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Aggression und Gewalt sind aktuelle Themen unserer Zeit. Fragen nach ihrer Entstehung und Bewältigung, sowie Antworten zu diesen Fragen sind deshalb Existentiell. Unter Berücksichtigung der gängigen Definitionen und Erklärungen wird in dem vorliegenden Buch der Versuch unternommen, Aggression als das Böse zu beschreiben und im biblischen Kontext die Überwindung der Aggression und Gewalt vorzustellen. Dies geschieht anhand genauer Phänomenbeschreibung, Definition, Erklärung und eingehender Überwindungsangebote. Darüber hinaus wird Aggression in seinen unterschiedlichen Kontexten untersucht: in der Erziehung, im Fernsehen, in Familie und Ehe, am Arbeitsplatz und in der Gesellschaft. Nach jedem Kapitel werden Hilfestellungen angeboten.
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Seitenzahl: 277
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Aggression verstehen und überwinden
Klaus R. Berger
© 2015 Folgen Verlag, Wensin
Autor: Klaus R. Berger
Cover: Peter Voth, Düren
Lektorat: Mark Rehfuss, Schwäbisch Gmünd
Abbildungen und Fotos: Klaus R. Berger
ISBN: 978-3-944187-97-6
Verlags-Seite: www.folgenverlag.de
Kontakt: [email protected]
Aggression verstehen und überwinden ist früher als Buch im Verlag und Schriftenmission der Evangelischen Gesellschaft für Deutschland, Wuppertal, erschienen.
Bruno Schwengeler und Walter Nitsche
»Wehe denen, die Böses gut und Gutes böse nennen, die aus der Finsternis Licht und aus Licht Finsternis machen, die aus sauer süß
Vorwort
Einleitung
I. Phänomen Aggression
Erscheinungsformen der Aggression bei Tier und Mensch
Zur Psychophysiologie der Aggression
Aggression – eine Krankheit?
Aggression – der Trieb zum Sieg?
Wortbedeutung: Böse – böse
Aggression – gut und hilfreich?
Zum Begriff der Aggression
Zusammenfassung
II. Aggression: ein Trieb, eine Frustration, eine Lernerfahrung?
Triebbedingte Aggression
Instinktgesteuerte Aggression
Frustbedingte Aggression
Gelernte Aggression
Hat Aggression viele Ursachen?
Zusammenfassung
III. Aggression – das Böse
Böses in seiner heutigen Bedeutung und Beachtung
»Böse«, »böse« im biblischen Verständnis
Bibelstellendokumentation zur Analyse und Orientierungshilfe der Aggression
Im Spannungsfeld von »Gut« und »Böse«
Gleichsetzung von Aggression und Bösem
Zusammenfassung
IV. Aggression bewältigen
Lernfall Aggression?
Täter- und Opferrolle
Aggressionsbewältigung aus biblischer Sicht
1. »Ursache-Wirkungsmodell« der Aggression
Exkurs: Gottes Schöpfung – eine Welt der Harmonie, des Friedens und der Freiheit
2. Aggressionsbewältigung bedeutet Strukturveränderung der menschlichen Existenz
Exkurs: Zum Begriff der Struktur in der Psychologie
3. Hinweise zur Aggressionsvermeidung und -bewältigung
Zusammenfassung
V. Aggression und Erziehung
Aggression bei Kindern
Aggression bei Jugendlichen
Aggression und Gewalt in der Schule
Hilfestellung
Hilfestellung Nr. 1 – Was ist Erziehung?
Hilfestellung Nr. 2 – Kommunikation in der Erziehung
Hilfestellung Nr. 3 – Erzieherisches Handeln
Hilfestellung Nr. 4 – Vergebung praktizieren!
VI. Aggression und Fernsehen
Aggression und Gewalt im Fernsehen
Wirklichkeitsveränderung durch Fernsehen
Hilfestellung
Hilfestellung Nr. 1 – Überlegt fernsehen
Hilfestellung Nr. 3 – Wirklichkeit jenseits des Fernsehens
VII. Aggression in Familie und Ehe
Familie: soziologisch und psychologisch gesehen
Exkurs: Wandel der Familie
Aggression in der Familie
Aggression in der Ehe
Hilfestellung
Hilfestellung Nr. 1 – Familie eröffnet Lebensqualität
Hilfestellung Nr. 2 – Zurück zur biblischen Ehe!
VIII. Aggression am Arbeitsplatz
Mobbing – Kleinkrieg und Psychoterror am Arbeitsplatz
Mobber und Gemobbte
Hilfestellung
Hilfestellung Nr. 1 – Arbeitsplatzanalyse
Hilfestellung Nr. 2 – Wer bin ich, wie möchte ich sein?
Hilfestellung Nr. 3 – »Rede kein falsch Zeugnis …«
Hilfestellung Nr. 4 – Vergebung und Achtung praktizieren!
IX. Aggression in der Gesellschaft
Konsumieren bis zum Tod?
Technischer Fortschritt um jeden Preis?
Datenautobahn ins Informationschaos?
Politik ohne Maß und Ziel?
Hilfestellung
Hilfestellung Nr. 1 – Zurück zu Gott statt zum »Euro«!
Hilfestellung Nr. 2 – Bedenkt die Folgen!
Hilfestellung Nr. 3 – Nur verarbeitete Informationen helfen!
Hilfestellung Nr. 4 – Liebe statt Macht und Dienst statt Herrschaft!
X. Nachwort
Unsere Empfehlungen
In dieser Karikatur macht auf einem britischen Schiff die Aggressionsverschiebung die Runde – vom Kapitän zum Papageien und wieder zum Kapitän. Unsere Aggression holt uns ein, deshalb muss sie bewältigt, überwunden werden.
Die Aggression ist älter als die Menschheit. Doch ungeachtet ihrer langen Geschichte zeigt sie keine Anzeichen von Abschwächung und Rückgang. Im Gegenteil: In der Geschichte der Menschheit ist die Aggression und Gewalttätigkeit von Menschen gegen Menschen nicht reduziert worden. Berichte von grausamen Morden (indische Fanatisten enthaupten Geißeln, um zu ihren politischen Zielen zu kommen),1 ethnischen Säuberungen mit brutalsten Aggressionen, wie im Krieg des ehemaligen Jugoslawien zwischen den Serben und den Kroaten, radikales Chaos in Hannover2, wobei neben vielem Sachschaden auch Menschen getroffen wurden, spricht eine andere, eben die aggressive Sprache. Steht all dies nicht der Hoffnung des Menschen auf Vervollkommnung diametral gegenüber? Im Weltgeschehen unserer Zeit steht die Aggression und Gewalt gleichsam »in der ersten Reihe«. Die Massenmedien berichten täglich von Kriegen und Streitigkeiten unter den Völkern (Russen gegen Tschetschenen, Libanesen gegen Israelis, Serben gegen Kroaten, Hutsis gegen Tutsis, etc.) von steigender Kriminalität, von Terroranschlägen, von Misshandlungen und von brutalen Morden.
Wie reagieren wir Menschen auf all diese schrecklichen, abstoßenden, grausamen und menschenunwürdigen Verhaltensweisen unserer Mitmenschen, die uns unmittelbar über den Bildschirm, das Radio und die Zeitungen erreichen?
Ist es schon überflüssig geworden, von Gewalt und Aggression zu sprechen, da die breite Masse der Menschen mit lähmender Empfindungs- und Bewusstlosigkeit dem Phänomen der Aggression gegenübersteht? Oder müssen die an uns selbst und an anderen festgestellten und vielleicht mit einem Kopfschütteln begleiteten Aggressionen verdrängt werden, damit noch Freudigkeit, Lebensglück und Hoffnung für die Zukunft erhalten bleiben können? Das Phänomen der Aggression dürfen wir nicht verdrängen, wir müssen uns ihm stellen und fragen, wie wir es bewältigen können. Doch bevor diese weitreichende Frage beantwortet werden kann, müssen wir uns dem Phänomen als solchem stellen. Was ist Aggression, wo kommt sie vor, wie entsteht sie, wie zeigt sie sich und wie lässt sie sich verstehen? Diese und weitere Fragen versuchte ich in einer ausführlichen Arbeit mit dem Titel: »Aggression – das Böse. Analyse, Kritik und Orientierungshilfe eines existentiellen Problems«, schon 1983 zu beantworten. Inzwischen sind dreizehn Jahre vergangen und ich kann und muss immer noch zu den grundsätzlichen Aussagen von damals zurückkommen, weil die Aggression, dies zeigte sich nachdrücklich, in dieser Zeit ihr wahres Gesicht mit immer grausameren Zügen zeigte. Im Gedenkjahr des Kriegsendes von 1945, fünfzig Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, erscheint dies im Prozess des rückwirkenden Verstehens umso eindringlicher und intensiver für mich, zum Beispiel an dem menschenverachtenden, diabolischen Holocaust der Nazis.
Die überarbeitete Neuauflage meines damaligen Buches erscheint damit in einer Zeit, in der der Anlass zur Reflexion des Aggressionsphänomens sich historisch und zeitgeschichtlich ergibt. Die Aggression in Familie, Schule und am Arbeitsplatz ist ebenso angestiegen, wie die im Massenmedium Fernsehen. Die Fragen um die Aggression sind aktuell und die Bewältigung nötiger denn je. Aus dem Abstand der Jahre und unter dem Eindruck der zeitaktuellen Ereignisse soll mein damaliges Buch nicht einfach in einer zweiten Auflage erscheinen, sondern ganz hautnah in die Zeit von 1996 hineinfühlen und sich den heutigen Aktionsfeldern der Aggression nähern. So sind die Kapitel zwei und drei der ersten Auflage in der jetzt vorliegenden Neubearbeitung nicht mehr aufgenommen worden.3 Ferner wurden die gesamten Kapitelüberschriften und große Teile der jeweiligen Unterkapitel von mir verändert und sprachlich neu gestaltet. Anstelle der herausgenommenen Kapitel wurden neue hinzugetan: Aggression und Fernsehen (Kapitel sechs), Aggression am Arbeitsplatz (Kapitel acht) und Aggression in der Gesellschaft (Kapitel neun). Schließlich habe ich mich bemüht, ganz konkret in wesentlichen Problembereichen des täglichen Lebens Hilfestellungen zur Aggressionsbewältigung anzubieten (vgl. die Kapitel fünf bis neun im vorliegenden Buch). Beibehalten habe ich die Zusammenfassung am Ende der ersten vier Kapitel, damit der Leser hierüber eine Kurzzusammenfassung der wesentlichen Gedanken schnell ersehen kann.
Für mich ist die Aggression des Menschen kennzeichnend für das Böse des Menschen. Warum ich dies behaupten kann, möchte ich in dem vorliegenden Buch zeigen, in dem ich mich nach der Aggressionsbeschreibung, der Definition dessen, was Aggression ist, der Auseinandersetzung mit den verschiedenen Aggressionstheorien, zu einer eigenen Aggressionserklärung auf dem Hintergrund der Bibel nähere. Von hier aus wird dann auch die Aggressionsbewältigung verständlich, die sich dann wie ein roter Faden durch die einzelnen Problembereiche der Aggression im Alltag zieht. Humanwissenschaftliche Ergebnisse und Daten werden dabei nicht vernachlässigt. Wo sie nicht ideologisieren, sondern aufklären, sind sie unbedingt einzubeziehen. Wenn ich darüber hinaus Aussagen der Bibel berücksichtige; so deshalb, weil ich berechtigt hier und dort mit Skepsis und geringer Realisationschance den Bewältigungsvorschlägen zur Bekämpfung der menschlichen Aggression begegne, so wie sie uns durch die Sozialpsychologie oder die Friedensforschung angeboten werden. Dies hat seinen schlichten Grund in der Tatsache, dass sie hilflos neben dem sich aggressiv gebärdenden Menschen stehen. Wie betroffen und schlussendlich hilflos steht der Westen, die NATO, die UNO, die Europäer und alle Humanisten neben dem brutalen, rücksichtslosen Morden auf dem Balkan! Deshalb müssen wir gründlicher, existentieller und wahrhaftiger nach der Ursache und Bewältigung der Aggression suchen. Mein Anliegen in diesem Buch ist es, Aufklärung über die Aggression durch die Bibel zu bekommen und weiterzugeben. Sie nimmt das »Herz« des Menschen ernst und zeigt unmissverständlich deutlich auf, woher das Böse kommt und wie es zu bewältigen ist. Alles gute Gründe, sie zur Aggression zu studieren.
Wenn ich aber der Bibel und ihren Aussagen allererst einen Erkenntniswert bezüglich existentieller Probleme und Fragen der Menschheit zugestehe, so muss ich auch sagen, wie ich die Bibel und Christenleben verstehe.
Die Bibel ist für mich das den Menschen geoffenbarte Wort Gottes, durch »theopneustos«4 den Schreibern der einzelnen Bibelbücher eingegeben, womit sich Gott als der Autor der ganzen Heiligen Schrift zu erkennen gibt. Daraus wiederum ergibt sich für mich folgendes Credo:
Ich glaube und bezeuge
die göttliche Inspiration und die Unfehlbarkeit der ganzen Heiligen Schrift;
die Einheit Gottes – des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes;
die völlige Sündhaftigkeit der menschlichen Natur, das ewige Verlorensein des unerlösten Menschen und deshalb die unbedingte Notwendigkeit der Wiedergeburt;
die Gottheit Jesu Christi, Jungfrauengeburt, Kreuzestod, leibhaftige Auferstehung, Himmelfahrt, gegenwärtige Erhöhung zur Rechten Gottes und seine Wiederkunft;
den stellvertretenden Opfertod Jesu Christi, unseres Herrn und Heilands, der für unser Heil sein Blut vergossen hat;
die Auferstehung der Erlösten zum ewigen Leben in Herrlichkeit und die Auferstehung der Unerlösten zur ewigen Verdammnis;
eine Gemeinde aller Wiedergeborenen als Leib Jesu Christi;
den Missionsbefehl Jesu Christi: »Gehet hin in alle Welt und lehret alle Völker und taufet sie im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes.«
5
Wenn ich mein persönliches Credo so offen nenne, dann deshalb, weil ich weiß, dass es in den Theologien manch populärer Zeitgenossen hinterfragt und abgelehnt wird.6 Leider oft zu oberflächlich, mehr angehäuft mit einengenden Dogmatiken, als geleitet in der Freiheit des Geistes Gottes, der uns in die rechte Freiheit des Denkens und Glaubens führt, wie dies von Martin Luther (1483-1546) so glaubhaft und nachlesbar überliefert ist.7 In über dreißig Jahren der Christusnachfolge kann ich bestätigen, dass oben genanntes Bekenntnis in die Freiheit führt, zur Angst-8 und Aggressionsbewältigung tauglich ist und zur Achtung anders Glaubender verpflichtet, die weltweite Ökumene aller Religionen aber nicht akzeptiert. Damit ergibt sich natürlich eine spannende Diskussion der These von Hans Küng, die da lautet, dass ohne Religionsfrieden kein Weltfrieden möglich ist.9
Mein Bekenntnis und die sich damit verbindende Theologie10 ist, unabhängig von der intellektuellen Auseinandersetzung mit der Aggressionstheorie und -deutung der Wissenschaft, die Grundlage zum Verständnis der biblischen Aggressionsbewältigung, wie sie im vierten Kapitel beschrieben wird. Auf dieser Grundlage bleibt die Aggression keine »Kraft zum Guten – Kraft zum Bösen«, wie für Paul Tournier11 oder eine dem Leben dienende Leistung, weil sie arterhaltend sein soll, wie für Konrad Lorenz (1903-1989),12 sondern sie wird als das Böse, verursacht durch den Bösen, den Diabolus, repräsentiert in den Handlungen der Menschen, die von seinem Geist inspiriert sind, sich zu erkennen geben.
Wenn aber nur die Bibel eine kompetente und zutreffende Erklärung über das Böse geben kann, so folgt daraus, dass psychologisches, soziologisches und ethologisches Erkennen13 in diesem Kontext oberflächlich bleiben, solange sie biblische Aussagen mit bedenken.
»Wenn sich Humanwissenschaften in Totaltheorien zu diesem Thema äußern, überschreiten sie die Grenzen ihrer Kompetenz. Ihr Bestreben, den Menschen vom Schuldspruch der biblischen Gnadenbotschaft zu entlasten, hat gar nichts mit ihren wissenschaftlichen Methoden zu tun, sondern beruht auf einer weltanschaulichen Vorentscheidung.«14
Wer seine Anschauungen über »Gott und die Welt« sowie über den Menschen nicht in komplizierten Satzgebäuden oder pseudowissenschaftlichen Thesen verbirgt, lässt seine Vorentscheidung, seine Grundhaltung, zum Vorschein kommen. Leider verstecken viele Autoren diese, so dass nur solche Leser sie entdecken können, die über ausreichendes Hintergrundwissen philosophischer, anthropologischer und wissenschaftsmethodologischer Art verfügen. Man kann dann schnell das jeweilige Menschen- und Weltbild entdecken, das dann auch die Haltung zur Aggression bestimmt. In der ersten Auflage meines Aggressionsbuches habe ich diesen Zusammenhang deutlich herausgearbeitet.15 Ich möchte in diesem Zusammenhang meine Leser herzlich bitten, zu Beginn der Lektüre, jetzt, auch ihre Einstellung oder Grundhaltung zur Aggression offen zu legen. Dies hilft bei der Beschäftigung mit dem Aggressionsphänomen zur eigenen Erkenntnis und ist für die eigene Aggressionsbewältigung unabdingbar.
In den wissenschaftlichen Erklärungen zur Aggression ist hier und dort die Tendenz erkennbar,16 der Mensch könne sich selbst aus seinem »Aggressionssumpf« retten.
Dies ist für mich das klassische Münchhausendilemma, von dem wir das Ende kennen, es uns so nicht wünschen und dennoch immer wieder darauf hereinfallen oder daran glauben. Warum dies so ist, werde ich u. a. versuchen aufzudecken. Wir Menschen neigen immer wieder zur Selbstrechtfertigung. Waren es früher die Moralisten Pelagius (gest. 418) und Erasmus (1469-1536) oder Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832), der in seinem »Faust« die Selbsterlösung durch strebendes Bemühen verkündet, so verharmlosen die Erfahrungswissenschaftler heute die Sünde und zeigen sich hierin als Anführer gegen Gott. »Ihre Hypothesen vom unvermeidlichen Triebüberschuss, von Lernschwierigkeiten des Menschen oder vom Bösen, das man wie einen eigenen Schatten behandeln und also akzeptieren müsse, sind verführerische Versuche der Selbstrechtfertigung.«17 Doch müssen diese Versuche angesichts der brutalen Aggressionen des Menschen nicht scheitern? Schreit das Blut der Ermordeten, Vergewaltigten, Misshandelten und Unterdrückten nicht zum Himmel, zu Gott? Klagt es hier den Menschen nicht an bei dem, der allein Recht und Macht hat, den Menschen zu rechtfertigen oder zu verurteilen?
Auf dem Boden des Evangeliums der Vergebung der Sünden nach aufrichtiger Reue und Umkehr, kann Gott durch seinen Sohn Vergebung von Aggression und Bösem schenken, womit Friede und Freude und die Kraft zur Überwindung von Aggression, Gewalt und Destruktivität geschieht. Schließlich kann hieraus auch Vergebung für jene erbeten werden, die brutal und rücksichtslos andere quälten, folterten und in den Tod trieben.
Für Dietrich Bonhoeffer (1906-1945) war dies eine Erfahrung, die er unmittelbar vor seiner Hinrichtung realisierte:
»Diesmal ging alles sehr schnell. Die offene Tür, das grelle Licht der Bogenlampen, auf einer Seite Huppenkothen, Stawitzky, ein Mann mit einem Stethoskop, gegenüber die Wachen mit Hunden an den Leinen. Wozu waren die da? Wozu brauchten sie die Hunde? Dietrich sah in die Gesichter der Männer … Was nur hatte sie getrieben, ihrer Menschlichkeit den Krieg zu erklären? Und er hörte die Worte Jesu: ›Pater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.‹
Hinter ihnen ein hölzernes Vordach, und an seinen Stützbalken drei Schlingen. Unter jeder dieser Schlingen eine Plattform mit drei Stufen.
O mein Gott! Dietrichs Lippen bewegten sich nicht. Unverwandt betrachtete er das Werkzeug seines Todes. Wie weit mochte es bis dahin sein? Zwanzig Schritte?
›Aber du, Herr, bist der Schild für mich, du bist meine Ehre und hebst mein Haupt empor.‹«18
Ich wünsche meinen Lesern und mir, dass wir in der Kraft Gottes auf die reagieren, die uns peinigen und selbst wahrhaftig und mutig werden, unser »Böses« nicht mehr zu verstecken, sondern aufzudecken und umzukehren, so werden wir und mit uns andere befriedet und von Aggressionen befreit, durch die Gnade und Kraft der Vergebung, die durch Jesus Christus gegeben ist.
Lemgo, Klaus R. Berger
1 Indische Fanatisten, die fundamentalistisch sind.
2 Chaos in Hannover, wodurch viel Unheil entstand.
3 Sie lauten: »Ursprung des Bösen: ›Eine Crux Philosophorum‹«, S. 51-104 und »Anthropologie und Aggression«, S. 105-144, in: Klaus Berger, Aggression – das Böse. Analyse, Kritik und Orientierungshilfe eines existenziellen Problems, Berneck, 1983.
4 Vgl. ebd., S. 275
5 Ebd.
6 Zum Beispiel in der Theologie von Eugen Brewermann und Gerd Lüdemann.
7 Martin Luther, Von der Freiheit eines Christenmenschen, München / Hamburg, 1964.
8 Klaus Rudolf Berger, Angst verstehen und überwinden, 2. Auflage, Wuppertal, 1993.
9 Hans Küng, Projekt Weltethos, München, 1992.
10 Mein theologisches Denken ist ganz auf der Grundlage der Bibel und im Kontext der Theologie Martin Luthers zu verstehen. Die Bibel ist für mich das geoffenbarte Wort Gottes. Hier halte ich es mit Martin Luther, für den allein die Heilige Schrift in ihrem Kontext zum Verständnis der Bibel wichtig ist. Selbstverständlich sind darüber hinaus die Umwelten des AT, wie des NT, zu bedenken. Nachfolge Jesu Christi ist für mich gebunden an das Christuserlebnis, das persönliche Sündenbekenntnis, die Buße und den dann folgenden willentlichen Schritt zur Nachfolge (vgl. Dietrich Bonhoeffer, Nachfolge, 2. Auflage, Gütersloh, 1994). Nicht die Zuordnung zu einer bestimmten Strömung oder Gruppe ist demnach entscheidend, auch wenn es für mich selbstverständlich die Gemeinschaft mit anderen Christen innerhalb einer Ortsgemeinde gibt, zu der ich gehöre und in die ich mich einbringe.
11 Paul Tournier, Aggression. Kraft zum Guten, Kraft zum Bösen, Wuppertal, 1979.
12 Konrad Lorenz, Das sogenannte Böse, Wien, 1963.
13 Vgl. Albert Görres, Karl Rahner, Das Böse. Wege zu seiner Bewältigung in Psychotherapie und Christentum, Freiburg im Breisgau, 1982.
14 W., Neidhart, H., Ott, Krone der Schöpfung? Humanwissenschaften und Theologie, Stuttgart, 1977, S. 248.
15 Wie Anm. 3, S.105-144.
16 Ebd.
17 Wie Anm. 14, S. 248.
18 Zitiert aus: Mary Glazener, Der Kelch des Zorns, Gießen, 1995, S. 516.
Wie lässt sich aufdecken und verständlich machen, dass Aggression zerstörerisch, destruktiv und damit, ethisch gesehen, das Böse ist? Nun, jeder hat schon einmal auf die eine oder andere Weise Aggressionen erlebt. Schon im »Struwwelpeter-Buch« erfuhren wir etwas vom Phänomen und den Auswirkungen der Aggression. Es heißt dort in der Geschichte vom bösen Friederich:
»Der Friederich, der Friederich, das war ein arger Wüterich! Er fing die Fliegen in dem Haus und riss ihnen die Flügel aus.
Er schlug die Stühl’ und Vögel tot, die Katzen litten große Not. Und höre nur, wie bös er war: Er peitschte, ach, sein Gretchen gar!«19
Abb. 1: Die Geschichte vom bösen Friederich (Zeichnung: Birthe Rahel Berger)
Halten wir fest: In der kleinen »Geschichte vom bösen Friederich« wird die Aggression in ihrer vollen Bedeutung genau gekennzeichnet: Sie ist das Austeilen schädigender Reize gegenüber einem Organismus (»Fliegen«, »Flügel«, »Katzen«, »Gretchen«) oder Organismusersatz (»Stühl’«). Wir werden dies später bei der genauen Definition der Aggression weiter vertiefen. Schließlich wird sein Verhalten ethisch beurteilt und kommt zu dem Ergebnis: der Friedrich, der sich so verhält, tut Böses.
Fast täglich finden wir Information zur Aggression. In der Schule, in den Betrieben, ja, selbst in angeblich friedlichen Institutionen herrscht sie vor. Dabei wird die Aggression in ihrer Ausprägung härter und brutaler. Im Januar 1994 berichtete das deutsche Wochenmagazin »Der Spiegel« in seiner Titelgeschichte von den Exzessen der Gewalt.20 Folgendes war zu lesen:
»Im Jahre 1965 (…) wurde in Deutschland jeweils einer von 1200 Einwohnern Opfer eines Verbrechens, das in die Kategorie von Gewalt fiel: von Mord und Totschlag, gefährlicher Körperverletzung, Raub, Vergewaltigung und Erpressung. (…) 1992 wurde jeweils einer von 530 Bundesbürgern Opfer einer Gewalttat. (…) Nach Dunkelfeld-Untersuchungen kommt es in 10 bis 15 Prozent der Partnerschaften zwischen Mann und Frau zu gewalttätigen Auseinandersetzungen.«21
Kennzeichen rudimentären Rechtsradikalismusses begegnet einem, wenn es zum Freizeitspaß für Jugendliche wird, »Spastis klatschen«, »Schwule einstiefeln« oder »Penner alle machen« zu wollen.
Schließlich tun die Gewaltvideos das ihre, um die Gesellschaft in ihrer ungehemmten Aggression aufzuheizen:
»… die Hemm- oder Reizschwelle gegenüber Gewalttätigkeit verändert (sich): Allein in ihren ersten zwölf Lebensjahren erleben deutsche Kinder nach einer Studie der Universität Frankfurt rund 14.000 Tötungsdelikte auf dem Bildschirm.«22
Was verstehen wir unter Aggression, wie schätzen wir sie ethisch ein und welche Bewältigungsmöglichkeiten sehen wir? – Fragen, die wichtig sind, um zu richtigen Ergebnissen zu kommen, die nicht nur subjektiv sind. Dabei beginne ich rückbezüglich bei dem ersten Mord der Menschheitsgeschichte – Kain erschlug seinen Bruder Abel23, doch war ich nicht dabei! Ich werde in meinen Überlegungen und Recherchen zum Aggressionsphänomen auch von meinen eigenen Erfahrungen und Einstellungen begleitet. Dies muss ich wissen und entsprechend sind Diskussionen wichtig, um das eigene Vorverständnis nicht zu sehr ins Ergebnis einfließen zu lassen. Andererseits ist es nicht gänzlich außen vor zu lassen.
»Es ist jeder Weg versperrt, auf dem man hoffen könnte, zu einem archimedischen Punkt zu gelangen, von dem her es möglich wäre, die Erkenntnis voraussetzungslos und gesichert aufzubauen. Es gibt keinen ersten Anfang, keinen absoluten ›Nullpunkt‹ für die Erkenntnis, sondern wir sind von vorn herein hineingeworfen in das ›Schon immer‹ eines vorauslaufenden Selbstverständnisses. Die Anfangslosigkeit gehört zu den unentrinnbaren Bedingungen aller menschlichen Existenz.«24
So setze ich trotz der berechtigten Einschränkung des Erkennens auf die Aussagen der Bibel, die Ergebnisse guter Beobachtung in den Wissenschaften der Ethologie (Verhaltensforschung der Tiere), der Humanethologie (Verhaltenserforschung der Menschen), der Soziologie, der Geschichte und der je menschlichen Existenzerfahrung. Entsprechend beginne ich mit der Beschreibung und Beobachtung der Aggression zunächst im Tierreich und dann bei uns Menschen. Hier sowohl im äußeren Verhalten, das sichtbar wird, wie im Inneren des Menschen, was sich mit der Psychophysiologie der Aggression umschreiben lässt. Dabei ist es wichtig, die Erscheinungsformen sehr ernst zu nehmen, weil sie als Drohgebärden deutlich die zu erwartende Handlung vorankündigen.
Aggression erleben wir ganz unterschiedlich, teilweise als Aggressoren, teilweise als Opfer von Aggression. Die Opfersituation werde ich lediglich im Kapitel vier (Aggression bewältigen) und acht (Aggression am Arbeitsplatz) näher beschreiben. Insgesamt geht es mir in der vorliegenden Arbeit primär um Ursprung und Bewältigung der Aggression auf der Aggressorenseite. Dass Opfer von Aggression unsäglich leiden und hierin anklagend dem Aggressor sein unmenschliches Tun vor Augen halten, ist in den täglichen Nachrichten aus den Kriegsgebieten der Welt anschaulich zu verfolgen. Doch wer bringt die Täter zum Stoppen? Wer verurteilt die Aggressoren, wenn nicht wieder ganz deutlich Unrecht beim Namen genannt und Aggression als das Böse bezeichnet wird? Die ethische Ohnmacht gegenüber solchen Untaten der Menschheit stellt sich deshalb ein, weil der Mensch die Kriterien für Recht und Ordnung, für Gut und Böse selbst, unabhängig von seinem Schöpfer, festlegen will. Für den einen ist die Gewalt im Fernsehen nicht so schlimm, für den anderen unbedingt zu verbieten. Der eine lebt seine Lust auch im aggressiven Umfeld aus, für den anderen ist dies pervers und abartig. Wenn wir nicht wieder zu den Ordnungen Gottes zurückkehren, finden wir auch nicht mehr die zutreffenden Regeln und das schützende Recht des Menschlichen, das Unrecht und Unmenschliches bestraft. Die heute vielfach festzustellende Ohnmacht gegenüber der ausufernden Aggression und der sich immer offener gebenden Gewalt ist zum Teil auf die Utopie zurückzuführen, die da lautet: Erziehung ohne Strafe ist möglich! Dass Strafe Zurechtbringen und Einsicht, Umkehr und Besserung bewirkt, haben wir aus den Augen verloren. Auch hierin muss es zu einer Neubesinnung kommen, wenn Aggression bewältigt werden soll und unsere Gesellschaft vor einer ausufernden Aggression bewahrt bleiben soll.
19 Heinrich Hoffmann, Der Struwwelpeter, Erlangen o.J., S. 2.
20 Ariane Barth, Ich gegen meinen Bruder, in: Der Spiegel, Nr. 3, 17.1.1994, S. 78.
21 Ebd.
22 Ebd., S. 74.
23 Vgl. den Bericht über Kain und Abel, 1. Mose 4, 8-15.
24
Auf welche Weise zeigt sich die Aggression bei Tier und Mensch? Zur Beantwortung dieser Frage werde ich Ergebnisse aus der Verhaltensforschung (Ethologie) erwähnen und anschließend die Ausdrucksformen menschlicher Aggression aufzeigen. Das, was wir von außen sehen können, soll genannt werden – aber nicht nur das. Auch die inneren, die physiologischen Abläufe während der Aggression, sind wichtig, um das Phänomen der Aggression zu verstehen und Überwindungsmöglichkeiten zu nennen.
Eine Aufklärung über das Wortbedeutungsfeld von »Böse« – »böse« im Anschluss an die Beschreibung des Phänomens Aggression soll uns die Antwort auf die Frage: »Ist aggressives Verhalten nicht zugleich auch böses Verhalten?« erlauben. So kommen wir schließlich zur Klärung des Begriffs Aggression, der auf diesem Weg dann hinlänglich erläutert ist.
Die Beobachtungsergebnisse »höherer« Lebewesen mit einem entsprechend ausdifferenzierten Verhaltensrepertoire brachten unter anderem auch zahlreiche Varianten aggressiven Verhaltens zum Vorschein. Bei Säugetieren gibt es universal verbreitete Erscheinungsformen der Aggression, die artübergreifend festgestellt wurden. Hierzu zählt das Beißen und Nachjagen, das artspezifische Drohen (z. B. durch eine bestimmte Körperhaltung, durch Zähnezeigen und Haareaufstellen, etc.) und die artspezifischen Lautäußerungen (z. B. das Knurren, Fauchen, Brüllen, etc.). Darüber hinaus fand man ganz artspezifisches Aggressionsverhalten – »das Ausschlagen des Pferdes, das Schwanzschlagen bei Mäusen, das Zupacken und Beißen bei vielen Affen usw.«25 Schließlich verfügen viele Tierarten über einen großen und differenzierten Vorrat von aggressiven Reaktionen, die sie für unterschiedliche Situationen, andere Tierarten und Intensitäten bei Provokationen anwenden. So können sie auf eine bloße Annäherung eines fremden Artgenossen anders reagieren als auf eine Bedrohung, einen Angriff oder einen Rückzug. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass die Tiere auf eine ihnen bevorstehende Bedrohung durch den Artgenossen anders reagieren als auf eine solche durch ein artfremdes Tier. All dies lässt deutlich werden, ohne dass ich in die Detailbeschreibung aggressiven Verhaltens einzelner Tierarten einzugehen brauche, dass die Tiere über ein umfassendes Verhaltensrepertoire verfügen, das ihnen die Möglichkeit gibt, ihren aggressiven »Stimmungen« Ausdruck zu verleihen.
Den Erscheinungsformen der Aggression liegen spezifische Merkmale zugrunde, die nach Ernst Fürntratt folgendermaßen zusammengestellt werden – sie sind:
kurz andauernd, undifferenziert, dramatisch, sichtbar gerichtet;
affektbegleitet, affektkontrolliert;
reflexiv: durch Schlüsselreize auslösbar, stereotyp im Ablauf;
auf Gebrauch gegen Artgenossen zugeschnitten;
als isolierte Reaktionen oder als Komponenten integrierter Reaktionssequenzen auftretend;
durch Übung perfektionierbar und in Grenzen modifizierbar;
klassisch bedingbar.
26
Brüllen und fauchen die Tiere, so befinden sie sich in aggressiver Stimmung. Sie ist von Erröten, Muskelspannung (besonders im Bereich des Oberkörpers und des Gesichtes), der Veränderung der Atmung und des Augenausdrucks begleitet. Die vorhin genannten spezifischen Merkmale sind ihrerseits wieder auf gewisse Auslöser zurückzuführen, die sie hervorbringen:
Aggressionsfördernde Hintergrundfaktoren
Unmöglichkeit der Flucht, räumliche Enge, Populationsdichte;
Vorhandensein von Sicherheitsreizen;
Anwesenheit von Artgenossen;
innere Bedingungen: Frustration, Morphinentzug, Drogen, Kraftreserven, stressbedingte Labilität, Stillzeit.
Auslöser
Schmerz;
Bedrohung, Angriff;
Einschränkung der Bewegungsfreiheit, Störung bei motivierter Aktivität, Bedrohung des Besitzes;
Zunahekommen fremder Artgenossen.
27
Wie die Tiere mit ihren Aggressionen umgehen, habe ich in meinem Buch »Evolution und Aggression«28 ausführlich dargestellt. Darüber hinaus auch zum Teil in meiner Arbeit29 über Leben und Werk des Verhaltensforschers und Nobelpreisträgers Konrad Lorenz, so dass ich jetzt hierauf verzichte und die Leser, die speziell an der tierischen Aggression interessiert sind, auf diese Bücher verweisen möchte.
Was mag aus den Forschungsergebnissen der tierischen Aggression auf uns Menschen übertragbar sein? Konrad Lorenz zog hier etliche Parallelen, so dass ihm Erich Fromm (1900-1980) in seiner Arbeit mit dem Titel: »Anatomie der menschlichen Destruktivität«30 heftig widersprechen musste. Dennoch, die von Fürntratt aufgelisteten Merkmale und Auslöser kennen wir Menschen auch für unser Aggressionsverhalten. Nennen wir einige Beispiele: Wenn wir in der räumlichen Enge überfüllter Verkehrsmittel, seit der Einführung der Billigfahrscheine für mehrere Personen, besonders bei der Deutschen Bundesbahn zu beobachten, einander berühren, kommen wir in Wallung. Der Stress am Arbeitsplatz überträgt sich hier und dort auf die Familie, wenn die gestressten und geplagten Mitglieder abends zu Hause Einschränkungen und Störungen erleben. Merkmale und Auslöser mögen ja vielleicht noch verglichen werden können, wenn tierische und menschliche Aggression beschrieben werden, so dass Parallelen und Vergleiche zunächst, oberflächlich gesehen, zutreffen. Doch zur genauen Phänomenbeschreibung gehört auch die Frage, welcher Unterschied zwischen Tier und Mensch besteht, zumal, wenn problematisches, zerstörerisches Verhalten überwunden werden soll. Die Tiere haben hierzu einen angeborenen Auslösemechanismus31 und ein ausgeklügeltes »System«32, ihre Aggression »abzuleiten«, so dass sie »leerlaufen«. Bei uns Menschen ist dies grundsätzlich anders. Um dies zu verstehen, müssen wir uns einiges vom Wesensunterschied, der zwischen Tier und Mensch besteht, verdeutlichen.
Ergebnisse der modernen Anthropologie (der Lehre vom Menschen)33 zeigen, dass der Mensch im Unterschied zum Tier ein weltoffenes Wesen ist. Was ist damit gemeint? Der Mensch, so wird mit dem Begriff der Weltoffenheit ausgesagt, lebt nicht nur instinktgesteuert, sondern kraft seiner Vernunft und mittels seines Gewissens sollte er in der Lage sein, seine Triebe zu beherrschen.
Wenn man heutzutage oftmals einen gegenteiligen Eindruck bekommt, so liegt dies nicht an dem nicht mehr bestehenden Unterschied zwischen Tier und Mensch, sondern an dem Werteverlust und der Manipulation des Menschen durch die Massenmedien unserer Tage, so dass lustorientierte Triebsteuerungen vorherrschen. Der Verstand wird hiervon überlagert und das Schamgefühl und Gewissen unterdrückt. Umso notwendiger ist eine ethische Besinnung und Umkehr zu den Wurzeln menschlichen Seins als Geschöpf Gottes, damit der Triumph der Triebe nicht den Untergang der menschlichen Würde und Geschöpflichkeit feiert.
Die Weltoffenheit des vernunftbegabten und gewissenbeschenkten Menschen ist seine Freiheit, so dass er sich nicht nur instinkt- und triebgemäß verhalten muss, wie die Tiere (sie sind umweltgebunden!), sondern sich entscheiden kann, seine Lust, seine Triebe, seinen Egoismus, seine Aggression, etc. nicht auszuleben. Zu dieser Entscheidung finden wir zum Beispiel, wenn wir über die Erfahrungen unseres Aggressionsverhaltens nachdenken und erkennen, was wir hierdurch bei uns und anderen angerichtet haben. Wir Menschen verhalten uns nicht nur, wir erfahren uns auch in unserem Verhalten, sei es, dass andere Menschen uns dieses spiegeln oder wir selbst es im Nachhinein spüren, weil wir es zum Beispiel nicht wollten, etc. Halten wir zum weiteren Verstehen Folgendes zum Wesensunterschied von Tier und Mensch fest:
»Tierisches Verhalten ist ›umweltgebunden‹. Menschliches Verhalten ist ›umweltfrei‹, daher ›weltoffen‹. Das Tier hat nur eine begrenzte Umwelt. Allein der Mensch lebt in einer offenen Welt; er ist das weltoffene Wesen. Was heißt das?
Umwelt bedeutet einen bestimmt begrenzten Lebensraum, auf den ein Lebewesen spezifisch festgelegt ist. Diese Begrenztheit ist jedoch nicht, wenigstens nicht immer notwendig, in einem räumlichen Sinne zu verstehen. Manche Tiere bewegen sich in ihrem artgebundenen Verhalten in weiten geographischen Räumen; denken wir etwa an den Flug der Zugvögel. Trotzdem leben sie in einer qualitativ und strukturell begrenzten Umwelt. Sie sind an bestimmte Lebensbedingungen gebunden. Sie erfassen die Wirklichkeit unter bestimmten spezifisch festgelegten Rücksichten. Sie reagieren darauf in triebhafter, artgebundener Weise. Das tierische Verhalten ist auf eine bestimmte, begrenzte und verschlossene Umwelt festgelegt, die es nicht übersteigen kann. Insofern kann es als ›umweltgebunden‹ bezeichnet werden.
Welt bedeutet hingegen einen weiten Horizont, der grundsätzlich jede bestimmte Begrenzung sprengt, jede Festlegung aufhebt, also weiter ist als der unmittelbare Lebensraum. Der Mensch kann sich von seiner Umwelt abheben, er kann Abstand nehmen, er kann sich jeweils anderen Umweltbedingungen anpassen. Sein gesamtes Verhalten ist über die bestimmte Umwelt hinaus grundsätzlich offen. Er ist beweglicher, gestaltbarer, anpassungsfähiger als jedes Tier. Er ist nicht definitiv gebunden an eine bestimmt begrenzte Umwelt. Er ist in diesem Sinne ›umweltfrei‹, daher ›weltoffen‹. Er hat über seine Umwelt hinaus eine offene Welt.«34
Wie sind die einzelnen Ausdrucksformen der menschlichen Aggression beschaffen? Zunächst müssen wir wissen, dass es hier verschiedene Zuordnungsgruppen gibt.
So die:
körperliche,
verbale,
expressive,
verdeckte und
selbst zugefügte Aggression.
Körperliche Aggression
Diese reicht von der Ohrfeige bis zur Tötungshandlung. Entsprechend ist zu bedenken, welche Berechtigung sie als Mittel der Erziehung hat. In der neueren Literatur lassen sich Beispiele dafür finden, dass augenblickliche körperliche Strafen ihre sofortige Wirkung nicht verfehlen.35
Verbale Aggression
Verbale Aggression tritt in menschlichem Verhalten und Alltag häufig auf. Da die Lebensäußerungen des Menschen zu einem großen Anteil auch durch die sprachliche Kommunikation realisiert werden, ist die verbale Aggression besonders auffällig. Unterstützung erfährt sie durch Mimik und Gestik. Das Spektrum der verbalen Aggression ist recht breit:
herabsetzende Bemerkungen;
kritische Äußerungen;
Beschimpfungen;
Beleidigungen;
kommunikative Valenz, worunter Verbalaggressionen in Dialektform verstanden werden (»Depp«, »Doofer«, etc.).
Expressive Aggression
Hier ist in Sonderheit das menschliche Ausdrucksvermögen in seiner mimischen, stimmlichen und gestischen Gesamtkomponente bei aggressivem Verhalten gemeint. Die nachfolgende Abbildung zeigt diesen Sachverhalt besonders anschaulich und einprägsam. Das Gesicht des aggressiven Menschen zeigt das Krausen der Augenbrauen, den verzerrten Mund, das insgesamt angespannte Gesicht und den geöffneten, zusätzlich Verbalaggression ausstoßenden Wortschwall. Ein solcher Mensch ist zu Recht zum sprichwörtlichen Fürchten. Hochmut, Verachtung, Wut, Zorn, Ablehnung und Hass finden in der Mimik ihren Ausdruck und bei dem anderen Menschen den Eindruck: Mein Gegenüber ist in aggressiver Stimmung. Nachfolgende Skizzen zeigen, wie besonders heftige Aggressionen sich durch Unterstützung der Motorik Achtung verschaffen und das Drohen deutlich werden lassen.
Abb. 2: Expressive Aggression im Gesamteindruck eines aggressiven Gesichtes
Verdeckte Aggression
Im menschlichen Sozialverhalten ist teilweise auch versteckte, zugedeckte, indirekte Aggression sichtbar. Sie kann sich in Liebenswürdigkeit, Höflichkeit und Zuwendung verbergen. Erst später merkt das Opfer, was der Täter mit ihm machte.
Selbstaggression
Hierunter sind Aggressionen gegen die eigene Person zu verstehen. Einfache und harmlose Formen sind das Nägelkauen und das Wundenaufkratzen. Als Folge von früher Mutterentbehrung oder von Geschwisterrivalität kann es vorkommen, dass Kinder sich selbst quälen. Sie reißen sich Haare heraus, schlagen mit dem Kopf gegen die Wand oder treten und trampeln mit den Füßen. Selbstaggressionen im Kontext von Behinderungsgraden verschiedenster Art sind hier ebenfalls zu nennen. Letztere sind aus der ethischen Beurteilung meiner Gesamteinschätzung menschlicher Aggressionen auszuklammern, da sie verschiedene Ursachen haben und nicht zuletzt durch das jeweilige Krankheitsbild des behinderten Menschen bedingt sind.
Was wir soeben benannten sind Aggressionsformen menschlichen Verhaltens, die von außen festgestellt werden können. Was aber spielt sich währenddessen im Inneren des Menschen ab, wenn er sich, äußerlich zu beobachten, aggressiv verhält? Die Beantwortung dieser Frage geht in die komplizierten Zusammenhänge der menschlichen Psychophysiologie.
Die Psychophysiologie befasst sich mit den Zusammenhängen, die zwischen den psychischen und den physiologischen Prozessen des Menschen bestehen. Entsprechend werden die gegenseitigen Beziehungen zwischen der Umwelt und dem Umweltgeschehen auf der einen und den spezifischen Funktionen des menschlichen Organismus auf der anderen Seite untersucht. Die primären, wie auch die sekundären Auswirkungen der Umwelt auf den Menschen sind deshalb von Bedeutung.
Was wird im Einzelnen demnach zu berücksichtigen sein?
Zentrale Indikatoren:
Die bioelektrischen Signale des Gehirns. Mit dem Studium dieser Signale beschäftigt sich die Auswertung der Elektroenzephalographie (EEG).
Die Änderungen der elektrischen Impedanz des Schädels, bzw. des Gehirns. Mit der Messung dieser Funktion befasst sich die sogenannte Rheoenzephalographie (REG).
Periphere Indikatoren:
Bioelektrische Signale der Skelettmuskeln, die durch die Aufzeichnung über die Elektromyographie (EMG) ausgewertet werden können.
Der Verlauf der Atmung kann über die Atemkurve verfolgt werden.
Die Hauttemperatur und die »innere« Körpertemperatur wird gemessen.
Die Mobilität des Magens wird mit Hilfe der Elektrogastrographie (EGG) festgestellt.
Neben den Untersuchungsmethoden zur Beurteilung der Psychophysiologie sind die Themen dieses Fachgebietes interessant. Mittlerweile beziehen sie immer mehr die Emotionen des Menschen in ihre Untersuchungen mit ein. Nennen wir einige Schwerpunkte:
Psychophysiologie der Emotionen
Psychophysiologie der Motivationen
Psychophysiologie der Angst, des Stresses, der Wahrnehmung, der Persönlichkeit, des Lernens, des Denkens, etc.
Die Psychophysiologie zeigt uns auf ihre Weise, wie Körper (Soma), Seele (Psyche) und Geist (Ratio) des Menschen in einer ganzheitlichen Betrachtungsweise gesehen werden müssen. Entsprechend sehen sich auch immer mehr Fachwissenschaftler dazu aufgefordert, über das eigene Fachgebiet hinaus mit anderen Wissenschaftlern in einen Austausch zu treten, um den Menschen besser verstehen zu können. Jeder, der nur einen »Teil« des Ganzen (z. B. den Körper, oder die Seele) in ausschließlicher Weise betont, »vergewaltigt« den Menschen, ideologisiert und verkürzt, was nur ergänzend und ganzheitlich gesagt werden kann.36
Um die Psychophysiologie der Aggression recht verstehen zu können, müssen wesentliche Grundlagen über die »inneren Abläufe« im Körper des Menschen vorhanden sein. Da dieses Vorwissen aber nicht mehr so ohne weiteres vorausgesetzt werden kann, möchte ich hierzu einiges vortragen.37
Das Nervensystem des Menschen stellt eine untrennbare Einheit dar. Unter Berücksichtigung seiner Lage lässt es sich in das Zentralnervensystem, bestehend aus Rückenmark und Gehirn, und in das periphere Nervensystem (das am Rande und somit nicht im Zentrum liegende) Nervensystem mit den dazugehörigen Nervenknoten einteilen.
Das ZN ist die Hauptstelle und der Mittelpunkt für die Annahme, Verarbeitung und Auswertung der nervösen Impulse, die aus allen Teilen des Organismus, unter und ohne Mitwirkung der Außenwelt, eintreffen. Von ihm werden durch Koppelung mit dem vegetativen NS zugleich die Funktionen der Organe ausgelöst und in Gang gehalten, je nach Bedarf, aber auch beschleunigt oder gehemmt. Die von einem Sinnesorgan aufgenommenen Reize werden über afferente (d. h. zum NS hinführende) sensible Bahnen und über das Rückenmark in die Gehirnzentrale geleitet, wo sie verarbeitet und erneut mit Impulsen beantwortet werden, über efferente (d. h. die zum Erfolgsorgan leitenden) Bahnen zurücklaufen, um zum Beispiel eine Muskelbewegung hervorzurufen.
Das Rückenmark und das Gehirn bilden zusammen das ZN. Dabei ist das Rückenmark in den meisten Fällen als erstes Zwischenschaltzentrum anzusehen. Die hier ablaufenden Vorgänge sind noch verhältnismäßig einfach und nicht so kompliziert wie die Reaktionen, an denen die weiter übergeordneten Nervenzentren Anteil haben. Ein Schnitt durch das Rückenmark zeigt im Mittelbereich desselben eine graue Substanz, die im Querschnitt die Form eines Schmetterlings zeigt. Sie ist ihrerseits von einer weißen Substanz umgeben, die wiederum in dem zarten Pia-Überzug eingehüllt ist. Die graue Substanz besteht aus Nervenstützgewebe und aus Nervenzellen, die zum Teil zu Gruppen verdichtet sind. In der Mitte der grauen Substanz liegt der mit Liquor gefüllte Zentralkanal. Die weiße Substanz ist vorwiegend aus dicht gelagerten markhaltigen Nervenfasern, die von den Seiten der grauen Substanz in die Vorder-, Seiten- und Hinterstränge unterteilt werden, aufgebaut. In ihr befinden sich die Leitungsbahnen des Rückenmarks. Die der grauen Substanz unmittelbar anliegenden weißen Fasern bilden den Eigenapparat des Rückenmarks. So sind sie direkt mit gewissen Zellgruppen der grauen Substanz verbunden, so dass reflektorische und automatische Reaktionen ohne die Mitwirkung des Gehirns ablaufen können. Diesen einfachen Vorgang nennt man Reflex. Auf eine Hautreizung oder die eines Muskels erfolgt eine sekretorische oder motorische Reaktion. Ein Reflexbogen entsteht.
Das Gehirn des Menschen füllt den schützenden, knöchernen Schädel aus.
Abb. 3: Aufteilung der Hirnlappen des Großhirns
Es besteht aus den höchstentwickelten und differenzierten Körpergeweben, die man wie beim Rückenmark nach ihrem Farbton in graue und weiße Substanz einteilt. Die fünf Hauptabschnitte des Gehirns entwickeln sich aus den fünf Gehirnbläschen des Embryos. Sie bilden eine eng miteinander verbundene, untrennbare lebendige Einheit und lassen sich nicht eindeutig gegeneinander abgrenzen (1. verlängertes Mark oder Nachhirn; 2. das Hinterhirn; 3. das Mittelhirn; 4. das Zwischenhirn; 5. das Endhirn). Das Zwischenhirn und das Endhirn bilden zusammen das Großhirn oder Vorderhirn. Im Inneren des Gehirns sind mit Flüssigkeit gefüllte Hohlräume ausgespart, die Hirnkammern (Hirnventrikel). Die beiden großen Hirnhälften beherbergen den I. und den II. Ventrikel; der dritte liegt im Mittelhirn, der IV. im Rautenhirn, von dem aus er in den Zentralkanal des Rückenmarks übergeht.
Folgende Bestandteile des Gehirns sind für das Verständnis der psychophysiologischen Abläufe der Aggression wichtig: der Thalamus und der Hypothalamus. Der Thalamus stellt den Hauptbestandteil des Zwischenhirns dar. Er enthält neben der Hirnrinde die wichtigsten Schaltstellen für alle sensiblen Bahnen: Temperatur-, Schmerz- und Tastempfindung und Tiefensensibilität für die Seh- und Riechfunktionen. Er ist außerdem das Zentrum für die Psychoreflexe wie Mimik, Gestik, Weinen und Lachen. Alle zur Großhirnrinde ziehenden Sinnesbahnen passieren den Thalamus.
Der Hypothalamus enthält die obersten Regulationszentren für Sympathikus und Parasympathikus. An seiner Basis liegt die Kreuzung der Sehnerven. Dicht daneben zweigt der Stiel ab, dessen Ende die Hirnanhangsdrüse (Hypophyse) trägt. Hier drängen sich die Zentren des Wasserhaushalts, der Wärmeregulierung, des Stoffwechsels und des Kreislaufs. Trieb- und Instinktleben, Hunger und Durst, Wach-Schlaf-Rhythmus und Schlaftiefe werden von hier aus gesteuert.
Neben dem Nervensystem ist das innersekretorische System noch zu benennen, um der Psychophysiologie einigermaßen gerecht zu werden. Das endokrine System besteht aus den endokrinen Drüsen des Organismus. Diese sind:
Hypophyse,
Epiphyse,
Schilddrüse,
Nebenschilddrüsen,
Keimdrüsen,
Nebennieren,
Inselapparat des Magens.
Die Inkrete dieser endokrinen Drüsen sind Hormone: in kleinsten Mengen produzierte und spezifisch wirkende Stoffe, die das Körpergewebe in Wachstum, Funktion und Stoffwechsel beeinflussen und regeln. Bei dieser Regelung besteht ein Rückkoppelungsmechanismus: Ein zu niedriger Hormonspiegel in der Blutbahn veranlasst, dass die für das betreffende Hormon zuständige Drüse gehemmt wird, damit diese weniger Hormon ausschüttet.
Die Nebennieren produzieren Hormone, die in der Psychophysiologie der Aggression eine wichtige Rolle spielen. In den Markzellen wird Adrenalin und Noradrenalin gebildet. Sie sind die natürlichen Reizübermittler des NS. Adrenalin steigert die Herztätigkeit und den Blutdruck, verengt die Blutgefäße und bringt Blut aus den Depots in Umlauf und kann die Darmtätigkeit hemmen. Ferner mobilisiert es das gespeicherte Glykogen und erhöht dadurch den Blutzuckerspiegel. Noradrenalin hat als Überträgersubstanz einen hohen Anteil an der Weitergabe von Erregungen des sympathischen NS an die Endorgane, während Adrenalin auf das ZNS zurückwirkt und dadurch zur Steigerung der Bewusstseinshelligkeit beiträgt.
Kommen wir noch auf das vegetative Nervensystem zu sprechen, um die Gegenspieler – Sympathikus und Parasympathikus – in ihrer Wirkung verstehen zu können. Das vegetative NS innerviert die glatte Muskulatur des Verdauungstraktes, der Sinnesorgane und der Blutgefäße des Herzens, der Drüsen und der Geschlechtsorgane.
Über den Sympathikus werden der Herzschlag und die Atmung beschleunigt, der Blutdruck erhöht, die Bronchien, die Herzkranzgefäße und die Pupillen erweitert. Bewegungen und Sekretion des Darmes werden eingeschränkt, die Entleerung der Blase und des Darmes gehemmt, weil der Schließmuskel sich zusammenzieht.
Die Aktivität des Parasympathikus erreicht in mancher Hinsicht genau das Gegenteil von dem des Sympathikus. Die Bronchialmuskulatur zieht sich zusammen, Atmung und Herzfrequenz werden langsamer und die Herzkranzgefäße werden verengt.
Abb. 4: Wirkungsweise des Sympathikus und des Parasympathikus
Nach dem Einblick in das »innere Geschehen« des Menschen stellt sich die Frage, warum man von der Psychophysiologie der Aggression spricht. Wir selbst offenbaren in Redewendungen unseren »inneren Zustand«, wenn wir etwa sagen:
»Ich werde rot vor Wut!«
»Mir läuft vor Ärger die Galle über!«
Wenn wir Menschen uns in Wut, Ärger, Aggression, aber auch in Freude, Hoffnung, Zuversicht und Glück befinden, entspricht dies immer einer inneren Korrespondenz, einem wie oben ausgeführten komplizierten Zusammenwirken von chemischen Reizen und elektrophysiologischen Antworten im ZN und dem endokrinischen System.
Wenn das so ist, so folgerten einige, kann man dann nicht die Aggression mittels operativem Eingriff im Aggressionszentrum des Gehirns verhindern oder ihr über Psychopharmaka beikommen, die die Angriffslust und Feindseligkeit des Menschen hemmen? Ist Aggression gar eine Krankheit?
»New York. Die UNO-Kommission für Psychotechnologische Gewaltkontrolle (KOPTEG) teilte heute den erfolgreichen Abschluss ihres weltweiten Anti-Gewalt-Programms mit. Die Erfüllung des Programms wird als Sieg der Wissenschaft über die Natur des Menschen gewertet. Ein Jahrzehnt nach der gesetzlichen Regelung, die für jeden Bürger die tägliche Einnahme des aggressionshemmenden Mittels Nonaggressivin verpflichtend machte, und acht Jahre nach der Verfügung über psychochirurgische Zwangsimplantation von Gehirnkontrollelementen für Gewalttäter scheint der natürliche Aggressionstrieb des Menschen endgültig gebrochen. Mit der weltweiten Abschaffung von Aufständen, Gewaltverbrechen, Todesstrafe und militärischen Auseinandersetzungen sieht die KOPTEG die Voraussetzungen für eine Ära des Weltfriedens gegeben …«38
Science Fiction? Sicherlich – aber eine, die heute schon in beschränktem Maße Wirklichkeit geworden ist. Tabletten gegen Angriffslust? Ich erlebte, wie man in einer psychiatrischen Klinik, in der ich ein vierteljähriges Praktikum machte, überaktiven und affektgestörten Patienten Psychopharmaka verabreichte, um sie zu beruhigen. Sicher eine legitime und notwendige Maßnahme, um den gestörten Patienten, die anderen Mitpatienten und das Pflegepersonal zu schützen. Der Ruf nach psychotechnologischer Kontrolle des Menschen unterstellt im Zusammenhang mit der Aggression, dass Aggression eine Krankheit sei. Folglich bedürfen dann alle aggressiven Menschen (wer wäre hier dann ausgeschlossen?) der medizinischen Behandlung. Lässt sich denn die Krankhaftigkeit der Aggression einfach aufgrund des Symptoms »Aggression« feststellen?
»Offensichtlich lässt sich die Frage der Krankhaftigkeit von Aggression nicht allein aufgrund des Symptoms, also des beobachtbaren Verhaltens, entscheiden, da uns die notwendige Unterscheidung zwischen ›normalem‹ und ›unnormalem‹ Verhalten fehlt.«39
Um aber dennoch Aggression als Krankheit definieren zu können, bedient man sich eines Kompromisses. Lassen sich die Symptome auf definierbare organische Schäden zurückverfolgen, so kann man von einer Krankheit sprechen. Demnach könnte Aggression u. a. eine ursächliche Folge von starken Schmerzen, einer Überfunktion der Schilddrüse, etc. sein.
Lässt sich darüber hinaus die im Modell der Aggression als Krankheit definierte Annahme physiologischer Ursachen für Aggression erhärten? Natürlich wird auch aggressives Verhalten, wie jedes andere komplexe Verhalten auch, vom Nervensystem gesteuert. Ist demnach aggressives Verhalten die Folge von Funktionsstörungen oder Deformationen bestimmter Teile des Zentralnervensystems? Wenn ja, dann hätten doch Skalpell und Psychopharmaka ihre Berechtigung, als »Aggressionsheilmittel« eingesetzt zu werden. Oder kann Aggression das Ergebnis völlig störungsfreier Prozesse in einem gut funktionierenden Nervensystem sein?40 Da fast das gesamte Verhalten bei Mensch und Tier durch die »Filteranlage« des Nervensystems gesteuert wird, vertreten einige Neurochirurgen die Meinung, man brauche doch nur das Gehirn gründlich genug zu erforschen, um die Aggression des Menschen besser zu verstehen. So bekam man zum Beispiel mit Hilfe von Mikroelektroden, die in der Lage sind, elektrische Ströme tief im Gehirn abzutasten, Kenntnis über Gehirnpartien, die am Ablauf sensorischer, motorischer und kognitiver Prozesse beteiligt sind. Doch Gehirnpartien sind über diesen Weg wesentlich einfacher auszumachen als ein Aggressionszentrum zu finden.
»Das hängt damit zusammen, dass mit Aggression komplexe Verhaltensmuster bezeichnet werden, deren Hervorbringung ein Zusammenspiel unterschiedlicher Hirnteile erfordert.«41
Die meisten Untersuchungen der Hirnfunktion im Kontext der Suche nach dem Aggressionszentrum wurden an Tieren durchgeführt. Deshalb sind die Ergebnisse auch nicht ohne weiteres auf den Menschen übertragbar, auch wenn das menschliche Gehirn nicht grundlegend anders aufgebaut ist wie das vieler Säugetiere.
Schauen wir uns einmal einen Querschnitt durch das menschliche Gehirn an:
Abb. 5: Querschnitt durch das menschliche Gehirn
Die in der Abbildung eingezeichneten Gehirnregionen sind an der Übertragung aggressiver Verhaltensweisen wesentlich beteiligt. Das Großhirn übernimmt die Funktion der Steuerung komplizierter Prozesse und die Koordination der verschiedenen Teile des Nervensystems. Die äußere Schicht des Gehirns ist die Hirnrinde (Neokortex). Hier sind die grauen Zellen lokalisiert, die die komplexen Prozesse der Informationsverarbeitung übernehmen. Die Struktur der Hirnrinde besteht aus Längs- und Querfurchungen. Die von diesen Furchungen abgeteilten Zonen bezeichnet man in der Anatomie als Lappen (Stirn-, Scheitel-, Schläfen- und Hinterhauptslappen). Die Untersuchung der physiologischen Grundlagen der Aggression konzentriert sich auf zwei kleine, äußerst komplizierte Formationen, auf den Hypothalamus und die Mandelkerne (Amygdala).
Gewebezerstörende Eingriffe, sogenannte Läsionen, im Nervensystem oder Elektrostimulationen, wurden bisher selten am menschlichen Hypothalamus vorgenommen. Trotzdem ist aus wenigen Forschungsergebnissen am Menschen in Verbindung mit einer großen Anzahl von Tierversuchen42 der Schluss gezogen worden, dass der Hypothalamus ganz entscheidend am Zustandekommen aggressiven Verhaltens beteiligt ist. Das Einführen von Elektroden in die Mandelkerne ermöglicht sowohl die Aufzeichnung von elektrischer Aktivität, als auch die gezielte Zerstörung des Gehirngewebes um die Spitze der Elektrode herum. So lässt sich auf diese Weise, nach Auskunft einschlägiger Literatur hierzu, der genaue Ursprungsort abnormer Hirnwellenaktivität feststellen, der dann durch die Zuführung höherer Spannung zerstört werden kann. Des Weiteren fand man, dass es Gehirnregionen gibt, die an der Erregung der Aggression beteiligt sind (Hypothalamus, Mandelkerne) und solche, die Aggression hemmen (z. B. Nucleus Caudatus, vgl. Abb. S. 48).
Dem Forscher Delgado gelang der Nachweis in Tierversuchen mit Affen, dass eine ferngesteuerte Reizung des Nucleus Caudatus zum unvermittelten Abbruch von Aggressionsverhalten führt. Wenn »Aggressionshemmzentren« im Gehirn ausgemacht werden können, so drängt sich die Frage auf, was passieren kann, wenn diese Zentren ausfallen oder beschädigt werden (etwa bei einem Unfall, etc.). Demnach würden schon kleinste Verstimmungen oder andere Anlässe mit Frustrationswirkungen dazu führen, dass Aggressionshandlungen ausgelöst würden, ohne dass sie vom Gehirn kontrolliert werden könnten. Die Forschungslage ist aber bis heute diesbezüglich widersprüchlich: Es besteht keine einstimmige Auffassung über die Funktion der Gehirnteile (Hypothalamus, Mandelkerne, Nucleus Caudatus), die bei der Aggressionshandlung psychophysiologisch beteiligt sind. Sicher gibt es Beteiligungen organischer und physiologischer Art am Aggressionshandeln des Menschen. Doch ist es abzulehnen, für diese Gehirnregionen den Begriff des »Aggressionszentrums« einzuführen.
»Nach dem Stand der Forschung gibt es kein Gebiet im Gehirn, das ausschließlich für Aggression zuständig wäre, aber sehr viele, die in irgendeiner Weise an der Auslösung und Steuerung aggressiven Verhaltens beteiligt sind.«43
So sind auch Operationsmethoden, wie die von Mark und Erwin kritisch unter die Lupe zu nehmen. Scherer macht darauf aufmerksam, dass im Jahre 1979 ein Prozess gegen diese beiden Neurochirurgen stattfand:
»Einer ihrer Patienten war zwar nach der Operation friedfertig, musste sich aber mit einem schwerwiegenden Verlust seiner geistigen Fähigkeiten abfinden.«44
Die Darstellung, dass Aggression als eine Krankheit aufzufassen sei, lässt erkennen, dass eine ausschließlich physiologische und pathologische Betrachtung der Aggression deren Ursache nicht hinreichend erklären kann. Dennoch gibt es Sinn, Aggressionsverhalten unter physiologischem Blickwinkel zu betrachten. Siegfried Elhardt zeigt in seinem Buch »Aggression als Krankheitsfaktor« folgendes Ablaufschema der Aggression:
Im Zusammenhang des eben gezeigten Ablaufschemas der Aggression wird besonders bei der »Bereitstellungsphase« erkennbar, wie hier psychophysiologische Untersuchungsmethoden einsetzbar sind. Darüber hinaus zeigen die psychophysiologischen Vorgänge einer motorisch ablaufenden Aggressionshandlung, so die Ausschüttung von Katecholaminen, Blutzuckererhöhung, Blutdrucksteigerung, Steigerung der Herz-Kreislauf- und der Muskelaktivität, dass der ganze Mensch in all seinen Strukturen von der ihn erfassten Aggression berührt wird.
Wie in der Psychophysiologie der Aggression nach Auslösung aggressiven Verhaltens das Adrenalin unmittelbar die Aggression spürbar durch den ganzen Körper »fluten« lässt, so wird diesem vergleichbar im Ablauf und in der Wirkung der Heilige Geist seine Wirkung im aufkommenden Aggressionsgefühl bekommen. Er wirkt jedoch, im Vergleich mit der Adrenalinwirkung, mit einer Besonderheit: er »greift« nicht automatisch, unbeeinflussbar durch den Menschen, wie das Adrenalin, auf das wir keinen unmittelbaren Einfluss haben. Der Heilige Geist wirkt und verändert unsere Aggression, wenn wir ihn hierzu beachten und seinen Einfluss wollen. Die Bedeutung dieses Vergleichs ist eine Vorwegnahme des Ergebnisses meiner Aggressionstheorie und -bewältigung, wie ich sie im vierten Kapitel beschrieben habe.
Statt: »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst«, empfiehlt Felix von Cube: »Besiege deinen Nächsten wie dich selbst«, wenn er über die »Aggression im Alltag« nachdenkt.45 Für ihn ist der Mensch als Geistwesen für sein Verhalten verantwortlich und gleichzeitig wie das Tier ganz in seiner Natur eingebunden. Die Evolutionstheorie ist für ihn eine »simple Tatsache«46 und der Mensch somit das Produkt der Evolution.47 Dies muss man wissen, um seine Begründung für die These: »Besiege deinen Nächsten wie dich selbst«, verstehen zu können. So steht er ganz in der Tradition der Verhaltensbiologie, wie sie durch Konrad Lorenz48 begründet wurde. Besonders ihm und seinen Schriften steht er in seinem Ansatz zur Aggression nahe.
Er erlaubt sich dies ganz ungeniert, unkritisch und mit hoher Solidarität zur »Lorenzschule«. Entsprechend einfach und simpel ist sein Ansatz: Aggression ist der Trieb zum Sieg.49 Im Alltagsgeschehen, hier muss man von Cube zustimmen, ist die Rivalität unter uns Menschen unleugbar spürbar. Seine Beispiele hierzu treffen den Nagel auf den Kopf: beim Überholen auf der Autobahn, beim Abstimmen der Termine und in der Tatsache, immer das letzte Wort haben zu müssen,50 zeigt sich dies ganz banal und wirksam. Evolutionistisch gedacht ist der Kampf ums Dasein und ums Überleben immer mit Siegenmüssen gegenüber anderen verbunden. Nicht umsonst ist der programmatische Satz Jesu Christi auch ein anderer. »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst« zeigt ein anderes Programm, eine andere Denkweise über den Menschen, über seine Herkunft aus der Schöpfung Gottes und seine Zuordnung zu anderen Menschen in Liebe und Demut, in Vergebung und Friedensbereitschaft. Die Evolutionstheorie steht dem entgegen. Sie ist, wenn man sie mit dem anthropologischen Ansatz der Bibel vergleicht, schon in ihren Grundaussagen aggressiv, während die Bibel (vgl. die Aufforderung Jesu) Liebe gegenüber dem Nächsten einfordert. Entsprechend verhält sich auch der Aggressionsansatz von Cubes zu dem Meinen, wie ich ihn im vierten Kapitel erläutere.
Der Sieg über den Rivalen ist nach von Cubes Auffassung die Endhandlung der Aggression. Ist er geschafft, ist die Aggression zwar beendet, doch der Friede ist längst nicht in Sicht. Bei der nächsten Rivalität ist die Aggression wieder auf dem Plan. Auch wenn von Cube selbst weiß, dass er sich mit seinem Aggressionsansatz gegenüber den meisten Sozial- und Geisteswissenschaftlern ins Abseits bringt, hält er beharrlich an ihm fest und wendet ihn auf unsere Alltagserfahrungen an. Gewalt ist, wie die Aggression für ihn kein Selbstzweck, sondern auch, wie die Aggression, ein Mittel, den Rivalen zu besiegen. Aggression ist der Trieb zum Siegen, doch nicht nur brutal und rücksichtslos, sondern unter Einbeziehung der menschlichen Vernunft auch in der Form der Gewaltvermeidung, denn Gewalt als Siegesmittel führt zu weiterem Hass und zur Sehnsucht auf Rache. Siegen soll durch Leistung und durch demokratisches Handeln nach von Cubes Ansicht geschehen.
Doch verbirgt sich dann nicht selbst in der Leistung und in der Demokratie Aggression, wenn sie nicht grundsätzlich besiegt ist? Felix von Cubes Aggressionstheorie und -bewältigung muss bei all ihrer Attraktivität und Eingängigkeit scheitern, weil sie die Aggression instrumentalisiert und ihr dadurch schließlich eine Kraft zum Guten, eine Potenz zur Lebenserhaltung zugesteht, die ihr nach meiner Überzeugung nicht wesensmäßig zukommt, da sie immer nur die Kraft zum Bösen, den Trieb zur Zerstörung und Gewalt, die Unterdrückung des anderen und den Sieg über ihn in dessen Niederlage sucht. Ich stimme von Cube zu: Aggression gehört unbedingt in die Natur des Menschen und zu seinen ureigensten Trieben. Jene müssen jedoch gerade von uns Menschen gelenkt und beherrscht werden, damit wir nicht tierischer als die Tiere werden.
Auch ich fordere wie von Cube eine Aufklärung über die Natur des Menschen. Doch im Gegensatz zu ihm und seinem Referenzautoren Konrad Lorenz bin ich nicht der Meinung, dass der Mensch ein Produkt der Evolution ist, die ihn fallengelassen hat, sondern vielmehr bin ich der tiefen Überzeugung, dass der Mensch ein von Gott gewolltes Lebewesen ist und dass er das eigene Verhalten reflektieren und beurteilen kann. Gerade wegen dieser Fähigkeit ist der Mensch der »erste Freigelassene der Schöpfung«, wie Johann Gottfried Herder (1744-1803) dies ausgedrückt hat. Der Mensch weiß zwischen Gut und Böse zu unterscheiden, wenn er sich die Maßstäbe und Ordnungen für sein Leben aus der Sicht Gottes zur Kenntnis gibt. Er wird dann erkennen können, dass Aggression nicht der Trieb zum Sieg mit positivem, befriedetem Ende ist, sondern das Böse, das in seiner Wirkung Streit, Uneinigkeit, Bosheit, Unterdrückung und Krieg des Menschen gegen den Menschen entstehen lässt.
Die Semantik, die die Inhalte und Bedeutungen von Wörtern und Sätzen untersucht, soll uns helfen, eine nähere Bestimmung dessen vorzunehmen, was unter den Worten »Böse« (der Böse …) und »böse« (Du bist böse, …!) zu verstehen ist. In den einschlägigen Wörterbüchern fand ich hierzu folgende Übersicht:
Darnseiff51, der den deutschen Wortschatz nach Sachgruppen einteilte, schreibt zur Sachgruppe 11 (Affekte, Charaktereigenschaften) unter der Nummer 58 mit dem Stichwort reizbar, Folgendes:
Warum muss Aggression, nachdem es auch im Wortsinn nach den napoleonischen Kriegen in ganz Europa eindeutig im feindlich-destruktiven Sinn verstanden wurde, dennoch eine gute und hilfreiche Komponente haben?
Die Antwort lässt sich nach meiner Überzeugung dort finden, wo man sich die Folgen der absolut negativen Bedeutung von Aggression im Wortsinn von »Böse«, »böse«, bewusst macht. Schließlich enthält diese Bedeutung von aggressiven Verhaltensweisen immer einen Urteilsspruch, ob auf der kommunikativen, der juristischen oder der ethisch-christlichen Bedeutungsebene. Doch dies möchte man heute umgehen, oft sogar ausschließen. Ließe sich doch das, was den Autoren der positiven und konstruktiven Aggressionsüberzeugung an ihr wichtig ist, gut mit dem Begriff der Motivation fassen. Motivation ist nach meiner Ansicht eher ein »neutraler« Begriff zur Beschreibung von Verhaltensweisen, die zunächst kein Werturteil beigefügt bekommen. »Gib dir einen Anstoß!«, »Mach dich auf den Weg!« oder »Lass dich nicht so hängen!« sind doch allesamt Appelle mit motivationeller Intention. Aggression ist hier begrifflich eindeutig fehl am Platz. Selbst die Aufforderung zur Durchsetzung gegenüber Person »X« oder »Y« muss nicht mit Aggression realisiert werden. Doch scheiden sich hier die »Geister«.
Warum eigentlich? Indem man der Aggression in ihrer Bedeutung die Doppeldeutigkeit belässt (z. B. in dem Sinn von: »Kraft zum Guten, Kraft zum Bösen«), überführt man sie auf ein gewünscht neutrales Feld, auf dem das Individuum sich verhalten kann, wie es ihm gefällt, ohne jedoch mit Folgen hierauf rechnen zu müssen, die zudem noch eine deutliche Verurteilung und Strafe nach sich ziehen würden. Genau dieser Doppeldeutigkeit möchte ich begegnen und auf dem Hintergrund der Bibel aufzeigen, dass das Wesen und die Folgen der Aggression genau beschrieben werden müssen, damit sie uns wieder verständlich werden, und wir die Konsequenzen unseres Tuns bedenken können. Wo der Mensch unterscheiden kann zwischen dem, was für ihn gut und böse ist, ist er auch in der Lage, sich entscheiden zu können. Damit bekommt das menschliche Verhalten und Handeln eine ethische Dimension, die das Tun und Lassen des Einzelnen in die Verantwortung gegenüber seinem Nächsten und Gott stellt.
Wenn ich darauf hinweise, dass Aggression das Böse ist und aggressives Verhalten und Handeln als ein solches zu beurteilen ist, das nicht gut und hilfreich, sondern böse, destruktiv und gewalttätig ist, so tue ich dies mit der Absicht, die Träumereien und Illusionen im Umfeld des Aggressionsbegriffs aufzudecken. Erst wenn dies gelungen ist, kann uns die »Zwangsjacke« der Aggression im Lichte der Bibel als solche bewusst werden und der Wunsch nach Befreiung und Friede, nach Überwindung und Liebe statt Aggression entstehen. Auf den Willen nach Überwindung und Freiheit von Aggression kommt es an, da wir nicht automatisch von unseren Aggressionen frei werden. Wir werden ganz bewusst von unseren aggressiven Verhaltensweisen Abstand nehmen müssen, sonst werden wir sie nicht los. Hinzu kommt, dass dies ein immerwährender Prozess des Willens zur Liebe, zur Befreiung von Aggression und Gewalt ist, da unsere Welt und Umgebung permanent Impulse von Aggression und Gewalt anbietet. Selbst wenn wir von unseren Aggressionen frei werden wollen und auch hiervon befreit worden sind, können wir zu Aggressionszielen und -opfern werden. Auch dies kann uns leicht wieder zu Aggressoren werden lassen. Aus all diesen Gründen ist es mir wichtig, dem Phänomen der Aggression sehr präzise nachzuspüren, weil ein gründliches Wissen um die Aggression im Allgemeinen und im eigenen Leben im Besonderen wichtig ist, um die Aggression zu überwinden.
»Der Begriff der Aggression leidet unter einer babylonischen Sprachenverwirrung. Wenn wir etwa in der Sexualpädagogik bis auf den heutigen Tag der Meinung sind, dass Liebe ein Wort aus fünf Buchstaben und tausend Missverständnissen ist, ergeht es jenem Wort aus zehn Buchstaben (A-g-g-r-e-s-s-i-o-n) nicht anders. Hinter der Bedeutung verbirgt sich offen oder verdeckt die jeweilige wissenschaftliche Lehrmeinung.«54