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Inspektor Wolfgang Hoffmann wird mit einem scheinbar einfachen Fall betraut: Klara Zeidler meldet ihren Mann Viktor als vermisst. Als die Spurensicherung Zeidlers Blut in der Wohnung seines toten Freundes findet, nimmt der Fall Fahrt auf. Für den Inspektor ist klar: Zeidler steckt in großen Schwierigkeiten. Während die Polizei ihre Bemühungen intensiviert, macht sich auch Klara auf die Suche. Und auch Zeidlers ehemalige Motorradclique heftet sich an dessen Fersen. Denn sie haben noch eine Rechnung mit ihm offen.
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Seitenzahl: 342
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Günter Neuwirth
Zeidlers Gewissen
Kriminalroman
Eisernes Schweigen Chefinspektor Wolfgang Hoffmann kehrt nach erfolgreicher Krebstherapie zur Arbeit zurück. Die Friseurmeisterin Klara Zeidler gibt eine Vermisstenanzeige auf und will mit der Kripo sprechen. Hoffmann nimmt sich des vermeintlich leichten Falls an. Doch bereits nach kurzer Recherche vermutet er, dass Viktor Zeidler in gewaltigen Schwierigkeiten steckt. Als Hoffmann die Leiche eines Freundes von Viktor findet, stellen die Ermittler am Tatort auch Blutspuren des Vermissten sicher. Zeidler scheint schwer verletzt. Der Inspektor intensiviert die Suche nach dem nun Mordverdächtigen. Er erfährt, dass auch noch andere Interesse an Zeidlers Aufenthaltsort haben: Viktors Motorradkumpel scheinen noch eine offene Rechnung mit ihm zu haben und sind ihm auf den Fersen. Und welche Rolle spielt Klara in diesem dunklen Spiel?
Günter Neuwirth, 1966 geboren, wuchs in Wien auf. Nach einer Ausbildung zum Ingenieur und dem Studium der Philosophie und Germanistik zog es ihn für mehrere Jahre nach Graz. Er ist Autodidakt am Piano und trat in jungen Jahren in Wiener Jazzclubs auf. Eine Schaffensphase führte ihn als Solokabarettist auf zahlreiche Kleinkunstbühnen. Der Autor verdient seine Brötchen als Informationsarchitekt an der TU Graz und wohnt am Waldrand der steirischen Koralpe. Seit 2008 publiziert er Romane, vornehmlich im Bereich Krimi. www.guenterneuwirth.at
Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:
Die Frau im roten Mantel (2017)
Totentrank (2017)
Paulis Pub (E-Book Only, 2016)
Fichtes Telefon (E-Book Only, 2016)
Hoffmanns Erwachen (E-Book Only, 2016)
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© 2018 – Gmeiner-Verlag GmbH
Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0
Alle Rechte vorbehalten
1. Auflage 2018
Lektorat: Sven Lang
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © Christian Thür/photocase.de
ISBN 978-3-8392-5708-1
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Vor ihm ein verrückter Tanz roter Lichtpunkte. Wie sollte er sich daran orientieren? Verdammt. Er konnte trotz aller Anstrengung nicht die Geschwindigkeit vom Tachometer ablesen. War er zu schnell? Zu langsam? Hatte er jemals solche Angst gehabt? Wohin fuhr er überhaupt? Zu viele Fragen. Er musste sich auf das Wesentliche konzentrieren.
Nicht die Kontrolle verlieren. Nicht sterben! Am Leben bleiben!
Aber wofür? Wozu noch leben?
Verfluchte Fragen.
Er ohrfeigte sich und schüttelte den Kopf. Die Lichter wurden schärfer, der Verlauf der Fahrbahn wieder sichtbar. Links zog ein Wagen an ihm vorbei. Also war er nicht der Schnellste auf der Autobahn. Tief ein- und ausatmen. Ganz langsam. Wieder ein Kontrollblick auf den Tachometer. 120 Kilometer pro Stunde. Gut. Er hielt sogar die Spur. Zuvor hatte irgendjemand wild gehupt. Er hatte die Oberhand zurückgewonnen, der Schwächeanfall war vorbei.
Der Schmerz aber nicht. Im Gegenteil.
Je klarer sein Bewusstsein wieder wurde, desto schlimmer waren die Schmerzen. War eine Rippe gebrochen? Blutete die Wunde noch?
Er tastete mit der rechten Hand unter die Lederjacke an seine linke Seite. Das T-Shirt war durchtränkt. Er besah die Fingerspitzen. Kein frisches Blut. Er griff wieder nach dem Lenkrad. Unmöglich, den linken Arm zu heben, er hatte das Lenkrad am unteren Rand festgehalten. Der rechte Arm hingegen war voll beweglich. Immerhin. Seine ganze linke Seite fühlte sich beschädigt an, wie kaputt geprügelt. Nur ein paar Zentimeter weiter rechts, und das Herz wäre explodiert. Glück gehabt. Er lebte. Allerdings wie lange noch?
Fort, einfach fort! Nicht denken, fahren. Flüchten. Sich in Sicherheit bringen.
In der Ferne erblickte er die über der Fahrbahn hängenden Schilder. Der Autobahnknoten kam in Sicht. Er versuchte, die Buchstaben zu entziffern. Eine unmenschliche Anstrengung, und doch gelang sie. Er wusste, alles hing davon ab, jetzt die richtige Ausfahrt zu erwischen. Würde er es schaffen oder mit vollem Tempo durch die Leitplanke rasen? Er musste es schaffen. Die Schwäche kehrte wieder. Er kämpfte dagegen an. War das die richtige Abzweigung?
Ja. Geschafft. Sein Wagen rollte in südöstlicher Richtung durch das Wiener Becken. Die A 3 in Richtung Eisenstadt. Seine Richtung. Seine Flucht.
Diese höllischen Schmerzen.
Wolfgang Hoffmann stemmte die Fäuste in die Hüften und schaute sich um. Richtig gut. Er war zufrieden, seine Wohnung war so proper wie schon lange nicht. Wenn er daran dachte, wie es hier früher ausgesehen hatte. Kein Vergleich. Seit fünf Tagen tat er praktisch nichts anderes, als seine Wohnung zu putzen. Die Fenster waren sauber, die letzten Winkel waren gekehrt, der Staub war von den Schränken verschwunden, die Teppiche waren gründlich gesaugt, das Bad und die Toilette funkelten blitzblank, perfekt, nicht einmal eine eingeschworene Truppe Tatortreiniger hätte es besser machen können. Nun, bestimmt wäre die Truppe schneller als er vorangekommen. Egal, er war fertig geworden, er fand beim besten Willen nichts mehr zu putzen. Er lächelte.
Ein Blick auf die Uhr. Sieben Uhr abends.
Sein Magen fühlte sich leer an, also ging er in die Küche und öffnete den Kühlschrank. Sein Lächeln wurde sogar noch breiter. Er hatte auch eingekauft! Und nicht zu knapp. Im Handumdrehen hatte er zwei Brote belegt und die Krone einer Bierflasche gekippt. Hoffmann setzte sich an den kleinen Tisch in der Küche, vor sich auf einem Teller die Brote, ein Glas und die Flasche. Er füllte das Glas gekonnt, nicht zu wenig, nicht zu viel Bierschaum. Früher hatte er praktisch nie Alkohol getrunken, dafür aber Hunderttausende Zigaretten weggepafft. Tabak und Kaffee, das waren seine Drogen gewesen, damals, als er noch Drogenfahnder gewesen war. Jetzt hatte er sich auf die fabelhaft sedierende und relaxierende Wirkung von Hopfen und Malz eingeschworen.
Ja, auch dafür hatte es ein Schlüsselerlebnis gegeben. Damals, kurz nachdem er vier Leichen in einer Villa in Wien-Hütteldorf zu Gesicht und vor allem deren Geruch in die Nase bekommen hatte, hatte er spontan an einem Würstelstand Bier getrunken. Seit dieser Zeit, vier Monate war es her, hielt er stets Bier im Kühlschrank vorrätig und genehmigte sich bei Anbruch des Abends eines, selten ein zweites. Ein richtiger Trinker würde aus ihm nicht mehr werden, dazu hatte er in seinem Leben zu viele Gelegenheiten ungenutzt verstreichen lassen. In Wahrheit waren ihm starke Rauschzustände einfach zuwider, er hasste es, nicht die Kontrolle über seine Sprache und Bewegungen zu haben. In der Jugend hatte er sich gelegentlich einen Vollrausch angetrunken oder sich dann und wann bis über beide Ohren zugekifft. Mit der Zeit war ihm die Sauferei auf die Nerven gegangen. Vielleicht hatte er deswegen als Drogenfahnder gar keine schlechte Figur abgegeben. Wie auch immer, abends zwei belegte Brote und ein Bierchen, das war so etwas wie Lebensqualität.
Während er aß, blätterte er in einer Gratiszeitung, die wöchentlich auf dem Fußabstreifer vor seiner Tür abgelegt wurde. Ein mit Inseraten gepflastertes Blatt ohne jeden Informationsgehalt, aber doch irgendwie unterhaltsam durchzublättern.
Sein letzter Abend im Krankenstand.
Er schob den Teller von sich, füllte das Glas erneut mit Bier und nippte daran. Sein Blick verlor sich im Raum. Ja, er war aufgeregt, na klar, vor ihm lag ein neuer Lebensabschnitt, und tatsächlich, er empfand ein bisschen Angst. Und Vorfreude. Spannung saß tief in seinem Bauch. Würde er heute gut schlafen können? Die Nachtstunden würden die Frage beantworten.
Morgen also wieder die Arbeit als Kriminalpolizist. Sein Beruf. Sein Metier. Vielleicht so etwas wie seine Bestimmung. Anderthalb Jahre war er im Krankenstand gewesen, hatte sich einer Chemotherapie und einem operativen Eingriff unterzogen, hatte einen dreiwöchigen Reha-Aufenthalt inmitten grüner Wälder und eine die onkologische Therapie begleitende Psychotherapie hinter sich gebracht, war Patient gewesen und hatte es doch irgendwie mit viel Glück und großartiger medizinischer Unterstützung geschafft, dem Totengräber von der Schaufel zu springen. Und morgen kehrte er in das Leben der normalen und arbeitenden Menschen zurück. Sein letzter Abend.
Hoffmann leerte mit einem schnellen Zug das Glas.
Er freute sich auf den morgigen Tag. Und wie! Obwohl er wieder mit dem Bösen, Abgründigen und Ekelhaften des Menschen konfrontiert werden würde. Er war, was er war. Warum sich verleugnen?
Heute griff er ein zweites Mal in den Kühlschrank. Zur Feier des Abends ein zweites Bierchen. Verfluchte Zeit als Krebspatient, endlich war sie vorbei.
Der Wagen rollte langsam auf die Scheune zu. Als er von der Hauptstraße abgebogen und in Richtung des Bauernhofes gefahren war, hatte er das Abblendlicht ausgeschaltet. Das Nachbarhaus lag zwar etwas entfernt, aber es brauchte niemand zu wissen, dass jemand auf das leer stehende und langsam verfallende Gebäude zufuhr.
Er hoffte, dass der Schlüssel sich noch in seinem Versteck befand. In den Ferienmonaten seiner Kindheit hatte er mit seinem Cousin oft hier gespielt. Allerdings war das eine andere Zeit gewesen. Sein Großvater war vor 20 Jahren, die Großmutter hochbetagt vor sechs Jahren gestorben. Die Erinnerungen an Kindheit und Jugend waren Schwarz-Weiß-Fotos, die auf dem Fensterbrett eines alten Hauses lagen und über die Jahre bis zur Unkenntlichkeit verblichen waren. Wo der Schlüssel war, daran erinnerte er sich. Und dass sein Wagen genug Platz in der Scheune fand. Sein Onkel hatte den kleinen und unrentablen Hof zwar geerbt, aber nie bewirtschaftet, im Gegenteil, er hatte alles nur irgendwie Brauchbare fortgeschafft.
Da war er. Der Schlüssel hatte Rost angesetzt, passte aber noch ins Schlüsselloch.
Der Geruch morschen Holzes hing in der Luft, der Boden war bedeckt mit Staub. Er versuchte gar nicht, das Licht einzuschalten. Erstens war der Strom abgestellt, zweitens würde Licht im Fenster die Nachbarn aufmerksam werden lassen. In der Küche stand eine Kredenz aus einer längst vergangenen Epoche, und darin lag der Schlüssel zum Vorhängeschloss des Scheunentors. Zum Glück war die Nacht nicht dunkel, sodass selbst durch die verdreckten Fenster matter Lichtschein hereinfiel. Der Raum war bis auf die Kredenz und eine Truhe völlig leer. Der Holzofen war fort, der Tisch und die Stühle hatte man irgendwann verheizt, Vorhänge, Geschirr, Töpfe und Pfannen, nichts davon war noch hier. Nur der Schlüssel zur Scheune. Das genügte auch.
Wenig später rollte der Wagen in die Scheune. Er holte den Verbandskasten, eine Decke und eine Taschenlampe aus dem Kofferraum. Dann versperrte er die Scheune wieder.
Im Hinterzimmer, dessen Fenster in den Innenhof gerichtet war und somit von den Nachbarn nicht gesehen werden konnte, ließ er sich nieder, knipste die Taschenlampe an und machte seinen Oberkörper frei. Der Schmerz ließ ihn beinahe verrückt werden. Die Wunde sah hässlich aus, Hautfetzen und gestocktes Blut. Hing da ein Knochensplitter? Ihm wurde beinahe schwarz vor Augen. Mit letzter Mühe drückte er eine Kompresse auf die Wunde und fixierte sie mit dem Verband.
Geschafft! Die Wunde war verbunden. Er schaltete die Taschenlampe aus.
Er spürte, wie die Spannung von ihm abfiel. Die Müdigkeit drückte ihn mit aller Macht zu Boden. Gerade noch schaffte er es, die Decke über seinen nackten Oberkörper zu ziehen.
Traumloser Schlaf. Ein Vorgeschmack auf den Tod.
Gerald Windisch und Wolfgang Hoffmann gingen entspannt den Gang entlang. Zwei Männer mittleren Alters, in saloppe und doch distinguierte Kleidung gehüllt. Sie trugen Pistolen unter den Jacketts.
Hoffmann fühlte so etwas wie Stolz, dass sein alter Kumpel Windisch nun Major war und die Gruppe für Kapitalverbrechen anführte. Wie viele Nächte hatten sie sich gemeinsam um die Ohren geschlagen? Wie viele Ermittlungserfolge hatten sie gefeiert? Wie oft hatten sie wie die letzten Trottel dagestanden? Die volle Palette, das ganze Programm, sie hatten nichts ausgelassen. Manchmal hatten sie geniale Ideen geteilt, dann wieder hatten sie sich von schmierigen Kerlen dreist überrumpeln lassen. Eines hatte sie in den Jahren geeint: Sie hatten nie aufgegeben. Gut, Hoffmann war außer Tritt geraten, er war auch gefallen, aber er hatte das Riesenglück gehabt, nicht zu tief zu fallen. Sein Körper hatte dem jahrelangen Raubbau nicht länger standgehalten und war eingebrochen. Hoffmann war durch all das, was ihm begegnet war, ein Fan der modernen Medizin geworden. Ja, es gab Leute, die schimpften auf die verdammte Schulmedizin und die Fleischermeister in den Operationssälen, er aber sah die Fähigkeit der Mediziner, einen in der Lunge sitzenden Tumor rauszuschneiden, als eine großartige Errungenschaft an. Natürlich gehörte auch Glück dazu. Kein Thema. Ein Arzt am Operationstisch brauchte nicht nur jahrelange Schulung, ein eingespieltes Team und maximale technische Unterstützung, er brauchte auch ganz einfach nur saublödes Glück. Vielmehr brauchten der Arzt und der Patient Glück.
»Also schauen wir mal, was die Bande vorbereitet hat«, sagte Windisch mit einem schiefen Grinsen.
Hoffmann schob seine Grübelei zur Seite und schaute Windisch von der Seite an. Als ob der alte Fuchs nicht längst Bescheid wüsste. Sie traten in den Besprechungsraum. Und wurden mit großem Hallo empfangen.
»Da sind sie ja, unsere Sheriffs! Wo habt ihr eure Gäule gelassen?«, rief Walter Kaltenegger.
»Beim Hufschmied natürlich. Aber unsere Colts haben wir dabei.«
Gerald Windisch formte mit beiden Händen Pistolen. Gelächter.
Hoffmann überblickte den Tisch im Besprechungsraum. Tassen und Teller standen bereit, in einem Korb lagen Kipferl und Krapfen, in einem anderen frische Semmeln. Eine Platte mit Wurst- und Käseaufschnitt, auf einem Teller Obst, in der Mitte des Tisches ein Teller mit Apfelstrudel und Mineralwasser und Apfelsaft zu trinken – die Kollegen hatten reichlich aufgetischt. Und natürlich hing der Duft von frisch aufgebrühtem Kaffee im Raum. Walter Kaltenegger hatte in diesem Stockwerk des Kommissariats absolut das Sagen, was den Verbrauch von Kaffee anbelangte, deswegen wurden hier nur erstklassige Bohnen konsumiert.
Neben dem bärbeißigen Routinier Kaltenegger, immerhin hatte er schon seinen 60. Geburtstag hinter sich und war seit über 35 Jahren Polizist, befanden sich auch Gerhard Assmann, Caroline Stranek und Sigrid Körner im Raum. Das gesamte Team Windisch. Hoffmann rückte einen Stuhl zurecht und setzte sich.
Die ersten beiden Arbeitstage, Montag und Dienstag, waren wie im Flug vergangen, nach einer nur kurzen Einführung vom Leiter des Kommissariats Dr. Pongratz und von Gerald Windisch hatte sich Hoffmann ohne viel Aufhebens an seinen Arbeitsplatz begeben und sich mit seinem Aufgabenbereich vertraut gemacht. Die anderen waren mit ihrer Arbeit beschäftigt gewesen und hatten Hoffmann nur im Vorübergehen dies und das erläutert. Aber an diesem Mittwochvormittag stand eine Teamsitzung an. Hoffmann hatte erwartet, dass diese für eine kleine Willkommensfeier genutzt werden würde. Er war nicht enttäuscht worden.
»Also im Café Landtmann kann es nicht bequemer sein«, sagte Hoffmann gut gelaunt.
»Das Café Landtmann ist ein Lercherlschas gegen uns«, polterte Kaltenegger und griff zur Kaffeekanne. »Kaffee?«
»Unbedingt!«, antwortete Hoffmann.
Caroline Stranek drückte Windisch das Kuchenmesser in die Hand.
»So, Chef, dein Strudel muss jetzt geopfert werden.«
Hoffmann runzelte die Stirn.
»Was, Gerald, du hast den Strudel gebacken?«
Windisch präsentierte seine breite Brust.
»Ja! Oder vielmehr, nein. Meine Tochter war die Meisterin. Ich glaube, nach der Matura schicke ich sie zu einem Konditor in die Lehre. Das Mädel hat Talent. Sieht man mir das nicht an?«
Windisch klopfte sich auf den Bauch.
»Geh, Gerald, da haben noch ein paar Backbleche mit Apfelstrudel Platz.«
Gerald Windisch war für einen Mann Mitte 40 absolut in Topform. Hoffmann konnte sich gut erinnern, dass Windisch vor ein paar Jahren beinahe ausgezehrt gewirkt hatte. Mit Zigaretten und Kaffee hatte er den Stress bekämpft und darüber allzu oft die geregelte Nahrungsaufnahme vergessen. Nachdem ihm seine Frau ein Ultimatum gestellt hatte, hatte er eine Entwöhnungstherapie absolviert. Tatsächlich war er von den Zigaretten weggekommen und hatte innerhalb von ein paar Wochen 15 Kilo zugenommen. Als er dann als Teamleiter berufen worden war, und mit Assmann, Stranek und Körner drei echten Sportskanonen vorstand, hatte er Sonderschichten im Fitnessstudio eingeschoben. Walter Kaltenegger hingegen hatte sich durch den Fitnesswahn seiner Kollegen und seines Chefs nicht irritieren lassen und mit einem Achselzucken auf seinem Übergewicht und seiner Gemütlichkeit beharrt. Kaltenegger war zu lange im Metier, er hatte in den 35 Dienstjahren als Polizist zu viel erlebt, um sich noch aus der Ruhe bringen zu lassen.
Der Strudel wurde angeschnitten und der Kaffee ausgeschenkt. Hoffmann hatte vorsorglich das Frühstück ausfallen lassen, also griff er zu einer Semmel und belegte sie mit Wurst und Käse. Dazu trank er Apfelsaft. Die Stimmung war gut, der Schmäh rannte, die vier Männer und zwei Frauen unterhielten sich bestens.
»Jetzt aber der Schampus!«, rief Windisch und erhob sich.
»Sehr richtig!«, pflichtete Kaltenegger bei. »Hol den Sprudel. Nunc est bibendum, wie der alte Lateiner sagt.«
Hoffmann runzelte die Stirn.
»Habt ihr etwa Sekt für meine Willkommensparty gekühlt?«
Kaltenegger gestikulierte.
»Bleib am Teppich, Wolfgang, so fesch bist du auch wieder nicht. Die Sigrid hat Geburtstag!«
Sigrid Körner strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn. Sie lächelte in die Runde.
Hoffmann atmete tief durch. Wie hübsch sie war. Vielleicht war es gut, dass Körner bei Kaltenegger im Zimmer saß, er selbst bei Stranek und Assmann. Wahrscheinlich würde er den ganzen Tag nichts anderes tun können, als seine Kollegin anzugaffen. Geburtstag hatte sie also. Es musste der 30. sein.
»Ein runder Geburtstag«, sagte Hoffmann. »Das gehört natürlich gefeiert.«
Körner warf Hoffmann einen Blick zu. Heiße Schauer liefen über seinen Rücken. Als Körner noch bei der uniformierten Polizei Dienst verrichtet hatte, knapp bevor Hoffmanns Erkrankung diagnostiziert worden war, hatten sie eine kurze, aber intensive Beziehung gehabt. Keine Affäre, diesen Begriff verbat sich Hoffmann, eine Beziehung. Sie hatten einander wirklich berührt. Und waren beide davon so erschrocken gewesen, dass sie die Beziehung wieder beendet hatten. Und jetzt arbeiteten sie in derselben Gruppe. Im Kommissariat wusste niemand davon. Körner hatte um Diskretion gebeten. Für Hoffmann eine Selbstverständlichkeit. Niemanden ging es etwas an, was sie in der Vergangenheit erlebt hatten.
Es klopfte an der Tür.
»Herein!«
Ludwig Pongratz öffnete die Tür und erfasste mit einem Blick die Szene.
»Herr Doktor, kommen Sie nur näher!«, rief Kaltenegger. »Bei uns ist Stimmung. Und was zum Beißen und Schlürfen gibt es auch.«
Der Leiter des Kommissariats schloss die Tür hinter sich. Wie immer war der drahtige Mittfünfziger seriös gekleidet. Er lächelte versonnen.
»Herr Kaltenegger, wenn Sie wieder Ihren Zauberkaffee aufgebrüht haben, dann muss ich dieser Einladung doch glatt Folge leisten.«
»Na, selbstverständlich gibt es guten Kaffee. Wer mir Dreckszeug andrehen möchte, kriegt eine Packung Hauswatschen.«
»Kommen Sie mit Problemen zu uns?«, fragte Caroline Stranek in ihrer immer direkten, oft sogar konfrontativen Art.
»Frau Kollegin, ich weiß zwar, dass meine Anwesenheit nicht selten Probleme mit sich bringt, aber ich komme in sozusagen unproblematischer Mission. Ich wusste ja, dass heute der Willkommenskaffee für den Kollegen Hoffmann gereicht wird.«
»Ludwig, willst du ein Glaserl Sekt?«, fragte Windisch.
»Sekt bitte nicht. Ich muss heute noch arbeiten.«
»Aber die Sigrid hat Geburtstag.«
Pongratz zog die Augenbrauen hoch.
»Entschuldigen Sie, Frau Körner, dass ich das übersehen habe.«
»Eigentlich habe ich ja erst übermorgen Geburtstag. Aber wir feiern heute gleich mit.«
Pongratz ging um den Tisch herum und reichte Körner die Hand.
»In diesem Fall nehme ich gerne ein Glas zum Anstoßen.«
Kaltenegger polterte wieder einmal.
»Und ich singe ›Die Reblaus‹, dann weinen wir wie Schlosshunde und busseln uns ab. Für Mord und Totschlag sind wir heute nicht zuständig.«
Gelächter.
Hoffmann war gut drauf. Der Sekt schmeckte köstlich, der Apfelstrudel war eine Wucht und exquisiten Kaffee gab es auch. Und als er Sigrid Körner wie alle anderen mit einem Wangenküsschen zum Geburtstag gratulierte, fühlte sich das ganz wunderbar an. Hoffmann setzte sich wieder und lauschte dem lebhaften Gespräch, manchmal sagte er etwas, in der Regel hielt er sich zurück, nippte an der Kaffeetasse und nahm einen Happen vom Strudel.
Wenn er irgendetwas in seinem Leben gelernt hatte, dann die Lektion, gute Situationen auszukosten, sich der seltenen hellen Momente zu erfreuen, es zuzulassen, dass die Welt vergänglich war, man selbst aber zumindest in diesem Augenblick noch da war. Die Dunkelheit kam von allein. Daran war ohnedies nicht zu rütteln.
Natürlich hatten sein Chef und seine Kolleginnen und Kollegen Hoffmann für die erste Arbeitswoche nach anderthalbjähriger Unterbrechung nur die kleinen Arbeiten zugedacht. Da war ein Bericht der Kriminaltechnik zu bearbeiten, nämlich ein Bericht ohne nennenswerte Erkenntnisse, dort war eine Zeugenaussage durch ein paar Anrufe zu prüfen. Er hatte Zeit, sich die Berichte der letzten Wochen durchzusehen. Die Strategie der Gruppe, ihn langsam in den Arbeitsalltag einzubinden, war von Anfang an so kommuniziert worden. Das fand Hoffmann gut, er würde es an der Stelle von Windisch genauso tun. Auch war er ja jetzt in einem neuen Metier, nicht mehr Drogenkriminalität, sondern Verbrechen gegen Leib und Leben standen auf der Agenda. Er war seinem ehemaligen Jungkollegen Gerhard Assmann in die Fachgruppe nachgefolgt. Es war ein gutes Gefühl, wieder mit Assmann in einem Zimmer zu sitzen. Nicht zuletzt, weil Assmann gar nichts mehr von diesem nervösen, humorlosen und zänkischen Jungpolizisten von früher hatte, sondern ein solider Profi geworden war. Na ja, Humor war nach wie vor nicht Assmanns Stärke, aber er leistete in der Gruppe wertvolle Arbeit. Die Gruppe für Drogenkriminalität war nach dem Abgang Hoffmanns in den Krankenstand und Assmanns Wechsel in die Gruppe für Kapitalverbrechen völlig neu aufgestellt worden. Auch der ehemalige Leiter, Anton Koller, hatte endlich sein Lebensziel erreicht und im Innenministerium einen hochrangigen Schreibtischposten übernommen. Natürlich hatte Hoffmann all die Kolleginnen und Kollegen, die noch im Kommissariat tätig waren, gleich am ersten Tag besucht. Ehrensache.
Hoffmann hatte schnell mitbekommen, dass das zweifellos vorhandene Konfliktpotenzial in seiner neuen Gruppe durch die umsichtige Führung des Teamleiters kaum eine Rolle spielte. Außerdem wurde durch die schlichte Anwesenheit eines Mannes wie Walter Kaltenegger jeder Streit irgendwie unnötig. Hoffmann kannte Kaltenegger seit seinen ersten Tagen im Kommissariat, eigentlich konnte er sich das Kommissariat ohne Kaltenegger gar nicht vorstellen. Alles, was dieser Mann in die Hand nahm, bekam eine gewisse Gelassenheit. Vielleicht sogar so etwas wie Würde. Hochtrabend, das ja, aber nicht ganz verfehlt, wie Hoffmann dachte. Es war nicht so, dass Kaltenegger ein unfehlbarer Polizist war. Wer war das schon? Kaltenegger war einfach ein prima Kerl. Und das nach 35 Jahren Dienst als Kieberer! Hoffmann konnte sich daran erinnern, dass Kaltenegger bei einem Verhör in einem brenzligen Fall tüchtig die Hand ausgerutscht und es zu einer internen Untersuchung gekommen war. Kaltenegger hatte sich nicht eine Sekunde aus der Affäre reden wollen. Nun, Hoffmann neigte in keiner Weise zu Aggression, beim kleinsten Zweifel ließ er Verdächtige laufen und hatte eigentlich immer irgendwie Verständnis, wenn Leute aus Not, Verzweiflung oder kalter Berechnung logen, aber ihm war in einem Fall auch schon mal die Sicherung durchgebrannt. Damals hatte er einem Vergewaltiger mit großer Befriedigung das Knie in den Unterleib gerammt. Er hatte das Glück gehabt, dass ihm Windisch und Assmann damals volle Rückendeckung gegeben hatten und es nie zu einer Untersuchung des Übergriffes gekommen war. Was Windisch und Kaltenegger als Leitfiguren der Gruppe für Kapitalverbrechen so erfolgreich machte, war die Mischung aus Autorität, Fachwissen und geradezu familiärem Umgangston.
Und eines war für Hoffmann auch völlig klar. Es machte viel mehr Spaß, im Büro zu sitzen, alte Berichte zu lesen, am Leben und an der Arbeit teilzunehmen, als im Wartezimmer eines Krankenhauses auf den nächsten Arzttermin zu warten.
Straneks Tischtelefon schlug an. Hoffmann schaute auf die Zeitanzeige am Bildschirm. Halb drei Uhr nachmittags. Assmann und Stranek waren seit einer Stunde unterwegs und würden frühestens in einer Stunde ins Büro zurückkommen. Er erhob sich, ging um seinen Schreibtisch herum, beugte sich über den Tisch seiner Kollegin und hob ab.
»Hoffmann am Apparat.«
»Hallo, äh, Doppelhofer. Ist die Frau Stranek da?«
»Leider nein, sie ist unterwegs. Am Handy können Sie sie erreichen.«
»Handy nützt jetzt nichts. Ist Herr Assmann auch unterwegs?«
»Ja. Die beiden sind auf Achse.«
»Herr Hoffmann, sind Sie es?«
»Ja, Wolfgang Hoffmann meldet sich zurück zum Dienst.«
»Hab schon gehört, dass Sie wieder da sind. Herzlichen Glückwunsch zur Genesung!«
Hoffmann erinnerte sich nur vage an den Namen Doppelhofer. Ein jüngerer Kollege im Streifendienst. Hatte er je mit ihm dienstlich zu tun gehabt? Wenn, dann nur am Rande. Aber er konnte sich an das Gesicht des jungen Mannes erinnern.
»Vielen Dank.«
»Ich wollte nicht stören, aber ich hätte halt mit der Frau Stranek sprechen wollen.«
Unüberhörbar, dass der junge Kollege aufgeregt und unsicher war.
»Wenn es etwas Dienstliches ist, dann können Sie das auch mit mir besprechen, Herr Doppelhofer.«
»Ja, also, ich weiß jetzt nicht, ob das Ihre Zuständigkeit ist, weil ich habe da eine lästige, kleine Sache, wo halt …«
Hoffmann wartete ein Weilchen.
»Worum geht es denn?«
»Um eine Vermisstenanzeige. Die Frau, die gestern Anzeige erstattet hat, ist heute wieder da und will mit jemandem von der Kriminalpolizei sprechen.«
»Ist die Dame aufgebracht?«
»Ziemlich. Sie besteht darauf, mit jemandem von der Kriminalpolizei zu reden.«
»Ich verstehe.«
»Deswegen mein Anruf.«
»Wo sind Sie gerade, Herr Doppelhofer?«
»Erdgeschoss. Kleines Besprechungszimmer.«
»Sagen Sie der Dame, dass ich in drei Minuten bei ihr bin.«
»Echt jetzt?«
»Drei Minuten.«
»Danke, Herr Chefinspektor!«
Hoffmann legte auf. Ein nervöser Jungpolizist, eine aufgebrachte Bürgerin, eine Vermisstenanzeige. Hoffmann schmunzelte. Also doch nicht nur Papierkram und Kaffeetrinken, sondern ein echter Fall.
Er klopfte und trat ein. Zwei Augenpaare richteten sich auf ihn. Die gespannte Stimmung im Raum war im ersten Atemzug zu spüren. Da der gestresst wirkende Polizist, dort eine Frau Mitte 30. Ihre Augen waren rot unterlaufen, aber offenbar nicht, weil sie geweint hatte, sondern weil sie mit den Nerven ziemlich unten durch war. Wahrscheinlich hatte sie zuletzt wenig geschlafen. Sie war hübsch, sehr hübsch sogar, für Hoffmanns Geschmack etwas zu stark geschminkt und irgendwie auffällig chic gekleidet. Sie trug viel Schmuck an Hals, Ohren und Fingern. Die Frisur war tipptopp.
Hoffmann reichte seine Hand zum Gruß.
»Guten Tag. Wolfgang Hoffmann.«
Die Frau erhob sich und schüttelte die dargebotene Hand. Ein solider Händedruck. Ihre Fingernägel waren kurz geschnitten und leuchtend rot lackiert. In jedem Fall arbeitete die Frau mit ihren Händen. Das war für Hoffmann sofort klar.
»Klara Zeidler.«
»Bitte setzen Sie sich wieder.«
Hoffmann schnappte sich einen Stuhl und zog ihn an das Kopfende des Tisches, links die Frau, rechts der Kollege.
»So, worum geht es?«
»Ja, vielen Dank, Herr Chefinspektor, dass Sie sich gleich Zeit genommen haben. Wie gesagt, Frau Zeidler hat gestern ihren Ehegatten Viktor Zeidler als vermisst gemeldet. Na ja, und offenbar muss da jetzt noch etwas geklärt werden.«
Hoffmann nickte und deutete dem Kollegen, den Akt herüberzuschieben. Dieser ließ sich nicht lange bitten. Hoffmann spürte förmlich, wie die Spannung vom jungen Mann abfiel. War ein solcher Mann in der Lage, auf Dauer den Dienst als Polizist zu verrichten? Was hatte ihn so in Bedrängnis gebracht? Irgendein Formfehler? War die Frau laut geworden? Hoffmann warf einen schnellen Blick auf die ausgedruckte Vermisstenanzeige. Sie war gestern um halb acht Uhr am Vormittag aufgenommen worden. Klara Zeidler, selbstständige Friseurmeisterin, wohnhaft hier im Bezirk Ottakring am Gutraterplatz. Sie war 35 Jahre alt und Mutter von zwei Kindern.
Hoffmann sah die Frau mit ruhiger Miene an.
»Sie sind Friseurin, Frau Zeidler?«
»Ja.«
»Selbstständig, wie ich hier lese.«
»Ja. Klaras Friseursalon auf der Thaliastraße. Das ist mein Geschäft.«
»Kommt mir bekannt vor. Ist das nicht an der Ecke Brunnengasse?«
»Richtig.«
»Arbeiten Sie alleine oder haben Sie Angestellte?«
»Ich habe drei Angestellte. Eszter und Silvija arbeiten mit mir im Laden und Frau Gönal macht die Lehre.«
Hoffmann verzog beeindruckt seine Miene.
»Sie sind also Unternehmerin und zweifache Mutter.«
»Ja.«
»Wie alt sind denn Ihre Kinder?«
»Marvin ist zwölf und Robin acht.«
»Und wie geht es den Söhnen in der Schule?«
»Es geht so. Robin gerät halt mehr nach seinem Vater. Da gibt es manchmal Probleme. Er kann nicht ruhig sitzen. Marvin kommt klar.«
Hoffmann nickte.
»Wie läuft der Laden?«
»Eigentlich ganz gut. Sehr gut sogar.«
»Sie haben doch in der Gegend viele Kunden mit Migrationshintergrund.«
»Natürlich. Thaliastraße. Auch meine Mitarbeiterinnen sind multikulti. Eszter ist Ungarin und Silvija Serbin. Und Frau Gönal ist Türkin.«
»Sie nennen Ihr Lehrmädchen Frau Gönal?«
»Sie ist 49 Jahre alt und hat drei erwachsene Kinder. Was glauben Sie, wie lange Frau Gönal ihrem Mann erklären musste, dass sie arbeiten will? Sie ist im letzten Lehrjahr und noch immer voll motiviert. Im Herbst macht Sie die Lehrabschlussprüfung. Viele türkische Mädchen kommen in den Laden, seit Frau Gönal bei mir arbeitet.«
Hoffmann nickte anerkennend.
»So ist das Leben in Ottakring. Wie Sie sagen: multikulti.«
Die Spannung war durch den lockeren Plauderton und die unverbindlichen Fragen nicht von ihr abgefallen. Hoffmann nickte. Also ans Eingemachte.
»Wann haben Sie denn Ihren Ehemann zuletzt gesehen?«
»Am Freitag beim Frühstück. Ich habe für die Kinder Kakao und Marmeladenbrote gemacht, selbst eine Tasse Tee getrunken, dann haben wir uns angezogen und wollten gerade los, da ist Viktor in die Küche gekommen. Er ist derzeit arbeitslos. Wir haben uns verabschiedet. Ich habe Robin zur Volksschule begleitet. VS Landsteinergasse, das ist bei uns gleich um die Ecke. Dann bin ich noch ein Stück mit Marvin gegangen. Er geht aufs Gymnasium in der Maroltingergasse, also gehen wir häufig gemeinsam zur Straßenbahnstation. Ich steige in den 46er und er geht dann noch das Stückchen zur Schule. Dann fahre ich die Thaliastraße runter und sperre das Geschäft auf. So wie immer, das ist unser Ablauf.«
»Und das war am letzten Freitag auch so?«
»Ja. Am Freitag ist immer viel zu tun. In der Regel arbeiten wir am Freitag zu viert. Dafür ist Montag Ruhetag. Viktor holt die Kinder normalerweise um fünf Uhr von der Nachmittagsbetreuung ab, ich arbeite ja bis sechs und komme an Freitagen meist erst gegen sieben Uhr nach Hause.«
»Sie sagen normalerweise. War es diesmal nicht so?«
»Da hat das Problem angefangen. Fünf Minuten nach fünf Uhr kriege ich einen Anruf, dass Robin noch nicht abgeholt worden ist. Marvin hat einen Schlüssel, er geht in solchen Fällen alleine nach Hause, aber Robin ist noch Volksschüler. Die werden nicht einfach so auf die Straße geschickt.«
»Was haben Sie getan?«
»Ich habe natürlich sofort Viktor angerufen. Aber sein Telefon war ausgeschaltet, also habe ich Eszter gesagt, dass sie heute den Laden schließen soll, bin ins Taxi gestiegen und habe Robin abgeholt. Dabei wohnen wir ja wirklich gleich um die Ecke und Marvin war auch schon zu Hause, Robin hätte also nicht auf der Straße stehen müssen. Aber so ist das halt, die Nachmittagsbetreuung darf ihn nicht unbegleitet losschicken. Zu Hause war Viktor nicht, sein Telefon ist aus, er hat keine Nachricht hinterlassen, gar nichts. Er ist mit dem Auto fort.«
Hoffmann blickte auf die Papiere vor sich.
»Ein Fiat Doblo. Das ist, wenn ich das Modell richtig vor Augen habe, so ein voluminöser Familienwagen mit breiter Heckklappe.«
»Genau so einer. Ich habe keine Ahnung, wohin er gefahren sein könnte.«
»Ist so etwas öfter vorgekommen? Ich meine, dass er nicht wie vereinbart die Kinder abgeholt hat.«
Die Miene der Frau pendelte zwischen Verbitterung, Verärgerung und Verzweiflung.
»Leider ja.«
»Und dass er mal eine Nacht fort war, ohne dass Sie wussten, wo er sich herumgetrieben hat?«
»Ist auch passiert. Das hat Ihr Kollege mich ja gestern auch gefragt.«
Hoffmann nickte. Natürlich, das waren die Standardfragen bei Vermisstenanzeigen.
»Aber irgendetwas ist diesmal anders, nicht wahr, Frau Zeidler?«
»Er ist seit fünf Nächten fort! Das hat er noch nie gemacht. Vor allem, ohne etwas zu sagen. Wenn er früher mit seiner Motorradclique unterwegs war, hat er mir das immer im Voraus gesagt, da habe ich gewusst, okay, Viktor ist drei Tage auf Tour. Nachdem er das Motorrad verkauft hat, ist er auch ein paar Mal einfach so aufgebrochen, hat aber immer einen Zettel hinterlassen oder eine SMS geschrieben. Wenn er gesagt hat, er ist zwei Tage in der Steiermark oder im Waldviertel, dann ist er nach zwei Tagen auch wieder nach Hause gekommen. Diesmal gar nichts, kein Zettel, keine SMS, keine Nachricht. Ich habe keine Ahnung, wo er ist und was er tut.«
Die Frau redete schnell und knetete ihre Hände. War da ein Glanz von Tränen in ihren Augen? Hoffmann musste sie etwas runterkühlen.
»Ich verstehe Ihre Situation, Frau Zeidler, aber die Ihres Mannes verstehe ich noch nicht so genau. Erzählen Sie bitte von ihm, ich muss ihn ein bisschen kennenlernen.«
Klara Zeidler schnappte nach Luft.
»Er ist sehr sportlich. Fußballer. Zwei Jahre hat er bei Austria Wien gespielt, vier Jahre bei Admira Wacker, aber wegen Verletzungen am Sprunggelenk und am Knie hat er die Profikarriere beenden müssen. Danach hat er eine Trainerausbildung gemacht und war zehn Jahre lang als Jugendtrainer tätig. Ziemlich erfolgreich sogar. Kennen Sie Dŭsan Petković?«
»Der Name ist mir irgendwie geläufig.«
»Verteidiger im Nationalteam. Spielt in Italien bei AS Roma. Viktor hat Dŭsan hier in Ottakring entdeckt und ihn drei Jahre lang trainiert. Jetzt ist Dŭsan ein internationaler Profi. Viktor hat seinen Beruf geliebt. Aber dann ist auf einen Schlag alles anders geworden. Ich weiß bis heute nicht, was da passiert ist, aber irgendetwas ist passiert. Herr Inspektor, Viktor war immer lustig und gut aufgelegt, ja, wenn er getrunken hat, da konnte er schon laut werden, richtiggehend aggressiv. Ich habe es immer schon gehasst, wenn er betrunken war. Aber zu Hause trinkt er nicht, den Kindern und mir zuliebe. Viktor war ein toller Ehemann und ein super Vater. Bis zum Oktober vor zweieinhalb Jahren. Ich weiß es wie heute. Er war mit seinen Kumpels ein Wochenende auf Motorradtour und kam als anderer Mensch zurück. Bis heute hat er mir nicht gesagt, was damals vorgefallen ist, und je mehr ich gefragt habe, desto abweisender ist er geworden. Ich verstehe es einfach nicht.«
Die Frau hing eine Weile ihren Gedanken nach. Und in Hoffmann regte sich etwas. Er spürte einen Nachhall der Verzweiflung dieser Frau in sich. Ein anderer Mensch nach nur einem Wochenende? Das klang auffällig.
»Wollen Sie ein Glas Wasser, Frau Zeidler?«
Mit der Frage holte Hoffmann die Frau wieder ins Besprechungszimmer zurück.
»Ein Glas Wasser wäre gut.«
Hoffmann nickte dem Jungpolizisten zu, der sofort los eilte.
»Erzählen Sie bitte weiter.«
»Viktor hat sich immer weiter zurückgezogen. Irgendwann hat er den Job geschmissen, das Motorrad verkauft und sich immer öfter und länger in seinem Zimmer eingesperrt. Er hat Computerspiele gespielt.«
»Was für Computerspiele?«
»Nichts Aufregendes. So Zeug halt. Eine Zeit lang waren das Ballerspiele, blöde Ego-Shooter. Dann hat er mit den Rollenspielen begonnen, wo man wochenlang alleine vor dem Computer sitzt, durch unzählige Fantasiewelten läuft und irgendwelche Aufträge erledigen muss.«
»Hat er Arbeit im Haushalt übernommen?«
»Schon manchmal. Nicht immer. Mal so, mal so. Manche Sachen sind einfach liegen geblieben. Gar nicht so wenige eigentlich.«
»Das ist bestimmt sehr schwer für Sie.«
»Und wie! Die Arbeit, die Kinder, der Haushalt, und dann noch ein Mann, der den ganzen Tag vor dem Computer hängt.«
»Und was war mit Sport? Hat er den Sport auch vernachlässigt?«
»So und so. Im Verein hat er zuletzt gar nicht mehr Fußball gespielt. Mit den Buben und ihren Freunden schon. Gelegentlich. Joggen war er regelmäßig. Immer alleine.«
Der Polizist kam zurück, stellte einen Pappbecher Wasser ab und setzte sich wieder auf seinen Platz.
»Gab es Streit?«
»Ja. Nein. Hören Sie, Herr Inspektor, jedes Mal, wenn ich richtig grantig war und streiten wollte, ist er mir ausgewichen, hat er sich verkrochen oder ist einen Tag lang verschwunden.«
»Wie schaut es mit Drogen aus?«
Klara Zeidler schüttelte entschieden den Kopf.
»Nein, Drogen, garantiert nicht! Viktor hat mit seinen Kumpels bestimmt bis zum Umfallen getrunken, aber Drogen hat er nie genommen. Er war Profisportler. Er verachtet Drogen. Auch Doping. Selbst in seiner Zeit als Bundesligaspieler hat er niemals gedopt. Das ist so eine Männersache. Lieber beiße ich die Zähne zusammen, bevor ich mir Anabolika oder anderes Zeug einwerfe. Das ist nach wie vor sein Leitsatz. Bier, das ist seine einzige Droge, aber die hat er gut im Griff.«
»Frau Zeidler, es tut mir leid, dass ich diese Frage so direkt stellen muss. Hat er Affären mit anderen Frauen gehabt?«
Sie atmete tief durch.
»Also ich weiß, dass er mit seiner alten Clique mindestens einmal in einem Bordell war. Sie wissen schon, Motorradfahrer auf Tour, die harten Jungs müssen die Sau rauslassen. Aber ich habe ihm nie gesagt, dass ich dahintergekommen bin. Es hat mich gekränkt, aber ich habe damals keine Szene gemacht, und ich würde auch heute keine machen. Solange das nicht ausufert. Aber eine andere Frau, eine Geliebte? Das kann ich mir wirklich nicht vorstellen. Er liebt mich. Und ich liebe ihn. Und gemeinsam lieben wir unsere Kinder.«
»Sie haben eine Motorradclique erwähnt.«
»Ja.«
»War das ein richtiger Verein oder mehr so eine private Runde?«
»Eine private Runde.«
»Nur Männer?«
»Ja. Sie sind immer zu fünft unterwegs gewesen. Fast zehn Jahre lang. So lange, bis Viktor sein Motorrad verkauft hat.«
»Ihr Mann trifft sich also nicht mehr mit seinen Freunden?«
»Gar nicht mehr.«
Hoffmann griff nach einem Stift.
»Nennen Sie mir bitte die Namen der Männer.«
»Also da sind einmal Jurko, Hugo und Armin …«
»Wissen Sie die vollständigen Namen?«
»Muss ich überlegen. Ernst Jurkowitsch. Alle nennen ihn Jurko. Er ist Automechaniker. Ein echter Biker. Jurko ist auch im Winter mit dem Motorrad unterwegs. Außer bei Schneelage und Glatteis. Dann Armin Retzer. Armin ist Manager in einer Versicherungsanstalt. Er hat Wirtschaft studiert. So, die Nachnamen von Hugo und Chris weiß ich leider nicht auswendig, da müsste ich in meinem Telefonregister nachblättern. Ich habe nämlich noch ein Telefonregister in Buchform. Wichtige Dinge schreibe ich mir immer auf.«
»Ist Chris die Abkürzung für Christian?«
»Nein, für Christoph. Er ist Ingenieur in einem Konstruktionsbüro.«
»Und Hugo?«
»Er ist Lehrer für Sport und Geografie an einem Gymnasium. Viktor und Hugo haben sich früher immer wieder zu zweit zum Joggen getroffen.«
»Und waren diese vier Männer an diesem ominösen Wochenende vor zweieinhalb Jahren mit Ihrem Mann zusammen?«
»Soweit ich weiß, ja.«
»Mir fällt auf, dass die Männer durch die Bank bürgerliche Berufe haben.«
»Das schon. Chris hat auch Familie. Armin, Hugo und Jurko sind unverheiratet. Also zumindest waren sie das, als Viktor mit ihnen noch Kontakt hatte.«
»Hatten Sie regelmäßig Kontakt zu den Freunden ihres Mannes?«
»Nein, aber Viktor hat immer wieder von ihnen erzählt.«
Hoffmann nickte und legte den Stift wieder aus der Hand.
»Wie steht es mit Waffen?«
Jetzt starrte Klara Hoffmann entgeistert an.
»Was meinen Sie mit Waffen?«
»Hat Ihr Mann eine Waffe? Eine Pistole? Ein Kampfmesser? Eine Schrotflinte?«
»Nein. Wozu sollte er eine Waffe haben?«
»Ich muss solche Fragen stellen.«
»Na ja, er hat ein Springmesser noch aus seiner Jugendzeit. Aber das liegt seit vielen Jahren in seinem Schreibtisch.«
»Liegt es noch dort? Haben Sie nachgesehen?«
»Das nicht.«
»Hat er eine Schusswaffe?«
»Hat er nicht.«
Hoffmann überdachte das Gehörte. Das war natürlich für die Frau eine üble Situation, aber offenbar war der Mann weder im Drogenrausch noch gefährlich bewaffnet unterwegs.
»Frau Zeidler, haben Sie diese Angaben bei Ihrer Anzeige gestern auch schon geleistet?«
»Ja.«
Hoffmann blickte der Frau direkt in die Augen.
»Warum also wollten Sie unbedingt mit der Kriminalpolizei sprechen?«
Da war Angst. Eindeutig. Er sah es glasklar. Sie rang nach Worten, griff zum Pappbecher und trank hastig.
»Frau Zeidler?«
»Wegen …«
Hoffmann ließ ihr Zeit.
»Wegen der Drohungen gegen ihn. Und uns. Wegen der toten Katze vor der Wohnungstür. Die zerstochenen Autoreifen. Wegen der Schmierereien an der Wand.«
Hoffmann lehnte sich zurück und verschränkte die Arme.
»Erzählen Sie bitte genauer.«
Die Frau bebte, hielt sich aber tapfer.
»Es war vor etwa einem Jahr. Da ist das vorgefallen. Ich habe wahnsinnige Angst gehabt. Wer macht so etwas? Eine tote Katze vor der Wohnungstür! Zum Glück haben die Kinder nichts davon bemerkt. Ich wollte natürlich sofort die Polizei verständigen, aber Viktor hat es mir verboten. Er hat gesagt, dass er das schon in Ordnung bringen würde. Und tatsächlich, irgendwann war es wirklich vorbei. Alles war wieder ruhig. Dann aber, vor ungefähr zwei Wochen, ich weiß den Tag nicht mehr so genau, hat er irgendwie so nebenbei gesagt, dass er jetzt reinen Tisch macht. Genau so hat er es gesagt: ›Ich mache reinen Tisch.‹ Ich habe zuerst gar nicht verstanden, was er damit gemeint hat. Jetzt aber, wo er seit fünf Tagen spurlos verschwunden ist, lässt mir diese Bemerkung keine Ruhe.«
Hoffmann kratzte sein Kinn und warf dem jungen Kollegen einen kurzen Blick zu.
»Der reine Tisch also.«
Der beginnende April schickte sich an, der alten Stadt an der Donau jegliche graue Dunkelheit des vergangenen Winters abzuwaschen. Am späten Nachmittag hatte ein kurzer und heftiger Regenguss die letzten Staubreste des Rollsplitts in die Kanalisation gespült. Hoffmann hatte das Ende des Regengusses abgewartet und dann das Kommissariat verlassen. Mit dem 2er war er bis zur Albertgasse gefahren und dann in den 5er umgestiegen. Er nahm die Straßenbahn nicht, weil er ein überzeugter Verfechter des öffentlichen Verkehrs war, sondern weil er in den letzten Monaten auf den Geschmack gekommen war, mit ausgedehnten Fußmärschen der Hektik Wiens seine Langsamkeit entgegenzusetzen. Ein paar Stationen mit der Straßenbahn, dann wieder ein Fußmarsch, dann wieder zwei, drei Stationen mit der U-Bahn, und dann wieder ein Fußmarsch, so hatte er sein Leben entschleunigt und dabei eine gute Kondition als Fußgänger aufgebaut. Seinen Wagen hatte er mit großem Vergnügen stehen gelassen. Aber morgen würde er wieder mit dem Wagen zur Arbeit fahren. Das Auto war ein Arbeitsgerät für ihn, und Arbeit war morgen zu leisten. Arbeit auf seine Art.
Beim Franz-Josef-Bahnhof stieg er aus der Straßenbahn. Das letzte Stückchen nahm er zu Fuß, über die Friedensbrücke, dann zum Gaußplatz und am Augarten entlang. Ein kleiner Fußmarsch, der flott ausgeführt den Kreislauf in Schwung brachte. Die Luft nach dem Regenguss war mild und rein. So rein, wie das am Franz-Josef-Bahnhof möglich war. Hoffmann stand vor einer roten Ampel.
Ein Fahrrad klingelte.
Hoffmann drehte seinen Kopf. Ein breites Lächeln legte sich auf sein Gesicht.
»So sieht man sich wieder!«
Sigrid Körner stieg vom Fahrrad, auch sie lächelte. Sie schob das Rad vom Radweg auf den Gehsteig.
»Jetzt hab ich dich glatt eingeholt.«
»Na ja, wenn du in die Pedale steigst, schaut der 5er mit seinen Beschleunigungswerten verflixt alt aus.«
»Bist du auf dem Heimweg oder noch dienstlich unterwegs?«
»Heimweg. Und du?«
»Detto Heimweg.«
»Na, dann gehen wir gemeinsam.«
Die Ampel schaltete auf Grün. Körner schob ihr Fahrrad, sie gingen nebeneinander.
»Und schon eingewöhnt?«
»Das geht schneller, als man denkt. Habe heute meinen ersten echten Fall übernommen.«
»Geh, hör auf! Und was?«