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Im 21. Jahrhundert erleben wir die Wiederkehr von Religiosität – bis hin zum radikalen Fundamentalismus. Erschreckend, dass dies vielfach mit Hass, Gewalt und Terror einhergeht. Theologen und Moralphilosophen fragen sich angesichts dieser herausfordernden Situation, ob Glauben und vernunftgeleitetes Handeln einander ausschließen oder in Versöhnung zusammenwirken können. Michael Kühnlein diskutiert diese Problematik und gelangt zu dem Schluss: Nur gemeinsam und in offenem, kritischen Dialog halten Religion und Vernunft die Welt im Gleichgewicht.
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Seitenzahl: 101
Michael Kühnlein
Wer hat Angst vor Gott?
Über Religion und Politik im postfaktischen Zeitalter
Reclam
Für meine Mutter
2017 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Covergestaltung: Cornelia Feyll, Friedrich Forssman
Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Made in Germany 2017
RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
ISBN 978-3-15-961787-9
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-019423-2
www.reclam.de
Normalerweise ist alles anders. Wenn ich als Wissenschaftler und Forscher eingeladen werde, einen Vortrag zu halten oder einen Beitrag zu schreiben, dann schaue ich mir höflicherweise das Thema an, worüber ich sprechen soll, skizziere ein Thesenpapier, formuliere es aus, und zum Schluss überlege ich mir noch einen guten Titel. Von diesen Standards akademischer Rechtschaffenheit bin ich in diesem Fall abgewichen. Denn bei dem Ziel, einen Essay über das Verhältnis von Religion und Politik zu schreiben, stand mir in Sekundenschnelle der Titel bereits vor Augen – noch bevor ich überhaupt eine Zeile auf das Papier gebracht hatte: Wer hat Angst vor Gott?
Für mich ist diese Angst vor Gott ein fundamentales Merkmal der Moderne, ähnlich wie die kantische Kritik der Vernunft und das postmoderne Anything goes. Vor gar nicht langer Zeit hat sie sogar die neutralen Barrieren des Rechtsstaats übersprungen und in Gestalt der Verhältnismäßigkeit die Religionsfreiheit beschnitten. So urteilte das Kölner Landgericht 2012, dass die Zirkumzision, also die Entfernung der männlichen Vorhaut aus religiös-kulturellen Gründen, den Tatbestand der Körperverletzung erfülle und dem Wohle des Kindes zuwiderlaufe. Von Rechts wegen wurde also sanktioniert, was sich spätestens seit der Aufklärung als immer lauter werdendes Gerücht seine eigene Bestätigung gesucht hat: Religion ist zwingend gewalttätig und gehört im modernen freiheitlichen Rechtsstaat gezügelt. Zu diesem Bild passt, dass sich die Kölner Richter in ihrer Begründung auf die Argumente von Holm Putzke bezogen haben, einem Rechtswissenschaftler, der als Beiratsmitglied der atheistischen Giordano-Bruno-Stiftung naturgemäß mit religiösen Angstträumen zu tun hat.
Doch in meinem Essay beschäftige ich mich nicht nur mit der säkularen Angst vor Gott; das würde als Epochenkennzeichnung sicherlich zu kurz greifen. Vielmehr geht es mir in meiner Darstellung auch um die in den Stätten des Heiligen produzierte Gottesfurcht selbst, also gewissermaßen um deren religiöse Entwicklung. Denn auch das gebietet die Fairness: Die weltweite Wiederkehr der Religion ist, was zumindest ihre fundamentalistischen Ableger betrifft, eine brandgefährliche Quelle der Einschüchterung, bei der die Enttäuschung im Angesicht der Sinnlosigkeit der liberalen Freiheitskultur mit der rechten Angst vor Gott zusammenfällt, der allein nur unsere Seelen zu erlösen vermag.
Erst beide Seiten zusammen ergeben das unheilvolle Bild einer sich im Taumel befindlichen Moderne, die ihre Liberalität aus Gründen der Sicherheit immer weiter hinterfragt. Die Angst entspringt dabei aus dem Herzen der Moderne selbst. Aber sie ist deshalb nicht auch ihr unabänderliches Schicksal.
Doch warum? Dazu müssen wir tief in ihre Geschichte eintauchen, ihre konstitutiven Mythen und Legenden zu fassen und zu erzählen versuchen, um verstehen zu können, wie sich Liberale und Gläubige auf der Grundlage ihres narrativen Selbstverständnisses jeweils säkular und religiös gemacht haben.1 Damit verbinde ich die Möglichkeit einer Neu-Erzählung, die dramaturgisch nicht mehr dem alten Frontverlauf folgt, sondern vielmehr neue Wege zwischen Vernunft und Religion zu erproben versucht. Zumindest ist das meine Hoffnung, auf die hier auch der Titel anspielt. Er nimmt Bezug auf Albees Who is afraid of Virginia Woolf? (Wer hat Angst vor Virginia Woolf?, 1962), einem Stück, das mit den verlogenen Idealen des American Way of Life schonungslos abrechnet. Während Albee aber die verdrängte Gewalt in der individualistischen Beziehungsrhetorik auf die Bühne bringt, geht es in meinem Essay um die erzählerische Neudeutung jener seltsamen ›Angstlust‹, die das Nachdenken über Religion von jeher in ihrem (verborgenen) Schraubstock hält. Gott ist nämlich nicht der große böse Wolf (the big bad wolf), von dem die alten Kinderlieder schaurig-wohl zu berichten wissen. Und wenn Grund für diese Annahme besteht: Wer wollte sich dann noch vor der Gegenwart fürchten?
Die Entwicklung der Moderne hat ihre eigene Leidensgeschichte. Zeitgenössischem Denken geht es demgegenüber oft vor allem darum, an der Vorwärts- und Zielgerichtetheit ihrer Arbeit keinen Zweifel zu lassen und selbst noch in allem Unvollendeten irgendwie Fortschrittlichkeit aufscheinen zu lassen. Es zählt nun zu den wichtigeren Einsichten Sigmund Freuds, dass man diese Emanzipationsgeschichte auch rückwärts erzählen kann – und zwar nicht als Fortschritt zu immer größerer Freiheit und Kompetenz, sondern als eine Abfolge narzisstischer Kränkungen des Menschen.
In seinem Aufsatz von 1917 über »Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse« beschreibt Sigmund Freud die Logik der Weltbildrevolutionierung als dreifachen Prozess der Verdrängung des Menschen aus seiner angestammten metaphysischen Mitte: vertrieben aus den Himmelskathedralen des Universums (die Erde steht nicht mehr im Zentrum des Universums), der Schöpfung (der Mensch ist nicht mehr die Krone derselben, sondern nur ein Tier unter Tieren) und der Souveränität (bewusstes Denken bildet nur den kleinsten Teil des menschlichen Denkens, ist nur die Spitze des Eisbergs). So wird die Existenz des Menschen immer mehr zu einer randständigen Erscheinung. Dieser Prozess der Marginalisierung läuft nicht ohne innere Verwerfungen ab; vielmehr ›kränken‹ die historischen Institutionen der Wissenschaft den Menschen in den Tiefen seines Daseins: Kosmologisch, biologisch und psychologisch findet ein umfassender Exodus statt, der ihn zu einem metaphysischen Unbehausten,2 zu einem Paria bzw. Klassenlosen macht.
Gegenüber dem vorwärtsgerichteten Triumphalismus der reinen Vernunft erinnert Freuds Reihung der Kränkungen also vor allem an die vielen Schründe und Narben, die der Prozess der Wissensemanzipation im kollektiven Gedächtnis der Menschheit hinterlassen hat: das Gefühl der Verlorenheit, das sich einstellt, wenn man sich urplötzlich aus der Mitte des Universums herausgeworfen sieht (»kosmologische Kränkung«); das Gefühl der Demütigung, wenn man erkennen muss, dass wir uns zum Affen machen, wenn wir weiter auf unsere göttliche Abstammungslinie bestehen (»biologische Kränkung«); und schließlich das Gefühl der Entfremdung, das uns befällt, wenn wir uns eingestehen müssen, dass wir nicht so sehr rational Agierende, sondern vielmehr Getriebene unseres Unbewussten sind (»psychologische Kränkung«). Wäre die ›Menschheit‹ eine Person, so müsste man ihr dringend eine ärztliche Behandlung anraten, doch in der nachträglichen Bearbeitung des Befundes durch die verweltlichte Vernunft wird daraus das Langzeitporträt einer selbstbewussten Aufklärungsgeschichte geschmiedet, die von all diesen existenziellen Krisen des In-der-Welt-Seins nur noch wenig oder gar nichts mehr weiß, weil sie sich immer nur weiter und weiter nach vorne wirft.
Dieser große Vorgang der Gottes-Emanzipation hinterlässt jedoch seine Spuren, denn letztlich steht auch dieser paradigmatische Wechsel im Erklärungsansatz nicht außerhalb von Raum und Zeit. »We never really advance a step beyond ourselves« (David Hume) – und das bedeutet, dass es eben keinen unverrückbaren festen Punkt der Selbsterkenntnis gibt, an dem die Vernunft ansetzen könnte, um objektiv zu bestimmen, was sein soll und vor allem: was nicht sein soll. Letztlich geht es nur um eins: nämlich um die bestmögliche Interpretation der besten aller möglichen Welten. Und ob diese Welt mit Gott oder ohne Gott gedacht werden kann, muss oder soll, lässt sich eben von vorneherein nicht entscheiden.
Aber vielleicht ist ja die Wahrheit gerade dort zu suchen, wo der emotionale Widerstand am größten ist? Insofern möchte ich meine Überlegungen mit einer kurzen Erzählung beginnen, die den Durchschnittsbewohner der modernen Welt, den Underdog oder genauer gesagt: den metaphysisch Unbehausten, in den Mittelpunkt stellt. Denn sein intellektueller Werdegang steht geradezu idealtypisch für die Karriereoptionen des Atheismus. Aber wohlgemerkt: Meine Geschichte erzählt nicht die wahre Biographie des Unbehausten (die es als solche auch gar nicht geben kann), sondern sie handelt nur von der Poesie seiner Überlebenskunst in einer metaphysischen Mondlandschaft.
Am Anfang des Lebensweges des Unbehausten steht die Ur-Erfahrung des Verlassenseins; herausgeschleudert aus der Mitte des Universums muss er seine Zelte an den Rändern seiner Vorstellungskraft aufschlagen. Er wird zu einem Grenzgänger zwischen den Welten, verzweifelt auf der Suche nach der verlorenen Ordnung der Dinge, nach der verschwundenen göttlichen Stadt. Da er die Mitte nicht mehr beheimatet, gehen ihm Orientierungspunkte verloren, auf die hin er seine Identität hätte verlässlich ausrichten können. Der Unbehauste muss also lernen, umzudenken, muss damit klarkommen, dass er nicht mehr im Zentrum von Gottes liebender Aufmerksamkeit steht. Die »Entdeckung des Himmels« (Harry Mulisch) durch den Menschen kündigt den Bund Gottes (also den Bund mit und durch Gott) auf. Und das bringt mit der Zeit eine Wesensveränderung mit sich: Die metaphysische Ungebundenheit gegenüber der althergebrachten Ordnung lässt den Heimatlosen kritisch werden. Seine Existenz wird randständig, er bewirtschaftet Erkenntnis nur noch von den Bedingungen ihrer Möglichkeit her.
Und schon bald macht der Unbehauste die revolutionäre Entdeckung, dass die Grenzen der Erkenntnis des Universums ›da draußen‹ mit den Grenzen der Vernunft ›hier drinnen‹ identisch sind. Alles unterliegt damit dem Bewegungsprofil seiner metaphysischen Mobilität, d. h.: Um etwas über die Ordnung der Dinge auszusagen, darf man seinen Standpunkt nicht mehr anhand der vorgegebenen Himmelsrichtungen der göttlichen Wirklichkeit ausrichten; vielmehr wandert dieser Ort mit den Bedingungen der Erkenntnismöglichkeiten des Subjekts stets mit. Es gibt also kein aussagbares Sein an sich mehr, es sei denn, man konstituiert es in einem transzendentalen, im wortwörtlich für sich seienden Sinne, und so wird aus dem ehemals stolzen Wirken der Metaphysik als ›erste Philosophie‹ ein Ausscheidungsprodukt der reinen Vernunftkritik. Oder in Übernahme von Kants Worten: Nur der »kritische Weg« steht dem Unbehausten »allein noch offen«.
Mit dem Auszug aus dem Zentrum des Universums verschieben sich alsbald auch die erzählerischen Koordinaten im Raum-Zeit-Verständnis des Unbehausten; naturalistische Parallelerzählungen entstehen, denn wenn wir uns räumlich von Gott entfernen müssen, dann besteht auch in der Zeit keine Abhängigkeit mehr von ihm – und überhaupt herrscht dann nur noch bloßer Zufall in einer Welt, in der alles, was ist, nunmehr ohne Zielgerichtetheit bzw. ohne Teleologie, also rein durch chemisch-physikalische Prozesse der Auslese, erklärbar sein soll. Der Heimatlose vollzieht mit der räumlichen Trennung von Gott also auch eine Verzeitlichung bzw. Temporalisierung der menschlichen Abstammungsbedingungen: Seine Herkunft ist strikt von dieser Welt. Mit diesem Bekenntnis zu sich selbst hebt die moderne weltliche Kultur an. Religiöse Absichten und Zwecke spielen in der Evolution kaum noch eine Rolle mehr.
Das Deutungsprivileg der Religion über die ersten und letzten Geheimnisse der menschlichen Natur geht damit vollständig auf die Natur über. Ihre Sprache ist Festgelegtheit und Determination, die entsprechend ihrer naturalistischen Heilslogik sogar Gott zu übertrumpfen in der Lage ist: Denn anders als Gott vermag sie uns reinen Gewissens zu erlösen, weil das Böse in der Tradition nur eine semantische Fehlstellung ist und etwas bezeichnet, was nur ›so genannt‹ wird, eigentlich aber etwas ganz anderes meint: nämlich eine Form von Art erhaltender Aggression, deren Naturgeschichte in den Augen des Unbehausten aus jedem Glauben erst einen Sündenfall macht.3
Und das Gleiche gilt für den altehrwürdigen, einstmals ganze Bedeutungswelten umspannenden Begriff der Freiheit: Auch seine Verwendung, so der Vorwurf, beleuchte nur eine Scheinwelt menschlichen Beisammenseins, die die harte Faktenlage ignoriere, dass alle unsere Handlungen von einem emotionalen Erfahrungsgedächtnis aus gesteuert werden. Auf der absolut festgelegten, deterministischen Codierung von uns als etwas soll nun fortan der Segen der Berechenbarkeit liegen – denn sie allein vermag uns noch in einer entgötterten Welt Absolution zu versprechen.
Ein Beispiel für die Verführbarkeit der Freiheit durch Natur findet sich in Peter Høegs Roman Der Susan-Effekt; seine Protagonistin, eine Experimentalphysikerin, führt dem Leser die ruhige Erhabenheit des menschlichen Lebens vor:
»In zehn Jahren werden wir jegliches Bewusstsein zu Psychologie reduziert haben. Alle Psychologie zu Biologie, alle Biologie zu Chemie, alle Chemie zu Physik, alle Physik zu Mathematik, die wir in ein logisches Kalkül entleert haben. Bis dahin haben wir eine Algebra, die erschöpfend und konsistent die Gesetzmäßigkeiten hinter jedem Bewusstsein beschreibt.«