Wer braucht schon Ribisel - Pia Varjas - E-Book

Wer braucht schon Ribisel E-Book

Pia Varjas

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Beschreibung

Ein Land, das sie nicht haben will. Eine Stadt in der Fremde, die Heimat werden soll. Eine Familie, die alles hinter sich lassen muss. Ungarn 1946: die junge Resi verarbeitet den Verlust ihres gefallenen Verlobten und ist dabei, sich im Dorf eine bescheidene Existenz aufzubauen. Plötzlich werden Gerüchte laut, dass alle Donauschwaben, darunter auch Resi und ihre Familie, enteignet und vertrieben werden sollen.  Mit kaum Gepäck müssen sie nach Deutschland ausreisen, ein Land, das sie noch nie betreten haben. Schweren Herzens macht Resi sich gemeinsam mit ihrer Familie auf die Reise nach Karlsruhe. Die Stadt erweist sich als riesiges Trümmerfeld, das unter Lebensmittelknappheit und amerikanischen Besatzern ächzt. Es lauern neue Gefahren und überraschende Begegnungen. Resi und die anderen müssen sich ihrer Stärken bewusst werden und all ihre Kraft aufbringen, um sich zu behaupten. Tauchen sie ein in die packende Geschichte der Donauschwaben und begleiten sie Resi auf ihrem Neubeginn.

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Für meine Großeltern

Personen

Die Varjas Schwestern

Resi Varjas (*1922)

Gisela Farkas, geb. Varjas (*1925)

Karl Farkas, Giselas Ehemann (*1918)

Hanni Varjas (*1929)

Dorfbewohner in Ùjfalu (Falucska)

István (gefallen), Resis Verlobter

Zoltán, sein Vater

Irén, seine Mutter

Agnes, eine Cousine der Schwestern

Julinka, eine Alte aus dem Dorf

Sebestyen, ein Onkel der Schwestern

Schwester Maria Clementia, OSB (Ordo Sancti Benedicti)

Auf der Reise & in der Kaserne

Matyas Szolnoki, Reisegefährte im Waggon

Julianna Szolnoki, seine Frau

Markus Kaizer, Reisegefährte im Waggon

Barbara Kaizer, seine Frau

Major William D. Stevenson, Kommandant der Phillips Barracks

Herr Schulz, Leiter des Rückführungslagers

Karlsruhe-Durlach

Hans Trautmann, Wirt der 'Traube'

Luise Trautmann, seine Frau

Hilde Trautmann, ihre Tochter

Wilhelm Keller, Luises Vater

Josef, ein junger Mann im Park

Roland, ein Trümmerkind

Frau Weber, Sekretärin

Weitere:

Adam Farkas, Karls Vater

Elisabeth Farkas, Karls Mutter

Martin Farkas, Karls älterer Bruder

Katalin Farkas, geb. Kovács, dessen Frau

Hedwig, Kellnerin in der Offiziersmesse

Franz Heller, Korbwarenfabrikant

Inhaltsverzeichnis

Prolog

TEIL 1

1: Ùjfalu, März 1945

2: Ùjfalu, im Spätsommer 1945

3: Kriegsjahre

4: Dunkle Wolken am Horizont

5: Zoltán und Irén

6: Stille Bedrohung

7: Auf dem Friedhof

8: Kiritog

9: Weihnachten und ein neues Jahr

10: Das Osterfest

11: Die Kundmachung

12: Reisevorbereitungen

13: Hanni

14: Besiegt, aber nicht gebrochen

15: Tag der Abreise

16: Proviant

17: Im Zug

TEIL 2

18: Karlsruhe 1946

19: Ankunft in der Fremde

20: Josef

21: Karlsruhe Durlach - 'Zur Traube'

22: Hans

23: Die Flüchtlingsfrage

24: Die Trümmerstadt

25: Ankunft in den Phillips Barracks

26: Zimmer 117, Block C

27: Viel zu viele!

28: Zeitvertreib in den Barracks

29: Hilde kann Mode

30: Ankunft in der 'Traube'

31: Josef

32: In einem Zimmer

33: Wohin mit dem Huhn?

34: Müßiggang

35: Leih-Hühner

36: Auf dem Wochenmarkt und am Tor zur Welt

37: Trockenkartoffeln

38: Im Park

39: Unerwartete Hilfe

40: Karl auf Erkundungstour

41: Luise schreibt ihrer Tochter

42: Ein Brief für Resi

43: Karl am Rheinhafen

44: Was ist eigentlich Trockenvollei?

45: Sonntagsausflug

46: Resi schreibt an Hilde

47: Neuigkeiten aus Ungarn

48: Auf Hamsterfahrt!

49: Über das Korbflechten

50: Eine Stelle für Resi

51: Küken

52: Tabakernte

53: In der Offiziersmesse

54: Franz Heller

55: Eine eigene Wohnung

56: Der Herbst kommt

57: Darüber freuen sich die Menschen?

58: Penicillin

59: Ein CARE Paket

60: Frauenmantel

61: Dreizehn Hühner

62: Major Stevenson

63: Die 'Traube' blüht auf

64: Träume vom Brennen

65: Luise züchtet Champignons

66: Josef wundert sich

67: Weihnachten

68: Mund zu Mund Propaganda

69: Hungerwinter

70: Roland

71: Ihr Taschentuch

72: Erster Versuch bei der Bank

73: Relax, Sweetheart!

74: Ein Brief aus Amerika

75: In der Wäscherei

76: Ein Bürge für Resi

77: Der junge Herr Geschäftsführer

78: Resi im Theater

79: Eine Anstellung für Hilde

80: Zweiter Termin bei der Bank

81: Lebenszeichen

Epilog: 50 Jahre später

Nachwort und Danksagung

Literaturverzeichnis

Internetquellen

Kundmachung

Prolog

Baden-Baden, 1997

***

Sanft setzte der Learjet auf dem Rollfeld auf. Die Ankunft eines Privatflugzeugs auf dem Baden Airpark bedeutete nichts Ungewöhnliches. Die Mitarbeiter waren betuchte Gäste und berühmte Persönlichkeiten gewohnt. In der nahe gelegenen Kurstadt Baden-Baden und während der Iffezheimer Pferderennwoche gaben sich illustre Besucher regelmäßig die Ehre.

Als der Jet aus Mailand landete, kümmerte sich daher niemand weiter darum. Auch die junge Boulevard-Fotografin war eher aus Gewohnheit, nicht aus echtem Interesse am Flughafen. Als der Learjet vom Rollfeld jedoch direkt in einen abgelegenen Hangar gezogen wurde, war ihre Neugier geweckt.

Ihr journalistisches Bauchgefühl regte sich, hier musste jemand wirklich Interessantes gelandet sein. Aber wieso die Heimlichtuerei? Sie überlegte kurz, in den kommenden Tagen waren keine wichtigen Events angesetzt, die solche Prominenz rechtfertigen würden. Keine Preisverleihung oder Gala, kein Festival oder Presseball.

Durch ihr Teleobjektiv warf sie einen Blick in den Hangar und sah, wie der Passagier des Flugzeugs die Treppe herunterkam. Der Gestalt nach, eine ältere Frau, ganz in schwarz gekleidet mit einem riesigen Hut. Ihr Gesicht blieb verborgen. Die Dame stieg in eine wartende Limousine. Kurz darauf fuhr der Wagen mit verdunkelten Scheiben an der Fotografin vorbei. Sie hielt drauf, war aber sicher, dass auf den Bildern nichts zu erkennen sein würde. Der Wagen hatte ein Karlsruher Kennzeichen.

Die Journalistin dachte noch einmal nach. In Karlsruhe fand am kommenden Wochenende eine Firmenübernahme statt. Industriejournalismus fiel eigentlich nicht in ihr Resort, aber wenn eine mysteriöse Berühmtheit dafür anreiste, lohnte es sich vielleicht, dranzubleiben.

Sie packte ihre Sachen und machte sich auf nach Karlsruhe.

***

Zur selben Zeit im Luftraum über Frankfurt

Sie öffnete die Augen und blinzelte ein paar Mal, als die junge Flugbegleiterin sie leicht an der Schulter berührte.

»Madam, wir landen gleich.«

Selbstverständlich landeten sie gleich. Sie hatte nicht geschlafen, dazu war sie viel zu aufgeregt. Sie hatte nur kein Bedürfnis nach belanglosem Geschwätz mit den übereifrigen Flugbegleitern verspürt. Privatjet, so ein unnötiger Firlefanz, dachte sie kopfschüttelnd. Sie war der Öffentlichkeit weitestgehend unbekannt, da hätte es ein normaler Linienflug auch getan, ihrethalben auch Business Class. Aber ihre Söhne hatten auf den Jet bestanden. Auch eine Zugfahrt für die Weiterreise redeten sie ihr aus. Am Flughafen wartete daher ein Limousinen Service, der sie nach Karlsruhe bringen würde. Sie verabscheute es, wenn andere über sie entschieden, fügte sich aber. Ihre Söhne liebten sie und wollten ihr die Reise so angenehm wie möglich machen. Doch das war alles nebensächlich. Sie war in Deutschland. Sah man von dem unnötigen Aufwand einmal ab, freute sie sich auf die kommenden Ereignisse wie ein Kind auf den Kiritog.

***

Karlsruhe – Durlach, am selben Abend

Resis Spiegelbild lächelte ihr entgegen. Ich bin eine alte Frau geworden, dachte sie amüsiert, so dass zu den zahlreichen Fältchen in ihrem Gesicht noch ein paar mehr dazukamen.

Es klopfte leise und ihre Enkeltochter streckte den Kopf zur Tür herein.

»Oma, Meier ist vorgefahren. Wir sollten wirklich los.«

Sie blieb wartend in der Tür stehen.

Die alte Dame seufzte leise. Gib mir Gott, aber gleich. Das war typisch ihre Enkelin. Sie selbst hatte keine Eile. Ohne sie würden sie nicht anfangen, schließlich war es ihre Veranstaltung. Seit sie wusste, dass auch die letzten beiden Gäste angekommen waren, freute sie sich sehr auf den Festakt. Ihre Privatsekretärin hatte ihr zuvor zwei handgeschriebene Karten überreicht, beide von Boten gebracht. So hatten sie über all die Jahre kommuniziert. Handschriftlich, per Post oder, wenn möglich per Bote. Früher, weil es nichts anderes gab, inzwischen, weil sie alle sich diese Absonderlichkeiten leisten konnten.

Es wurde Zeit. Sie erhob sich von ihrem Stuhl, nahm ein sorgsam gefaltetes Stofftaschentuch, das vor ihr auf dem Tisch lag, drückte es kurz an ihre Brust und steckte es in ihre Handtasche. Nun war sie bereit. Gemeinsam mit ihrer Enkelin ging sie die geschwungene Treppe hinunter, wo der Fahrer wartete. Sie würde ihn bitten, den Weg über den Hauptbahnhof zu nehmen, durch die Stadt, die ihr so sehr ans Herz gewachsen war.

TEIL 1

1

Ùjfalu, März 1945

***

Im Westen Ungarns, nördlich vom Plattensee, erstreckten sich sanft geschwungenen Hügel, Wiesen und Felder, ausgedehnten Buchenwälder mit kleinen, kurvenreichen Bachläufen. Friedlich dort eingebettet lag das kleine Dorf Ùjfalu. Sein strahlend weiß getünchter Kirchturm war das einzige etwas höhere Bauwerk und daher schon von Weitem zu sehen. Die Bewohner nannten ihr Zuhause liebevoll Falucska, was so viel wie Dörfchen bedeutet.

Der Krieg wütete bereits seit mehr als fünf Jahren, als er seinen Weg letztendlich nach Falucska fand.

Ängstlich blickte der alte Mann in das verschwitzte Gesicht des russischen Soldaten.

»Hier Deutsche? Nazis?!«, fragte dieser nochmals eindringlich. Er flüsterte und schrie gleichzeitig, auch wenn das eigentlich unmöglich war. Sie standen sich auf dem Friedhof am Ortsrand gegenüber. Der alte Mann mit einer Gießkanne, er hatte gerade Wasser holen wollen, der Soldat mit seinem Gewehr im Anschlag. Eine kleine Gruppe Soldaten hatte sich hinter Gräbern versteckt und wartete geduckt auf Anweisung ihres Kommandanten. Eine Aufklärungstruppe. Sie kamen zwar ohne Panzer, waren aber dennoch gefährlich. Der alte Mann fürchtete sich. Er wusste nichts von den Deutschen, die in der anderen Richtung außerhalb des Dorfes verborgen Stellung bezogen hatten. Niemand im Dorf wusste zu diesem Zeitpunkt von ihnen. Also schüttelte er den Kopf. Nein. Keine Deutschen.

»Verschwinde!«

Der alte Mann machte, dass er davonkam.

„Die Russen kommen! Die Russen kommen!!“ Die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Ein paar Frauen hatten die Soldaten auf dem Friedhof ebenfalls entdeckt, kehrten daraufhin sofort um und liefen nun laut schreiend durchs Dorf.

Es dauerte nicht lange, bis auch jener deutsche Kommandant am anderen Ende des Dorfes Kenntnis davon bekam und unverzüglich den Befehl zum Angriff gab. Der deutsche Panzer donnerte durch das Dorf Richtung Friedhof. Bewaffnete Soldaten folgten ihm. Nach einem kurzen heftigen Gefecht, waren die Russen entweder tot oder geflohen. Die beiden Lastwagen, die sie weiter außerhalb des Dorfes abgestellt hatten, sprengten die Deutschen kurzerhand in die Luft.Am nächsten Morgen waren auch Hitlers Soldaten verschwunden.

Die Rache der Russen für den vermeintlichen Verrat der Dorfbewohner ließ nicht lange auf sich warten. Sie kehrten nach wenigen Tagen zurück. Voller Hass beschuldigten sie die Bewohner von Falucska, sie bewusst hintergangen zu haben. Sie rückten mit dem Panzer in die Hauptstraße ein, während Fußsoldaten hinter den Gärten der Häuser aus der Gegenrichtung kamen. So trieben sie die Menschen auf die Straße. Wahllos steckten sie Häuser in Brand und erschossen willkürlich einige der Männer.

Danach ließen sie sich für einige Tage häuslich in Falucska nieder. Sie nahmen zwei der Häuser in Besitz und verlangten nach den Vorräten der Dorfbewohner. Trafen sie Männer auf der Straße, verprügelten sie sie. Außerdem gingen Gerüchte um, dass sie junge Frauen und Mädchen ins Haus lockten und vergewaltigten. Aber die Frauen von Falucska waren stolz und unbeugsam. Keine von ihnen verlor jemals ein Wort darüber.

Als die Soldaten endlich verschwunden waren, nahmen die Menschen ihr geliebtes Dorf wieder in ihren Besitz. Sie trauerten um die Toten und bauten die verbrannten Häuser wieder auf. Und warteten auf das Ende des Krieges.

5

Zoltán und Irén

***

Irén sah ihren Mann mit grimmigem Gesichtsausdruck aus dem dunklen Stall zu ihr auf den Hof treten. Sicher hatte er beobachtet, wie sie Resi den Rücken zugedreht hatte. Die Trauer hatte aus ihrem Gatten einen verbitterten und zornigen alten Mann gemacht. Er war immer stolz gewesen auf seine körperliche Kraft, seine Bärenkräfte, wie es die Nachbarn nannten. Seit Istváns Tod jedoch schien ihn jegliche Kraft verlassen zu haben. Bis jetzt.

»Ist sie weg?«, fragte Irén.

»Ja. Die soll bloß nicht nochmal vorbeikommen, liederliches Frauenzimmer.« Er spuckte voller Verachtung auf den Lehmboden vor sich. »Was denkt die sich eigentlich und was will sie überhaupt noch von uns?«

Irén lachte freudlos auf. »Wahrscheinlich glaubt sie, sie hätte immer noch irgendeinen Anspruch auf unseren Hof! Sie bildet sich etwas drauf ein, dass unser István sie heiraten wollte …« Bei der Erwähnung ihres Sohnes stockte sie und wurde schließlich still. Der Schmerz über den Verlust ihres einzigen Kindes war immer noch so stark, dass sie nicht weitersprechen konnte.

»Sprich nicht von unserem Sohn und dieser Frau!«, fuhr Zoltán sie nun an. »Diese Heirat hätte niemals stattgefunden, weil ich es zu verhindern gewusst hätte! Das fehlte noch, dass der Hof meines Vaters an diese dahergelaufene Zigeunerin gegangen wäre. Niemals hätte ich das zugelassen. Niemals!«

Irén schwieg. Sie vermied es, ihren Mann darauf hinzuweisen, dass István im Falle seiner Vermählung wohl erst einmal zu Resi auf deren Hof gezogen wäre. Dort wäre er sein eigener Herr gewesen, um dann, nach dem Tod seiner Eltern Besitzer von zwei Höfen zu sein. Außerdem besaß der Varjas Hof einen eigenen Brunnen, etwas wovon Irén und Zoltán nur träumten. Aber jetzt war nicht der Zeitpunkt, das zu erwähnen. Sie selbst glaubte vielmehr daran, dass Resi ihre gierigen Finger nach dem Hof ihrer beinahe Schwiegereltern ausstreckte. Das würde zu ihr passen. Als ob sie ihr gegenüber eine Verpflichtung hätten. Lächerlich! Sie hatte das deitschi Mädchen noch nie leiden können. Schon ihre Eltern hatten sich für etwas Besseres gehalten und die Töchter waren genauso. Dabei hätte ihnen nach deren Tod ein wenig Bescheidenheit gutgetan. Aber seit Resi erfolgreich ihre angeblich so leckere Marmelade verkaufte, trug sie die Nase noch höher. Und erst die Jüngste von ihnen, dieses sture Geschöpf. Wollte nicht heiraten, wo hatte man so etwas schon gehört? Es war unerträglich.

Irén merkte plötzlich, dass ihr Mann bereits weiterredete und wendete ihm ihre Aufmerksamkeit zu.

»… dann werden sie schon sehen, was sie davon haben!«

»Was meinst Du?«

»Die Enteignungen! In der nächsten Versammlung bekommen wir die neuesten Anweisungen von der Parteispitze. Aber hinter verschlossenen Türen ist es längst entschieden. Ich sag Dir«, er funkelte sie an. »Das wird ein böses Erwachen geben für dieses Pack! Die haben sich viel zu lange breit gemacht in unserem Land. Wir werden zurückbekommen, was uns längst gehören sollte!«

»Was redest Du denn da? Wir bekommen sicher gar nichts zurück, …«

»Und ob!« Zoltán wies mit ausgestreckter Hand in die Richtung des Varjas Hofs. »Glaubst Du denn, die bleiben einfach leer stehen und verfallen? Nein, die gehen an verdiente und treue Parteimitglieder … so, wie ich einer bin.« Stolz legte er sich eine Hand auf die Brust und atmete tief durch. Er wirkte lebendig und voller Tatendrang. Seine Augen blitzen. Iréns Stimmung hellte sich merklich auf.

»Bist Du sicher? Das wäre gut, endlich Gerechtigkeit! Das haben wir verdient, nachdem wir unseren Sohn im Krieg verloren haben. Oh, und wie wir das verdient haben! Sollen Resi und ihre hochmütigen Schwestern doch schauen, wo sie bleiben.«

Zum ersten Mal seit Wochen lächelte sie.

6

Stille Bedrohung

***

Ein paar Tage später. Resi saß auf der Veranda, sie hatte einen Korb frisch gepflückter Erbsen vor sich. Die Sonne würde bald untergehen, es war angenehm mild. Gisela war im Hühnerstall und Hanni hatte gerade die Gänse aus dem Gemüsegarten nach vorn getrieben. Nun spazierten sie schnatternd auf ihrem Weg in den Stall noch eine Runde durch den Hof. Karl setzte sich neben Resi und zog seine Mundharmonika aus der Tasche wie an unzähligen Abenden zuvor.

Und doch war alles anders. Resis Hände lagen ruhig in ihrem Schoß, noch keine Erbse war aus ihrer Hülse gelöst. Karls Mundharmonika blieb still, Hanni spielte nicht mit den Gänsen, sondern lief ihnen nachdenklich hinterher und aus dem Hühnerstall kam kein fröhlicher Gesang von Gisela. Sie hatten längst über die Gerüchte zu den möglichen Enteignungen gesprochen. Inzwischen wurde im ganzen Dorf darüber geredet und alle vier hatten von verschiedenen Seiten immer wieder davon gehört. Niemand wusste wirklich etwas, es gab keinerlei offizielle Mitteilung darüber und doch war die einhellige Meinung, dass Enteignungen stattfinden würden. Aber wen würde es treffen? Alle Donauschwaben in jedem der umliegenden Dörfer oder würden Einzelne ausgewählt werden? Nach welchen Kriterien würde diese Auswahl stattfinden? Und wo sollten sie dann hingehen? Wo leben? Die Fragen waren müßig, da bislang niemand eine Antwort darauf geben konnte. Und doch kreisten sie beständig in Resis Kopf. Sie wollte einfach nicht glauben, dass sie zu denen gehören sollte, die alles verlieren würden. Aber eine leise Stimme in ihrem Kopf wusste es besser. Resi und ihre Schwestern waren beliebt, jedoch hauptsächlich innerhalb der ungarndeutschen Gemeinde. Mit den Ungarn hatten sie nicht allzu viel Kontakt. Ob sie unter ihnen Fürsprecher finden würden, war ungewiss. Sie grübelte darüber nach und ihr fiel erneut das seltsame Verhalten von Irén und Zoltán ein. In ihr regte sich ein schlimmer Verdacht. Die beiden waren ihr gegenüber schon immer eher schroff gewesen. Sie hatte gedacht, das sei eben ihre Art. Bedeutete das etwa, dass sie Resi noch nie gemocht hatten? Zoltán war Parteimitglied. Aus Erzählungen von Agnes wusste Resi, dass er unter den anderen Mitgliedern hoch angesehen war. Er hatte eine wichtige Stellung innerhalb des Dorfes inne. Was mochte das für ihre Zukunft bedeuten? Wenn Resi an sein Verhalten in den letzten Tagen dachte, würde er sicher keinen Finger rühren, um ihr und ihrer Familie zu helfen. Es durfte einfach nicht sein!

Gisela sammelte die Eier aus dem Hühnerstall. Sie und Karl hatten auch unter vier Augen ausführlich über die Bedrohung gesprochen. Sie stapfte zwischen den Hühnern umher und hing ihren Gedanken nach. Karl hatte nämlich ein weiteres Thema zur Sprache gebracht. Bisher hatte es niemand ausgesprochen, auch Resi und Hanni gegenüber hatten sie es nicht erwähnt. Karl war der Meinung, dass eine Enteignung mit einer gleichzeitigen Umsiedlung einher gehen würde. Und was läge näher, als die Deitschen zurück nach Deutschland zu schicken? In der Partei interessierte sich sicher niemand dafür, dass keiner der Donauschwaben jemals einen Fuß in die ferne Heimat ihrer Vorfahren gesetzt hatte. Dem Feind zurückschicken, was ohnehin dem Feind gehörte. So war das wohl. Und keiner fragte nach den Menschen, über die einfach so bestimmt wurde. Gisela war überzeugt, dass es genauso kommen würde. Aber wo, um alles in der Welt, sollten sie nur hingehen?

Hanni schlich leise hinter den Gänsen über den Hof. Sie mochte die Tiere und die Tiere mochten sie. Noch nie waren sie ihr gegenüber aggressiv oder unwillig gewesen. Meist spielten sie sogar ein wenig miteinander. Aber ihr war nicht nach Albernheiten zumute. Das Gerede über die Enteignungen hatte Hanni zugesetzt. Aber sie war vor allem grenzenlos wütend. Sie konnte und wollte nicht akzeptieren, dass eine Partei so mit Menschen umgehen konnte. Wo blieben da die Gerechtigkeit und der Anstand? Was hatten sie jemals verbrochen um so etwas zu verdienen? Die Familie Varjas versuchte nur, wie alle anderen, nach dem Krieg über die Runden zu kommen und sich eine bescheidene Zukunft aufzubauen. Sie hasste es, wenn andere über sie bestimmen wollten. Das war schließlich der Grund, warum sie niemals heiraten würde. Nein, sie würde für ihre Freiheit und Selbstbestimmung kämpfen. Egal, was die Regierung über ihren Köpfen hinweg entschied.

Von der Veranda aus beobachtete Resi ihre Schwestern voller Zuneigung. Hanni war gerade einmal siebzehn und doch schon so erwachsen. Trotz ihrer Schönheit war sie bescheiden und liebenswert. Kein Wunder, dass die jungen Männer alle hinter ihr herliefen. Keiner von ihnen sah jedoch die Intelligenz, den Mut und die Stärke, die sich hinter dieser schönen Fassade verbargen. Resi zweifelte nicht daran, dass Hanni einmal jemanden finden würde, aber dieser Jemand würde ebenso mutig und stark sein müssen wie Hanni – und es zunächst einmal schaffen, ihre sture kleine Schwester von sich zu überzeugen.

Gisela, ohne deren warme Zuneigung Resi niemals aus ihrer Trauer herausgefunden hätte. Das untrügliche Gespür ihrer Schwester für das Gute hatte Resis Leben schon viele Male leichter gemacht.

Was sollte nur werden, wenn man ihnen wirklich den Hof wegnahm?

Nein, zunächst einmal wollte sie abwarten. Noch war ja gar nichts entschieden. Es nützte nichts, sich jetzt schon dauernd zu sorgen. Sie würde versuchen, sich innerlich zu wappnen und doch auf das Beste hoffen. Mit ihren Schwestern und Karl an der Seite würden sie eine Lösung finden!

7

Auf dem Friedhof

***

Es herrschte frühmorgendliche Stille auf dem Friedhof, als Resi durch das Tor trat. Das raue Quietschen des schmiedeeisernen Türchens war das einzige Geräusch auf dem verschlafenen Gelände. Die Sonne war noch nicht ganz über den Hügel gekrochen und feuchter Frühnebel lag über den Gräbern und Wegen. Einzig die Vögel in den vielen üppigen Bäumen sangen ihr morgentliches Konzert.

Resi schloss die Augen und atmete tief ein. Sie ging den gepflasterten Weg entlang, der sich durch die einzelnen Grabreihen schlängelte. Der Friedhof schien sie immer auf geheimnisvolle Weise zu verlangsamen. Nicht unangenehm, es wäre ihr vielmehr wie ein Frevel vorgekommen, wäre sie hektisch an den Gräbern vorbeigelaufen. Man sagte ja, dass die Ruhe der Toten nicht gestört werden sollte. Für Resi bedeutete es, dass sie nicht voller Hast über den Friedhof lief. Ein Ort der Stille und des Innehaltens. Die Pflege des elterlichen Grabs war für sie keine lästige Pflicht. Sie liebte den Frieden und das beschauliche Arbeiten. Hier konnte sie ungestört ihren Gedanken nachgehen, bevor die anderen Dorfbewohner eintrafen und hier und da zu einer Plauderei stehenblieben. Manchmal hielt sie leise Zwiesprache mit den Verstorbenen, wie auch an diesem Morgen.