmtes, eigenes Lebenskonzept und dessen soziale Anerkennung erkennbar werden lässt, ist durch eigenes Fühlen, Wollen und Handeln in Gang zu setzen. Wer seine eigenen Gefühle nicht sofort unterdrückt, erlebt, wer er ist! Wer seine eigenen Gefühle ernst nimmt, erfährt, was ihn antreibt und was er eigentlich will. Dass Fühlen und Wollen einander bedingen und in uns eine Spannung erzeugen, die ihrerseits zu Handlungen drängt, ist jedem Menschen deutlich. Unser Verstand und unser Gewissen vermitteln zwischen Fühlen und Wollen, parallelisieren beide oder halten sie auf Distanz, je nach dem, welche Werte uns als Leitlinien zur Entscheidungsfindung dienen. Doch trotz alledem, wir stecken oft in dem Dilemma, nicht zu wissen – so jedenfalls äußern wir uns – was wir wollen, was wir tun sollen, ja ob es denn richtig war, diese oder jene Entscheidung getroffen oder nicht getroffen zu haben. Liegt es daran, dass wir der lebensentscheidenden Frage nach dem Keim eigenen Seins ausgewichen sind und diesem ständig ausweichen? Es ist für viele einfacher, Rollen zu spielen, die von anderen in einer Regieanweisung bestimmt werden – Fremdbestimmung vor Eigenbestimmung! Zwischen dem verzweifelten Man-selbst-sein-wollen und dem trotzigen Nicht-selbst-sein-können liegen all jene Erfahrungen, die jeder einzelne Mensch im Laufe seiner Biografie gemacht hat.
Wenn ich in meinem Buch die Frage Wer bin ich? ganz radikal stelle, so deshalb, weil mir die Fremdbestimmung des Menschen in heutiger Zeit als eine Entwürdigung des Menschen vorkommt. Durch Gespräche nach Vorträgen erfuhr ich schmerzlich, wie groß die Sehnsucht ist, zu einer Persönlichkeit zu finden, die weiß was sie will und die im Gegenüber zu anderen dies auch durchhalten kann. Dabei liegt mein Schwerpunkt u. a. auf der Frage, was vor in Sonderheit Christen zu selbstbewussten Persönlichkeiten im Zeitkontext am Ausgang des 20. Jahrhunderts werden lässt. Allerorts ist das von ihnen gelebte und geglaubte Sein quer zu dem, was sich in der Gegenwart der Zeitgenossen abspielt. Sind sie deshalb ewige Besserwisser, Querulanten, falsche Heilige oder einfach verklemmte Typen, die das ganz andere Leben nicht wagen oder vielmehr lebendige Lichter, die Identität und Persönlichkeit besitzen, weil sie dies aus der Nähe und Begegnung zu Gott in Jesus Christus leben? Wenn ja, so wären sie Salz, das der Vermassung der heutigen Menschen einen anderen Geschmack gibt. Oder bleiben sie doch Kinder der Zeit, angepasst an jene, getrieben von ihrem Strom und damit dort schließlich landend, wo jener sie hin spült? Tanzen sie halb nackt zur geistlichen Bachmusik auf Kirchentagen wie im Juni ’91 im Ruhrgebiet, suchen sie ihre Identität als Frau und Mann in den vorgegebenen Rollen und Klischees ihrer Zeit oder sind sie ausgerichtet nach dem, der in seinem Wort, der Bibel, sagt, dass er ihr Schöpfer ist und damit den Anspruch erheben kann, ihnen zu ihrem wahren Sein den Weg zu weisen? Wer bin ich, wenn ich mich aus der Perspektive Gottes spiegeln lasse? Auch diese Frage soll behandelt werden.
Schließlich – wer kennt nicht das lähmende Gefühl, zwischen dem Anspruch eigenen Seinsverständnisses dem nicht gerecht werden zu können, von dem andere sagen oder aber man selbst sagt, dass man sein möchte und sollte? Eltern wünschen sich ihre Kinder nach der Art und Weise, wie sie ihnen lieb und wert sind. Frauen versuchen ihre Männer nach ihren innersten Bildern vom Mannsein zu gestalten und Männer bemühen sich ihrerseits, nach anerzogenen und über die eigenen Mütter erfahrenen Rollen, ihre Frauen zu prägen. Immer steht die Spannung dabei im Raum, dass eigenes Selbst und fremdes So-sollst-du-sein sich reiben. Wer in solchen Spannungen hängen bleibt, muss schließlich krank werden. Entweder er wird zum ausgeprägten Egoisten oder aber zum hoffnungslos fremdbestimmten So-bist-du-mir(uns)-recht-Menschen.
Neben dem Erlebnis der soeben beschriebenen Spannung, die über Kommunikation und Interaktion erfahren wird, steht die tiefe innere Gewissheit, anders sein zu wollen als man eben ist. Ja, nur wie Menschen als Frauen, als Männer und schließlich auch als Kinder sein sollten, ist uns in unserer Wesensart teilweise mitgegeben. Nicht nur unsere Gene sprechen hier eine deutliche Sprache, auch unser Gewissen. Nach dem biblisch überlieferten und historisch bezeugten Fall des Menschen ist uns ein Wissen um Gut und Böse, um Sein von Kind, Frau und Mann mitgegeben. Sonderlich wird dies geprägt, gelernt und ausgebildet im Prozess unserer familiären Sozialisation. Doch trotz alledem, wir sind hier nicht nur Objekte frühkindlicher Prägung, wir sind von Gott als Kinder, als Frauen und Männer Gewollte.
Gerade die Identität als Frau und Mann wird in unserer Zeit aller Traditionen beraubt und steht in der Gefahr, sich bis ins Krankhafte aufzulösen. Vor einiger Zeit brachte die Kultursendung Aspekte im ZDF einen Beitrag, der den Postfeminismus vorstellte. Weibliche Pornografie à la Madonna und weibliche Philosophie vermittelten ein neues Bild von Frausein, das im hohen Maße irritierte, herausforderte und zur Infragestellung etablierten Frauseins führte. Neben solch progressiven Projektionen modernen Frauseins steht aber die Tradition der braven Hausfrau oder die der Karrierefrau, die endlich den Männern in den Führungsetagen das Fürchten lehrt.
Den Männern geht es hier nicht wesentlich besser. Sind jene Machos oder Softies, Patriarchen oder feministisch angehauchte Wesen, die die Frau in sich entdecken? Sind beide gar androgyne Wesen, die jeweils Anteile von Mann bzw. Frau in sich vereinen, so wie es etwa die New-Ager propagieren?
Selbstverständnis und Selbstfindung, Persönlichkeitsbildung und Persönlichkeit, Themen, die ich ansprechen möchte, damit Impulse gegeben werden, im eigenen Leben danach zu forschen und eigene Erfahrungen in dieser Hinsicht neu zu reflektieren. Doch hierbei will ich nicht stehenbleiben. Gleichzeitig möchte ich auf dem Hintergrund allgemein anerkannter Fakten und biblischer Aussagen dazu verhelfen, dass Identitätsfindung und Persönlichkeitsbildung mehr und mehr im Horizont menschlicher Würde und biblischer Wahrheit realisiert werden. Ein Buch also, das Lebenshilfe und Lebenskorrektur, Lebensreflektion und Lebensfindung anbieten möchte. Vermessen, dies zu wollen – mit 37 Jahren und eigenen unzähligen Schwächen, Fragen und Zweifeln? Den Mut hierzu erhalte ich aus der tiefen Gewissheit, darüber berichten zu müssen und davon erzählen zu sollen, dass Selbstbewusstsein Gottesbewusstsein voraussetzt und jeder Mensch, der über diese Erde geht, nicht ein blinder Zufall ist, sondern aus dem Willen Gottes kommt. So bilden zwei Ebenen meinen Reflexionshintergrund: die eine besteht aus den Daten, die über die Humanwissenschaften von und zu uns Menschen gewonnen wurden und die andere bildet sich durch die biblischen, geistlichen Antworten und Aussagen zu den vielen Fragen unserer Anthropologie und Psyche. Beide Ebenen werden von der Überzeugung umrahmt sein, dass wir Menschen ganzheitlich, nach Leib, Seele und Geist zu verstehen sind. Dem entsprechend sind auch Identität und Persönlichkeit nach ihrer leiblichen, seelischen und geistigen Bedeutung anzusehen.
In der Konstruktion des Buches gehe ich didaktisch von außen nach innen vor. Dabei nehme ich Daten aus der Philosophie, der Soziologie, der Psychologie und der Verhaltensforschung auf, um die Fragen Wer bin ich, wie soll ich sein und wie finde ich zu meiner Identität? beantworten zu können. Sie alle beschreiben Tatbestände, unter denen wir leiden, die wir als gegeben akzeptieren müssen und die uns erfreuen, weil sie uns da sein lassen. Aussagen der Bibel sollen anschließend zeigen, wer wir aus Gottes Sicht sind und wie wir sein sollten. Sie führen uns nach innen, zu unserem geistlichen Sein und stellen uns vor die Entscheidung zur Identitätsfindung und Persönlichkeit, wie sie schöpfungsgemäß angelegt ist, durchzubrechen oder nicht.
In einem hierauf folgenden Abschnitt entfaltet sich dann ein nach biblischem Prinzip gestaltetes Modell von Identität und Persönlichkeit, das an der Realität von Familie, Frausein und Mannsein orientiert ist und darüber hinaus die Entstehung eines neuen Selbstbewusstseins skizziert, das nicht im Egoismus gekleidet ist und der Macht huldigt, sondern vom angenommenen ehrlichen Ja zum Ich der eigenen Person ein offenes Verhältnis zum Du des anderen bekommen kann.
Methodisch wage ich die Konkretion zur Lebenshilfe, in dem ich jedem der einzelnen sechs Kapitel Fragen und Appelle an den Leser hinzufüge, die zur Zusammenfassung und zur Umsetzung ins eigene Erleben dienen sollen.
Lemgo, Klaus Rudolf Berger
Fragen nach dem Wesen eigenen Seins kommen zu verschiedenen Zeiten im Lebenslauf von uns Menschen vor. Angestoßen werden sie durch vielfältige Situationen, die sich im Miteinandererleben bilden. So fragte zum Beispiel meine Frau unsere dreijährige Tochter Karen, als sie sie beim Spielen beobachtete und sich über ihr drolliges, selbstbewusstes und mimisch-gestisch stark ausgeprägtes Verhalten wunderte: »Karen, wer bist du eigentlich?« Karen antwortete darauf: »Ich bin Ich!« In dieser Antwort klingt eine Sicherheit an, die aus tiefem Vertrauen und dem Wissen um Geborgenheit gebildet wurde. Als meine Frau mir dies so erzählte und wir uns weitergehende Gedanken zu Karens Aussage machten, bewegte uns neben Freude auch etwas Neid. So möchten wir auch zu uns stehen – wir sind der wir sind! Doch im Unterschied zu unserer dreijährigen Karen sind wir von Zweifeln und Erlebnissen erfüllt, die die Frage nach dem eigenen Wesen schwerer sein lässt, weil schon viele andere Menschen uns hierauf eine Antwort gaben. Um die Komplexität und den damit verbundenen Hintergrund zu der Frage, wer wir denn eigentlich sind, zu begreifen, gebe ich jetzt verschiedene Hinweise, die beispielhaft den Kontext der Frage – Wer bin ich? – ausleuchten und damit die Entwicklung der wichtigsten Frage um die eigene Persönlichkeit verdeutlichen.
Bei der Geburt werden wir Menschen in eine uns unbekannte, viele Reize und Impulse für uns bereithaltende Welt gedrückt, die fortan zu unserer Welt wird und unsere Wirklichkeit bestimmt. Die Phänomenologen unter den Philosophen haben versucht, das Gesamtphänomen der Welt des Menschen zu verstehen. So sprach Edmund Husserl von der »Lebenswelt«1 des Menschen, in der er sich mit den Dingen und Menschen um ihn her in sehr konkreter Weise vertraut macht. Martin Heidegger geht noch weiter und spricht von dem »In-der-Welt-Sein«2 des Menschen, womit er dessen gesamte Entfaltungsmöglichkeiten durch das Phänomen des In-der-Welt-Seins begründet sieht. Demnach bildet die Welt, in der wir leben, die Basis und die Ganzheit unseres konkreten Lebensraumes und Verständnishorizontes. Wer bin ich? – wird demnach konkret im individuellen Lebensraum seine Beantwortung finden und von der Erfahrung einer räumlich zeitlichen Wirklichkeit bestimmt sein.
Zu einer ganz bestimmten Zeit in einem ganz bestimmten Ort und Raum kamen wir zur Welt. Meist in unserer zivilisierten Welt in einem Kreißsaal eines Krankenhauses oder eventuell bei einer Hausgeburt im Schlafzimmer unserer Eltern. Mit dem Geburtshinweis ist gleichzeitig ein Verweis auf unsere personale und soziale Erfahrungsdimension von Welt gegeben. Wir sind bei unserer Geburt in eine Welt gegeben worden, die uns das Erlebnis von Menschen umgeben zu sein vermittelt. An der Brust der Mutter fühlen wir uns wohl, durch den Klang ihrer Stimme werden wir angeregt und im Kreis der Familie machen wir erste soziale Erfahrungen. Halten wir an dieser Stelle einmal einen Moment inne, um die soeben aufgezählten Fakten zu verdauen. Spüren wir beim wiederholten Überdenken nicht, wie gewaltig die räumlich-zeitliche Wirklichkeitserfahrung und die personale und soziale Erfahrungsdimension, von Menschen umstellt zu sein, uns geprägt, geformt und damit gebildet haben? Sprechen wir doch einmal mit uns vertrauten lieben Mitmenschen und Freunden über unsere Kindheitserfahrungen, so entdecken wir wieder, wie viel von dem noch in uns lebt, was uns damals getroffen hat.
Da sind die einen im Krieg zur Welt gekommen, die anderen im Frieden und unter großer Fürsorge und verantwortlicher Begleitung. Da hatten jene eine liebende Mutter und einen kinderbegeisterten Vater und andere wiederum keine Mutter, sondern Onkel und Tanten, vielleicht sogar das Kinderheim, in dem sie auf die Suche nach Liebe, Geborgenheit, Verständnis und Vertrauen gingen.
Für dich und mich gab es immer genügend Raum zur Weltentdeckung, wobei es für sie und ihn nur den Hinterhof der Großstadt, mit Lärm und Gestank gab – auch dies kann man sich erzählen. Wir Menschen sind Wesen, die offen für die uns umgebende Welt geschaffen wurden. Wie sehr uns dies formt, merken wir erst, wenn wir die Frage nach dem eigentlichen Wesen unserer Person stellen. Dabei sind die uns umgebenden Menschen die wesentlichen Faktoren, die uns beeinflussen und formen. Bis wir selbstständig Entscheidungen treffen und Handlungen verantworten können, sind viele Jahre unseres Lebens mit allen möglichen Erlebnissen verstrichen.
Skizzieren wir einmal einen vorstellbaren Sozialisationsverlauf bis zur gesellschaftlich akzeptierten Volljährigkeit mit 18 Jahren, wobei die nicht unwichtige Frage, ob wir uns dabei auf die soziokulturelle Entwicklung eines Jungen oder eines Mädchens konzentrieren, vernachlässigt werden kann, obwohl ich weiß, dass hier Unterschiedsvarianten anzumerken wären. Wir werden hierüber sehen, wie die Tatsache, als Mensch unter Menschen zu leben, die Frage nach dem Wesen eigenen Seins beeinflusst.
Individuum X kommt am Tag X zur Stunde X im Krankenhaus X zur Welt. Die Mutter hatte eine gute vaginale Geburt und unser Individuum (weiterhin einfach mit A bezeichnet) war selbst bei bester Gesundheit. Der Vater von A freute sich über sein Kind. Auch die Geschwister fanden schnell das neue Geschwisterchen ganz toll. So wie die Geburt verlief, so verlief auch die gesamte frühe Kindheit. Fürsorge, eine reizvolle Umwelt, gute Freunde, nette Kindergärtnerinnen und verständnisvolle Grundschullehrer begleiteten den Lebensweg von A. Politisch sind die Eltern von A gemäßigt liberal, wobei sie den Kindern ihre persönliche Meinung zur Politik, Kultur und Religion nicht verheimlichen.
Im Gegenteil, Überzeugungen werden in der Familie von A begründet und auf Nachfrage nach Möglichkeit zur Zufriedenheit von A erklärt. A wächst so in einer Familie auf, die offen und zugewandt A vom ersten Tag seines Lebens an begleitet. Ist A damit auf dem Weg zu einer gesunden Persönlichkeit, zu einer stabilen Identität zu finden? Nach allem, was die Wissenschaft im Bereich der Entwicklungspsychologie, der Moralentwicklung, der Persönlichkeitsentwicklung etc. in den letzten 15 Jahren herausgearbeitet hat, kann man dies nur vermuten. Ein Gegenbeispiel abschreckender Art lässt sich aber auch beschreiben, wobei ihm sicherlich viele Einzelschicksale zuzuordnen sind, die tagtäglich geschehen und die Hilferufe Wer bin ich? Was soll ich eigentlich in dieser Welt? nicht verstummen lassen.
Nennen wir das Individuum in unserem abschreckenden Beispiel B. Für dieses ist bei der Geburt schon klar, dass es von seiner Mutter nicht angenommen werden wird. Es ist zur Adoption freigegeben. Nun bekommt es »neue« Eltern, die aber keinesfalls besser für es sorgen. Probleme über Probleme tun sich auf und zeichnen den Lebensweg.
Wer wir sind, wird demnach ganz entscheidend durch Menschen mitbestimmt, die uns in frühen Jahren unseres Lebens zur Seite gestellt sind und uns auch späterhin begleiten. Wer bin ich, wenn ich daran denke, wie viele Menschen mich bis heute spiegelten, mich beeinflussten, von mir etwas wollten und mir andererseits aber auch Anerkennung, Hilfe und Liebe zuteil werden ließen? Sicher können wir uns nicht ausschließlich durch andere Menschen im eigenen Sein definieren – dennoch, sie spielen eine wesentliche Rolle. Doch an anderer Stelle kommen wir auf diese Gedanken noch einmal zurück, in dem wir sie unter spezifischen Gesichtspunkten noch einmal beleuchten (vgl. Kapitel II,2; Kapitel 111,1 +2; Kapitel V,1 und Kapitel VI,2+3). Die menschliche Wirklichkeit des Lebens spielt sich in der personal erfahrbaren Weise der Welt in der Gemeinschaft mit anderen Menschen ab und ist so gesehen in ihrem eigentlichen Charakter durch Kommunikation gekennzeichnet. Wir können so an Erfahrungen, Einsichten und Auffassungen von uns umgebenden Menschen teilnehmen. Auch hierüber wird die Frage des Wer-bin-ich thematisiert, wenn durch Teilnahme Betroffenheit und durch Betroffenheit die Rückfrage an das eigene Leben aufbricht, z. B. im Erleben von Tod, Krankheit, Verlust der Arbeit und dergleichen mehr bei uns nahen und bekannten Menschen. Der Blick auf den anderen spiegelt immer auch das eigene Leben, wobei der Begegnung hier der Vorrang vor dem Vergleich gegeben werden muss. Führt dieser doch schnell zur Verbitterung – was leistet der andere und ich nicht, was hat der andere und ich nicht, was stellt der andere dar und ich nicht, was kann der andere und ich so wenig usw. Die Begegnung lässt den anderen Anerkennung erfahren und stellt die eigene Sehensweise nicht in Frage. Ferner lässt sie Freundschaft und Achtung, Zuneigung und Unterstützung für den anderen entstehen, während der Vergleich Neid, Hass und Aggression gebiert.
1 Edmund Husserl, Erfahrungen und Urteil, Hamburg 2/1954.
2 Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 12/1967.
Insgesamt fünfmal hatten meine Frau und ich bisher die Chance, die Entwicklung unserer Kinder zu beobachten. Dabei fiel mir besonders auf, wie sich auch die Annahme des eigenen Daseins in den Ausdrucksweisen von Körper, Seele und Geist realisiert. Der Entwicklungspsychologie ist es zu danken, dass wir heute vielfältige Informationen über die Bildung des eigenen Seins haben.
Wie spielen die Säuglinge und die Kleinkinder mit ihren Händchen – heute unser Lucas Martin mit 15 Monaten mit seinem ganzen Körper. Noch vor ein paar Tagen konnte ich ihn beobachten, wie er auf dem Boden liegend sich drehte und wälzte, dabei die Beine abwechselnd hob und schließlich seinen linken Fuß zum Mund führte. Dadurch bewegt er seine Muskulatur, erfährt sich selbst und genießt all dies ganz offensichtlich. Die dreijährige Karen fährt schon seit einigen Wochen selbstständig und ohne Stützräder auf ihrem kleinen Fahrrad, wobei sie das Lenken und Balancehalten ständig neu unter Beweis stellen muss. Fällt sie hin, so erfährt sie Schmerz, weint, steht wieder auf und fährt weiter. Laufen und Fahrradfahren, Klettern und das Joggen mit mir sind ihr unmittelbare Körpererfahrungen, die sie selbstsicher und freier in ihren Handlungen werden lässt. Dasselbe gilt natürlich auch für den Kleinsten – seitdem er sicherer frei gehen kann, bewegt er sich noch schneller und entschlossener auf Gegenstände zu, die er haben möchte.
Während der Pubertät erhalten wir Menschen noch eine ganz andere Dimension von Körpererfahrung – wir reifen geschlechtlich heran und bereiten uns biologisch gesehen auf die Kompetenz vor, sexuell fortpflanzungsfähig zu werden. Dabei verändert sich unser Körper – die körperlichen Merkmale der Geschlechtsreife bilden sich heraus: bei dem Mädchen bilden sich die Brüste und die Monatsblutung setzt ein, beim Jungen zeigen sich Bartstoppeln, eine Veränderung in der Stimme und der erste Samenerguss wird erlebt.
Wer sind wir als geschlechtlich heranwachsende Frauen und Männer – körperlich, seelisch und geistig wird dies intensiv erlebt, zumal besonders dann sehr stark, wenn wir große Aufmerksamkeit des anderen Geschlechts erleben oder mit Missachtung in jener Lebensphase zu rechnen haben. Über die Jugendzeit hinaus sind die Körpererfahrungen mit herannahendem Älterwerden durchaus auch häufiger von Schwäche und dem Bewusstsein: »Ich kann nicht mehr so wie früher!«, gekennzeichnet. Im Alter nimmt dieses Erfahrungsmoment zu und zeigt, dass das Angewiesensein auf andere Menschen, die der eigenen Schwäche aufhelfen, zunimmt.
Unabhängig von körperlicher Ich-Erfahrung im Lebenslauf stehen all jene Körpererfahrungen, die im Zusammenhang von intensivem Körpertraining stehen. Seitdem ich regelmäßig in der Woche die Sauna besuche und durch den bei uns in unmittelbarer Nähe gelegenen Wald jogge, stelle ich eine Beeinflussung von Körpererfahrung auf die Selbstdefinition im Sinne der Frage Wer bin ich eigentlich? fest.
Am Anfang war es ein mühsames Geschäft, meinen Körper zum Laufen zu motivieren. Von zehn Minuten bis heute einer Stunde, von 1, 5 Kilometern bis heute im Schnitt acht Kilometern, von anfänglichem Laufen auf ebenen Strecken bis heute zu Steigungen von erheblichem Maße liegen Welten und unzählige Körpererfahrungen. Diese reichen über Schmerzen bis hin zu Hochgefühlen, von dem Erlebnis der Ohnmacht, weil ich nur für so kurze Distanz Luft und Kraft hatte, bis zu dem der körperlichen Leistungsfähigkeit. Zu alledem erfuhr ich, dass diese Form der Körpererfahrung, die landläufig unter Fitness eingeordnet wird, zu einer ganzheitlichen für mich wurde.
Nach der Überwindung erster Laufprobleme und dem Erlebnis zunehmender Souveränität, konnte ich mich neben richtigem Atmen, richtiger Laufhaltung, laufgemäßer Fussabrollbewegung und leichter, der Wegstrecke angepasster Laufrhythmik auf weitere Körpererfahrung konzentrieren: der Erfahrung von Wärme, von Kälte, von Wind und Regen, vom Singen der Vögel und Rauschen der Bäume und von all dem vielen anderen, was sich mir im Wald zeigte, so dass jeder einzelne Lauf zu einem ganz eigenen und stets neuen Erlebnis für mich geworden ist.
Neben dem Laufen ist mir das Fahrradfahren und Schwimmen wichtig, wobei wieder ganz andere, dem jeweils anderen Bewegungsablauf mit jeweils wiederum eigenen Umfeldern (Fahrradsattel, Beanspruchung der Gelenke auf andere Weise, Straße, Wasser, das umfassend den Körper umgibt, je nachdem, welche Schwimmart gewählt wird) angepassten Körpererfahrungen gemacht werden. All dies, einmal stärker reflektiert, bildet auf der Körperebene den Eindruck von Ich, so dass auch Körpererfahrung Signale und Impulse, Eindrücke und Empfindungen von uns und an uns übermittelt. Je mehr ich diesem Erfahrungsfeld unserer Sinne nachgehe, je mehr muss ich feststellen, dass dies bei uns im Westen, in unserer Kultur lange Zeit vernachlässigt wurde. In der Erziehung und schulischen Bildung sollten wir hierfür mehr Spielraum schaffen. Wir erschließen uns hierüber in noch höherem Maße einen Zugang zu uns selbst und zu der Welt, in der wir leben.
Ich meine dies allerdings nicht im ideologischen Sinne, wie dies im New Age oder im Körper- und Erfahrungskult heutiger Zeit geschieht. So sagte mir unlängst jemand, es wäre besser zu Fuß zu gehen als mit dem Fahrrad zu fahren, da man per pedes der Erde näher sei und somit unmittelbarer mit ihr Kontakt haben könnte. Solche Rituale manipulieren uns, weil sie unser Heil im Kontakt zur Mutter Erde suggerieren. Beim Jogging, so meinen jene, solle man jeweils ein Mantra sprechen, um richtig in Stimmung zu geraten. Wieder andere begeben sich über Körpererfahren in einen Körperegotrip, in dem sie sich hauptsächlich körperlich verstehen – schön, fit und leistungsstark sind dann Attribute, denen sie huldigen. Vor solchen Irrungen sollten wir uns hüten, ihnen soll nicht das Wort geredet werden. Um sich vor solchen Abwegen zu schützen, ist es hilfreich, die Balance von der Körpererfahrung zur seelischen und geistigen Erfahrung zu halten.
Erste Gefühlserfahrungen machen wir Menschen nach neuesten Erkenntnissen der pränatalen Psychologie schon im zweiten Schwangerschaftsdrittel. Hier ist der menschliche Fetus schon so weit entwickelt, dass die Annahme der Ich-Bildung begründet erscheint. Dr. Thomas Verny schreibt:
»Sein Nervensystem ist jetzt in der Lage, Empfindungen an die höheren Gehirnzentren weiterzuleiten. Diese noch weitgehend körperlichen Botschaften fördern die neurologische Entwicklung des Kindes, ohne die spätere komplexere Aufgaben nicht möglich sind. Nehmen wir als Beispiel an, dass ein hektischer Tag der Mutter auch das Kind ermüdet hat. Diese Ermüdung löst bei ihm Unbehagen aus, ein primitives Gefühl, durch das auch das Nervensystem des Ungeborenen ins Spiel kommt. Der Versuch des Fetus, dieses Gefühl zu verstehen, bezieht dann auch noch das Gehirn mit ein. Haben erst einmal ausreichend viele solcher Ereignisse stattgefunden, sind die Wahrnehmungszentren im Gehirn schließlich trainiert genug, um auch subtilere und komplexere Botschaften der Mutter zu verarbeiten (Übung macht eben auch aus Ungeborenen Meister!) Wie dieser Prozess im Mutterleib beginnt, möchte ich am Beispiel einer sehr häufigen mütterlichen Emotion – Angst – und ihrem Beitrag zur Ich-Entwicklung zeigen.
In Maßen ist Angst günstig für den Fetus. Sie stört sein Gefühl, mit der Umwelt eins zu sein, und macht ihm daher seine Getrenntheit, sein Anders-Sein bewusst. Sie treibt ihn auch zu einer Handlung an. Durch lärmende Botschaften aufgeregt, betrübt oder verwirrt zu werden, ist eine unbehagliche Erfahrung. Das Kind strampelt, windet sich, beginnt allmählich Wege zu finden, wie es der Angst aus dem Wege gehen kann – kurz gesagt, es beginnt, eine Serie von Abwehrmechanismen aufzubauen. Mit der Zeit verfeinern sich seine Erfahrungen von Angst und seine Möglichkeiten, damit umzugehen. Was als stumpfes, unbehagliches Gefühl begann, entwickelt sich über Monate hinweg zu etwas ganz anderem. Es wirkt eine Emotion, bekommt einen deutlichen Ursprung, die Mutter bringt das Kind dazu, über die Absichten dieses Ursprungs nachzudenken und zwingt es, sich Wege auszudenken, um mit diesen Absichten umzugehen und erzeugt ein Bündel von Erinnerungen, auf die es sich später beziehen kann.
Die Fundamente für Zorn werden auf ähnliche Weise gelegt, auch wenn die Wurzeln dieses Gefühls andere sind. Wir kennen bei den Neugeborenen einen spezifischen Wutschrei und eine Möglichkeit, ihn auszulösen, ist, seine Bewegungsfreiheit einzuschränken. Halten sie einmal seinen Arm oder sein Bein fest und es wird wütend schreien. Mit großer Sicherheit reagiert es auch vor der Geburt ähnlich. Wenn die Mutter einmal zufällig in einer für das Kind unbequemen Haltung sitzt oder liegt, wird es zornig. Unangenehme Geräusche, wie etwa Schreie des Vaters, lösen die gleiche Reaktion aus. Ebenso wie für die Angst gilt auch hier, dass Wut in kleinen Mengen die fetale Entwicklung begünstigt, weil sie die Entwicklung rudimentärer, intellektueller Gehirnverbindungen beschleunigt. Wird das Baby festgehalten, lernt es etwas über die Ursache und Wirkung – die Art, wie seine Mutter sitzt oder liegt, verursacht Krämpfe und macht es zornig – das ist der Vorläufer einer menschlichen Gedankenkette.«3
Kleinkinder zeigen ganz offen und unmittelbar ihre Gefühle. Freude und Trauer, Lebenslust und Niedergeschlagenheit, alles bricht unvermittelt ein. Bei den Erwachsenen ist das ganz anders. Hier werden Gefühle unterdrückt, verstellt, verleugnet und verdrängt. Je nachdem, wie wir lernten mit unseren Gefühlen umzugehen, lassen wir sie zu oder nicht. All dies macht uns ebenso zu dem, was wir sind, wie das, was wir körperlich wahrnehmen. Das Erschrecken bei Ungerechtigkeit, die Betroffenheit angesichts großen Leids und die vielen sich spontan einstellenden Situationen, die Angst hervorrufen, dies alles sind Beispiele für Gefühlsäußerungen, die anschließend entsprechende Erfahrungen verdeutlichen. Wie war die westliche Welt gefühlsmäßig angespannt, als im Frühjahr 1991 der Golfkrieg begann. Bangen und Zagen, Hoffen und Zweifeln um schlimmste Auswirkungen, vielleicht sogar der Ausbruch eines Dritten Weltkrieges, all dies wurde diskutiert und emotional nachempfunden. In dieser Zeit konnten wir einmal mehr wieder erfahren, wer wir sind, wenn solche Situationen wie Kriege auf uns zukommen. Neben solch finsteren Gegebenheiten gibt es auch viel positive Emotionen, die wir bei uns erfahren können. Geliebtwerden und Angenommensein lässt in uns Gefühle der Wonne und Freude, ja des tiefsten Glücks finden. Um dies zu verstehen, muss man nur Verliebte beobachten und sich selbst befragen, wie es war, als die Liebe noch Purzelbaum in einem schlug. Die Zeit solcher Hochgefühle drückt sich bei manchem in lyrischen Produktionen aus.
Aber darüber hinaus ist jeder Tag angefüllt mit Erfahrungsmöglichkeiten seelischer Art. Vor einem entscheidenden Termin klopft das Herz schneller und der Blutdruck steigt. Schon das Zusammensein mit bestimmten Menschen lässt uns Zuneigung oder Ablehnung, ängstliche Zurückhaltung oder angriffiges Zugehen praktizieren. Bezogen auf Mann und Frau spricht man von Gefühlsunterschieden, die sicher nicht in den tradierten Klischees steckenbleiben sollten. Eine Frau hat mütterliche Gefühle zu haben, ein Mann weint nicht, da angeblich Indianer keinen Schmerz kennen. Sind wir Männer nicht meistens wehleidiger und empfindlicher als Frauen? Kleine körperliche Leiden lassen mich oft schon verzweifeln, während meine Frau mir in dem Erdulden ihrer mannigfaltigen Schmerzen oft ein Vorbild ist. Was männlich, was weiblich ist, lässt sich neben eindeutig biologisch festgelegten Kennzeichen bezogen auf den emotionalen Bereich menschlichen Lebens schlecht bestimmen. Nach einer psychologischen Untersuchung, die Susan Brownmiller in ihrem Buch »Weiblichkeit«, Frankfurt am Main 1984, erwähnt, wurde folgende Gefühlsgruppe für Frauen aufgestellt:
weint sehr leicht,
sehr emotional,
in kleinen Krisensituationen sehr leicht erregbar,
reagiert sehr empfindlich,
leicht beeinflussbar,
äußerst subjektiv,
unfähig, Gefühle von Gedanken zu trennen.
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Könnte dies nicht auch für so manchen Mann zutreffen? Gefühle zu erleben, in denen man sich im Ausleben erfährt oder die man unterdrücken muss, ist auch in vielen, vielleicht sogar den meisten Fällen auf eine entsprechende Erziehung und Atmosphäre in der Familie zurückführbar. Konnte ich meine Gefühle zeigen oder wurde von mir verlangt sie zu unterdrücken? Lernte ich, sie unter Kontrolle zu bringen oder beherrschen sie mich immer so sehr, dass es dann immer so einfach über mich kam? Wichtige Fragen, die den Gefühlsanteil in seiner Bedeutung für unser Selbst deutlich markieren.
Abschließend sei darauf hingewiesen, dass Gefühle auch von Hormonen beeinflusst werden können. Das Hochgefühl beim Laufen hat ebenso etwas damit zu tun wie die Stimmungsschwankungen bei Frauen, wenn sie ihren Menstruationszyklus bekommen. In dem Buch von Jean Lush und Patricia H. Rushford mit dem deutschen Titel: »Was ist nur wieder los mit mir? Die Gefühle im Leben der Frau«, wird sehr eindrücklich beschrieben, wie der Menstruationszyklus die Gefühlswelt der Frau durcheinanderwirbeln kann.5 In dieser Zeit erleben die Frauen ein Auf und Ab an Gefühlen, so dass das von den Autorinnen gewählte Bild von steigender Flut, Hochwasser, furchtbarer See, der Stille vor dem Sturm, dem weichenden Wasser und der Ebbe mit der damit verbundenen Wende zu vergleichen ist.
Gefühlsmomente, die der Frau ganz deutlich vermitteln, dass sie Frau ist und jederzeit Mutter werden kann, wenn sie denn einen Mann hat und fortpflanzungsfähig ist.
Gefühle begleiten uns Menschen ständig, auch ein Nichtfühlen ist ein Fühlen! Sie zeigen, wer wir in den jeweiligen Situationen unseres Lebens sind und wie wir auf andere Menschen reagieren. Sie vermitteln uns einen oft ersten Eindruck vom anderen, der sich dann durch weitere Erlebnisse mit ihm bestätigt oder nicht. Nehmen wir unsere Gefühle ernst, so haben wir die Chancen, uns besser kennenzulernen und unseren Platz in den Umschluss von anderen Menschen besser einnehmen zu können. Schließlich ist unser Gefühl unmittelbar mit dem identisch, was in uns lebt. Auch Hass und Neid, Eifersucht und Zorn, Aggression und Egoismus lassen im Alltag deutlich werden, wozu wir Menschen gefühlsmäßig fähig sind. Demnach sind wir Menschen nicht nur edel, hilfreich und gut, sondern oft auch niederträchtig und gemein. Müssen wir nicht erschrecken, wenn wir uns so erleben? Wenn sich die soeben aufgezählten Negativgefühle manifestieren, so kann es sein, dass sie uns weitgehend in unserem Denken und Handeln leiten. Alle haben sie dann eines gemeinsam, sie führen uns zur Destruktion und damit zur Schädigung des anderen Menschen oder von uns selbst.
Wer sind wir, wenn wir uns vor dem Hintergrund unserer täglichen Gefühlserlebnisse definieren? Eine ernste Frage, da sie je nachdem, wie die ehrliche Antwort ausfällt, unser wahres Wesen offenbart. Geben wir vielleicht deshalb so wenig von unseren Gefühlen preis, weil wir vor uns selbst erschrecken oder weil wir es noch nicht wagten, uns gefühlsmäßig zu erkunden? Wie wir noch sehen werden, auch von Gefühlen müssen wir frei werden, wenn sie uns versklaven und dadurch unserem Nächsten das Leben zur Hölle werden lassen.
Gerade in unserer heutigen Zeit spielen Geisterfahrungen eine bedeutende Rolle. Durch die New-Age-Bewegung6 kam der Hinweis auf den Menschen als anthropologisch primäres Geistwesen ganz neu wieder auf. Wir können als Menschen Geisterfahrung machen. Unsere Träume belegen das, aber auch unsere Liebe zu Büchern, Musik und den Austausch mit anderen Menschen. Schon die Bibel bezeugt eindeutig, dass wir Menschen von Gott durch seinen Odem zu Geistmenschen geschaffen wurden. Die jeden Menschen bewegende Frage nach Gott, nach Transzendenz ist ein weiterer Beleg dafür. Schließlich bezeugt die Okkult-Welle heute dasselbe: Menschen nehmen Kontakt mit Geistern auf; weil sie selbst Geist sind, kann es gelingen. Selbst in Kreisen frommer Christen wird die Frage nach Geisterfahrung als enorm wichtig angesehen. Sogenannte Charismatiker definieren sich gerade durch Geisttaufe und Geisterfahrung als besonders echte Christen.
Zeigt nicht all dies, dass wir Menschen uns auch als Geistwesen erfahren, die von Geist beeinflusst und beeindruckt werden? Liegt nicht schon in dem Ausspruch: »Das hat mich total begeistert« viel von dem, was wir gerade angesprochen haben? Wenden wir das Gesagte einmal ganz praktisch an, so müssen wir sagen, dass wir auch durch das, was wir lesen, hören, sehen und fühlen in dem bestimmt und geformt werden, was wir dann schließlich sind. Anders gewendet: sage mir was du liest, gerne siehst (besonders im Fernsehen), gerne hörst (besonders, wenn andere Menschen dabei sind) und ich kann dir sagen, wer du bist.
Nun wird man einwenden können, dass wir Menschen doch auch denken können und über den Verstand verfügen, der uns als Überprüfungsinstrument zur Verfügung steht, um nicht alles aufzusaugen, was wir lesen, sehen und hören. In gewisser Weise ist dies auch zutreffend: Bildung und Erziehung, religiöse und ethische Maßstäbe, ja die Gewissensbildung schlechthin wird auswählen. Dennoch, was uns eigentlich gefällt, entzieht sich immer ein Stück der Selbstkritik. Unsere Schätze lassen uns beurteilungsblind werden. Entsprechend ist es nicht unwichtig, gültige Maßstäbe für unser Leben zu kennen, die die Qualität der Allgemeingültigkeit, der Wahrhaftigkeit und der Lebensgefühle besitzen. In der Bibel werden uns durch die Zehn Gebote7 solche Maßstäbe zur Beurteilung von Geisterfahrungen gegeben, ferner im Doppelgebot der Liebe, wie es Jesus Christus seinen Jüngern mitteilte.8
Abschließend ein weiterer Aspekt: der Mensch hat als vernunftbegabtes Geistwesen die Möglichkeit, Willensentscheidungen planend in die Tat umzusetzen. Demgemäß lässt sich von uns die Frage nach dem eigenen Wesen auch durch die Rückverfolgung unserer Handlungen beantworten. Wenn wir uns fragen: Wann habe ich das getan?, so begeben wir uns auf den Weg, eigenes Handeln zu überprüfen. Anders können wir auch fragen: Warum habe ich dies/jenes getan? Wir kommen durch diese Fragen auf uns selbst zurück.
3 Thomas Verny, Das Seelenleben des Ungeborenen, München 1981, S. 55f.; vgl. auch: Werner Gross, Was erlebt ein Kind im Mutterleib?, Freiburg im Breisgau 1982.
4 Susan Brownmiller, Weiblichkeit, Frankfurt am Main 1984, S. 213.
5 Vgl. Jean Lush/ Patricia H. Rushford, Was ist nur wieder los mit mir? Die Gefühle im Leben der Frau, Aßlar 1988, S. 28-41.
6 Vgl. Klaus Berger, New Age – Ausweg oder Irrweg?, Aßlar 3/ 1989.
7 Vgl. 2. Mose 20.
8 Vgl. Matthäus 19,19.
Schon unter dem ersten Gesichtspunkt zu der Frage Wer bin ich? wurde deutlich, dass die Antwort hierauf nie ohne den Bezug zu anderen Menschen gefunden werden kann. Der Arzt und Philosoph Karl Jasper (1883-1969) schreibt in seinem Hauptwerk »Von der Wahrheit«:
»Was ich selbst bin und was ist, erfahre ich nur durch das, was ich getan habe, und dies im Widerhall des Anderen.«9
Gerade durch ganz eigene Fähigkeiten, die uns im Vergleich mit anderen qualifizieren, wächst uns ein hohes Maß an Selbstsicherheit zu. Die Kinder erfahren sich im spielerischen Umgang als schnelle, kluge, gewandte, oder auch als ruhiger, aufmerksamer als ihre Spielgefährten, in dem die Kindergärtnerin so belobigend oder aber auch tadelnd Fertigkeiten benennt. Dadurch aufmerksam auf die eigenen Begabungen geworden, können sie entwickelt, gefördert und weiter ausgebildet werden. Gute Lehrer versuchen die individuellen Gaben ihrer Schüler zu fördern. Beobachten muss man hierbei allerdings, dass dies nicht zum Neid anderer Anlass gibt. Geschickte pädagogische Vorgehensweise ist hier angebracht. Sie wird besonders dann gelingen, wenn der Begegnungsansatz für menschliches Miteinander erkenntnisleitend ist.
So hat jeder Mensch seine besonderen Gaben – welche besser oder schlechter ist, bestimmt der gesellschaftlich schichtenbezogene Druck, nicht der Pädagoge, wenn er in Achtung und Würde sich seinen Schülern zuwendet. An dieser Stelle müssen wir achtsam sein, dass die wunderbare Schöpferidee Gottes, Menschen individuell und damit einzigartig zu schaffen, im Vergleich nicht nivelliert oder in der Masse gleichgeschaltet wird. Im Verlauf der Entwicklung entdeckt schließlich ein jeder, wo seine eigenen Fähigkeiten sind. Sind Eltern und Lehrer hierin unaufmerksam, so kann dies auch erst viel später im Leben deutlich werden. Meine Arbeit an der Ausbildung von Erwachsenen lässt mich dies immer wieder sehen. Ferner ist die Erfahrung von aufrichtigem Geliebtwerden ein ganz entscheidender Antrieb zur Ausbildung und Erkennung eigener Fähigkeiten. In meinem eigenen Leben habe ich erfahren, wie die Liebe meiner Frau mich zur Entdeckung eigener Gaben auf die Reise führte. Dadurch eröffnete sich mir die Welt des Wissens und Forschens, des Beobachtens und Fragens auf ganz neue Weise. Aus der tiefen Geborgenheit ihrer Liebe konnte ich Kraft schöpfen zu eigener Kreativität. Durch ihren Anstoß und ihr beharrliches Erinnern kam ich zum Sport, auch zum Schreiben, obwohl ihr beides nicht ursprünglich deutlich war.
In diesem Zusammenhang bin ich genötigt, von einer Begegnung zu berichten, die individuelle Fähigkeiten auf tragische Weise mit der Wer-bin-ich-Frage in Verbindung brachte. Während einer Vortragsreihe wurde ich eines Abends von einem jungen Mann angesprochen, der mir von seinen großen Fähigkeiten im Geigenspielen berichtete. Schon von klein auf entwickelte sich in ihm eine besondere musikalische Begabung. Klassische Musik, ihre Komponisten und Werke faszinierten ihn. Als er mir dies alles erzählte, lag gerade ein ganzer Tag hinter ihm, an dem er nichts anderes getan hatte, als auf seiner Geige zu spielen. Konkret wandte er sich dann an mich mit der Frage: Ist es pathologisch, nur Geige spielen zu wollen? Mein ganzes Herz hängt daran!
Ich zweifelte nicht, dass er es bei solcher Begabung auf der Geige zum Berufsmusiker bringen würde. Das Problem des jungen Mannes war, dass ihm die Anerkennung fehlte. Sein Musiklehrer konnte ihm schon nichts mehr beibringen. »Suchen Sie sich doch einen Musikprofessor, der ihr Geigenspiel beurteilen kann«, riet er ihm. Darauf entgegnete nur der junge Mann: »Wenn ich vorspielen muss, gelingt es mir nie so gut!« Spüren wir die Problematik bezüglich der Selbstannahme und des Selbstbewusstseins bei meinem jungen Gesprächspartner? Es wird schwer, an der eigenen Begabung festzuhalten, wenn der Erfolg oder die öffentliche Anerkennung sich versagen. In solchen Situationen dennoch weiter an der individuellen Fähigkeit festzuhalten, bedarf eines abwägenden Verstandes (Bilde ich mir ein, gut zu sein oder bin ich wahrhaftig gut? – Formulierung von Beurteilungskriterien) und einer inneren Zuversicht, die Fähigkeit zum Nutzen und zur Freude anderer ausformen und fördern zu wollen.
Begabungen und Fertigkeiten verweisen ebenso auf unsere Einzigartigkeit, wie unsere Gefühle und unser Aussehen. Entsprechend haben sich in unserer menschlichen Kultur bestimmte, sich untereinander teilweise gravierend unterscheidende Berufe herausgebildet. Die Begabung bildet die Grundlage der Berufung zum Handwerker, zum Lehrer, zum Arzt, zum Richter, zum Ingenieur, zum Bauern oder zum Politiker. Damit ist der Beruf nicht nur ein Job, sondern eine Aufgabe, hinter der ein Mensch steht, der weiß was er tun muss, weil er erfahren hat, wer er ist. Zugegeben, dies ist das Ideal – so mancher muss beruflich sein Geld durch eine Tätigkeit verdienen, die nicht seiner eigentlichen Begabung entspricht.
Deshalb spricht man in solchen Fällen vom Brotberuf, der ausschließlich den Lebensunterhalt sichert. Schaut man sich bei den hiervon Betroffenen ihr Hobby oder ihre Freizeitgestaltung an, so enthält sie dann primär die Tätigkeit, die der individuellen Fähigkeit und Neigung am meisten entspricht. Damit grobe Missverständnisse ausgeschlossen bleiben: Ich habe soeben nicht davon gesprochen, dass nicht fast alles erlernt werden kann. Ich meine in diesem Abschnitt Fähigkeiten, die ganzheitlich, personal und individuell schöpfungsgemäß jedem einzelnen auf besondere Weise zuteil werden. Wer diese wieder neu bei sich entdeckt, wird sich selbst recht nahe kommen.
9 Karl Jaspers, Von der Wahrheit, München 1991 (Taschenbuchausgabe) S. 373.
Nun gibt es auch vielfältige Situationen, in denen es uns Menschen Mühe macht, uns in der rechten Weise annehmen zu können. Nach dem eigenen Anspruch auf Liebe, Gerechtigkeit, Friedfertigkeit und Rücksichtnahme müsste Person X sich in der letzten Dienstbesprechung ganz anders benommen haben. Doch kam alles ganz anders. Die beteiligten Personen stellten sie nach einiger Zeit immer mehr in Frage, weil ein Schuldiger für aufgetretene Versäumnisse gefunden werden musste. Anstatt ruhig zu bleiben und dem eigenen Selbstverständnis getreu zu handeln, wurde unsere Person X immer aggressiver, lauter, anmaßender und verlor sich letztlich ganz in objektiv nicht gerechtfertigten Verteidigungsversuchen, so dass alle die Überzeugung bekommen: X hat wohl zu recht die Schuld zugewiesen bekommen, denn wer schreit, hat nicht recht.
Später stellte sich dann heraus, dass X für die aufgetretenen Fehlhaltungen nicht zur Verantwortung zu ziehen war. Eine Geschichte, die so täglich unendlich viele Male geschieht, auch in anderen Situationen. Zurück bleibt für die Betroffenen eine große Frustration, weil ihr Anspruch so und so zu sein, sich nicht mit der Realität deckt. Sogenannte Identitätsprobleme brechen auf. Für den Schriftsteller Max Frisch (1911-1991) ist das Identitätsproblem ein wichtiges Thema gewesen, so dass es sich geradezu wie ein roter Faden in seinem Werk auffinden lässt.
»Einerseits wendet er sich gegen das Bild, das wir uns von einem Menschen machen und auf das wir ihn fixieren. (...) Andererseits bekämpft er aber ebenso die Antlitzlosigkeit der modernen Welt, wie sie sich in der Überfülle veräußerlichter Abbilder kundgibt.«10
Wir werden später diesem Konflikt von Anspruch und Wirklichkeit der eigenen Person im Rahmen der Gesellschaft noch ausführlicher begegnen. Neben dieser Art von Identitätsproblematik steht eine weitere, die ganz deutlich die Verneinung des eigenen Seins enthält: man will verzweifelt nicht man selbst sein wollen. Bei dieser Form der Identitätsproblematik liegt eine Spannung in der Person vor, die man dialektisch etwa so beschreiben kann:
»Einerseits möchte ich der sein, der ich bin; ich möchte mit dem Bild kongruent werden, das als Entwurf in mir schlummert. Andererseits lehne ich mich dagegen auf, an die Identität gerade mit diesem Ich gefesselt zu sein. Ich kann verzweifelt nicht ich selbst sein wollen.«11
Denken wir an unsere Triebabhängigkeiten, an unsere schlechten Eigenschaften, wenn sie über uns kommen und wir ihnen momentan nicht wehren können, so mag ein verzweifelter Schrei in uns uns verfluchen wollen. In solchen Situationen stehen wir Menschen ganz unmittelbar vor der Tatsache der Erlösungsbedürftigkeit. Wer könnte uns lieben, uns retten und helfen, wenn wir uns selbst hassen, umbringen und nicht mehr ein noch aus wissen? Die Anrede Gottes, durch Jesus Christus uns seine Liebe, seine Rettung, seine Hilfe anzubieten, wird unmittelbar notwendig. Wer hierauf eingeht, kann wieder zu einem neuen Ja zu sich selbst finden, so er seine Sünden bekennt und im Glauben an Jesus Christus den Willen aufbringt, jetzt der neuen Sicht auf Identität vom Kreuz von Golgatha aus Beachtung zu schenken.
Neben dem Erlebnis, sich selbst im Zwiespalt von Anspruch und Wirklichkeit, bezogen auf die eigene Identität, zu erleben, steht die Bedrohung der Identität durch Mächte und Kräfte von außen. In diesem Fall sind wir Objekte und Opfer von Mächten, die uns beherrschen, anstatt dass wir über uns bestimmen können. Krasse Formen von Identitätsberaubung hat es in der Menschheitsgeschichte immer gegeben: Für Helmut Thielicke (1908-1986) sind solche Beraubungen wie folgt gegeben:
»Man denke etwa an die Formen kultischer Ekstase, eines Außer-sich-Seins also, das durch psychagogische Formen der Ich-Beraubung wie etwa bei der Schizophrenie oder der sogenannten Bewusstseinserweiterung, der Auswanderung aus meinem Selbst bei der (...) Drogensucht. Auch Formen der Besessenheit (...) mögen hier genannt werden. Ein besonders makaberes Beispiel für den Raub der Identität liefern moderne Foltermethoden, die mit Hilfe einer entarteten Psychiatrie getätigt werden und auf künstlich erzeugten Ich-Verlust aus sind.«12
Helmut Thielicke schrieb dies 1976 in seinem Buch »Menschsein – Menschwerden. Entwurf einer christlichen Anthropologie«. Heute lassen sich für die von ihm benannten Formen der Identitätsberaubung viele Beispiele aus unserer Zeit angeben. Die vielfach durchgeführten Rockkonzerte haben für die Zeit des Konzerterlebens Formen kultischer Ekstase. Letztens sah ich noch ein Rockkonzert, mit dem Sänger Herbert Grönemeyer, an. Die Jugendlichen tobten und schrien und er bemühte sich fleißig, diesem auf seine Art heftige Unterstützung zuteil werden zu lassen. Im Umfeld des New-Age und dem immer weiter um sich greifenden Okkultismus unserer Zeit sind Bewusstseinserweiterungen geradezu Programm, so dass der Ich-Verlust zwangsläufig abzusehen ist. Überzeugte New-Ager haben das programmatisch zu ihrer Idee gemacht. So schreibt Georg Trevelyan: »Ist die spirituelle Weltsicht einmal zur Erfahrung geworden, so wird sie notwendigerweise all unsere Gedanken und Taten durchdringen. Einstellungen beginnen sich dann zu verändern.«13 Der Anspruch der New-Ager ist, ein neues Leben in Harmonie und Freiheit zu eröffnen, in Wirklichkeit ist ihr Programm ein entpersönlichendes Unternehmen, bei dem ihre Anhänger ihrer eigenen Identität beraubt werden.
Um weder stets der Indifferenz von Anspruch und Wirklichkeit, noch der eigenen Identität beraubt zu werden, müssen wir uns der Daten vergewissern, die als Fremdsteuerung unser Ich, unser Sein manipulieren können, uns andererseits aber auch wesentlich bilden, weil wir mit und durch sie unsere Gesellschaft und die in ihr transportierten Antworten auf die Frage, wer wir sind, erleben. Wichtig ist dabei, deutlich zu erkennen, dass die Gesellschaft uns ganz deutlich sagt, wer wir in ihrem Sinne sein sollen. Die Gesellschaft, das sind wir, jeder einzelne Mensch ist als konstitutives Element der Gesellschaft anzusehen. Damit hat er grundsätzlich die Möglichkeit, seinerseits Einfluss zu nehmen, wo gesellschaftliche Selbstverständnisse individuelle Selbstdefinitionen nicht mehr zulässt.
Fragen Sie sich:
Welche Erfahrungen in meiner frühen Kindheit sind mir heute noch ganz klar bewusst?
Wer waren die Menschen, denen ich viel verdanke und wer jene, die mir Mühe machten?
Wie könnte ich die Frage nach meinem Sein beantworten, wenn ich die Antworten als Spiegelungen anderer sehe?
Wer will ich selbst sein?
Welche Körpererfahrungen habe ich bisher gemacht?
In welcher Weise gehe ich auf die erlebten Erfahrungen ein?
Wie erlebe ich mich gefühlsmäßig?
Welche meiner Gefühle lasse ich zu, welche nicht?
Was beeindruckt mich geistig: Musik, Literatur, Gespräche, Gottes Wort?
Von welchen geistigen Inhalten bin ich in welcher Weise abhängig?
In welchen Situationen erlebe ich, dass ich ganz anders bin, als ich eigentlich sein möchte?
Nehmen Sie sich vor:
Die Erfahrungen der frühen Kindheit mit einem Ihnen vertrauten Menschen zu besprechen, um sie dadurch entsprechend zu verarbeiten.
Gott für die Menschen zu danken, die er Ihnen über den Weg schickte.
Ihren Körper nicht zu vernachlässigen, sondern ihn durch ausreichende Bewegung und vernünftige Ernährung neu zu erfahren.
Achten Sie auf die Reaktionen Ihrer Sinne, sie geben Ihnen erste
Rückmeldungen Ihrer eigensten Körpererfahrung.
Lassen Sie Gefühle zu, und verdrängen Sie sie nicht!
Versuchen Sie, auch über Ihre Gefühle mit Ihnen lieben Menschen zu sprechen – tun Sie dies auch im Gebet mit Gott.
Machen Sie sich auf einer Liste deutlich, was Sie alles geistig beeinflusst und wie Sie im Einzelnen darauf reagieren.
Den Widerspruch im eigenen Sein nicht zu verdecken, sondern über ihn mit Gott durch Jesus Christus zu sprechen.
Denken Sie immer daran, dass Sie einzigartig sind und in Ihrer Person zum Erlebnis dessen kommen sollen, was Gott für Sie vorsah, als er Sie als Mensch werden ließ.
10 Helmut Thielicke, Menschsein — Menschwerden. Entwurf einer christlichen Anthropologie, München 1976, S. 59.
11 Ebd., S. 63.
12 Ebd., S. 75.
13 Georg Trevelyan, Eine Vision des Wassermannzeitalters. Gesetze und Hintergründe des New Age, Freiburg 1980, S. 32.
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