Wettlauf in Triest - Günter Neuwirth - E-Book

Wettlauf in Triest E-Book

Günter Neuwirth

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Beschreibung

Ganz Triest fiebert dem großen Derby im Ippodromo di Montebello entgegen. Als in der Nähe eine weibliche Leiche gefunden wird, bangt die Polizei um die Sicherheit der Besucher. Inspector Bruno Zabini übernimmt die Ermittlungen, die sich anfangs schleppend gestalten. Als er einen Verdächtigen festnehmen kann, geschieht ein weiterer grausamer Mord. Bruno vermutet den Täter im Umfeld der Rennbahn und bekommt es mit einem mürrischen Magazineur, dubiosen Buchmachern, brutalen Zuhältern und Kleinkriminellen zu tun.

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Günter Neuwirth

Wettlauf in Triest

Roman

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Bei Fragen zur Produktsicherheit gemäß der Verordnung über die allgemeine Produktsicherheit (GPSR) wenden Sie sich bitte an den Verlag.

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Alle Rechte vorbehalten

Satz/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Bildes von: © ullstein bild – Imagno; Paläste an der Piazza Grande. Rechts der Palazzo Stratti mit dem Caffè degli Specchi. Um 1900.

ISBN 978-3-7349-3202-1

Personenverzeichnis

Brunos privates Umfeld

Bruno Zabini, 38, Inspector I. Klasse, Triest

Heidemarie Zabini, geb. Bogensberger in Wien, 60, Brunos Mutter

Salvatore Zabini (1836–1899), Brunos Vater

Maria Barbieri, geb. Zabini, 33, Brunos Schwester, Triest

Fedora Cherini, 35, Kostümbildnerin, Triest

Luise Dorothea Freifrau von Callenhoff, 28, Schriftstellerin, Triest und Sistiana

Gerwin von Callenhoff, 6, Sohn von Luise, Triest und Sistiana

Grete Fischnaller, 21, Kindermädchen von Gerwin, Südtirol

*

Die Triester Polizei

Dr. Stephan Rathkolb, 60, Polizeidirektor

Johann Ernst Gellner, 53, Oberinspector

Emilio Pittoni, 41, Inspector I. Klasse

Vinzenz Jaunig, 48, Inspector II. Klasse

Luigi Bosovich, 27, Polizeiagent I. Klasse

Romano Materazzi, 38, Polizeiagent I. Klasse

Ivana Zupan, 42, Schreibkraft

*

Die wichtigsten Akteure

Leopold Freiherr von Baumberg, 36, Obersekretär, Wien

Koloman Vanek, 37, Baumbergs Adjutant, Mährisch Ostrau

Fabrizio Renzullo, 27, Buchmacher, Triest

Gino Fonda, 54, Magazineur im Ippodromo, Triest

Laura Cavallaro, 21, Prostituierte, Sizilien

Concetta Musso, 23, Prostituierte, Lombardei

Sebastiano Lippi, 30, Buchmacher und Dandy, Triest

Attila Giller, 48, Gutsbesitzer, Cervignano del Friuli und Triest

Luzie Giller, 45, Ehefrau von Giller, Cervignano del Friuli

Ruggero Guiscardi, 43, Zuhälter, genannt Napoletano, Neapel

Virginio Broggi, 52, Zuhälter, genannt Milanese, Mailand

Béla Szigeti, 44, Zuhälter, Budapest

Guido Morterra, 44, Verwalter Gestüt Calaprice, Triest

Leopoldo Haas, 46, Juwelier, Triest

Donnerstag, 28. Mai 1908

Bruno schulterte den auf einem Dreibein montierten Photoapparat und nickte Luigi Bosovich zu. »Bereit?«

Brunos Kollege setzte seinen Hut auf und packte die Kommissionstasche. »Jawohl.«

Zu zweit verließen sie die Kanzlei und eilten die Treppe hinab. Vor der Polizeidirektion wartete ein Wagen, der Fahrer stand abfahrbereit neben den Pferden.

»Dobro jutro, gospod Leskovar«, grüßte Bruno auf Slowenisch.

»Dobro jutro, inšpektor.«

»Wie ich sehe, haben Sie den Zweispänner genommen«, sagte er auf Deutsch.

»Man hat mir gemeldet, dass wir auf den Montebello müssen. Für ein Pferd allein ist das sehr anstrengend.«

»Avanti, signori.«

»Sì, ispettore.«

Bruno und Luigi verstauten ihr Gepäck und setzten sich in den offenen Wagen. Das Wetter versprach an diesem Maitag – wie schon die ganze Woche über – warm und trocken zu bleiben. Milan Leskovar schnalzte mit den Zügeln, das Fuhrwerk rollte los.

Von der Piazza Goldoni bogen sie auf Via della Barriera vecchia und fuhren stadtauswärts, später wechselten sie auf die Via delle Sette Fontane. Wie üblich war an diesem Vormittag viel Verkehr auf den Straßen Triests. Die Rösser mussten sich bergan ins Zeug legen, um das Tempo zu halten. Nach einer Weile erblickte Bruno einen am Straßenrand stehenden Wachmann, der die Hand hob. Leskovar hielt den Wagen an, der wartende Polizist griff nach dem Zaum des rechten Pferdes. Bruno und Luigi kletterten herunter.

»Herr Inspector«, rief der Uniformierte. »Sie müssen da entlang durch den Wald zum Klutsch hinunter.«

»Liegt der Leichnam im Bach?«

»Am Ufer. Mein Kollege ist unten.«

»Leskovar, Sie bleiben beim Wagen. Und Sie zeigen uns den Weg.«

»Soll ich das Gepäck nehmen?«

»Nicht nötig, Polizeiagent Bosovich und ich schaffen das schon. Gehen Sie voran.«

Über einen Trampelpfad stiegen sie hinunter in Richtung des Baches, den manche mit seinem deutschen Namen Klutsch bezeichneten, andere aber auf Italienisch Torrente Settefontane. Sieben Quellen speisten den Bach, der die abfallende Berglinie an der Südflanke des Montebello in Richtung Meer hinabströmte.

Sie kamen zum Eisenbahngleis, das zum Verschiebebahnhof, zum Franz-Josephs-Hafen und zum Staatsbahnhof führte. Der noch recht neue Schienenstrang war zwar nur eingleisig, aber in kurzer Zeit zu einer der am stärksten befahrenen Strecken auf dem Triester Stadtgebiet geworden. Eben näherte sich bergauf fauchend und stampfend ein Güterzug. Der Lokführer sah die Männer an der Strecke und betätigte die Pfeife. Bruno hob die Hand und signalisierte, dass sie warten würden.

Luigi wandte sich an Bruno. »Das ist eine 170, nicht wahr, Herr Inspector?«

Bruno nickte lächelnd. »Langsam kriegst du Expertise, Luigi. Die Ausbildung lohnt sich.«

Bruno zählte die vorbeifahrenden Waggons. Die schwere und überaus zugkräftige Dampflok der Reihe kkStB 170 schleppte sieben gedeckte und wahrscheinlich voll beladene­ Waggons sowie achtundzwanzig offene und unbeladene Zweiachser die Rampe hoch. Daher mussten sie eine ganze Weile warten, bis der Güterzug an ihnen vorbei war. Wie jeder Interessierte in Triest wusste, rollten seit Jahren unablässig die flachen und offenen Zweiachser mit Eisen aus den Hüttenwerken der Monarchie schwer beladen auf die Stadt zu und verließen sie kurz darauf um ihre Last erleichtert. Das Lloydarsenal und der Stabilimento Tecnico Triestino verschlangen gefräßigen Titanen gleich Unmengen an Eisen, um Österreich-Ungarns Handels- und Kriegsmarine mit neuen, immer größeren und stärkeren Schiffen auszustatten.

Unterhalb des Gleises verschwand der Bach in einem im vorigen Jahrhundert angelegten Kanal, welcher bis hinunter an das Meer reichte. Mehrere Bäche, die vom Hochplateau durch das Stadtgebiet dem Meer zuströmten, waren in Kanäle gefasst worden. Bruno sah am Bachufer einen Polizisten neben einer am Boden liegenden Gestalt. Diese war mit einer Decke umhüllt. Ein weiterer Mann war eben dabei, nasse Kleidungsstücke auszuwringen.

»Guten Morgen, meine Herren«, grüßte Bruno, stellte den Photoapparat ab und wandte sich dem Mann Mitte fünfzig zu. »Was machen Sie hier?«

Der Mann schaute Bruno an und zuckte mit den Achseln. »Wonach sieht es aus?«

Bruno runzelte die Stirn und dachte nach. Ihm kam das Gesicht seines Gegenübers bekannt vor. »Sie heißen Gino Fonda, nicht wahr?«

»Ja, das ist mein Name.«

»Und Sie arbeiten als Magazineur in den Stallungen beim Ippodromo.«

»Sie können sich also an mich erinnern, Herr Inspector.«

Bruno schaute sich noch einmal um, erblickte die Seife, das Waschbrett und die nasse Kleidung in einem Korb. »Waschen Sie Ihre Wäsche immer hier am Bach?«

»Seit Jahren. Ich kann mir keine Wäscherei leisten.«

»Und warum gehen Sie nicht an einen öffentlichen Brunnen?«

»Da rennen zu viele Leute herum.«

Bruno hatte diesen Mann im vergangenen Jahr wegen eines Drohbriefes verhört. Mit auf Briefpapier geklebten Buchstaben, die Fonda aus Zeitungen geschnitten hatte, hatte er der Statthalterei eine Bombendrohung geschickt. Der Mittfünfziger hatte sich beim Verhör als verschrobener, aber völlig ungefährlicher Einzelgänger herausgestellt, der mit dem Drohbrief seine Wut auf die herrschende Ungerechtigkeit und den Adel zum Ausdruck gebracht hatte. Es war damals vor allem Luigi Bosovichs Leistung gewesen, den anonymen Briefschreiber zu entlarven.

»Signor Fonda, haben Sie die Leiche gefunden?«

»Ja.«

»Erzählen Sie mir, wie das abgelaufen ist.«

Der Mann verzog den Mund und schien abzuwägen, ob er der Aufforderung des Inspectors nachkommen sollte. Viel Lust, mit Bruno zu sprechen, schien er nicht zu haben.

»Also, im Morgengrauen bin ich mit meinem Korb losmarschiert und hierhergekommen. Ich habe die Decke gesehen und ein Stück zur Seite gezogen. Das Mädchen war schon ganz kalt, hat wohl die ganze Nacht hier gelegen. So bin ich zur Wachstube gegangen und habe diese beiden Männer hergeführt. Die Polizisten haben dann getan, was Polizisten so machen, und ich habe meine Wäsche gewaschen.«

Bruno schaute den Polizisten an, der am Fundort Wache gehalten hatte. »Können Sie diesen Bericht bestätigen?«

»Jawohl, Herr Inspector. Ich bin hier, seit uns Signor Fonda hergebracht hat. Und er hat tatsächlich seine Kleidung gewaschen.«

Fonda hörte den empörten Tonfall des Polizisten. »Na, was soll ich sonst tun, Mützenständer? Die Wäsche wäscht sich nicht von allein, du rührst kein Ohr und das Mädchen ist ja schon tot.«

Bruno kniff die Augen zusammen. »Bitte bleiben Sie höflich, Signor Fonda, dann werde ich auch höflich sein.«

Der Mann verzog seinen Mund, griff nach der Seife, wickelte sie in Zeitungspapier ein und murmelte vor sich hin. »Höfliche Polizei? Das wäre etwas ganz Neues.«

»Der Körper lag also unter dieser Decke, als Sie gekommen sind«, vergewisserte sich Bruno.

»Haben Sie mir zugehört?«

Bruno verzog den Mund. »Wollen Sie noch etwas aussagen?«

»Noch was? Nein.«

»Dann vielen Dank, Signor Fonda, dass Sie die Polizei alarmiert haben. Wie ich sehe, sind Sie mit Ihrer Arbeit fertig, also können Sie gehen. Ich weiß, wo ich Sie finde, falls noch Fragen auftauchen.«

»Was für Fragen? Hab alles gesagt.«

Bruno verfolgte noch, wie der alte Griesgram seine Sachen packte und losmarschierte, dann wandte er sich seinem Adjutanten zu. »Nun denn, Luigi, fangen wir mit der Arbeit an.«

*

Bruno trat durch die offene Tür in sein Bureau. Nachdem er die Kommissionstasche, die Mappe mit den gesammelten Materialien und den dunkelbraunen Jutesack, in dem sich die blutbefleckte Decke befand, abgelegt hatte, hängte er sein Sakko an den Garderobenhaken. Luigi folgte ihm und lehnte den Photoapparat an die Wand.

»Es ist warm geworden«, sagte Bruno und fächelte sich mit dem Hut Kühlung zu.

»Man munkelt, dass Derartiges im Frühsommer geschehen kann.«

Bruno schmunzelte. Sein Adjutant hatte in den Monaten der Zusammenarbeit ein recht loses Mundwerk entwickelt. Luigi war der jüngste Mann im k.k. Polizeiagenteninstitut und hatte in den ersten Jahren seines Dienstes in der Regel die langweiligen Arbeiten übernehmen müssen, die er für gewöhnlich mit beispielloser Langsamkeit erledigt hatte. Aber wegen wiederholt bewiesener schneller Auffassungsgabe und einigen überzeugenden Erfolgen während kritischer Einsätze war er zum Polizeiagenten I. Klasse und zum persönlichen Adjutanten Brunos ernannt worden. Nachdem Polizeidirektor Dr. Rathkolb im letzten Winter den Entschluss gefasst hatte, substanziell in die Ausbildung der jungen Polizeiagenten zu investieren, war Bruno die Rolle zugefallen, den Männern seine in mühevoller Arbeit erworbenen theoretischen und praktischen Kenntnisse der Kriminalistik und Kriminologie nahezubringen. Auch hier hatte Luigi gezeigt, was in ihm steckte. Mittlerweile kontrollierte Bruno die Untersuchungsergebnisse seines Adjutanten nicht mehr auf deren Plausibilität, sondern nutzte sie.

Trotz seiner manchmal spitzen Zunge wusste Luigi immer, wie weit er mit seinen Frechheiten gehen konnte, nicht zuletzt, weil es Bruno durchaus verstand, seine Autorität als älterer und ranghöherer Beamter zu behaupten. Aber in der Regel gestattete Bruno Luigi viele Freiheiten und ließ es zu, dass er eigene Entscheidungen traf. Denn eines würde Bruno niemals vergessen: In dieser entsetzlichen Nacht im letzten November hatte Luigi durch blitzschnelles Handeln in letzter Sekunde sein Leben gerettet. Bruno dachte für sich, dass er eines Tages Luigi das Du anbieten würde. Irgendwann würde es so weit sein.

Vinzenz Jaunig erschien in der Tür. »Und, meine Herren, fündig geworden?«

Bruno wandte sich dem groß gewachsenen und recht korpulenten Inspector zu. »Wie du siehst, haben wir reiche Ernte eingeholt.«

Vinzenz deutete mit dem Daumen über die Schulter. »Der Oberinspector möchte einen mündlichen Bericht.«

Bruno nickte. »Gut, wir kommen.«

Bruno und Luigi folgten Vinzenz in das Bureau von Oberinspector Gellner, der mit einer auf der Nase sitzenden Lesebrille in Akten schmökerte.

»Sehr gut, Signor Zabini und Signor Bosovich sind wieder im Haus. Bitte setzen Sie sich, ich bin in einer Minute ganz Ohr.«

»Herr Oberinspector, ich möchte auf dem Stand der Dinge sein«, sagte Vinzenz.

»Natürlich, Inspector Jaunig, darum möchte ich auch gebeten haben. Nehmen Sie sich einen Stuhl.«

Während sich die drei setzten, signierte Gellner noch mehrere Dokumente und klappte schließlich den Aktenumschlag zu.

»Berichten Sie vom Leichenfund auf dem Montebello«, forderte Gellner, formte mit den Fingerspitzen ein Dreieck vor der Brust und lehnte sich mit aufmerksamer Miene zurück.

»Die Leiche ist eine junge Frau von ungefähr zwanzig Jahren. Sie wurde mit sechzehn Messerstichen und rund zwei Dutzend zum Teil nur oberflächlichen, zum Teil auch tiefen Schnitten tödlich verletzt. Sie war nur in Unterkleider gewandet, die sie während der tödlichen Attacken zweifelsfrei getragen hat. Die Stiche wurden allesamt gegen den Torso geführt, die Schnitte sind über den ganzen Körper verteilt, auch im Gesicht. Wir haben keine auffälligen Hämatome gefunden, nur welche, die vom Sturz oder vom Abwehrkampf herrühren könnten. Es wirkte also keine stumpfe Gewalt gegen sie. Der Fundort ist mit Sicherheit nicht der Tatort, der Körper wurde in eine Decke gewickelt und im Wald am Torrente Settefontane abgelegt. Trotz der milden Temperaturen hat die Verwesung gerade erst begonnen. Ich schätze, dass die Tat nicht länger als zwei Tage her sein kann.«

»Also muss Gewalteinwirkung mit Todesfolge angenommen werden?«

»Unabdingbar.«

»Fingerabdrücke?«

Bruno schaute Luigi an.

»Haben wir abgenommen. Alle zehn Finger sind in klar erkennbaren Abdrücken gesichert.«

»Sie haben bestimmt auch Photographien angefertigt.«

Wieder sprach Luigi. »Jawohl, Herr Oberinspector. Ich werde anschließend in der Dunkelkammer für die Ausarbeitung sorgen.«

»Tun Sie das, Signor Bosovich. Kennen wir die Identität des Opfers?«

»Leider nicht«, übernahm wieder Bruno. »Wir konnten keinerlei Dokumente oder persönliche Gegenstände finden. Außer natürlich der Unterkleider, die sie am Leib hatte, aber die verraten nichts über die Identität. Das Fräulein war in jedem Fall von durchschnittlicher Größe und geradem Wuchs, sie hatte fülliges brünettes Haar und südslawische Züge. Vor ihrer Tötung hat sie wohl einen recht aparten Anblick geboten.«

»Sie haben gewiss Namen und Adresse des Finders?«

»Selbstverständlich, Herr Oberinspector.«

Gellner schaute für eine Weile zum Fenster. »Üble Sache. Wer bringt zuwege, ein zwanzigjähriges Fräulein derart verwundet in den Wald zu werfen? Das ist ein sehr unangenehmer Vorfall, vor allem wegen der Nähe zum Ippodromo. Morgen beginnt das große Derby, Tausende Menschen werden auf den Montebello strömen. Die Presse wird sich auf den Leichenfund stürzen, und wie wir die lieben Gesellen der Journaille kennen, werden sie jedes grausige Detail ausschlachten. Wir müssen unbedingt verhindern, dass die Besucher des Derbys durch den Vorfall beunruhigt werden.«

»Die Vorbereitungen für die Rennen sind praktisch abgeschlossen, Herr Oberinspector«, warf Vinzenz ein. »Wir stellen eine Hundertschaft auf.«

Gellner nickte. »Ich hege keinen Zweifel, Signor Jaunig, dass Sie die Männer wie in den letzten Jahren straff führen werden, dennoch ist ein Leichenfund so knapp vor den Rennen und in relativer Nähe zur Rennbahn Grund für besondere Vorsorge.«

»Natürlich, Herr Oberinspector, ich werde die Wachposten im Wald verstärken.«

»Gut so. Also, hier meine Anordnungen: Signor Jaunig, Sie haben wieder die Verantwortung über das Derby, Ihre Autorität und Führungsstärke sind unverzichtbar. Signor Zabini, Sie leiten die Untersuchung im Tötungsdelikt. Polizeiagent Bosovich wird Ihnen wie gewöhnt tatkräftig zur Seite stehen. Ich erwarte, dass die Herren Inspectoren in laufendem Austausch bleiben und neue Erkenntnisse oder Vorkommnisse unverzüglich dem k.k. Polizeiagenteninstitut berichten.«

Das Tischtelefon des Oberinspectors klingelte.

»Noch Fragen?«

»Keine Fragen.«

»Schreiten Sie zur Tat, meine Herren«, sagte Gellner und griff zum Hörer.

Die drei erhoben sich und verließen das Bureau. Auf dem Gang sprachen sie noch miteinander, ehe Vinzenz an seinen Schreibtisch ging, Luigi den Photoapparat und die belichteten Photoplatten in die Dunkelkammer brachte und Bruno in seinem Bureau verschwand.

Bruno trat an seinen Schreibtisch und legte den Jutesack mit der blutigen Decke auf den Aktenschrank an der Wand. Er öffnete die Mappe mit den Fingerabdrücken, griff zu seiner Lupe und musterte die Tintenbilder. Lange hatte sich Gellner gegen Modernisierungen im k.k. Polizeiagenteninstitut gesträubt, aber mittlerweile hantierte er ganz selbstverständlich mit Telephonen, Telegrammen, Photographien, Fingerabdrücken und weiteren wissenschaftlichen Methoden der Ermittlungsarbeit. Nur das Schreiben mit der Schreibmaschine würde er nie akzeptieren, seine schöne und gut leserliche Handschrift war Gellners letzte Bastion der alten Polizeiwelt, wie er sie noch aus seinen jungen Jahren kannte.

Bruno setzte sich, sortierte die Materialien und versank zusehends in Grübelei. Wer hatte diesem Fräulein solches Leid angetan? Wer war zu so etwas in der Lage? In einem hatte Gellner völlig recht: üble Sache.

Freitag, 29. Mai 1908

Frühmorgens stapfte Renzullo die stetig ansteigende Straße zum Ippodromo di Montebello hoch. Die Sonne blickte eben über den Horizont und schob sich dem wolkenlosen Himmel über Triest entgegen, ein warmer und heller Tag kündigte sich an. Wie stets vor einem Derby fühlte er den Nervenkitzel und die Vorfreude. Renzullo war so früh unterwegs, damit er vor all den anderen Zuschauern auf der Rennbahn war und niemand ihm seinen Lieblingsplatz an der Westkurve streitig machen konnte. Außerdem wussten seine Kunden so, wo sie ihn finden konnten. Und sobald die Rösser zum Aufgalopp aus den Stallungen kamen, würde er sich an den prächtigen Tieren erfreuen. Er liebte alle Tiere – Hunde, Katzen oder Papageien –, aber an Pferden hing sein Herz.

Seit er 1892 als elfjähriger Bub beim allerersten Rennen auf dem Montebello atemlos dem Donnern der Hufe gelauscht und die über die Piste rasenden Sulkys gesehen hatte, war der Ippodromo das Zentrum seines Lebens. Nach der Schule hatte er sich oft bei den Stallungen herumgetrieben, und als er alt genug gewesen war, hatte er eine Stelle als Stallknecht angenommen. Aber Fabrizio Renzullo hatte bald bemerkt, dass er für harte Arbeit nicht geschaffen war, zudem hatte er unter der stets üblen Laune seines Dienstherrn gelitten. Danach hatte er sich eine Zeit lang als Getränkeverkäufer bei den Rennen verdingt, was für ein gedeihliches Auskommen nicht gereicht hatte. So häufig fanden Wettbewerbe nicht statt, als dass er von den mageren Erlösen hätte leben können. Dann hatte ihn ein älterer Buchmacher als »Putzfleck« engagiert. Der Buchmacher war während seiner Militärzeit als Offiziersdiener einem Hauptmann zugeteilt gewesen, daher hatte die dem deutschen Militärjargon entnommene Bezeichnung gerührt, mit der dieser Renzullo bedacht hatte. Und bevor dieser Mann endgültig dem Suff verfallen war, hatte Renzullo von ihm alles Wissenswerte über Pferdewetten und die Buchmacherei gelernt. Das hatte sein weiteres Leben entschieden geprägt.

Beim Eingangsportal traf er einige Bekannte und scherzte ein Weilchen herum. Später trat er an den aus weiß getünchten Längsbalken auf massiven Stehern gefertigten Zaun, der die Stehplätze von der Piste trennte. Rund zehntausend Menschen fanden entlang der Strecke Platz, während die Tribüne etwa zweitausend Zuschauer fasste. Bei den Derbys war in der Regel jeder Platz besetzt, Pferderennen erfreuten sich in der Donaumonarchie großer Beliebtheit, so auch in Triest. Noch waren die Sulkys nicht auf der Bahn, dennoch hatten sich bereits zahlreiche Besucher versammelt.

Renzullo legte seine Arme auf den Balken und fieberte dem Spektakel entgegen. Der Renntag würde mit einem Maidenrennen beginnen und danach würden vier weitere Wettbewerbe stattfinden. Bei den letzten beiden Rennen würden die stärksten Pferde an den Start gehen, auf die beim Totalisator und den Buchmachern zum Teil hohe Wetten abgeschlossen wurden.

Er entdeckte drei elegante Herren, die in seine Richtung flanierten, und schaute bewusst in die andere Richtung.

»Sieh einer an, Renzullo wagt sich auch wieder auf den Montebello. Warum bin ich nicht überrascht?«, rief Sebastiano Lippi.

Renzullo wandte sich mit verkniffenen Augen den drei in gemessener Entfernung stehenden Männern zu. »Guten Morgen, Sebastiano. Führst du heute deine Hunde auf den Platz?«

Lippi, mit einem eleganten Sommeranzug inklusive Stecktuch in der Brusttasche, Stehkragen, Krawatte, Hut und Spazierstock gekleidet, lächelte milde. Auch die beiden ihn flankierenden, nicht minder wohlausstaffierten Herren ließen sich durch die Beleidigung nicht provozieren. Lippi strich sich über den Schnurrbart. »Ach, Renzullo, wann wirst du dir endlich ein Sakko kaufen? Selbstverständlich eines, mit dem du nicht wie ein mittelloser Vagabund aussiehst, der du in Wahrheit bist.«

»So viele Gemeinheiten schon zu so früher Stunde.«

»Ich hoffe sehr, dass du keine oder nur winzige Wetten angenommen hast, mein Guter. Anderenfalls fürchte ich schwere Verluste deinerseits, weswegen du dich wieder zur Ausspeisung bei der Suppenküche anstellen musst.«

»Die Suppen der katholischen Kirche sind schmackhaft und gesund. Du solltest einmal einen Teller verkosten.«

Lippi verzog pikiert den Mund. »Gott bewahre, ich würde die olfaktorische Belästigung durch die versammelte Schar an Hungernden nicht überleben. Nein, nein, Renzullo, ich diniere lieber in Restaurants, deren Namen ein Bettler wie du sich partout nicht merken kann.«

»Hast du wieder viele Wetten abgeschlossen?«

Lippi lachte gönnerisch, seine Freunde stimmten darin ein. »Außerordentlich viele und überdurchschnittlich hohe. Ich werde am Abend ein bedeutend reicherer Mann sein als am Morgen. Das ist so sicher wie das Amen im Gebet.«

»Ich werde dich in mein Gebet einschließen, wenn du dein letztes Hemd verspielt hast.«

»Nun denn, Herr Kollege, ich wünsche dir einen erfolgreichen Tag, selbst wenn ein kleiner Gauner wie du vom Erfolg höchstens träumen kann. Gehabe dich wohl, Renzullo. Addio.«

»Addio, Sebastiano.«

Renzullo lehnte sich wieder gegen den Balken und schaute auf die Piste, verfolgte aber im Augenwinkel den Abgang der drei geschniegelten Dandys. Er konnte Lippi einfach nicht ausstehen, musste aber anerkennen, dass dieser sich in den letzten beiden Jahren zu einem der erfolgreichsten Buchmacher Triests gemausert hatte. Viele wohlhabende und prominente Pferdeliebhaber schlossen bei ihm Wetten ab. Auch musste er zugeben, dass es Lippi trefflich verstand, durch elegante Anzüge, wortgewandtes Auftreten und hemmungslose Schmeichelei die Spielsüchtigen in der Stadt zu riskanten Wetten zu verleiten. Darauf basierte ja sein Erfolg, Lippi war ein begnadeter Blender und führte seine Wettgegner an der Nase herum, ohne dass diese seine Durchtriebenheit bemerkten. Was Renzullo an Lippi aber wirklich nicht ausstehen konnte, war, dass dieser sich nicht für Pferde interessierte, sondern nur fürs Geld.

Da rollten die ersten Sulkys zum Aufgalopp auf die Piste. Immer mehr Zuschauer strömten zum Rennplatz, sammelten sich an den Balken oder besetzten die Tribüne. Renzullo liebte Maidenrennen. Es war aufregend, den jungen Pferden bei ihrem ersten Wettkampf zuzusehen. Immer wieder fiel ihm ein Tier auf, dessen Karriere er dann genau weiterverfolgte. Er hatte einige recht gut dotierte Wetten für das erste Rennen des Tages abgeschlossen und entnahm der Sakkotasche sein Wettbuch und einen Bleistift.

»Von wegen Vagabund«, murmelte Renzullo vor sich hin und blätterte das Buch auf. »So ein aufgeblasener Gockel.«

*

Die Finger hackten in die Tastatur, klappernd füllte sich die Zeile. Als der Blattrand erreicht war, schob Bruno den Wagen am linken Walzendrehknopf wieder in die Anfangsstellung. Da die Courier eine Typenbügelmaschine mit Oberaufschlag war, konnte man anders als etwa bei der Underwood nicht während des Schreibens auf dem Papier mitlesen. Erst durch das Hineindrücken des linken Walzendrehknopfes wurde die Zeilenschaltung ausgelöst, wodurch die geschriebene Zeile sichtbar wurde. Bruno verzog den Mund, er hatte sich einmal vertippt. Egal, das Wort war zu erkennen und der Satz zu lesen. Er schrieb eine weitere Zeile, schob den Wagen erneut und schloss den Absatz ab. Mit dem Walzendrehknopf drehte er das Papier von der Walze und überflog den Bericht.

Bruno hörte Schritte auf dem Gang und blickte hoch. Luigi trat in den Türstock und klopfte.

»Ah, Luigi, du bist schon da. Setz dich. Hast du etwas herausfinden können?«

Brunos Adjutant nahm auf dem Sessel vor dem Schreibtisch Platz. »Leider nein, Herr Inspector. In den umliegenden Häusern vermisst niemand eine Person, auf welche die Beschreibung passt.«

Bruno zuckte mit den Schultern. »Kennen wir ja. Wie viele Kilometer sind wir schon durch die Straßen gelaufen und haben niemanden gefunden, der uns mit einer Aussage weiterhelfen konnte. Aber natürlich dürfen wir nichts unversucht lassen.«

»Soll ich mich in einem weiteren Umkreis umhören? In Rozzol habe ich in der kurzen Zeit längst nicht alle Häuser abgeklappert.«

Bruno winkte ab. »Vorerst nicht. Ich glaube kaum, dass ein Anrainer in diesem Viertel einen Mord begeht und dann die Leiche in unmittelbarer Nachbarschaft loswerden will. Solange sich keine weiteren Verdachtsmomente ergeben, beenden wir die Straßenumfrage.«

»Sind Sie fündig geworden?«

Bruno klappte einen Aktenumschlag auf und reichte Luigi zwei Blätter. »Aktuell liegen zwei für uns relevante Vermisstenanzeigen in Triest vor. Zwei Fräuleins um die zwanzig werden gesucht. Hier die eine. Die Signorina ist neunzehn, italienischstämmig und wird seit einer Woche vermisst. Die Größe wird mit einem Meter sechzig angegeben, damit ist sie um fünf Zentimeter kleiner als unser Opfer. Die zweite Signorina ist einundzwanzig und würde von der Größe her passen, aber sie wiegt etwa achtzig Kilogramm und ist somit eindeutig schwerer. Die Identität des Opfers ist also noch ungeklärt.«

»Was ist mit Ihrem ersten Verdacht?«

»Dem werden wir jetzt nachgehen.«

»Wo fangen wir an?«

»Auf der Piazza di Cavana. Wir klappern einfach alle Freudenhäuser ab.«

»Günstig wäre, wenn wir die Photographie dabeihätten.«

Bruno wiegte mit leidender Miene den Kopf. »Das Porträt, das du gemacht hast, ist erstklassig, die Gesichtszüge sind klar zu erkennen, aber dennoch will ich das Bild nicht umherzeigen.«

»Wegen der bösen Schnittwunden?«

»Nimm das Bild mit, aber wir zeigen es nur dann, wenn wir einen konkreten Anlass haben. Ich will die jungen Damen in den Etablissements nicht in Angst und Schrecken versetzen«, sagte Bruno und schaute auf seine Uhr. »Es ist jetzt knapp vor ein Uhr. Da sollten wohl die meisten Häuser schon geöffnet haben. Wir brechen auf.«

*

Seine Schritte knarrten auf dem Parkett. Bruno öffnete die Tür, hängte seinen Hut an den Garderobenhaken und entledigte sich seines Sakkos. Hitze lastete zu dieser frühen Abendstunde über der Stadt, er war wieder schnell marschiert und die Treppe hochgeeilt.

Aus dem Nebenraum trat Emilio Pittoni und stellte sich in den Türstock zu Brunos Bureau. »Ciao, Bruno.«

Bruno wandte sich seinem Kollegen zu. »Ciao.«

»Wie ich gehört habe, arbeitest du am Fall Montebello.«

»Das ist korrekt.«

»Erste Erkenntnisse?«

»Tribel ist dabei, die Fingerabdrücke des Opfers mit unserer Sammlung abzugleichen. Das wird noch dauern.«

»Also ist die Identität unbekannt.«

»Leider ja. Luigi und ich haben den Nachmittag über in der CittàVecchia Bordelle abgeklappert.«

Emilio verschränkte die Arme und lehnte sich an den Türstock. »Lass mich raten. Ihr seid auf eine Mauer des Schweigens gestoßen.«

Bruno verzog leidend den Mund. »Man könnte es nicht treffender formulieren.«

»Was verleitet dich zu der Annahme, das Opfer könnte ein leichtes Mädchen gewesen sein?«

»Bestenfalls eine Ahnung, mehr nicht, aber ich gehe methodisch vor.«

»Hast du eine Photographie? Ich habe ein wenig Überblick im Milieu. Vielleicht kann ich dir helfen.«

»Das wäre großartig«, sagte Bruno und fasste in die Tasche seines Sakkos. »Das ist das Porträt, das Luigi angefertigt hat.«

Emilio nahm die Photographie entgegen und blickte scharf. »Das Gesicht ist mir unbekannt.«

»Schade.«

»Schreckliche Schnitte. Verdammt noch mal. Wer fügt einem derart hübschen Gesicht solche Wunden zu?«

Bruno griff nach dem Aktenumschlag, klappte ihn auf und breitete die drei Bilder auf dem Schreibtisch aus. »Das sind die weiteren Abzüge.«

Emilio stellte sich neben Bruno, legte das Porträt weg und nahm die Bilder in Augenschein. Er beugte sich über das der Totalen des Fundortes und langte nach der auf dem Tisch liegenden Lupe.

»Kannst du etwas entdecken?«, fragte Bruno.

»Hm, bis jetzt nichts Ungewöhnliches. Der Weg durch den Wald zum Torrente Settefontane ist unwegsam. Wurde der Leichnam getragen oder geschleift?«

»Wahrscheinlich beides. Bei der Straße fanden wir keine Schleifspuren, in der Nähe des Baches sehr wohl. Ich vermute, dass ein Mann zu Werke ging. Zu zweit hätten die Täter den Körper bis zum Bachufer tragen können.«

Emilio richtete sich wieder auf und legte die Lupe ab. »Wie viele Stiche?«

»Sechzehn. Und Dutzende Schnitte.«

»Der Täter war also in Raserei.«

»Das müssen wir annehmen.«

»Schmeckt mir gar nicht, dass da ein Dreckskerl ein Mädchen abschlachtet. Wenn dein Verdacht richtig ist, dass sie aus dem horizontalen Gewerbe war, wird sich das schnell herumsprechen. Unruhe im Milieu können wir gar nicht gebrauchen.«

»Du sagst es.«

Emilio warf Bruno einen seiner legendären stechenden Blicke zu. Der Mann mit den kantigen Gesichtszügen hatte etwas von einem Greifvogel. »Bruno, wenn du etwas von mir brauchst oder ich dir bei diesem Fall helfen kann, wende dich an mich. Ich habe ein ungutes Gefühl dabei. Die Art des Leichenfundes erinnert mich an unseren Fall in Ragusa.«

Bruno nickte mit bitterer Miene. Emilio und er hatten vor einigen Jahren einen Serienmörder gejagt, der in Ragusa, Spalato und anderen dalmatinischen Hafenstädten auf brutale Weise mehrere Prostituierte erschlagen und die Körper in den Wald geworfen hatte. Die Ermittlungen hatten die beiden Triester Inspectoren, die den Kollegen in Dalmatien Amtshilfe geleistet hatten, bis aufs Äußerste gefordert. »Ja, diese Erinnerung ist mir auch gekommen.«

Emilio klopfte Bruno aufmunternd auf den Oberarm. »Löse den Fall, Bruno. Das Schwein muss büßen.«

*

Emilio stand im Schatten eines Hauseinganges und wartete in der Dunkelheit. Er hatte Lust, eine Zigarette zu rauchen, aber er wollte seinen Standort nicht verraten. Der Napoletano ließ sich viel Zeit. Zu viel, wie Emilio dachte. Vielleicht musste er das Verhältnis zum Napoletano wieder etwas aufmöbeln. Der Mann war in den letzten Monaten um einen Tick zu selbstverständlich von Emilios Wohlwollen ausgegangen.

Nicht heute Abend, beschloss Emilio, er würde wie immer distanziert und höflich sein.

Da stapfte ein Mann die dunkle Gasse entlang, seinen Hut hatte er tief in die Stirn gezogen. Emilio erkannte die Bewegungen wieder. In seinem Beruf war es unerlässlich, über eine gute Beobachtungsgabe zu verfügen. Emilio hatte dem Napoletano eine verschlüsselte Nachricht übermittelt und zu einem Treffen gerufen. Der Mann schaute sich um und tauchte dann in den Schatten des Hauseinganges.

»Buona sera, SignorGuiscardi.«

»Buona sera, Signor Pittoni.«

»Wie ist das werte Befinden?«

»Bis jetzt noch gut. Warum wollen Sie mich sprechen?«

»Es gibt ein Problem.«

»Ein Problem für mich?«

»Ihre Probleme kenne ich nicht.«

»Also haben Sie ein Problem.«

»Ich löse meine Probleme selbst, da brauche ich Ihre Hilfe nicht, SignorGuiscardi.«

»Wer hat jetzt ein Problem?«

»Vielleicht die Stadt. Habe ein ungutes Gefühl.«

»Was liegt an?«

»Haben Sie die Zeitung gelesen?«

»Ich lese die Zeitung immer sehr genau. Ein Mann in meiner Position muss das tun.«

»Dann wissen Sie vom Fund auf dem Montebello.«

»Davon weiß ich. Sollte mich der Fall beunruhigen?«

»Vermissen Sie eines Ihrer Mädchen?«

»Nein.«

»Was ist mit der Serbin, die ich im letzten Oktober für Sie in die Stadt geschleust habe?«

»Letzten Oktober? Hm, wenn ich mich recht erinnere, waren es zwei oder drei Serbinnen und zwei Bulgarinnen. Welche meinen Sie?«

»Milka, die Brünette mit dem Muttermal am Hals.«

»Ach, die meinen Sie. Erstaunlich, dass Sie sich trotz der Monate noch an solche Details erinnern können.«

»Mein Gedächtnis ist mein Kapital. Vermissen Sie die Kleine?«

»Nein.«

»Sind Sie sich sicher?«

»Aber ja.«

»Die Leiche auf dem Montebello ist Milka, Signor Guiscardi.«

»Madonna, das arme Ding.«

»Hat Milka nicht mehr für Sie gearbeitet?«

»So ist es.«

Für eine Weile lag Schweigen zwischen den nebeneinander im Schatten stehenden Männern.

»Signor Guiscardi?«

»Ja?«

»Höre ich einen Namen?«

»Der Milanese.«

»Wann?«

»Ich habe die Kleine im März verschenkt. Nein, es war Anfang April.«

»Sie machen kostbare Geschenke.«

»Ispettore, ich bin noch nicht lange in der Stadt, der Milanese schon. Manchmal ist es besser, sich rechtzeitig Freunde zu machen.«

»Ihr Geschäft hat sich doch prächtig entwickelt, Sie haben den Milanese längst übertroffen. Und viele andere auch.«

»Manche mögen es nicht, dass ich meine Geschäfte betreibe.«

»Sehe ich ein. Die Konkurrenz schläft nicht.«

»Szigeti und seine Leute geben keinen Zentimeter preis. Das ist harte Arbeit.«

»Mir waren die Ungarn immer unsympathisch.«

»Wir Italiener müssen im Ernstfall zusammenstehen.«

Wieder schwiegen die Männer, bis Emilio in die Sakkotasche griff, sein Etui entnahm und es aufklappte.

»Zigarette, SignorGuiscardi?«

»Gerne.«

Emilio steckte sich auch eine an und entflammte ein Streichholz. Die beiden sogen an ihren Zigaretten.

»Und was geschieht jetzt?«, fragte der Napoletano.

»Das Übliche.«

»Was soll ich tun?«

»Halten Sie den Kopf unten.«

*

Bruno öffnete leise die Tür und betrat das Schlafzimmer. Nur die Stehlampe beleuchtete den Raum. Gerwin war längst im Bett und Grete hatte sich vor rund einer halben Stunde zurückgezogen. In der Wohnung lag beschauliche Stille. Bruno sah, dass Luise im Nachthemd vor dem geöffneten Kleiderkasten stand. Er selbst war nach der Abendtoilette mit einem Schlafanzug bekleidet. Barfuß trat er an Luise heran, umfasste ihre Hüften und schmiegte sich an ihren Rücken. Die Rundung ihres Gesäßes drückte wohltuend gegen seine Leibesmitte, er tauchte mit der Nase in ihr Haar und küsste sie am Hals.

»Habe ich dir heute schon gesagt, dass ich ganz verrückt nach dir bin?«, fragte er.

Luise genoss seine Nähe und lächelte. »Ich glaube mich zu erinnern, dass du vor, während und nach dem Frühstück Derartiges formuliert hast, mein Lieber.«

»Meine Güte, wie kann ich nur so nachlässig sein? Das ist bei Weitem nicht genug.«

Luise lachte und legte ihren Kopf in den Nacken. »Du riechst gut.«

»Weil ich vor dem Zubettgehen stets gewissenhaft meine Zähne scheuere.«

»Ich ahne, dass deine neuzeitlichen Hygieneanstrengungen mindestens einen Dentisten in den Ruin treiben werden«, sagte Luise und löste sich aus seiner Umarmung.

»Wolltest du die Kleidung für den morgigen Tag auswählen?«

»Ja, aber ich vertage die Entscheidung. Ich will mir jetzt nicht den Kopf zerbrechen, ich bin müde.«

»Das ist eine weise Entscheidung, ich bin auch sehr müde.«

»Als du gekommen bist, warst du anfangs geistig abwesend.«

»Ich bitte um Entschuldigung.«

»Dich beschäftigen wieder böse Dinge, wie ich annehme.«

»Leider ja.«

»Ich habe in der Abendausgabe von einer getöteten jungen Frau auf dem Montebello gelesen. Ist das dein Fall?«

»Leider ja.«

Für eine Weile standen die beiden schweigend einander gegenüber.

»Reich mir deine Hände«, sagte Luise.

Bruno tat, wie ihm geheißen,

»Und sprich mir nach.«

Er lächelte. »Wieder dein Zauberspruch?«

»Ich glaube, du kannst ihn heute Abend gut gebrauchen.«

Bruno nickte. »Wahrscheinlich hast du recht.«

»Gut. Also sprich mir nach: Die Sonne ist hell, die Luft ist klar, das Meer ist weit und das Leben ist schön.«

»Die Sonne ist hell, die Luft ist klar, das Meer ist weit und das Leben ist schön«, echote Bruno.

Luise schaute ihn lächelnd an. »Sind alle Gespenster fort?«

Bruno wiegte hintergründig den Kopf. »Noch nicht ganz. Du musst wohl den zweiten Teil der Beschwörung folgen lassen.«

»Bist du aufnahmebereit?«

»Definitiv.«

»Und dieser Kuss sorgt dafür, dass das so bleibt«, beschwor Luise und presste für eine wundervolle Weile ihre Lippen auf die seinen. Sie küssten sich innig. Schließlich trat sie einen Schritt zurück, hielt aber seine Hände. »Ist deine Stimmung nun gebessert?«

»Sie ist sehr viel besser. Ich wusste immer, dass du eine zauberkundige Fee bist. Vielen Dank für diese Heilung des Gemüts.«

Luise legte ihre Hand auf seine Wange. »Komm zu Bett.«

Er knipste die Lampe aus, sie schlüpften unter die Decke, kuschelten sich zusammen und versanken bald danach in einem tiefen Schlaf.

Samstag, 30. Mai 1908

»Kommen Sie, meine Damen und Herren, machen Sie Ihr Glück! Hier zeigt sich, ob Sie ein scharfes Auge haben oder ob Sie dringend eine Brille benötigen. Kommen Sie näher, machen Sie Ihren Einsatz. Drei Becher, zwei sind leer, in einem ist die Erbse. Setzen Sie auf die Erbse. Gewinnen Sie, erhalten Sie Ihren Einsatz verdoppelt zurück, verlieren Sie, können Sie erneut setzen. Wer spielt mit? Wer hat genug Mut? Wer will Spaß? Setzen Sie zehn und gewinnen Sie zwanzig! Kommen Sie!«

Renzullo sah, wie sich eine Menschentraube rund um den Hütchenspieler bildete. Der Spieler hatte eine Holzsteige vor sich platziert, darauf lag ein Pappkoffer und über diesen war ein grünes Tuch gebreitet. Mit geschickten Händen schob der Mann drei gestürzte Becher vor sich hin und her. Renzullo schaute auf seine Taschenuhr. Bis zum ersten Rennen des heutigen Tages blieb noch Zeit, er war wieder früh losmarschiert. Ein Lächeln legte sich auf seine Lippen und er mischte sich unter die rund dreißig Zuseher.

»Wer wagt das erste Spiel des heutigen Tages? Wer ist der glückliche Gewinner? Wer hat das schnellste Auge?«

Renzullo blickte sich um. Es war keine Polizei zu sehen, die normalerweise illegale Hütchenspieler sofort vertrieb und bei wiederholtem Aufgriff in Gewahrsam nahm. Gerade bei großen Anlässen wie einem Derby sammelten sich neben den Zuschauern auch manche Glücksritter oder Taschendiebe rund um den Ippodromo. Auch dieser Hütchenspieler hatte seinen Stand ohne Genehmigung aufgestellt, denn hier auf dem Weg zum Rennplatz befanden sich normalerweise keine offiziellen Verkaufs- oder Unterhaltungsstände. Aber er war auf das plötzliche Erscheinen der Polizei vorbereitet, denn mit einem Griff konnte er Becher und Tuch im Koffer verschwinden lassen und das Weite suchen. Erfolgreiche Hütchenspieler mussten über schnelle Beine verfügen.

»Mein Herr, Sie sehen aus, als ob Sie ein gutes Auge hätten«, sagte der Hütchenspieler und zeigte auf Renzullo.

»Ich? Wieso glauben Sie, dass ich ein gutes Auge habe?«

»Ich bin mir sicher, dass es so ist. Aber ist es gut genug, um in diesem Spiel zu bestehen?«

Renzullo lächelte milde. »Na ja, so schläfrig, wie Sie die Becher herumschieben, kann jedes Kind die Erbse finden.«

»Mein Herr, Sie fordern mich heraus?«

»Nein, ich will Sie nicht um Ihr Geld bringen.«

»Sie sind sehr tapfer, mein Herr, ich bewundere Sie. Machen Sie Ihren Einsatz. Wir beginnen bei zehn Kronen. Machen Sie den Einsatz!«

Renzullo wiegte den Kopf. Die anderen Zuschauer gafften ihn neugierig an. »Verdammt, ich mache es.«

Unter Applaus trat Renzullo vor den Spieler, zog eine Zehn-Kronen-Banknote aus seinem Portemonnaie und hob sie hoch. »Hier meine zehn Kronen. Ich wette auf Sieg.«

Die Zuschauer gruppierten sich immer enger um den Tisch. Getuschel erhob sich, manche meinten, Renzullo würde die Erbse finden, andere glaubten nicht daran.

»Meine sehr geehrten Damen und Herren, hier haben wir einen mutigen jungen Mann, der sein Geschick auf die Probe stellt. Kommen Sie näher, schauen Sie zu. Es wird ernst. Also los. Mein Herr, sind Sie bereit für das Spiel?«

Renzullo legte den Zehner auf den Koffer, zog seine Mütze vom Kopf und starrte gebannt auf die grüne Spielfläche. »Ich bin bereit.«

»Die Erbse ist in der Mitte. Sehen Sie es?«

»Jawohl.«

»Es geht los«, sagte der Spieler und begann die drei Hütchen geschickt über das Tuch zu schieben, dabei redete er in einem Strom auf seinen Gegenspieler und auf das Publikum ein. »So, eine Bewegung noch. Halt. Das ist es. Von Ihnen aus gesehen links, rechts oder in der Mitte? Mein Herr, treffen Sie Ihre Entscheidung.«

Renzullo streckte seinen Rücken durch und schaute siegessicher lächelnd in die Runde. »Ich sage ganz eindeutig links. Die Erbse ist links.«

»Der Herr hat seine Wahl getroffen, er sagt links. Sie alle sind meine Zeugen. Sie bleiben dabei? Die Erbse ist links?«

»Ich bleibe dabei. Links.«

»Ich hebe den linken Becher«, rief der Spieler und hob unter Gelächter des Publikums das Hütchen. »Sie haben verloren, mein Herr. Die Erbse ist nicht links. Sie ist auch nicht rechts, sie ist in der Mitte. Hier ist die Erbse.«

Renzullo boxte in die Luft, ein Mann klopfte ihm tröstend auf die Schulter. Die Stimmung war gut.

»Wer wagt auch ein Spiel?«

»Das lasse ich nicht auf mir sitzen. Ich habe Sie genau beobachtet und weiß jetzt, wie Sie spielen. Ich setze noch einmal zehn Kronen«, rief Renzullo laut und legte einen weiteren Zehner auf die Spielfläche.

Mit gespannten Mienen begannen der Hütchenspieler und Renzullo das Spiel. Die Zuschauer reckten die Hälse.

»Mein Herr, treffen Sie Ihre Wahl. Von Ihnen aus gesehen links, mittig oder rechts?«

»Links.«

»Sind Sie sich sicher?«

»Ja, links ist die Erbse.«

»Mein Herr, die Erbse ist tatsächlich links. Sie haben gewonnen.«

Wieder applaudierten die Leute. Der Hütchenspieler reichte Renzullo einen Zwanziger, den dieser mitsamt seinem Einsatz hochhielt und lächelnd präsentierte.

»Mein Herr, erlauben Sie, dass ich meine zwanzig Kronen zurückgewinne?«

»Was wollen Sie?«

»Ich fordere Sie zu einem dritten Spiel auf. Sie setzen den Zwanziger. Wenn Sie gewinnen, erhalten Sie vierzig Kronen, wenn Sie verlieren, kriege ich meine zwanzig zurück. Auf ein Spiel?«

Renzullo knallte siegessicher den Zwanziger auf den Pappkoffer. »Legen wir los.«

Diesmal redete der Hütchenspieler nicht ohne Unterbrechung, gebannt schauten die beiden auf die sich schnell bewegenden Becher.

»Setzen Sie auf die Erbse, mein Herr. Links, mittig oder rechts?«

»Wieder links?«

»Wieder links?«

»Ja, eindeutig. Ich habe es genau gesehen. Links.«

Der Hütchenspieler hob den linken Becher. »Sie haben verloren. Die Erbse ist rechts.«

Unter Gelächter in der Menge reichte Renzullo dem Spieler den zuvor gewonnenen Zwanziger zurück.

»Dreißig Kronen«, sagte Renzullo laut und langte nach seiner Börse. »Ich setze dreißig Kronen auf Sieg. Wagen Sie die Gegenwette?«

Der Spieler schien zu zögern, im Falle einer Niederlage müsste er sechzig Kronen bezahlen. Ein Hauch von Nervosität huschte über sein Gesicht.

»Na los, ich setze dreißig. Ein Spiel noch, dann bin ich fort. Einer von uns beiden gewinnt. Hier ist mein Einsatz.«

Der Spieler kniff die Augen zusammen. »Gut, ich nehme die Herausforderung an. Ein weiteres Spiel, dreißig Kronen ist der Einsatz.«

Sowohl die Kontrahenten als auch das Publikum starrten gebannt auf die Becher.

»Das vierte Spiel, mein Herr, der Einsatz beträgt dreißig Kronen. Von Ihnen aus gesehen links, mittig oder rechts?«

»Mitte.«

Sofort wurde im Publikum die Entscheidung diskutiert.

»Sie sagen diesmal Mitte.«

»Ja, ich bin mir felsenfest sicher. Unter dem mittleren Becher ist die Erbse.«

Der Spieler wandte sich wieder an das Publikum und legte seine Hand auf den mittleren Becher. »Meine Damen und Herren, Sie sind meine Zeugen. Der Herr sagt Mitte. Und er hat leider … recht. Die Erbse ist in der Mitte. Der Herr hat gewonnen!«

Renzullo riss jubelnd die Arme hoch, ließ sich feiern und musste manche Hände schütteln. Dann trat er an den Spieler heran, packte seinen Einsatz in das Portemonnaie zurück und streckte die Hand aus. »Ich kriege sechzig Kronen. Bar auf die Hand.«

Zerknirscht langte der Spieler in seine Sakkotasche und reichte Renzullo den Betrag. »Hier, wie vereinbart, Ihr Gewinn.«

Die Stimmung im Publikum war ausgelassen, immer mehr vorbeikommende Leute hielten an und wollten beim Spiel zusehen. Renzullo steckte seine Börse ein, schüttelte noch ein paar Hände und schob sich lächelnd durch das Spalier. Er hörte noch, wie der Spieler seinen Vortrag wieder eröffnete und Einsätze forderte. Irgendjemand schien sich auf ein Spiel eingelassen zu haben.

Renzullo marschierte zügig los, er wollte noch rechtzeitig vor dem Rennen an der Bahn sein. Sein Kumpel Gaetano aus Parenzo würde den Leuten schon die Geldscheine aus den Taschen ziehen, er war ein Meister des Hütchenspiels. Das hatte er von seinem Onkel gelernt, der jahrzehntelang durch die Hafenstädte der Adria gezogen war, um den Menschen die Börsen zu erleichtern. Gaetano arbeitete nie in seiner Heimatstadt, daher war er viel unterwegs. Sie hatten sich während der Militärzeit angefreundet. Zwei weitere Helfer beschäftigte Gaetano, einer stand Schmiere und warnte ihn vor der sich nähernden Polizei. Der andere befand sich im Publikum, applaudierte, jubelte oder schimpfte, je nachdem, wie die Stimmung war. Und sollte niemand bieten wollen, würde er setzen, fünfzig Kronen verdienen und danach die Wache übernehmen. Das war auch Renzullos Bezahlung für die Rolle als erster, natürlich siegreicher Gegner des Hütchenspielers. Zehn Kronen verlor er in der ersten Runde, in der zweiten und dritten wurde ein Zwanziger hin und her geschoben, und in der vierten Runde erhielt er seinen Zehner aus der ersten Runde zurück mitsamt dem Fünfziger als Lohn.

Wenn die Polizei Gaetano heute nicht schnappte, würden sie abends zu viert die eine oder andere Flasche Wein entkorken.

*

Die überdachte Tribüne füllte sich zügig, ebenso die Stehplätze an der Bahn. Sebastiano Lippi reckte seinen Hals. Gleich der erste Bewerb des zweiten Renntages war das Hauptrennen des Derbys, in dem die stärksten Pferde der großen Rennställe an den Start gingen. Für Lippi stand viel auf dem Spiel. Wenn sich alles so entwickelte, wie er hoffte, würde das Derby einen überdurchschnittlich hohen Profit abwerfen. Der erste Tag war erwartungsgemäß verlaufen, einige Wetten hatten seine Kunden gewonnen, also hatte er bezahlen müssen, andere Kunden hatten verloren, sodass er die Einsätze einstreifen hatte können. Alles in allem hatte er solide Einnahmen gemacht, aber keine berauschenden. Das könnte sich beim folgenden Rennen ändern.

Wo war der Mann? In Kürze würde das Rennen starten. Sollte Herr Giller etwa das Rennen des Jahres verpassen? Lippis Nervosität stieg, er marschierte die Tribüne auf und ab.

Da waren Atilla Giller und seine Frau! Endlich.

Der vornehme Rennstallbesitzer trat auf die Tribüne und war fast schlagartig von zahlreichen Bekannten umgeben, die seine Frau und ihn hofierten. Lippi mischte sich unter die Schar. Giller scherzte mit einigen distinguierten Herren, die sich in freudiger Erwartung packender Rennen auf der Tribüne versammelt hatten. Mit einem Seitenblick entdeckte er Lippi und nickte ihm einerseits grüßend, andererseits in eine Richtung weisend zu.

Seine Frau mischte sich unter eine Gruppe Damen, die sich köstlich zu amüsieren schienen und denen ein livrierter Kellner eisgekühlte Limonade und Schaumwein reichte. Attila Giller entschuldigte sich bei seiner Frau, schüttelte noch ein paar dargereichte Hände und stellte sich dann auf seinen angestammten Platz auf der Tribüne.

Darauf hatte Lippi gewartet. Wie zufällig, seinen feschen Hut lässig auf dem Kopf und den Stock spielerisch haltend, trat er neben den Rennstallbesitzer.

»Guten Morgen, Herr Giller«, grüßte Lippi auf Deutsch.

»Guten Morgen, Herr Lippi. Wie ist das werte Befinden?«

»Angesichts des herrlichen Wetters und der bevorstehenden Rennen ist es exaltiert. Der Mai ist schön.«

Giller schaute auf seine Taschenuhr. »Noch fünf Minuten bis zum Start des Hauptrennens.«

Lippi blickte sich unauffällig um. »Darf ich mich erdreisten, mich nach dem Befinden Ihres Prachtpferds Mercur zu erkundigen?«

Giller warf Lippi ein schiefes Lächeln zu. »Herr Lippi, welch drängende Frage. Sie wollen gar nicht wissen, wie es meiner Frau und mir ergeht?«

Lippi biss sich auf die Lippen. »Nun, Herr Giller, wie Sie sagten, das Rennen startet sehr bald. Ich setze gewisse Hoffnungen, einen für uns alle denkwürdigen Tag zu erleben.«

»Haben Sie etwa auf Mercur gesetzt?«

»Ich setze nicht, mein Berufsethos als Buchmacher erlaubt derartige Praktiken nicht.«

»Also haben Sie hoch gesetzt«, flüsterte Giller.

»Herr Giller«, flüsterte Lippi, »seit ich vor einem Monat Mercur auf Ihrem Gestüt gesehen haben, erwarte ich dieses Rennen sehnlichst.«

»Er hat sich prächtig entwickelt, da haben Sie recht.«

»Ein Jahrhundertpferd.«

»Haben Sie wie besprochen Gerüchte in Umlauf gesetzt?«

»Sehr forciert, Herr Giller. Ich habe mich von gewissen Bekannten geradezu bedrängen lassen, ehe ich unter Schwur absoluter Geheimhaltung Hector als den klaren Favoriten für das Rennen preisgegeben habe. Meine Taktik hat Früchte getragen, ich habe hohe Wetten auf Sieg von Hector aus dem Gestüt Calaprice entgegengenommen. Ein wahrhaft würdiger Favorit.«

»Oh, Hector ist ein großartiges Tier. Ich habe die Wettquoten im Blick gehalten, sie haben sich gut entwickelt. Mercur wird als Außenseiter gehandelt.«

»Allerdings, aber wir beide wissen, dass Mercur zu favorisieren ist. Der Hufschlag auf der Bahn Ihres Gestüts schien mir unbezwingbar. Sofern natürlich Mercur in den letzten Wochen sein Niveau gehalten hat.«

Giller lächelte souverän. »Mir scheint, Herr Lippi, Sie bangen vor dem Wettlauf ein wenig um Ihre Investitionen.«

Lippi zog die Schultern hoch. »Wäre es mir zu verdenken?«

Giller sah, dass sich seine Frau von ihren Bekannten löste und auf ihn zukam. Er nickte Lippi zum Abschied zu. »Bei einem Rennen kann alles passieren, das ist ja das Schöne daran. Sieg oder Niederlage liegen immer knapp beieinander. Aber nicht an diesem prächtigen Maitag, mein Herr. Mercur hat sein Niveau nicht nur gehalten, es hat sich in den letzten Wochen sogar erhöht.«

Ein breites Grinsen legte sich auf Lippis Lippen. Er lüpfte den Hut zum Gruß, trat einen Schritt zurück, verbeugte sich galant vor der sich nähernden Gemahlin des Rennstallbesitzers und verschwand von der Tribüne.

Dann donnerten die Pferde los, von den Fahrern vorangepeitscht. Hector ging nach einer Runde klar in Führung, nur gefolgt von einem Außenseiter, einem prächtigen Fuchs, der sich bewegte, wie es sein göttlicher Name nahelegte. Lippi stand an der Bahn und vergaß zu atmen. Das Feld holte ein wenig auf, die beiden führenden Gespanne gingen die zweite Runde etwas gemächlicher an. Doch dann riss Lippi die Augen weit auf. Nachdem der Fahrer dreimal mit der Peitsche geknallt hatte, intensivierte Mercur scheinbar mühelos den Schritt, trat zum Überholmanöver an und ließ Hector beim Zieleinlauf um eine ganze Länge hinter sich. Was für ein gewaltiger Antritt!

Tausende Jubelschreie hallten vom Montebello hinab über die Dächer Triests.

*

Als die Sulkys nach dem Aufgalopp an den Start gegangen waren, war Renzullo der Fuchs aufgefallen. Er kannte den Fahrer, einen sehr erfahrenen Mann aus dem Gestüt Giller, der wirklich eine gute Hand für seine Rösser hatte. Den Hengst Mercur hatte er dagegen hier und heute zum ersten Mal zu Gesicht bekommen. Für Renzullo kam es nicht überraschend, dass Mercur der Einzige war, der vom klaren Favoriten Hector nicht innerhalb einer Runde abgehängt worden war, aber als dann im Finale der Fuchs den übermächtig scheinenden Rappen Hector förmlich deklassierte, war Renzullo in Begeisterung ausgebrochen. Der gesamte Ippodromo hatte gebebt.

Das zweite Rennen war auch faszinierend gewesen, aber nicht so überraschend, geradezu berauschend wie das erste.

Jetzt, in der Mittagspause, schlenderten die Menschen hin und her, tranken Bier oder Limonade, stellten sich beim Kiosk oder den Händlern an oder verrichteten ihr Geschäft.

Renzullo hatte durch Mercurs Sieg gut verdient, denn er hatte Wetten auf Sieg Hector entgegengenommen, in der Ahnung, dass das für ihn kein gutes Geschäft werden würde. So hatte der Renntag mit einer sehr erfreulichen Überraschung begonnen. Wenn das so weiterging, würde das Frühlingsderby für ihn einträglich enden.

Drei Rennen standen am Nachmittag noch auf dem Programm. Vor allem vom letzten erwartete er sich viel, denn er kannte die Pferde sehr gut.

Renzullo stutzte.

Da vorn lehnten drei junge Männer am Zaun, zu ihren Füßen standen ein paar Biergläser, einer hielt eine Flasche Cognac in der Hand. Die Kerle lachten und johlten. Renzullos Augen verengten sich. Der Mann links trug seine Geldbörse in der linken Sakkotasche, das war zu sehen, weil er sie nicht ordentlich eingesteckt hatte.

Der Teufel ritt Renzullo. Er setzte ein zutiefst verzweifeltes Gesicht auf, schleppte sich mit schweren Beinen auf die drei Männer zu und stellte sich links neben sie.

»Na, Kameraden, habt ihr heute schon gewonnen?«

»He, Kerl, was willst du?«

»Ihr habt bestimmt gewonnen. Habe ich recht? So wie ihr feiert, habt ihr einen Batzen verdient.«

Die drei lachten. »Ja, das haben wir. Deswegen gibt es Bier und Schnaps.«

»Ihr Glückspilze. Das Leben ist ungerecht.«

»Hast du etwa verloren?«

Renzullo schlug mit der Faust auf den Balken. »Ja, zwei Mal, verdammt noch mal.«

Die drei lachten über sein Unglück. Renzullo erzählte wortreich, wie er sein letztes Geld auf Sieg gesetzt und dann alles verloren hatte.

Einer der Männer reichte Renzullo die Cognacflasche. »Trink, Kamerad, damit du nicht ganz leer ausgehst.«

»Ihr seid wahre Freunde, die einen Pechvogel nicht verdursten lassen.« Renzullo nahm einen Schluck. Der Cognac brannte in der Kehle und wärmte den Bauch. Er reichte mit links die Flasche an den in der Mitte stehenden Mann zurück und zog mit der rechten Hand die Brieftasche aus dem Sakko seines Nachbarn. »Das tut gut. Vielen Dank. Ich wünsche euch noch einen erfolgreichen Tag.«

Gemächlich entfernte sich Renzullo, schaute kurz über seine Schulter und griff dann in seine Sakkotasche. Das Portemonnaie enthielt einen Ausweis, ein paar Notizzettel, eine Handvoll Münzen und fünfundsiebzig Kronen in Scheinen. Zwei Zehner ließ er in der Börse, die anderen Banknoten verschwanden in seiner Hosentasche. Wenig später stand er beim Fundbureau. Der Mann am Schalter wandte sich Renzullo zu.

»Guten Tag. Ich habe eine Geldbörse gefunden.«

»Guten Tag. Lassen Sie sehen.«

»Da ist ein Ausweis drinnen. Der Besitzer wird ihn wohl vermissen.«

Der Mann am Schalter inspizierte das Portemonnaie, entdeckte die Münzen und die zwei Zehner. Er nickte Renzullo zu. »Vielen Dank, mein Herr, Sie sind ein ehrlicher Finder.«

Renzullo winkte lässig ab. »Ach, man tut, was man kann.«

*

Die Kutsche fuhr los. Der Abend war längst angebrochen, die Menschenmassen, die am heutigen Tag den Ippodromo belagert hatten, bewegten sich nach und nach wieder in die Stadt. Zahlreiche Fuhrwerke rollten die Straßen hinab, manche auch hinauf in die Umlandgemeinde auf dem Karstplateau. Attila Giller saß müde, zufrieden und ein bisschen angetrunken neben seiner Ehefrau. Vor der Abfahrt hatte er sich mit einer kleinen Dosis Cocain für den Tag auf der Rennbahn gestärkt. Vor einem Jahr hatte er auf Empfehlung seines Arztes einen hartnäckigen Heuschnupfen mit diesem hervorragenden Medikament besiegt, seit damals schwor er auf die belebende Wirkung dieser Arznei. Im Laufe des Tages hatte die Wirkung nachgelassen, weswegen er abends eine weitere Dosis zu sich nehmen würde. Er wandte sich seiner Ehefrau zu.

»Und, geliebte Luzie, hast du dich heute gut unterhalten?«

»Es ging. Das Wetter war passabel, sehr sonnig, aber nicht zu heiß.«

»Ein sehr schöner Tag. Und ein sehr erfolgreicher noch dazu.«

»Dein Pferd ist in aller Munde.«

»Man muss viele Jahre, manchmal Jahrzehnte arbeiten, um ein derartiges Pferd aufzubauen. Meine Strategie, die sich schon früh zeigenden Fähigkeiten Mercurs geheim zu halten, hat sich heute mehr als bezahlt gemacht.«

»Hast du viel Geld verdient?«

»Ja, meine Teure. Und ich konnte ein paar sehr interessante Geschäftsbeziehungen anbahnen. Herr Reisenauer hat sich förmlich darum gerissen, unserem Gestüt einen Besuch abstatten zu dürfen. Er war sehr interessiert. Dieser Tag war ein Triumph auf allen Längen.«

»Reisenauer? Ist das der Mann aus Niederösterreich?«