Wespennest - Andreas Zwengel - E-Book

Wespennest E-Book

Andreas Zwengel

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Beschreibung

Der Millionär Garth herrscht als Bürgermeister über das hessische Dorf Ginsberg, dem er eine Fassade von beschaulichem Landleben aufgezwungen hat. Doch nicht alle Bewohner sind damit einverstanden. Als die Baumaschinen eines Bauprojektes sabotiert werden, versucht Garth, seine schärfsten Kritiker im Ort mit Gewalt zu vertreiben und löst damit eine Kettenreaktion aus. Ein manipuliertes Fussballspiel, eine Massenschlägerei und nächtliche Schüsse sind nur die ersten turbulenten Folgen, die der scheinbaren Dorfidylle ein ende bereiten.

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E-book 014 WespennestErste Auflage 01.11.2014

© Saphir im StahlVerlag Erik SchreiberAn der Laut 1464404 Bickenbach

www.saphir-im-stahl.de

Titelbild: www.crossvalley-smith.de

Lektorat: Anke Brandt

Vertrieb: bookwire

ISBN: 978-3-943948-28-8

Andreas Zwengel

Wespennest

Vorbemerkung:

Der Ort Ginsberg und seine geografische Lage sind fiktiv, man wird ihn vergeblich auf einer Karte vom Oberlahnkreis suchen. Er ähnelt grob meinem Heimatort, wobei ich mir natürlich einige künstlerische Freiheiten genommen habe. Unter anderem durch das Hinzufügen eines Flusses, weil ich schon immer der Meinung war, dass dem Dorf ein Fluss fehlt. Alle, wirklich alle Personen in diesem Buch sind frei erfunden. Wäre es anders, hätten Sie längst von diesem Ort aus den Nachrichten erfahren.

Inhalt

Prolog

Freitag

Samstag

Sonntag

Epilog

Prolog

Aus der Zeit vor Garth gab es nicht viel über Ginsberg zu erzählen. Es war ein Ort wie jeder andere. Man hätte ihn durchqueren können, ohne es zu bemerken, läge er nicht am Ende eines malerischen Tals abseits der Hauptverkehrswege. Die üppige Vegetation machte den Abzweig nach Ginsberg unscheinbar und das Hinweisschild war so weit wie möglich von der Straße entfernt, ohne gegen Vorschriften zu verstoßen. Ein paar Sträucher, die nicht zufällig dort wuchsen, verdeckten es gegen flüchtige Blicke. Wer sich dennoch dorthin verirrte, folgte einer schmalen Straße, die durch tief herabhängende Äste wie von Palmwedeln beschattet wurde. Daneben schlängelte sich die Lahn in sanften Kurven zum Dorf Ginsberg, das sich vor jedem Neuankömmling den namensgebenden Berg hinauf erhob. Eine Parade aus blitzsauberen Fachwerkhäusern mit Blumenkästen an den Fenstern. Viele der Häuser besaßen eine renovierte Fassade. Früher hatte das meiste Fachwerk unter Putz gelegen, war verkleidet oder durch Schindeln unkenntlich gemacht worden. Doch dank Garth hatte der Ort eine kostspielige Schönheitsoperation erhalten. Die Straßen waren vergrößert, die Fassaden der Häuser gestrafft und alles Hässliche oder Schmuddelige abgesaugt worden. Die Rinnsteine waren gefegt und die Grünanlagen entlang der Hauptstraße akkurat gestutzt. Menschen spazierten fröhlich winkend am Straßenrand. Überall lachende Kinder und vollständige Familien. Die Menschen hatten sich kleine Paradiese geschaffen. Überdachte Terrassen mit Hollywoodschaukeln, daneben gemauerte Pizzaöfen oder massive Grills aus dem Baumarkt. In den Gärten aufblasbare Pools für mehrere Tausend Liter und Springbrunnen in den Gartenteichen. Nichts davon verborgen hinter blickdichten Hecken oder hölzernem Sichtschutz. Man zeigte, was man hatte, damit sich auch andere daran erfreuen konnten.

Wer den Ort noch aus der Zeit vor Garth kannte, stellte viele Veränderungen fest. Am Brunnen, an dem sich früher die Dorfjugend getroffen hatte, um Alkohol und Zigaretten zu konsumieren, saßen nun ältere Menschen in stiller Eintracht beieinander. Die Videothek hatte einem pittoresken Gemischtwarenladen Platz gemacht und in den Räumen des Handyladens war inzwischen ein Fahrradgeschäft untergebracht. Neu gab es ein Eiscafé, einen Spielzeugladen und eine Boutique für die reiferen Jahrgänge.

Zu Beginn hatte Garth völlig bescheidene Pläne gehabt und lediglich einen behaglichen Altersruhesitz gesucht. Nach einigen Wochen Müßiggang begann er, in der Lokalpolitik mitzumischen und schneller, als es irgendjemand erwartet hätte, erklärte er seinen Ruhestand für beendet. Innerhalb von zwei Jahren und mittels eines schier unerschöpflichen Privatvermögens erschuf er den Ort von Grund auf neu. Neben der allgemeinen Renovierung subventionierte er ausgewählte ortsansässige Bauern, um Landleben zu spielen. Garth sah Ginsberg wie eine dieser nostalgischen Schneekugeln an und am liebsten hätte er den ganzen Ort auch unter eine Kuppel gesteckt. Kein anderes Dorf dieser Größe hatte so viele Angestellte, die das Neuschwanstein unter den hessischen Käffern in Schuss hielten. Touristen, die von der Schönheit der Landschaft angezogen in den Ort kamen, fanden freundliche, aber auch seltsam reservierte Bewohner vor, die niemanden zum Bleiben animierten. Busladungen voller knipsender Menschen, die sich durch die Straßen schoben und in die Häuser drängten, gehörten nicht zu Garths Vorstellung und deshalb würde es sie auch nicht geben. Der Ort blieb ein Theaterstück ohne Zuschauer. Ein privater Themenpark wie die Neverland-Ranch von Michael Jackson, wo dieser seine Kindheit nachholen wollte. Garth hatte allerdings keine knallbunten Popcorn-Träume, sondern eine streng konservative Heile-Welt-Vision. Da er zuvor nie auf dem Land gelebt hatte, stammten seine Vorstellungen durchweg aus der Konserve, vornehmlich aus den harmlosen Filmlustspielen der Fünfziger und Sechziger. So schaffte er eine Zeitblase, um die Idylle zu bewahren, die ihn in seiner Kindheit und Jugend geprägt hatte. Ginsberg war wie die Kulisse eines Heimatfilmes.

Garths Methoden zur Schaffung und Wahrung dieser idealisierten Welt waren hingegen durchweg den Mafiafilmen von Coppola und Scorsese entliehen. Denn hinter der prächtigen Fassade deutscher Dorfromantik rumorte es gewaltig. Zwei, die maßgeblich dafür verantwortlich waren, trugen beide den Nachnamen Gernhardt.

Freitag

Eins

Felix Gernhardt musste seinen Onkel auf der Polizeiwache in Weilburg abholen. Das vierte Mal in diesem Jahr und das zweite Mal in diesem Monat. Als er den kleinen Supermarkt in der Dorfmitte von Ginsberg betrat, ahnte er davon noch nichts. Plötzlich verstummten die Gespräche und er war von Getuschel und gereckten Hälsen umgeben. Nach einem anstrengenden Arbeitstag besaß er wenig Lust, die neuesten Verfehlungen seines Onkels geschildert zu bekommen, doch Oma Paulsen keilte ihn mit ihrem Einkaufswagen geschickt in der Schlange an der Kasse ein.

„Leo hat heut’ wieder ’nen Bock geschossen“, begann sie, und ein Ausdruck von Weltmüdigkeit machte sich auf Felix’ Gesicht breit. Der Nachrichtendienst von Ginsberg funktionierte tadellos. Ein Gerücht von durchschnittlichem Interessengehalt brauchte eine gute Stunde, um den Ort in jeder Richtung zu durchqueren, Variationen mit inbegriffen. Sensationen benötigten zwischen siebzehn und dreiundzwanzig Minuten, wobei keine Version über zwei Straßen hinaus Bestand hatte und jeder Empfänger sofort eine dramatisierte Fassung in Umlauf brachte. Dieser rotierende Informationsfluss beschäftigte für gewöhnlich das öffentliche Leben in Ginsberg über Stunden.

„Man hat ihn verhaftet. Drei Polizisten sollen nötig gewesen sein, um ihn zu bändigen. Angeblich soll er Garth mit einer Waffe aus einem Polizeiwagen angegriffen haben. Das wird noch mal ein schlimmes Ende nehmen mit Leo, denk an meine Worte!“

Gespannt warteten die Umstehenden auf Felix’ Reaktion. Falls sie damit gerechnet hatten, dass er sofort losstürmte, wurden sie enttäuscht. Er hatte am bisher heißesten Tag des Jahres unter dem Dach eines Kunden Glaswolle verlegt und jeder Quadratzentimeter seines Körpers juckte erbärmlich. Seine Kleidung war mit Schweiß gesättigt und unter den Armen zeichneten sich bereits Salzränder auf dem T-Shirt ab. Sein Rücken schmerzte und er wollte nur noch in die Wanne. Niemanden in der Schlange schien die Verzögerung zu stören, nur die Frau an der Kasse wurde langsam ungeduldig.

„Junger Mann, Sie müssen mir die Sachen schon geben, wenn ich sie einscannen soll“, sagte die Kassiererin, die mindestens fünf Jahre jünger war als er, ohne einen Funken Ironie. Felix raffte die paar Kleinigkeiten aus seinem Einkaufswagen zusammen und ließ sie auf das Laufband poltern. Er spürte die missbilligenden und vorwurfsvollen Blicke in seinem Rücken, weil er nicht besser auf seinen Onkel aufpasste. Die Diskussion darüber würde wieder aufflammen, sobald er den Laden verlassen hatte. Felix kannte ihre Einstellung: Leo Gernhardt war so, wie er war, ein Original eben. Die meisten Ginsberger begegneten seinem Onkel wohlwollend, er fiel für sie in dieselbe Kategorie harmloser Spinner wie Nudisten oder Vegetarier. Jeder Ginsberger hatte mindestens eine Anekdote über ihn auf Lager. Und keine zwei Leute erzählten dieselbe.

Felix trat aus dem klimatisierten Supermarkt in die schwüle Hitze des späten Freitagnachmittags. Als er sich ans Steuer seines Wagens setzte, hatte noch niemand außer ihm den Laden verlassen, was für die Intensität der Diskussion im Inneren sprach. Felix startete den Motor. Er brauchte noch etwas Zeit, bevor er seinem Onkel gegenübertreten konnte. Gemächlich, dabei gelegentlich grüßend, fuhr Felix durch den Ort. Die Hitze verursachte allen Bewohnern Kopfschmerzen und Sirenen verkündeten einen weiteren Hitzschlag. Väter wässerten mit dem Gartenschlauch ihre Vorgärten, wuschen ihre Autos oder spritzen Hunde und Ehefrauen ab. Kinder lieferten sich erfrischende Schlachten mit Wasserpistolen, falls dies noch der richtige Ausdruck war für eine vierläufige Plastik-Pumpgun mit drei Zusatztanks. Überall lag Grillgeruch in der Luft und das Klackern von Bierflaschen war zu hören. Radios und Rasenmäher kämpften gegeneinander an. Mückenschwärme terrorisierten vom Fluss aus den gesamten Ort. Alle warteten auf ein erlösendes Gewitter.

Der Audi-Fahrer vor ihm an der einzigen Ampel Ginsbergs nutzte die Zwangspause, um seinen vollen Aschenbecher über dem Grünstreifen auf der Straßenmitte zu leeren. Felix erkannte durch den überdimensionalen Böhse-Onkelz-Aufkleber auf der getönten Heckscheibe Uwe Paulsen in dem Wagen. Der Schwiegersohn des Bürgermeisters. Ein Typ, dem jede Beleidigung schmeichelte. Er machte sich bei jeder Gelegenheit über Garths Spleen lustig, führte sich aber gleichzeitig wie der Kronprinz in dessen Reich auf.

Felix überquerte die Brücke ins Viertel, wie die Siedlung auf der gegenüberliegenden Flussseite genannt wurde. Im Sommer war die Lahn das beliebteste Ausflugsziel der Ginsberger, und da der Fluss den Ort in einer weiten Schleife fast völlig umschloss, stellte er für Bürgermeister Garth und seine Gesinnungsgenossen eine natürliche Grenze zum Viertel dar. Eine Art hessischer Rio Grande, obwohl das Treiben an beiden Ufern zur Sommerzeit mehr dem Leben am Ganges glich. Felix fuhr auf die steil in den Fluss abfallende Felswand zu, an die sich die wenigen Gebäude der Siedlung schmiegten. Er bog in immer schlechter befestigte Feldwege, bis er die abgelegene Stelle oben auf der Steilwand erreichte, wohin er sich oft zurückzog. Dort hatte er eine großartige Aussicht auf Ginsberg, das sich vom Ufer aus den gleichnamigen Berg hinauf erstreckte. Jenseits des Ginsbergs konnte man in der Ferne gigantische Windkrafträder erkennen und Überlandleitungen linierten den Himmel.

Kraftvoll machte Felix seinen ersten Abschlag. Der Golfball streifte eine Kastanie, wurde minimal in seiner Richtung abgelenkt und schoss mit rötlich erwärmten Rändern Richtung Fluss. Hinten in Felix’ Wagen lag – neben allerlei anderem unnützem Zeug – eine Golftasche samt Schlägern. Er hatte sie von Doc Holiday für das Pflastern seiner Hofeinfahrt erhalten. Eine äußerst großzügige Entlohnung, wenn man nicht wusste, weshalb der Arzt sein Hobby aufgegeben hatte. Der Besitzer des Golfklubs war nämlich mit den neuen Brüsten seiner Gattin nicht zufrieden, und da der Doc den Chirurgen empfohlen hatte, wurde er auch für das Ergebnis verantwortlich gemacht. Für die Ausrüstung besaß er anschließend nur noch wenig Verwendung und nach einigen glücklosen Versuchen, sie zu verkaufen, bot er sie Felix an. Der versuchte seitdem, die Bälle in den unter ihm liegenden Fluss oder sogar darüber hinaus zu schlagen. Doch in erster Linie pflügte er die Grünfläche unter oder beförderte kleinere Steine den Hang hinab. Oft blieb er an Bodenunebenheiten hängen oder hämmerte den Schläger gegen hervorstehende Steinbrocken, was ein schmerzhaftes Vibrieren über Griff und Hände bis in seine Schultern zur Folge hatte. Einen Schläger hatte er verloren, als er beim Abschlag den Griff losließ und das teure Sportgerät wirbelnd im Gestrüpp weit unter ihm verschwand. Etliche andere hatte er aus Frust in dieselbe Richtung geschleudert. Inzwischen befanden sich nur noch zwei Schläger in der Tasche und seine einzige sportliche Betätigung würde in absehbarer Zeit ihr Ende finden.

Felix war Pessimist und stellte sich zu jeder Situation im Voraus den denkbar ungünstigsten Verlauf vor. Keine Katastrophe war ihm zu abwegig, um nicht als Möglichkeit in Betracht gezogen zu werden.

Wenn man mit einem Onkel gestraft war, der sich wie ein verhaltensauffälliger Zwölfjähriger benahm, geschah es wie von selbst, dass man früh selbstständig wurde. Auch aus diesem Grund war Felix ein ernster junger Mann, der wenig von der Fröhlichkeit und Leichtfertigkeit seiner Altersgenossen besaß.

Leo hatte also mal wieder einen öffentlichen Auftritt von Garth sabotiert. Er liebte solche Guerillaaktionen und ließ sich auch von der Tatsache nicht einschüchtern, dass er sich ausgerechnet mit dem reichsten und mächtigsten Mann der ganzen Gegend anlegte. Zu einem Zeitpunkt, als dessen Nerven ohnehin blank lagen. An diesem Wochenende fiel der Startschuss zu Garths millionenschwerem Bauprojekt. Er errichtete drei Villen für gestresste Millionäre mit ähnlichen Neigungen, sie sich in dem Dorfidyll ausspannen sollten.

„Der verwandelt unseren Ort in einen Zoo“, hatte sein Onkel gesagt.

„Das ist Ginsberg doch schon längst, nur dass Garth bisher der einzige Zuschauer war.“

„Tja, was nutzt einem die schönste Modelleisenbahn, wenn man sie niemandem zeigen kann?“

Dummerweise war der Bauplatz ein beschauliches Waldstück, und wenn es um Bäume ging, konnte Leo Gernhardt theatralischer als Idefix werden. Es war nur eine Frage der Zeit, bis er auf die Idee kommen würde, sich an einen der markierten Bäume zu ketten. Sein Engagement gründete im Erhalt der Natur und seiner langjährigen Fehde mit Garth, im Verhältnis vierzig zu sechzig. Obwohl Felix nie in diese Auseinandersetzung verwickelt werden wollte, hatte er vor Jahren seinen eigenen Beitrag geleistet, der ihn bis heute in deren Mittelpunkt rückte.

Felix drehte sich zu seinem Wagen. Ein VW Touareg in OffroadGrey mit Nappaleder und jedem erdenklichen Firlefanz. Neupreis bei Sechzigtausend. Er schwang den Schläger durch und ein Ball knallte gegen die Fahrertür, wo er eine beachtliche Delle hinterließ. Felix zog einen zweiten Ball aus seiner Hosentasche, ließ ihn vor sich auf den Boden fallen und wiederholte den Schlag. Glücklicherweise hatte er wegen der Hitze die Fenster heruntergekurbelt und der Ball sauste oberhalb des ersten Treffers durch den Wagen hindurch. Das kühlte Felix’ Gemüt etwas ab. Als er sich der Begegnung mit seinem Onkel gewachsen fühlte, warf er den Schläger in die offene Hecktür des Touareg und machte sich auf den Weg nach Weilburg. Er stellte sich seinen Onkel im Keller der Polizeistation vor, wie er einen Blechnapf die Gitterstäbe entlang rattern ließ und dabei Parolen skandierte.

Felix fuhr zurück über die Brücke, bis er auf die Hauptstraße traf, die entlang des Lahnufers verlief. Nach links führte sie aus dem Ort heraus und nach rechts endete sie am Sportplatz. Dort verengte sich das Tal, sodass die Lahn auf beiden Seiten direkt an Steilhänge grenzte. Die Ginsberger waren froh über ihr Sackgassendasein, hatte es ihnen doch den Durchgangsverkehr vieler Nachbarorte erspart, durch die sich die Lkw aufreihten wie an einer übel riechenden Perlenkette. „Schluss mit Lärm und Gestank!“, „Umgehungsstraße jetzt!“ und „Ihr macht unsere Kinder krank!“ stand auf handgemalten Schildern in Vorgärten und auf Klappaufstellern, mit denen die Anwohner ihrem Unmut Luft machten. Er brauchte fünfzehn Minuten bis nach Weilburg. Auf dem Weg sang Johnny Cash über Tod und Erlösung. Felix pfiff leise mit, um nicht mit den Zähnen zu knirschen.

Wie gewöhnlich öffnete Felix kraftvoll die Eingangstür der Polizeiwache, um dann festzustellen, dass der Hausmeister sich endlich dazu herabgelassen hatte, die Scharniere zu ölen. Sein schwungvoller Auftritt wurde von einigen Beamten mit schadenfrohem Grinsen quittiert, denen es zuvor genauso ergangen war. Er wechselte einen Blick mit dem Polizisten am Empfang, der sofort die Augen verdrehte. Felix schob sich die schwarze Haarsträhne aus der Stirn und starrte ihm trotzig entgegen. Der Beamte widmete sich wieder irgendwelchen Unterlagen. Sie ließen ihn gerne warten, selbst wenn sie dadurch Gernhardts Anwesenheit und seine Ratschläge zur Verbesserung der Polizeiarbeit länger ertragen mussten. Felix nahm an, sie wollten ihm auf diese Art einbläuen, besser auf seinen Onkel zu achten. Als ob er Einfluss auf Gernhardts Taten hätte.

Felix sah Martin Besher aus einem Büro kommen und rief seinen Namen. Besher wechselte spontan die Laufrichtung.

„Martin, nun wart doch mal, das ist doch albern“, rief Felix laut und der Angesprochene blieb tatsächlich stehen. Wenn auch nur, damit sein Name nicht weiter durch den Flur gerufen wurde.

„Ich kann mir schon denken, weshalb du hier bist“, sagte Besher mit säuerlichem Gesichtsausdruck. Trotz seines aufgeräumten Wesens schien er heute nicht in der Stimmung zu sein, um Gernhardts Verhalten lediglich mit einem mitfühlenden Lächeln zu quittieren. Obwohl nur fünf Jahre älter als Felix, hatte er es bereits zum Hauptkommissar gebracht. Nebenbei spielte er als Bassist in einer Country- und Westernband, die er mit Kollegen verschiedener Dienststellen aufgezogen hatte. Felix nahm an, dass Besher aufgrund seines frühen Haarausfalls eine Musikrichtung gewählt hatte, in der es legitim war, Hüte zu tragen.

„Ich kenne Leo, seit ich hier angefangen habe, und wir haben ihn wie oft einkassiert? Zwölf Mal?“

„So ungefähr.“

„Das muss aufhören.“

Felix gab den Zerknirschten.

„Du hast ja recht. Obwohl Leo ein Verwandter ist, ist er nicht das hellste Licht am Baum.“

„Ich fürchte, dieses Mal wird eine Verwarnung nicht ausreichen. Oder könntest du mir garantieren, dass so etwas nie wieder vorkommt?“

„Natürlich nicht.“

„Eben.“

Besher lächelte nun doch.

„Ich werde mal sehen, was ich tun kann.“

Sie gingen gemeinsam den Flur entlang, bis Besher ihm mit einer Geste zu warten bedeutete und in einem der Büros verschwand. Felix versuchte den scheußlichen Farbton der Flurtapete zu ignorieren und betrachtete die Aushänge an der Pinnwand. Fahndungsplakate, diverse Aufklärungskampagnen, Werbung für den hessischen Polizeidienst. Wenig Neues dabei seit seinem letzten Besuch. Lesend ging er ein paar Schritte seitwärts, bis er vor einer offenen Bürotür stand und seinen Namen hörte. Die junge Frau, die vor dem verlassenen Schreibtisch saß, lächelte ihn an und er brauchte einen langen Moment, bis er sie erkannte.

„Hallo Felix.“

Ihre Stimme hatte ihn schon immer fasziniert. Tief, rau und kratzig. Für eine solche Stimme, die Männer die Beine zusammenpressen und über den Tisch kratzen ließ, musste man wohl als Zehnjährige mit dem Rauchen beginnen. Er zwinkerte ungläubig. War sie es wirklich? Felix fühlte eine Hitze in seinem Körper aufsteigen, die sich in einem knallroten Kopf entlud.

„Pia“, krächzte er und räusperte sich sofort, um nicht wie ein kompletter Trottel zu klingen. Er hatte sie in den letzten Monaten des Öfteren aus dem Augenwinkel zu sehen geglaubt, aber das waren nur Hirngespinste und Wunschdenken gewesen. Jetzt saß sie tatsächlich vor ihm.

Sie war dünn geworden. Die Jeans und der schwarze Pullover hingen schlaff an ihrem Körper herab. Ihr Haar war kurz, außerdem färbte sie es nicht mehr. Bei ihrer letzten Begegnung hatte sie schulterlange, blonde Locken gehabt. Nun hatte sie die Haare geschnitten und trug ihre Naturfarbe. Ihr Gesicht wirkte dadurch wesentlich schmaler und auf attraktive Weise kantiger. Pia machte den Eindruck, harte Zeiten hinter sich zu haben. Felix brachte kein Wort über die Lippen. Fragen hätte er genug. Zum Beispiel, was sie die ganzen Monate getrieben hatte, während er sich ihretwegen die Augen ausgeheult hatte.

„Was tust du hier?“, fragte sie und wirkte amüsiert über seine Sprachlosigkeit.

„Ich will meinen Onkel abholen.“

„Das ist aber ein Zufall, dass Leo und ich am gleichen Tag hier sind.“

„So groß ist der Zufall gar nicht. Er ist öfters hier.“

Er schob die Hände in seine Hosentaschen, um nicht nervös mit ihnen herumzufuchteln.

„Ich … äh, geht es dir gut?“

„Den Umständen entsprechend“, antwortete sie mit einem Lächeln. Es entstand eine Pause, weil Felix absolut keine Ahnung hatte, was er sagen sollte.

„Und dir?“

Felix hob als Antwort seine Hand und zeigte den ringlosen Finger.

„Es tut mir leid“, sagte sie mit aufrichtigem Bedauern.

Vor zwölf Monaten war er von seiner Frau geschieden worden und vor elf Monaten und achtundzwanzig Tagen hatte er Pia zuletzt gesehen.

„Trinken wir einen Kaffee und reden über alles“, schlug sie vor und stand von dem braunen Hartplastikstuhl auf.

„Was wird denn das?“, fragte ein uniformierter Beamter, der hinter Felix aus der Toilette kam und sich die Hände mit einem Papiertuch abtrocknete.

„Wir gehen einen Kaffee trinken“, sagte Felix und fand seine Antwort im selben Moment grenzenlos dämlich. Der Polizist teilte diese Einschätzung und lächelte väterlich. Er schob sich an Felix vorbei, nahm Pia gegenüber Platz und warf das zerknüllte Papiertuch in den Abfalleimer neben Felix’ Fuß.

„Die Dame geht nirgendwohin, bevor wir hier nicht fertig sind. Aber Sie können gerne Kaffee holen, ich nehme Milch und drei Stück Zucker dazu.“

Besher streckte seinen Kopf zur Tür herein: „Mensch, wo bleibst du denn?“

„Ich muss mich um meinen Onkel kümmern“, sagte Felix und wies mit dem Daumen an einen unbestimmten Ort hinter sich.

„Später“, sagte sie nur und meinte damit sowohl den Kaffee als auch die ausstehende Erklärung. Felix winkte unbeholfen und eilte zu Besher, der ernsthaft ungeduldig wurde.

„Du scheinst viele unserer Kunden zu kennen“, bemerkte er und schob Felix in das Büro. Da saß er. Leo Gernhardt. Ein bärenhafter Klotz von Ende fünfzig mit zerzaustem Haar und langen Koteletten wie Neil Young oder Wolverine von den X-Men. Er blickte ihnen so seelenruhig entgegen, als ginge ihn das alles nichts an. Nur aus seinen Augen funkelte es trotzig. Felix kannte die Lebensmaxime seines Onkels: 1. Schuld haben immer die anderen, 2. Nie etwas zugeben, 3. Die ganze Welt ist gegen einen und man steht völlig alleine. Seufzend ließ Felix sich auf einen Stuhl fallen. Es vergingen einige Minuten in völligem Schweigen, bis Gernhardt mürrisch murmelte: „Ich geb ja zu, etwas genörgelt zu haben, aber man wird ja wohl noch seine Meinung sagen dürfen.“

„Er hat dafür das Megafon aus einem Streifenwagen benutzt“, erläuterte Besher, „als ein Beamter es ihm wegnehmen wollte, wurde er renitent und hat ihm die Mütze vom Kopf geschlagen.“

„Was heißt denn hier geschlagen? Ich habe ihr nur einen Klaps gegeben, den Kopf hab ich nicht mal berührt“, brauste Gernhardt auf. „Außerdem hat mir sein feiner Kollege danach meinen Hut vom Kopf geschlagen und dafür seinen Schlagstock benutzt.“

Besher ignorierte den Einwurf.

„Die Liste der Vergehen ist lang. Die Wenigsten hätten Aussicht auf eine Verurteilung, aber man kann nicht alle unter den Tisch fallen lassen.“

„Garth wird seine Anzeige sicher nicht zurückziehen, da könnt ihr Gift drauf nehmen“, knurrte Gernhardt.

„Garth hat überhaupt keine Anzeige erstattet“, erklärte Besher. Das verblüffte Gernhardt für einen Moment.

„Aber Villeroy.“

Gernhardt verzog das Gesicht, drehte seinen Kopf von einer Seite zur anderen und ließ die Halswirbel knirschen. Felix hasste es, wenn er das tat.

„Der ist sein Anwalt, kommt also auf das Gleiche raus.“

Besher machte eine kurze Kopfbewegung zum Flur und ging mit Felix hinaus.

„Ehrlich, Felix, ich mag Leo auch.“

„Wieso auch?“

Besher grinste, wurde aber sofort wieder ernst.

„Unterschätzt Villeroy nicht, der kann richtig gemein werden, wenn es um Garths Interessen geht.“

„Was kann er machen?“

„Polizeilicher Gewahrsam.“

„Soll heißen?“

„Dein Onkel wird vor jeder öffentlichen Veranstaltung von Garth in Gewahrsam genommen und erst danach wieder entlassen.“

„Hast du das ihm erzählt?“

„Ja.“

„Und?“

„Wenn du ein Achselzucken und einen Lippenfurz als Antwort gelten lässt, scheint es ihn nicht besonders zu beunruhigen. Vielleicht kannst du ihm begreiflich machen, was es bedeutet. Jedes Mal, wenn Garth einen Pressetermin hat oder einen Radweg eröffnet, müsste Leo die Dauer der Veranstaltung hier absitzen.“

„Ich wäre der Letzte, der den Sinn dieser Maßnahme anzweifeln würde.“

„Vielen Dank auch, aber dein Onkel ist nicht die Art von Gesellschaft, die ich hier dauerhaft ertragen könnte. Er hat sich aber auch den besten Zeitpunkt ausgesucht, Garth und seine Leute machen sowieso schon alle wegen ihrer blöden Präsentation verrückt. Wenn du meinen professionellen Rat haben willst, dann sperrst du Leo am besten übers Wochenende in den Keller.“

„Ich werde darüber nachdenken“, versprach Felix.

Seit sein Onkel nach einem Motorradunfall Frührentner geworden war, widmete er seine gesamte Energie dem Widerstand gegen Garth. Damit machte er sich, je nach Standpunkt des Betrachters, zum unbestechlichen Kritiker der bestehenden Verhältnisse, zum streitlüsternen Stänkerer oder zum kompletten Idioten.

„Wie geht es jetzt weiter?“

„Wir müssen die Anklageerhebung abwarten, aber du kannst ihn natürlich mitnehmen. Schon allein aus dem Grund, weil er uns hier alle wahnsinnig macht“, sagte Besher.

„Okay, trotzdem danke.“

Gernhardt reagierte teilnahmslos auf die Eröffnung seiner Entlassung. Er setzte seinen Hut auf und verließ das Büro, ohne Besher oder seinen Neffen eines Blickes zu würdigen. Sie sahen ihm nach, wie er im Gehen den Kopf hängen ließ und die Schultern nach vorne drückte. Sein tapsig-wankender Gang gab ihm etwas Bedrohliches. Manche Leute behaupteten, Felix und sein Onkel wären sich gar nicht so unähnlich. Das mochte stimmen, aber getrennt voneinander befragt würden sie leugnen, derselben Gattung anzugehören.

Auf Beshers Handy piepste die Erkennungsmelodie von Mission Impossible. Er klopfte Felix aufmunternd die Schulter und wandte sich wieder seiner Arbeit zu. Felix nahm denselben Weg zurück. Als er an dem Büro vorbeikam, war der Stuhl leer und Pia verschwunden. Widerwillig wandte er sich an den Beamten, der gerade die Lasche einer Mikrowellenlasagne abriss und wenig begeistert von der Störung war.

„Wo ist die Frau, die hier saß?“

„Die ist gegangen.“

„Weswegen war sie hier?“

Der Polizist ließ ihn eine Weile zappeln, dann verzog er bedauernd das Gesicht.

„Das ist vertraulich.“

„Haben Sie ihre Adresse?“

„Nichts zu machen.“

„Sie verstehen das nicht, ich bin ein guter Freund von ihr.“

Der Beamte blieb unbeeindruckt, stopfte sich gelassen eine Gabel dampfenden Teigs in den Mund und wartete ab. Felix ging.

„Können wir endlich“, fragte Gernhardt, der draußen gewartet hatte, und schnippte seine Zigarette weg. Felix marschierte an ihm vorbei zum Wagen.

„Ich hoffe, du hast deinen Spaß gehabt“, sagte er, nachdem sie eingestiegen waren.

Sie verließen Weilburg, jeder mit einem Halbliterbecher Vanille-Shake in der Hand, der zu jedem Ausflug in die Stadt gehörte. Im Sommer kamen selbst geringste Anlässe gelegen, um an die zähe, eiskalte Flüssigkeit zu gelangen. Sie saugten an ihren Strohhalmen, bis heftiger Schmerz über dem Auge sie bremste. Gernhardt spielte gedankenverloren an dem silbernen Knopf in seinem Ohr. In früheren Zeiten war er Trendsetter in Sachen Körperschmuck gewesen. Zumindest in Ginsberg, wo ein Ring an einem Männerohr als gewagte modische Extravaganz zählte. Kaum hatten sie die Stadtgrenze passiert, beschloss Gernhardt, nicht länger reumütig und zerknirscht zu sein. Er regte sich über die Behandlung auf und redete von Klagen, mit denen er jeden, der auch nur entfernt mit den Ereignissen des heutigen Tages zu tun hatte, überziehen würde.

„Du hattest Glück, dass Viktor nicht an der Baustelle war, der hätte nicht lange gefackelt“, sagte Felix und sein Onkel schnaubte verächtlich.

„Meine Güte, ihr macht euch alle in die Hose wegen dem Kerl. Ein drittklassiger Messerwerfer mit dubioser Vergangenheit aus einem Pleite gegangenen Zirkus, aber die Leute kuschen, als wäre er der Antichrist persönlich.“

„Als würdest du dich ihm freiwillig in den Weg stellen“, spottete Felix gutmütig.

„Ich habe keine Angst vor ihm. Vielleicht würde er mich fertigmachen, wenn es hart auf hart kommt, aber ich habe verdammt noch mal keine Angst vor ihm.“

„Gut, du hast keine Angst vor ihm. Alle anderen, aber du nicht. Schon verstanden.“

„Hab ich dir erzählt, wie ich mir damals mein abgeschlepptes Moped vom Polizeiparkplatz zurückgeholt habe? Ich war wesentlich jünger als du jetzt und hab allein gegen vier Wachhunde gekämpft.“

„Als du mir die Geschichte als Kind erzählt hast, waren es nur zwei Hunde.“

„Du warst zu jung für die Wahrheit“, brummte Gernhardt. Er mochte es überhaupt nicht, wenn man Unstimmigkeiten in seinen Erzählungen ansprach. „Ist auch egal. Einer muss jedenfalls was gegen Garth unternehmen und du hast ja aufgegeben.“

„Und mit dieser Kinderkacke hast du es ihm so richtig gezeigt, was?“

„Kleinvieh macht auch Mist. Außerdem darf ich dich mal an die Dinger erinnern, die du abgezogen hast, nachdem …“

„Aber ich habe mich nicht von der Polizei erwischen lassen“, schnitt Felix ihm das Wort ab, „das ist ein großer Unterschied.“

„Findest du etwa in Ordnung, was er macht? Er lässt ein ganzes Waldstück abholzen, um ein paar Luxuspaläste zu bauen, die kein Ginsberger jemals betreten wird. Es sei denn als Angestellter. Und alle nicken dazu.“

„Nein, natürlich ist das Mist. Ich würde mir nur wünschen, dass du eine andere Form des Protests finden könntest. Vielleicht einen Leserbrief schreiben oder etwas in der Art.“

„Ja, klar.“

„Okay, blödes Beispiel, aber meinst du, mit deiner Methode bist du erfolgreicher? Wie kommt es dann, dass Garth immer noch Bürgermeister ist und du stattdessen Kunde des Monats bei der Polizei? Erklär mir das.“

„Du meckerst immer nur an mir herum: Mach die Herdplatte aus, lass keine geladenen Waffen herumliegen, zieh dir was an, wenn du aus dem Haus gehst. Wenn ich Genörgel bräuchte, hätte ich deine Tante nicht verlassen müssen.“

Felix verkniff sich eine Bemerkung darüber, wer wen verlassen hatte, und blendete seinen Onkel aus. Manchmal gelang ihm das. Ihn beschäftigten inzwischen ganz andere Gedanken. Er hätte gegenüber dem Polizisten hartnäckiger sein müssen und sich nicht so einfach abspeisen lassen dürfen. Andererseits wusste Pia, wo er wohnte. Wenn sie Interesse daran hatte, ihn zu sehen, konnte sie dies jederzeit tun. Ihr eiliges Verschwinden aus der Polizeiwache sprach allerdings nicht dafür. Genauso wie ihr Verhalten vor einem Jahr, als sie über Nacht aus seinem Leben verschwand und eine klaffende Wunde hinterließ. Doch so war Pia. Wenn sie mit einer Situation nicht zufrieden war, dann änderte sie diese, ohne die Konsequenzen zu scheuen. In vielen Fällen hatte ihm diese Einstellung Respekt abgenötigt, in anderen Fällen blankes Entsetzen erzeugt. Sie hatte immer alles geradeheraus gesagt, ohne Rücksicht und ohne mildernde Zwischentöne. Aber in seinem Fall hatte sie mit ihren Prinzipien gebrochen. Felix wäre damals jede Erklärung für ihr Verschwinden recht gewesen. Sogar eine erlogene.

„Die Äpfel sind aus Portugal. Warum brauchen wir Äpfel vom anderen Ende Europas? Bei uns hängen die Bäume voll damit.“

„Ich habe Pia auf der Wache getroffen.“

Sein Onkel hörte auf, in den Einkäufen hinter sich zu kramen und rutschte auf den Sitz zurück.

„Sie ist wieder da?“

Felix nickte.

„Du hast hoffentlich die Gelegenheit genutzt, ihr ordentlich den Marsch zu blasen. Zu schade, dass ich nicht dabei sein konnte, mir wären sicher auch noch ein paar Sachen eingefallen.“

„Ehrlich gesagt habe ich kaum einen vernünftigen Satz herausgebracht.“

„Du hast ihr nicht gesagt, was du von ihr hältst? Was für ein treuloses Miststück sie doch ist?“

„Es war alles so plötzlich, ich war viel zu überrascht, um mich an die Sätze zu erinnern, die ich mir für diesen Moment zurechtgelegt hatte.“

Gernhardt seufzte und sah die peinliche Vorstellung förmlich vor sich, wie sein Neffe die Hände in den Hosentaschen hielt und mit der Schuhspitze verlegen Achten auf den Fußboden malte.

„Mensch, auf so was muss man sich doch nicht vorbereiten. Willst du vorher noch eine Probe oder was? Hast du keine Wut mehr im Bauch? Erinnerst du dich nicht mehr, wie du dich gefühlt hast, nachdem sie verschwunden war? Ich weiß es noch ziemlich gut, das kannst du mir glauben.“

Felix hatte bei seiner vergeblichen Suche nach Pia alle Bekannten genervt und viele Unbekannte belästigt. Danach hatte er sich in eine wochenlange bedröhnte Auszeit geflüchtet und wurde zu einem unverträglichen Zeitgenossen. Permanent schlecht gelaunt und streitsüchtig, wenn er nicht gerade wehleidig herumjammerte oder in Selbstmitleid zerfloss. Er weinte um Pia oder beschimpfte sie in Abwesenheit. Im Nachhinein ließ sich diese Zeit auf wenige Erinnerungen reduzieren. Durchzechte Nächte mit Lorenz und Wicke und Neil Youngs Out on the weekend auf der Endlosschleife.

„Typisch. Alle anderen hast du unter deiner miesen Laune leiden lassen, aber die Person, die für alles verantwortlich ist, bleibt ungeschoren“, polterte Gernhardt weiter.

„Stimmt schon.“

„Natürlich stimmt das. Du schuldest es uns allen, ihr zu sagen, wie mies ihr Verhalten war. Am Besten schreist du dabei.“

Der größte Teil von Gernhardts Wut beruhte darauf, dass er selbst Pia so sehr gemocht hatte. Sie hatte durch ihr Verschwinden auch ihn verletzt, aber Leo reagierte eben nicht mit Trauer. Was hatte Felix erwartet, wenn er mit ihm darüber sprach? Trost? Aufmunterung? Er setzte seinen Onkel zu Hause ab und fuhr weiter, denn in seiner momentanen Stimmung wollte er nicht mit ihm unter einem Dach sein. Die Empörung über Pia würde unweigerlich in gegenseitige Schuldzuweisungen übergehen, bis sie schließlich türenknallend in ihren Zimmern verschwanden. Darauf konnte er verzichten. Er rief Besher mit dem Handy an und fragte ihn nach Pias Adresse, doch der legte auf mit den Worten: „Übertreib es nicht.“ Das Gefälligkeitskonto war bereits weit überzogen.

Zwei

Felix’ Werdegang wies beim Stand von dreiundzwanzig Jahren eine beachtliche Reihe bescheidener Höhen und bodenloser Tiefen auf. Eine alphabetische Liste aller seiner Nebenerwerbe und Kurzzeitbeschäftigungen wies selbst unter Y noch zwei Posten aus. Felix hatte sich in jedem Job versucht, der passablen Lohn bei einem Minimum an Einsatz versprach, bis er quasi über Nacht – auf jeden Fall sehr schnell und für viele überraschend – zum Schwiegersohn des Bürgermeisters wurde. Sein sozialer Status hatte sich schlagartig gewandelt.

Er erinnerte sich noch gut an die erste Begegnung mit seinem zukünftigen Schwiegervater. Übrigens sein längstes Beschäftigungsverhältnis, wenn auch in verschiedenen Tätigkeitsbereichen. Garth schien damals Mühe zu haben, in Worte zu fassen, wie wenig Felix seiner Vorstellung von einem perfekten Schwiegersohn entsprach. Ein Gentleman hätte die Fassung bewahrt, sich einen großen Scotch eingeschenkt und tief geseufzt. Garth dagegen zeigte während des Vorgangs des Begreifens alle Symptome einer Virusinfektion, bevor er dunkelrot anlief und den Rest des Abends lautstark und wiederholt eine Erklärung von seiner Tochter verlangte. Nichts weniger als der Missbrauch verschreibungspflichtiger Medikamente wäre ihm als Entschuldigung ausreichend, verbunden mit einer sofortigen Auflösung der Beziehung. Felix war nach diesem Abend milde optimistisch gewesen, was seine gemeinsame Zukunft mit Chloe anging.

Der Touareg war das Einzige, was Felix nach der Scheidung geblieben war, aber der Wagen machte längst keinen so guten Eindruck mehr, da er als Lager für Werkzeuge, Ersatzteile und Baumaterialien diente und ständig durch unwegsames Gelände getrieben wurde. Die Schicht aus Gipsresten, Estrichspuren und Zementbrocken auf der Fußmatte zeugte detaillierter als jedes Tagebuch von Felix’ Beziehung zu dem Fahrzeug. Ascheflocken von Gernhardts Selbstgedrehten lagen rings um die Gangschaltung, deren Plastikverkleidung zwei Brandlöcher aufwies. Trotz allem war der Wagen immer noch ein Blickfang.

Felix parkte neben Amsels Bäckerei an der Hauptstraße. Aus Kurt’s SnäckInn war aufs Garths Betreiben hin Backstube Amsel geworden. Der Laden schmückte sich mit den Etiketten Frühstückscafé, dabei bot der Raum gerade genug Platz für zwei Stehtische. Dort traf man sich auf einen Cappuccino und Kurt Amsel schenkte höchstpersönlich den Kaffee aus, wenn es darum ging, Neuigkeiten unter das Volk zu streuen. Felix hatte in der Absicht angehalten, alle Personen, die Pia kannten, unauffällig nach ihrer Rückkehr zu befragen, und der Bäcker war einer der glühendsten Verehrer ihrer Kochkunst gewesen. Aber bevor Felix ansetzen konnte, winkte ihn Amsel aufgeregt zu sich heran.

„Letzte Nacht gab es wieder einen Einbruch und diesmal ist Viktor richtig sauer“, flüsterte er, als würde er ein Geheimnis verraten, das er an diesem Tag noch nicht jedem erzählt hatte. Wie auf Stichwort fuhr ein schwarzer BMW gemächlich an der Bäckerei vorbei. Felix drehte sich von der Scheibe weg und nippte an der Tasse Kaffee, die Amsel ihm serviert hatte.

„Der Kerl macht mir eine Gänsehaut, ehrlich. Ist dir aufgefallen, dass er nie schwitzt? Kein Schweißfleck auf der Kleidung, nicht der kleinste Tropfen auf der Stirn. Wo hat der vorher gelebt, auf der Sonne? Man könnte meinen, er hätte eine eigene Klimazone um sich herum.“

Hinter ihnen ging die Tür auf und an Amsels Reaktion erkannte Felix, wer hereingekommen war.

„Machst du mir einen Espresso, Kurt?“

Felix drehte sich langsam um. Viktor war von kompakter Gestalt und mit einem mächtigen Brustkorb ausgestattet. Die mehrfach gebrochene Nase verstärkte den Eindruck eines gefährlichen Zeitgenossen. Er war von Natur aus ein dunkler Typ, musste sich dreimal am Tag rasieren und hatte trotzdem stets einen Bartschatten. Der schwarze, maßgeschneiderte Anzug verlieh ihm eine beeindruckende Eleganz, die gewisse Frauen ansprach. Gerüchten zufolge hatte er zahlreiche Liebschaften in Ginsberg. Wobei viele Leute überrascht waren, dass er ein Privatleben haben sollte. Sie hatten angenommen, Hobby und Beruf seien bei ihm dasselbe. Sofern man Bespitzeln, Einschüchtern und Bedrohen für legitime Freizeitbeschäftigungen halten konnte. Niemand wusste genau, aus welchem Land Viktor stammte, aber es war ein Kulturkreis, in dem Tierkadaver gerne als Botschaft benutzt wurden, um bestimmte Positionen zu unterstreichen. Leo Gernhardt, dessen Ruf als Tierfreund geradezu legendär war, wollte verhindern, dass sich diese Tradition in Ginsberg einbürgerte. Als ein Haustier an die Tür eines Gegners von Garth genagelt wurde – zweifellos von Viktor –, brachte Gernhardt mit einem Schraubenzieher eine diesbezügliche Botschaft an dessen BMW an.

„Wie geht’s dir, Felix, ich habe deinen Wagen draußen stehen sehen“, sagte Viktor und stellte sich an den Tisch. Hinter ihm tranken die beiden anderen Gäste hastig aus und verließen die Bäckerei. Sehr darum bemüht, es nicht allzu fluchtartig aussehen zu lassen.

„Ich würde mich gerne mit dir über deinen Onkel unterhalten.“

„Ich habe dir nichts zu sagen“, erklärte Felix und trank seinen Kaffee aus. Viktor rückte lächelnd seine platinfarbene Krawatte zurecht.

„Dann lass uns über deine berufliche Zukunft reden.“

Felix sah ihn fragend an.

„Erzähl mir nicht, dir gefällt dein Job. Du gondelst durch die Gegend und erledigst billige Tüftelarbeiten gegen schlechte Bezahlung. Was würdest du davon halten, wieder für Garth zu arbeiten?“

„Das ist nicht dein Ernst.“

„Anders als früher.“

„Du meinst, ihr habt noch miesere Jobs auf Lager?“

Das Aufblitzen in Viktors Augen war kaum zu bemerken. Die Regel war einfach. Wer für Garth arbeitete, den versorgte er gut. Wer nicht für ihn arbeiten wollte, verließ die Stadt. Felix hatte sich nicht an diese Regel gehalten.

Amsel beobachtete das Geschehen aus dem Schutz seiner Theke heraus. Jederzeit bereit, durch die Tür hinter ihm in die angrenzende Backstube und von dort über den Hof zu flüchten. Obwohl Felix wusste, wozu Viktor fähig war, fiel es ihm schwer, dem Schläger irgendeine Art von Respekt zu zollen. Seine Körperhaltung und Mimik signalisierten überdeutlich, was Viktor ihn alles konnte. Dessen Reaktion fiel ruhiger als erwartet aus. Er kippte seinen Espresso hinunter, zog seine Geldbörse und reichte einen Schein über die Theke.

„Wir unterhalten uns draußen weiter.“

Felix folgte ihm widerwillig und sah, wie Viktor sich an den Touareg lehnte.

„Jetzt mal Klartext. Dies ist Garths letztes Angebot an dich und deinen Onkel. Ich würde raten, es nicht so großkotzig abzulehnen wie die bisherigen. Er bietet euch einen guten Preis für euer Haus und einen Job in der Nähe von Fulda. Nichts besonders Großartiges oder Anspruchsvolles, aber es wird ganz gut bezahlt. Einzige Bedingung, ihr packt sofort eure Sachen.“

Viktor schenkte ihm ein schmales Grinsen.

„Natürlich steht es euch frei, einen beliebigen anderen Job an einem beliebigen anderen Ort anzunehmen, sagen wir zweihundert Kilometer Luftlinie von hier entfernt.“

„Vergiss es!“

„Wir beide wissen, warum Garth nicht längst zu härteren Mitteln gegriffen hat. Dieser Schutz wird irgendwann erlöschen. Dann wird sie sich nicht mehr für dich einsetzen und dann ist es zu spät zum Verschwinden.“

Ein Schmetterling ließ sich sacht neben Viktors Hand auf die Motorhaube herab. Entspannt bewegten sich die Schwingen auf und ab, entfalteten dem interessierten Betrachter ihre unendlich scheinende Farbenpracht, während der zierliche Leib sich sachte vorwärts bewegte.

„Sag mir kurz vorher Bescheid“, antwortete Felix so gelassen wie möglich und fest entschlossen, sich nicht einschüchtern zu lassen. Viktor sah dem Insekt bei seinem anmutigen Spaziergang zu, dann klatschte er seine flache Hand darauf.

„Das tue ich gerade.“

Er wischte sich mit einem Taschentuch die Reste von der Hand, faltete das Tuch sorgfältig zusammen und verstaute es wieder in seiner Innentasche, bevor er Felix ansah.

„Leo hatte heute großes Glück, dass die Polizei ihn mitgenommen hat, sonst hätte ich ihn daran gehindert, weiter zu stören.“

Viktor führte den Gedanken nicht weiter aus.

„Weißt du, wo deine beiden Freunde letzte Nacht waren?“

„Wen meinst du?“

„Du weißt genau, wen ich meine. Der Dicke und der Trottel. Ich rede von Lorenz und Wicke, verdammt noch mal.“

„Wenn ich ehrlich sein soll, bin ich den beiden schon seit Tagen nicht mehr begegnet.“

„Du weißt also von nichts“, stellte Viktor fest.

Natürlich konnte sich Felix denken, wovon er sprach. Er wusste, was Wicke und Lorenz in den letzten Wochen angestellt hatten, schließlich erzählten sie es ihm hinterher jedes Mal voller Stolz. Beim ersten Mal stiegen sie aus einer Bierlaune heraus in Garths Angelhütte ein, leerten den Kühlschrank, tranken die Hausbar aus und verstellten alle Sender auf dem Großbildfernseher. Ein aus ihrer Sicht harmloser Spaß. Als Viktor mit der Polizei bei ihnen auftauchte, wussten sie, dass sie einen Nerv getroffen hatten und bereits mit ihrer nächsten Aktion gingen sie noch wesentlich dreister vor. Sie brachen in Garths Weinkeller ein, während dieser im Stockwerk darüber eine Party gab. Waren die ersten beiden Aktionen kaum mehr als dumme Streiche gewesen, ein Ventil, um Dampf abzulassen, wandelten sich ihre Besuche von da an in regelrechte Raubzüge. Sie besuchten in lockerer Folge verschiedene Firmen, an denen Garth beteiligt war. Bisher hatten sie immer Glück gehabt und waren infolge dessen leichtsinnig geworden. Darin waren sie Felix’ Onkel sehr ähnlich.

„Ich weiß, dass die beiden hinter den Einbrüchen stecken“, sagte Viktor, „und bisher hat es mich ziemlich kalt gelassen. Aber letzte Nacht haben sie eine persönliche Sache daraus gemacht.“

„Ich verstehe kein Wort von dem, was du sagst. Aber der Alte scheint dich ganz schön unter Druck zu setzen.“

Mit einem Schritt war Viktor bei ihm. Seine Hand zuckte vor und packte Felix’ Nase zwischen Daumen und gekrümmten Zeigefinger. Felix biss sich auf die Unterlippe und hatte alle Kaltschnäuzigkeit verloren. Viktor verstärkte den Druck, bis Felix Tränen in die Augen schossen und er ergeben die Hände hob.

„Ich könnte dir sofort das Nasenbein brechen, willst du das?“, fragte Viktor. Felix konnte den Kopf nicht bewegen, also wedelte er verneinend mit den Händen. Viktor stieß ihn zurück und Felix rieb sich den schmerzenden Nasenrücken.

„Dann hör auf, mich zu verarschen. Sie sind zu weit gegangen. Richte ihnen das aus.“

Das war deutlich. Viktor verlor nie die Beherrschung, aber diesmal zitterte seine Stimme vor unterdrückter Wut. Er ging zu seinem BMW und stieg ein. Dabei lüftete er sein Jackett und ließ Felix scheinbar zufällig das Halfter an seinem Gürtel sehen. Felix atmete tief ein. Er wusste um Viktors Hang zur großen Geste, aber so offen hatte er ihm noch nie gedroht. Felix hielt die Fassade der lockeren Unbekümmertheit nur so lange aufrecht, bis Viktor um die Ecke gebogen war, dann sprang er in seinen Wagen. Zum zweiten Mal an diesem Tag fuhr er ins Viertel. Doch diesmal erheblich schneller.

Die sogenannten anständigen Bürger benutzten das Viertel gerne, um ihrem Nachwuchs die Folgen zu demonstrieren, wenn man in der Schule nicht aufpasste, sein Zimmer nicht aufräumte oder ganz allgemein sein Leben verbockte. Für jede Generation in Ginsberg hatte es auf die eine oder andere Weise als Kinderschreck herhalten müssen. Felix kannte unzählige Geschichten über das Viertel. Viele hatte ihm sein Onkel erzählt, einige stammten von seinen Kunden dort und manche hatte er sogar selbst erlebt. Leo Gernhardt war früher oft im Viertel gewesen, denn dort gab es Arbeit für ihn. Inzwischen waren nur noch wenige Gebäude übrig geblieben.

Felix fuhr die unbefestigte Straße am Ufer entlang, die vor dem Grundstück von Bruno Lorenz und Lothar Wicke endete. Hier hatten sie sich ihre Version der Villa Kunterbunt geschaffen. Der letzte Anstrich an dem bunkerähnlichen Gebäude war fast völlig abgeblättert, mit Ausnahme einer zwei mal zwei Quadratmeter großen Fläche, die strahlend weiß überstrichen war und an der sich bei seinem letzten Besuch noch eine überlebensgroße, explizite Aktzeichnung von Minnie Mouse befunden hatte. Unter der Wellblechmarkise standen verschiedene Autositze als Mobiliar, aber Lorenz lag die meiste Zeit in seiner Hängematte zwischen zwei Birken und spielte Mundharmonika. Dabei linste er gelegentlich über den Rand seiner verspiegelten Sonnenbrille und hielt Ausschau nach vorüberziehenden Schönheiten am Fluss. Meist bekam er jedoch weniger Erfreuliches zu sehen. Viel nacktes Fleisch, das nicht dafür vorgesehen war, unverhüllt herumgezeigt zu werden. Ältere Ehepaare in knappen Badesachen boten behaarte Rücken und Cellulite dar. Auf dem Rückweg begleitete sie stets leuchtender Sonnenbrand und der Geruch von zu spät aufgetragener Sonnencreme.

Lorenz schätzte es, jede überflüssige Bewegung zu vermeiden. Er war groß, übergewichtig und schwitzte extrem. An heißen Tagen wechselte er die Kleidung häufiger als ein Laufstegmodel am Premierenabend. Pausenlos wischte er mit einem tropfnassen Taschentuch über sein Gesicht. Er hatte jede bekannte und weniger bekannte Diät ausprobiert. Angefangen von Trennkost, Rohkost und Weight Watchers über Atkins-Diät, FdH und Schroth-Kur bis hin zu Blutgruppen-Diät, F.X.Mayr-Kur und die Montignac-Methode. Bisher bei gleich bleibendem Misserfolg. Schlaff erhob er die Hand zum Gruß, als Felix sich auf einen der Sitze fallen ließ.

„Wie ich sehe, hat er endlich das Graffiti überpinselt.“

Lorenz folgte seinem Blick und nickte zufrieden.

„Wie hast du ihn dazu gebracht?“

„Ich habe ihm gesagt, er soll es nicht tun.“