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Der verwitwete Großbauer Josef Lehner lässt die Kommune Erdenkinder ein Jurtendorf auf seinem Grundstück errichten. Die Kommune protestiert gegen das benachbarte Kohlekraftwerk und propagiert ein Leben fernab von rücksichtslosem Konsum. Damit zieht Lehner nicht nur den Zorn seiner Söhne auf sich, sondern erntet auch großes Missverständnis unter der Dorfgemeinschaft Dürnfelds. Als er tot aufgefunden wird, sendet das Kriminalreferat Steyr Christina Kayserling in die Provinz. Dort trifft sie auf zwei äußerst unterschiedliche Welten und tiefe Gräben.
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Seitenzahl: 416
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Günter Neuwirth
Erdenkinder
Kriminalroman
Tödliches Engagement Die Öko-Kommune Erdenkinder errichtet ihr Jurtendorf auf dem Grundstück des Großbauern Josef Lehner. Sie protestieren gegen den Klimawandel, gegen das benachbarte Kohlekraftwerk Dürnfeld und träumen von einem Leben fernab der Ressourcenverschwendung. Lehner selbst setzt sich für eine Landwirtschaft ein, der das Prinzip der ökologischen Permakultur zugrunde liegt. Die meisten Leute im Dorf, inklusive seiner beiden Söhne, verachten Lehner für dessen Verschrobenheit. Und auch die Erdenkinder sind allen ein Dorn im Auge. Als Lehner vergiftet aufgefunden wird, scheint der Traum der Jurtendörfler geplatzt. Christina Kayserling vom Kriminalreferat Steyr und der Landpolizist Raimund Brandstätter werden beauftragt, den Tod des Bauern zu untersuchen. Sie tauchen in die Welt der schrulligen Ökojünger, Aussteiger und streitbaren Dorfbewohner ein und erkennen, wie tief der Graben zwischen bedenkenlosem Konsum und radikaler Nachhaltigkeit ist.
Günter Neuwirth wuchs in Wien auf. Nach einer Ausbildung zum Ingenieur und dem Studium der Philosophie und Germanistik zog es ihn für mehrere Jahre nach Graz. Der Autor verdient seine Brötchen als Informationsarchitekt an der TU Graz und wohnt am Waldrand der steirischen Koralpe. Günter Neuwirth ist Autodidakt am Piano und trat in jungen Jahren in Wiener Jazzclubs auf. Eine Schaffensphase führte ihn als Solokabarettist auf zahlreiche Kleinkunstbühnen. Seit 2008 publiziert er Romane, vornehmlich im Bereich Krimi.
Mehr Informationen zum Autor unter: www.guenterneuwirth.at
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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Alle Rechte vorbehalten
1. Auflage 2022
»Erdenkinder« erschien erstmals 2012 im Molden Verlag
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © Alex J. Reed / AdobeStock
ISBN 978-3-8392-7432-3
Das klare Leuchten des Frühsommers hob sich über die Nebelschleier. Ein Regenfall hatte die Luft in der letzten Nacht mit Frische erfüllt, vom Hügel strich der kühle Atem des Waldes auf die Felder hinab. Meister Josef war wie so oft als Erster erwacht, war in die Stiefel gestiegen und hatte seine Weste übergestreift. Danach war er hinausgegangen, um die ersten Töne des Tages zu erlauschen. Sein Land, sein Grund und Boden, die taunassen Grashalme und die morgendlichen Rufe der Sommervögel, Jahrzehnte hatte er hier auf dem Bachleithenhof gearbeitet und nicht die Schönheit des Landes gekannt, erst jetzt auf seine alten Tage sah er, lauschte er, spürte er die Felder, die Bäume, die Kraft des Bodens und den Sinn des Lebens. Josef Lehner würde bald seinen siebzigsten Geburtstag begehen, er hatte viele Jahrzehnte in stummer Pflichterfüllung und verborgener Resignation den Frondienst des Alltags verrichtet, hatte gemacht, was man ihm gesagt, ihm aufgetragen hatte. Zuerst seine Mutter, später der Lehrer, eine Jugend lang der niemals lächelnde Vater und schließlich ein ganzes Eheleben lang die Frau bis zu deren Tod. Josef, das ist zu erledigen, Josef, dies ist zu tun, Josef, so musst du dich verhalten, Josef, jenes sollst du denken. Der Packesel auf dem steilen Bergpfad, der Ackergaul in dem Kummet, der Ochs vor dem Pflug. Ein Leben in fremder Arbeit.
Meister Josef blickte einer auffliegenden Kohlmeise hinterher, sah sie im Morgenlicht verschwinden. Er streifte seine Stiefel ab, tat barfuß ein paar Schritte im noch kühlen Gras, dann trat er an den Komposthaufen heran und sog tief dessen Duft ein. Heute, ja, heute würde er die Arbeit beginnen. Ein zufriedenes Lächeln legte sich in sein sonnengebräuntes, gefurchtes Gesicht. Zum Glück hatte er noch die Kraft für diese Arbeit, zum Glück hatte sie ihn rechtzeitig gerettet. Voller Wärme, Zuneigung und Respekt dachte er an jene Frau, die ihn in einer Nacht verzaubert hatte, die ihn mit ihren Tänzen und Gesängen, mit ihren Gebeten, mit ihrer unsäglichen Weisheit und ihrem uferlosen Wissen geheilt und gerettet hatte. Es war nicht lange her, erst ein paar Jahre, aber diese Jahre hatten ihn für über sechzig Jahre Knechtschaft und Unterdrückung entschädigt. Er hatte die Wahrheit erst als alter Witwer kennengelernt, die Schönheit erst im Spätherbst seines Lebens gesehen, aber er war voller Zuversicht und Freude, weil dies doch noch geschehen war. Der Tod hatte nie viel Schrecken auf ihn ausgeübt, und manchmal hatte er sich nichts sehnlicher als den Tod gewünscht, doch nun erst war der Tod eine Würde, die zu erringen er jederzeit dankbar war, denn er hatte das Leben gesehen.
Heute also würde er den Komposthaufen umstechen, würde die fruchtbare, lebendige Erde hervorschaufeln, würde damit die Beete für das Wintergemüse anlegen. Meister Josef griff zur Mistgabel und stieg mit bloßen Füßen und aufgekrempelten Hosenbeinen auf die mannshohe, mehrere Meter lange Kompostmiete. Ja, seit sie ihm den Weg gewiesen hatte, war es ihm ein Leichtes die Natur zu fühlen. Die Energie des Komposthaufens perlte über seine Haut wie ein warmer Schauer im Sommerregen. Er hatte seine Heimat gefunden, und seine Heimat war der Kompost, war die Brutstätte der Natur, war die Quelle des Lebens. Seit die Kompostverwertung produktiv lief, waren die Erträge der Gemüsebeete gut. Niemand mehr in der Siedlung musste im Winter hungern, niemand musste in den Supermarkt laufen und Gemüse zweifelhafter Qualität kaufen, alles, was seine neue Familie benötigte, wuchs auf den Feldern. Seinen Feldern, seinem Grund und seinem Boden.
Wie hatten die selbstsüchtigen Söhne geflucht, als er sich von der Kräuterhexe hatte verhexen, sich in ihren Bann hatte schlagen lassen, sogar vor Gericht waren sie gezogen. Die Ehefrau hatte die Erziehung ihrer und seiner Söhne gründlich gemeistert. Vierzig Jahre bittere Ehe, zwei erwachsene Söhne, die ihren Vater verachteten, ihn für verrückt hielten und ihn lieber heute als morgen entmündigen und in eine geschlossene Anstalt sperren lassen wollten, eine Dorfgemeinschaft, die sich von ihrem ehemals geachteten, weil tüchtigen Großbauern in Zorn und Unverständnis abgewendet hatte. Der Lehner Pepi ist im Alter durchgedreht, jetzt sind die Narrischen auf seinem Grundstück, jetzt haben wir diese Bande von Strauchdieben am Hals, du bist schuld, du bist schuld, du bist immer wieder schuld, Pepi, sag, schämst du dich nicht auf deine alten Tag!
Er kannte seine Komposthaufen besser als er jeden Menschen kennen konnte und wollte, er wusste genau, wie und wann ein Haufen anzulegen war, welche Zweige, Blätter, Gräser wo und wie aufzuhäufen waren, welche Mengen Tierdung einzuarbeiten waren, wie lange die Haufen reifen mussten, wann der richtige Zeitpunkt war, sie zu öffnen. In ein stummes Gebet versunken, verharrte er fast bis zu den Knien im Kompost steckend, ein Gebet nicht zu dem eitlen Popanz von Gott, den ihm die Großmutter in das Gemüt gedrillt und der Pfarrer mit leeren Floskeln in das Gehirn geleiert hatte, sondern ein Gebet in das helle Licht dieses anhebenden Frühsommertages.
Dann packte er die Mistgabel und mit spielerischer Leichtigkeit hob er die obere Schicht des Haufens ab, grub sich in den warmen, duftenden Kern des Haufens. Käfer und Ameisen, Pilze und Würmer, der Kreislauf des Lebendigen, mikroskopisch kleine Lebewesen, die er nicht sah, aber deren Anwesenheit er spürte, sie alle umfingen ihn, begrüßten ihn wie einen guten, lang erwarteten Freund. Meister Josef spürte nicht die alten Glieder, den schmerzenden Rücken, immer wenn er einen Haufen öffnete, war er wie in Trance, war er in seinem Element, hatte er seinen Platz im Kosmos gefunden. Er arbeitete hart, Schweiß perlte an seiner Stirn und er summte still vor sich hin. Ja, der Zeitpunkt war genau richtig, die dunkle Erde roch gut, feiner Humus, die Grundlage für bestes Gemüse, für ein gesundes Leben bis ins hohe Alter.
Nach einer halben Stunde trat Meister Josef einen Schritt zurück, blickte auf die mittlerweile vollständig geöffnete Kompostmiete und wischte den Schweiß in den Ärmel seines Hemdes. Er war zufrieden. Gute Arbeit, jetzt würden er und sein Freund Ernst, der im Lauf des Vormittages mit dem Werkzeug kommen würde, den Humus aufschaufeln, sieben und zu den Beeten bringen können. Danach würde er sich um alles Weitere kümmern. Josef Lehner öffnete die Feldflasche mit dem kalten Kräutertee und nahm einen kräftigen Schluck.
Er sah den Ort genau vor sich. Eine offene Waldlichtung, fast mannshohes Kraut, schwirrende Bienen, ein bunter Schmetterling zwischen den durch die Baumkronen brechenden Sonnenstrahlen, ein Duft von Sommer und feuchtem Lehmboden. Gelbe Blüten. Und er hatte alles geschluckt. Meister Josef fiel auf die Knie und griff an sein Herz. Der Trank war so stark. Wer konnte solch Elixier zubereiten? Digitalis grandiflora. Die Wolken zogen über das Firmament, grüne Schäfchen im gelben Himmel. Der Geschmack des Elixiers war so überaus wohltuend, doch das Herz setzte aus.
Er hörte seinen Großvater lachen.
Ich komme, Opa, du hast als einziger mit uns Kindern gelacht, doch nie im Haus, immer nur auf den Feldern oder bei den Obstbäumen, wenn Oma es nicht bemerkte, Opa, ich kann jetzt auch lachen, höre nur, wie ich lache, lache, lache …
»Das ist kurz gesagt eine wasserdichte Prozessdefinition.«
Er musste urinieren, sich entleeren, schnell. Der Kaffee, der verfluchte Kaffee. Wasser lassen. Dringend.
Der Mann mit der kahlen Stirn und dem millimeterkurz geschnittenen Haar zupfte an seiner Krawatte, der oberste Hemdknopf war geöffnet, die in feines Tuch gehüllten Beine waren leger übereinandergeworfen. Er wischte mit der rechten Hand scheinbar spielerisch über die vor ihm auf dem Konferenztisch liegenden farbig bedruckten Papiere, als ob es in diesem hygienisch gereinigten, vollständig klimatisierten Hightechraum noch irgendein Staubkörnchen zu beseitigen gäbe.
»Das ist ja alles schön und gut, aber …«
Eine bedeutungsschwere Pause im Diskurs der vier Männer öffnete sich, legte sich wie eine dunkle Aschenwolke in die Atmosphäre, lähmend, bedrückend.
Wo findest du noch einen Haken, du aufgeblasener Popanz, du Quertreiber, du Kasperl in Managementklamotten, geisterte es durch Robert Wiesers Kopf. Womit willst du mich nach drei Stunden mühsamer Verhandlung, am Rande einer Koffeinvergiftung schrammend, noch aufhalten? Ich will hier raus, fort von dieser Bande ignoranter Blödiane mit goldenen Kugelschreibern und grafiklastigen Besprechungsunterlagen.
»Aber was?«, fragte Robert schließlich, trat von dem Flipchart weg und ließ sich auf seinen Sitzplatz sinken.
Der Mann mit der Glatze, Magister der Betriebswirtschaftslehre und seit fünf Jahren Supplymanager in diesem halbstaatlichen Energieversorgungsunternehmen, zu dessen Lieferanten Roberts Firma zählen wollte, blätterte scheinbar zielgerichtet in den Unterlagen und war doch ohne jede Orientierung. Oder war es Robert, der die Orientierung verloren hatte? War es Robert, der nicht mehr wusste, was ihn überhaupt hierher geführt hatte? Mit wem er hier überhaupt sprach? Nach all den Jahren in der Firma, nach all den Meetings und Konferenzen, Präsentationen und Projektierungsgesprächen konnte er die einzelnen Gesichter nicht mehr voneinander unterscheiden. Er war ausgelaugt, am Ende, völlig kraftlos und ohne jeglichen Antrieb. Und er musste auf das Klo. Dringend.
»Ja, das ist es!«, rief der Mann mit Glatze endlich aus. »Ich glaube über den Field Support haben wir nicht detailliert genug gesprochen. Da sind noch Punkte offen. Da müssen wir nachhaken.«
Nachhaken? Will er wirklich nachhaken? Der übergewichtige Volltrottel will da tatsächlich noch einmal nachhaken. Ich werde dir die Krawatte abhacken und nicht in den Prozessdefinitionen nachhaken. Die Krawatte, oder etwas anderes. Dieses feiste Schwein.
»Sehr gern, Herr Magister Reicher! Wenn Sie da offene Punkte sehen, können wir diese jederzeit thematisieren und alle Fragen eingehend diskutieren. Dafür sind wir ja heute hier zusammengekommen.«
Ich bin ein Profi, das sagen alle, ich bin seit fünfzehn Jahren ein bewährter Projektmanager, ich habe schon in Konferenzen gesessen, da bist du Schlappschwanz noch auf der Uni den Professoren in den Arsch gekrochen. Okay, in letzter Zeit habe ich ein kleines Motivationsproblem und leide an Schlafstörungen, aber das binde ich dir sicherlich niemals auf die Nase, das sage ich nicht mal meinen Kollegen und schon gar nicht meinem Vorgesetzten. Der im Übrigen drei Jahre jünger ist als ich. Der im Übrigen vor einem halben Jahr den Job als Abteilungsleiter übernommen hat, den ich mir wirklich mehr als verdient habe. Der im Übrigen ein schleimiger Mistkerl ist.
Es klopfte an die Tür des Konferenzsaals, die Tür ging auf und der Direktor des Kraftwerkes Dürnfeld trat herein. Die vier Männer im Konferenzraum erhoben sich unwillkürlich.
»Nun, meine Herren, sind Sie mit der Besprechung gut voran gekommen?«, fragte Diplomingenieur Georg Haunold in seinem charakteristischen Tonfall von Höflichkeit, Bestimmtheit und Eloquenz.
Es gab einen speziellen Typus von Männern, den Robert Wieser respektieren konnte und musste, und der Direktor des Kraftwerkes Georg Haunold war einer von diesen. Das war ein Mann, der mit wenigen Gesten Vertrauen erweckte und mit ein paar Worten Kompetenz vermittelte.
»Ja, wir liegen gut in der Zeit«, sagte Magister Reicher dienstbeflissen.
»Das ist prima. Wie angekündigt werde ich mich nach dem Essen an der Besprechung beteiligen, jetzt aber meine Herren, bitte ich Sie, auf die Uhr zu sehen. Es ist zehn Minuten nach zwölf, der Cateringservice hat geliefert, also schlage ich vor, wir kümmern uns nun um das leibliche Wohl und nehmen einen Happen zu uns.«
Zustimmendes Gemurmel, bejahendes Kopfnicken, rückende Stühle aus eloxiertem Aluminium. Endlich freie Bahn auf die Toilette. Robert erhob sich und versuchte, nicht zu hektisch den Raum zu verlassen. Plötzlich trat jemand in seinen Tunnelblick.
»Herr Ingenieur Wieser, jetzt mal unter uns, Sie haben sich ja ganz schön ins Zeug gelegt, aber …«
Robert hörte nicht mehr, was der fette Ignorant sagte, er sah nur noch sich öffnende und schließende fleischige Lippen, roch teures Rasierwasser, verspürte den unbändigen Wunsch, diesem unsympathischen Widerling das Knie mit voller Wucht in den Unterleib zu rammen.
»Herr Magister, geben Sie mir bitte eine Minute, dann stehe ich Ihnen wieder voll zur Verfügung. Ich muss mal für kleine Buben.«
»Ach so, ja, natürlich. Den Gang geradeaus und dann links.«
Mit stechenden Schmerzen eilte Robert los. Warum war er nicht während der Besprechung ausgetreten? Niemand hätte etwas dagegen gehabt. Es ist doch ganz natürlich, und manche Menschen verfügten eben über kleine Blasen, das ist wirklich kein Problem. Warum war er noch niemals während einer laufenden Besprechung ausgetreten? Warum war er noch immer nicht aus seinem idiotischen Leben ausgetreten?
Christinas Blick glitt immer wieder über die Oberfläche des schnell strömenden Wassers der Enns. Sie atmete tief, regelmäßig, die letzten paar Meter mobilisierte sie noch einmal ihre Kräfte, erhöhte das Tempo, holte zu weiten Laufschritten aus. Die Regenfälle der letzten Woche hatten die Enns anschwellen lassen, weitere ergiebige Güsse und der Fluss würde über die Ufer treten. Sie trat zu einem Schlusssprint an, erreichte das Ziel und stoppte den Lauf. Christina schüttelte ihre Glieder und machte ein paar Dehnungsübungen, ihr Atemrhythmus beruhigte sich, das verlässliche Glücksgefühl nach einem Lauf breitete sich in ihr aus. Das bräunliche, trübe Wasser der Enns vermischte sich mit dem grünlichen Wasser der Steyr, eine Weile schaute sie dem Tosen der ineinander fließenden Flüsse zu. Sie hatte schon als Kind, als sie mit ihren Eltern manchmal eine alte Tante in der Stadt Steyr besucht hatten, diese bestimmendste aller Charakteristiken der Stadt geliebt. Fließendes Wasser hatte immer eine Faszination auf sie ausgeübt, Quellen, Bäche, kleine Flüsse, immerzu hatte sie in ihrer Kindheit bei den Ausflügen mit den Eltern danach gesucht und war kaum vom Spielen an den Ufern wieder wegzubringen gewesen. Und nun wohnte sie in dieser Stadt an der wasserreichen Enns und der kristallklaren Steyr, diesen Flüssen, die in erdgeschichtlicher Verlässlichkeit die Wassermassen aus den Bergen in das Flachland trugen, und die hier, in Sichtweite vom Fenster ihrer Küche, ineinander flossen.
Christina drehte sich um und trabte gemächlich die Gassen empor, zog den Schlüssel aus der Tasche ihrer Jogginghose und verschwand in dem Neubau, in dessen dritten Stock ihre Wohnung lag. Seit sechs Jahren wohnte sie nahe der Enns, in dieser Zeit war das Haus noch nicht von den wiederkehrenden Hochwassern betroffen gewesen. Drüben in der Altstadt, am anderen Ufer der Enns, liefen von Zeit zu Zeit Keller voll, ihr Keller war bislang trocken geblieben.
Christina schlüpfte aus den Laufschuhen und der Sportbluse. Die Wohnung war groß, breite Fenster in der Dachschräge öffneten sich dem Licht, die luftigen Zimmer offerierten Wünschen nach Komfort breiten Raum, ihr Mann hatte ihr bei der Einrichtung alle Freiheiten gewährt, hätte keine Kosten und Mühen gescheut, doch sie hatte sich für weiße Wände und schlichte Möbel aus hellem Ahorn- und Fichtenholz entschieden.
Christina hob den kleinen Zettel vom Wohnzimmertisch und las die zwei Zeilen, die Wilhelm in seiner krakeligen, immer etwas hastig gesetzten Schrift hinterlassen hatte. Sie lächelte und legte den Zettel wieder auf den Tisch. Christina entledigte sich nun auch der Hose und stieg in die Dusche. Wie zuvor besprochen war Wilhelm aufgebrochen, als sie beim Laufen gewesen war. Er würde wieder einmal eine Woche unterwegs sein, zuerst geschäftliche Termine in Deutschland und danach in Dänemark wahrnehmen, würde versuchen, für sein Unternehmen neue Aufträge an Land zu ziehen und er würde gewiss wieder erfolgreich sein. Wilhelms Firma war in den letzten Jahren zwar langsam, aber beständig gewachsen. Sie hatte einen ebenso kultivierten, wie wohlhabenden Mann geheiratet. Und er hatte sie nie vereinnahmen wollen, hatte ihr ganz selbstverständlich Freiheiten gewährt, hatte sie nie bedrängt, ihren Beruf aufzugeben und in seine Firma einzusteigen. Verlässlichkeit und Freiheit, das waren bislang die tragenden Säulen ihrer nunmehr seit sechs Jahren bestehenden Ehe gewesen. Es gab keinen Grund zur Annahme, dass sich dies in Zukunft ändern würde. Wilhelm hatte einen jugendlichen Sohn aus seiner ersten Ehe, mit dem er sich ausgezeichnet verstand. Christinas Mann war nicht unbedingt ein grau melierter Beau, aber er war schlank und für seine einundfünfzig Jahre sehr sportlich. Beim Sport hatten sie sich auch kennengelernt. Sich an einen um vierzehn Jahre älteren Mann zu binden, der seine Sturm-und-Drang-Jahre hinter sich hatte, brachte in Christinas Augen gewisse Vorteile.
Nach der Dusche wählte Christina die Kleidung für den Arbeitstag, der für sie heute erst am frühen Nachmittag beginnen würde. Bedächtig tippte sie die Geheimnummer in den Wandtresor, die Riegel öffneten sich klackend, sie zog die Tür auf und entnahm die Pistole. Mit geübten Griffen kontrollierte sie die Ladung und Sicherung der Waffe und steckte sie schließlich in das Hüftholster. Eine bequeme Sommerjacke verdeckte Waffe und Holster.
Christina blickte auf die Anzeige ihres Handys. Ein wenig Zeit bis zum Dienstantritt blieb noch, sie würde also in der Orangerie im Schlosspark noch eine Tasse Kaffee nehmen können. Das Wetter sprach unbedingt dafür.
Robert Wieser stand vor dem Waschbecken und starrte auf sein Spiegelbild. Sein Haar an der Schläfe zeigte mittlerweile einen erkennbar grauen Ton. Vor ein paar Jahren war der Scheitel etwas schütter geworden, Robert konnte sich noch genau an die aufsteigende Panik erinnern. Aber der Haarausfall war nicht vorangeschritten, der Scheitel war etwas dünner geworden, die befürchtete Glatze hatte sich zum Glück nicht gebildet. Und die grau melierten Schläfen machten sich gar nicht schlecht, es hieß doch, dass viele Frauen Männer mit grauen Schläfen bevorzugten, sie anziehender als junge Spunde und unerfahrene Grünschnäbel fanden, insbesondere wenn diese Männer schlank waren und eine herb würzige männliche Agilität vermuten ließen. Robert Wieser war grau meliert, schlank durch die regelmäßigen Besuche im Fitnesscenter und seine besonnene Ernährungsweise, doch was war mit seiner Agilität? Er stand in der Mitte seines Lebens, war dreiundvierzig Jahre alt. Das Spiegelbild im künstlichen Licht einer x-beliebigen Toilette im x-beliebigen Bürotrakt einer x-beliebigen Industrieanlage ließ nicht vermuten, dass der Mann hinter diesem Spiegelbild trocken war wie altägyptisches Pergament, dass jeden Tag ein kleines Stück von ihm zu Staub zerfiel.
Wie lange würde er das Versteckspiel noch durchstehen, wie lange die Maskerade noch aufrechterhalten können? Wann hatte er zuletzt mit einer Frau geschlafen? Also wirklich gebumst, nicht nur schnell den Notstand herausgetropft, sondern wirklich leidenschaftlichen, mitreißenden, erfüllenden Sex gehabt? Robert dachte an Herta. Sofort öffnete er den Wasserhahn und seifte seine Hände kräftig ein. Nach Parfüm duftender Schaum sickerte in den Abfluss.
Seine Frau Herta hatte mit seinen Wünschen, seinen Sehnsüchten, seiner Einsamkeit schon lange nichts mehr zu tun, seine Frau Herta interessierte sich nicht mehr für ihn, ließ ihn gelegentlich, immer seltener, gewähren, kümmerte sich aber in der Regel um ihre Belange. Der Robert ist in Wahrheit mit seiner Arbeit verheiratet, hatte Herta an seinem fünfunddreißigsten Geburtstag den zum Fest geladenen Bekannten erstmals gesagt. Robert konnte sich an die Szene bis in die kleinsten Details erinnern. Er war gegen das Geburtstagsfest im Garten seines Häuschens gewesen, gegen die Idee, mit Grillkoteletts und Würstchen, mit Obstsäften und für die Herren mit ein paar Bierchen dieses Jubiläum zu begehen, aber Herta hatte alles im Handumdrehen organisiert gehabt. Und zugegebenermaßen, den Gästen hatte der Nachmittag beim Grillen und der laue Abend bei der einen oder anderen Flasche gut gekühlten Weißweins gefallen. Und seine Frau hatte gesagt, er wäre in Wahrheit mit seiner Arbeit verheiratet. Niemals hätte Robert so etwas von sich behauptet, niemals wäre er auch nur auf diesen Gedanken gekommen, die Arbeit war die Arbeit, die Ehe war die Ehe. Viel später hatte Robert verstanden, warum Herta das gesagt hatte, hatte ihre hintergründige Strategie durchschaut, ihre Pläne entlarvt. Dieser Satz war nämlich zu dieser Zeit kein Befund einer gegenwärtigen Lebenssituation gewesen, sondern der Grundriss eines in der Zukunft zu realisierenden Lebensplanes. Sie hatte ihn dazu verdonnert, mit seiner Arbeit verheiratet zu sein, sie hatte sich seiner lästig gewordenen Anwesenheit durch das lebenslange Büro und endlose Dienstreisen entledigen wollen. Und er hatte getan, was sie gesagt hatte, hatte immer getan, was sie gesagt hatte. Er verdiente als Ingenieur seriös, und seit zwei Jahren war der Kredit für das in frühen Jahren gebaute Einfamilienhaus im Süden Wiens zurückgezahlt, die zwei Kinder waren zu durchschnittlichen Jugendlichen mit hinreichenden schulischen Erfolgen herangewachsen. Alles lief nach Plan, noch zwanzig Jahre fleißige Erwerbsarbeit des Familienvorstandes und eine Rente in finanzieller Sicherheit und mit solidem sozialem Prestige würde möglich sein.
Und wo war er selbst in dieser Geschichte? Was war seine Rolle?
Robert Wieser fand, dass das Hautgewebe seiner Wangen schlaff zu werden begann. Und hatte er nicht zwei Kilogramm zugenommen? Wie war es mit dem Mundgeruch? Hatte er beim Pinkeln auf seine Schuhe getropft? Was genau hatte der Mann mit der Glatze und dem leger gelockerten Krawattenknopf von ihm gewollt? Ach ja, Prozesse, technische Lösungen, Optimierungen in der Supply Chain und Konkretisierung der Dienstleistungen des Field Services. Irgendetwas in dieser Art. Diese Hyänen, diese Aasgeier, sie witterten, dass der Leithirsch waidwund war, sie umlagerten ihn, jederzeit bereit, ihm die geifernden Fangzähne in die Flanken zu hauen.
Sollte er sich für den Rest des Tages in der Toilette einsperren?
Bedächtig spülte sie das Geschirr im kalten Wasser und stapelte die tropfnassen Holzteller aufeinander. Senta tat diese wie alle ihre Arbeiten ruhig und gemessen, nichts trieb sie zur Eile, nichts veranlasste sie zu Schlampigkeit, sie hatte alle Zeit der Welt und an einem so schönen Mittag wie heute, sommerlich warm, luftig und hell, nach einem Mittagsmahl im Kreise ihrer Freunde könnte heute Zufriedenheit das bestimmende Lebensgefühl in ihr sein. Dennoch war eine unbestimmte Unruhe in ihr, eine Art dunkler Schatten hatte sich gezeigt. Der Gemüseeintopf mit Dinkelbrot hatte allen gemundet, auch die neuen Leute, die am späten Vormittag gekommen waren, hatten sich die Mägen vollgeschlagen.
»Ja, was ist denn das? Schau mal, Senta, Ernst kommt zurück.«
Senta Wegscheider wischte ihre Grübelei zur Seite, hob ihren Blick und schaute zum Weg am Waldrand, wo ein breitschultriger Mann mit dichtem Vollbart eine Scheibtruhe gemächlich vor sich her schob.
»Er wird wohl Hunger haben«, sagte Senta zu ihrer langjährigen Freundin Gerlinde, die mit einem Geschirrtuch die Teller trocknete.
»Kann nicht sein, er hat genug zu essen mitgenommen.«
»Dein Mann ist immer hungrig«, meinte Senta mit einem verschmitzten Lächeln.
Gerlinde Riemenschmied warf sich das feuchte Geschirrtuch über die Schulter und stemmte die Fäuste in die Hüften.
»Ja, schon, aber Josef und er wollten doch den Komposthaufen öffnen.«
Nun hielt auch Senta in ihrer Arbeit inne. Gemeinsam warteten sie, bis der Mann die Scheibtruhe abgestellt hatte und lächelnd auf sie zukam.
»Seid ihr schon fertig, oder was ist los?«, rief Gerlinde ihrem Ehemann zu.
Ernst Riemenschmied zuckte mit den Schultern, steckte seine großen Hände in die Taschen seiner Arbeitshose und spähte in den großen Kochtopf.
»Der Josef war nicht da, er wird es sich wohl anders überlegt haben. Oho, da ist ja noch etwas Eintopf übrig geblieben.«
»Nimm dir einen Teller und iss. Die anderen sind schon satt«, forderte Senta Ernst auf.
Dieser Einladung folgte Ernst sofort, er schnappte einen Holzteller und griff zum Schöpflöffel.
»Komisch, Josef hat doch gesagt, der Haufen wäre reif«, wunderte sich Gerlinde und setzte ihre Arbeit fort.
»Es hat herumgestochert, das war zu sehen«, sagte Ernst mit vollem Mund. »War wohl doch noch nicht so weit. Ich habe drüben ein bisschen Gras geschnitten. Heute wird es noch regnen.«
Die drei erhoben die Blicke und schauten in Richtung Westen. Tatsächlich schoben sich dichte Wolken langsam auf sie zu. Ernst setzte sich neben den beiden Frauen auf einen Hocker und löffelte den Eintopf. Hinter ihnen befanden sich die Jurten, in denen sie wohnten, und vor ihnen liefen ein paar Kinder der Kommune lärmend und lachend umher. Das Jurtendorf am Bachleithenwald wurde von rund fünfzig Menschen ständig bewohnt, sehr zum Ärger der Dorfbevölkerung von Dürnfeld und der lokalen Behörden, sehr zum Leidwesen der Betreiber des benachbarten Kohlekraftwerks. Die Kommune der Erdenkinder hatte es sich zum Ziel gemacht, durch gewaltlosen Protest und zivilisationsfreie Lebensweise gegen den Betrieb des Kraftwerkes zu protestieren. Und auf dem Grundstück des Bachleithenhofes hatten sie ein Jurtendorf errichtet und waren dort trotz einiger Gerichtsverfahren noch nicht vertrieben worden. Das Erfolgsrezept gegen alle Räumungsklagen war, dass Josef Lehner rechtzeitig seine Wiese am Waldrand offiziell als Campingplatz deklariert hatte. Der Gemeinderat hatte nach einigen Gesprächen der geschäftlichen Initiative des renommierten Großbauern, die Wiese als Campingplatz zu nutzen, zugestimmt, als dann aber statt der holländischen und deutschen Touristen mit ihren Campingbussen barfuß laufende Ökospinner aufgetaucht, und als dann auch noch Jurten aus Holz, Lehm und Stroh statt eines Einkaufszentrums und einer Tankstelle gebaut worden waren, war die Stimmung sehr schnell gegen Josef Lehner und die Bande von Verrückten umgeschlagen.
»Es sind heute wieder ein paar neue Gäste gekommen«, berichtete Senta, die von allen als Anführerin der Kommune akzeptiert wurde.
»Touristen?«, fragte Ernst und stellte den Teller ab.
»Es ist Sommer, da trauen sie sich aus ihren Bobowohnungen heraus und spielen ein bisschen Rettung der Welt«, sagte Gerlinde mit ironischem Unterton zu ihrem Mann. »Wir haben sie gefüttert und zum Kraftwerk geschickt. Dort sollen sie erstmals ihr ökologisches Mütchen kühlen.«
Der breite Korpus des massigen Mannes wogte beim Lachen. Die Frauen stimmten ein. Wenn Ernst Riemenschmied lachte, dann musste man wohl oder übel mitlachen, und er lachte gerne und oft. Er kratzte seinen Bauch und leckte ein paar Eintopfreste aus seinem Bart.
»Schauen wir mal, ob sie beim Zaun bleiben, wenn es regnet.«
Es war ein beliebtes und bewährtes Spiel der Erdenkinder, den oft jugendlichen und zumeist urbanen Sympathisanten, die in den Sommermonaten mit ihren Rucksäcken voller idealistischer Ökofantasien zu ihnen kamen, die Wache am Zaun vor dem Kraftwerk dann zu übertragen, wenn das Wetter umschlug und sie im Regen ausharren mussten. So trennte man schnell die Spreu vom Weizen, die großstadtneurotischen Widerstandstouristen von den echten Aktivisten.
»Meinrad hat sie hinüber geführt«, ergänzte Gerlinde.
Das Lächeln in Ernsts Gesicht verschwand mit einem Mal, seine Stirn verfinsterte sich, er verschränkte seine muskulösen Arme.
»Ich hoffe, du hast unserem werten Herrn Sohnemann ausgerichtet, dass er es nicht wieder so bunt treiben darf.«
»Keine Sorge«, warf Senta Wegscheider mit sanfter und doch bestimmter Stimme ein. »Der Meinrad ist und bleibt ein Pfiffikus, aber er weiß, wie weit er gehen kann.«
»Dein Wort in Gaias Ohr«, brummte Ernst, erhob sich und wandte sich zum Gehen.
»Zeit für ein Mittagsschläfchen?«, fragte Gerlinde süffisant.
Mit der Liebenswürdigkeit eines etwas zu groß und zu schwer geratenen Teddybären zwinkerte er zustimmend seiner Frau Gerlinde und seiner langjährigen Freundin Senta zu und verschwand in der Jurte.
Der Vorteil lag klar auf der Hand, der Sommer würde wohl noch die eine oder andere liebsame Überraschung mit sich bringen. Zwei davon standen ihm gegenüber. Meinrads Miene war von der Ernsthaftigkeit des Auftrages, von der Last der Verantwortung und der Notwendigkeit des konkreten Handelns erfüllt. Die zwei Münchner Studentinnen, die er mit einiger Mühe aus der Gruppe der Neuzugänge herausgefiltert hatte, blickten ihn neugierig geworden an. Ja, sie waren Anfang zwanzig, ja, sie studierten in der Großstadt, waren weltgewandt und dachten systemkritisch, zweifellos waren sie schon mit Sandalen und Rucksack quer durch Australien getrampt, hatten gewiss schon eine erkleckliche Zahl an Dinkelmehlkeksen bei Ökopartys zu sich genommen, und er war erst siebzehn, lebte bei den Hinterwäldlern auf dem Land und war von den beiden anfangs gar nicht wirklich wahrgenommen worden, aber das hier war sein Territorium, das hier war sein Spiel. Meinrad zeigte mit verkniffenen Augen in die Ferne.
»Dort drüben ist die Bahnlinie. Die polnische Steinkohle kommt mit dem Zug. Meistens sind es Güterzüge mit eintausend Tonnen Kohle, manchmal liefern sie auch mehr. Das Steinkohlelager ist überdacht und seit wir hier sind, haben sie auch Seitenwände auf der Halle. Damit wir die Kohleberge von hier aus nicht sehen können. Das Kraftwerk hat die Luken dicht gemacht, die lassen sich nicht mehr in die Karten schauen. Als wir unsere Siedlung aufgebaut haben, haben sie nur einen Zaun gehabt, drei Meter Maschendraht. Ein Klacks, da drüberzuklettern. Ich habe öfter mal mit meinen Kumpels eine Kohlepartie gemacht. War geil. Echt.«
Die beiden Studentinnen schauten ihren jungen Reiseführer fragend an.
»Was hast du gemacht?«, fragte Annegrit, eine hübsche Blondine aus Niederbayern, die in München Psychologie oder etwas Ähnliches studierte.
Meinrads Blick strich über ihren Hals und er malte sich aus, ihr einen Knutschfleck auf die Haut ihres linken Nackenmuskels zu machen.
»Eine Kohlepartie? Kennst du nicht? Na klar, du bist ja neu. Pass auf, das geht so. Man steigt in der Nacht über den Zaun und klettert auf einen Kohleberg. Und dann geht’s voll runter, runterlaufen, springen, Purzelbäume schlagen. Man braucht natürlich feste Schuhe und am besten eine Lederjacke. Voll geil. Du löst dabei laufend kleine Lawinen aus, die lose aufgehäufte Kohle verstreut sich weit und breit. Ist zwar staubig und man kriegt eine Kohlelunge, macht aber Spaß. Am nächsten Tag haben die Arbeiter dann den Schlamassel, weil bei einer echten Kohlepartie schon mal die eine oder andere Tonne Kohle abrutschen und dann in der Gegend herumliegen kann. Das geht jetzt nicht mehr. Drei Mal haben wir es gemacht, da war pausenlos die Polizei bei uns in der Siedlung, die Alten haben nur Probleme gemacht, und so. Wie ihr seht, haben sie rund um das Kraftwerk zweifachen, sieben Meter hohen Drahtzaun gezogen, Stacheldraht obenauf und Stromfallen. Außerdem gibt es drei Dutzend Videokameras, Selbstschussautomaten und einen Maschinengewehrstand.«
Die beiden Studentinnen starrten Meinrad erschrocken an. Er erwiderte für einen Moment ihren Blick, ernst und sich der Gefährlichkeit ihrer Arbeit hier voll bewusst, dann lachte er lauthals und umarmte die beiden jungen Frauen. Sie fühlten sich gut an, schlank, gut gebaut und von ihrer Mission überzeugt.
»Nein, entschuldigt, das mit den Selbstschussautomaten und dem Maschinengewehr war geflunkert, das wäre ja gar nicht möglich. Wir leben ja in einem Rechtsstaat. Ein paar Leute von Dürnfeld würden uns am liebsten massakrieren, aber die Direktion des Kraftwerks verhält sich eigentlich anständig. Am Anfang gab es da massive Probleme mit Schlägertrupps, einmal haben sie sogar in der Jurtensiedlung Feuer gelegt, und so Scheiß, doch seit der neue Direktor im Amt ist, hat das aufgehört. Seit einem Jahr gibt’s eigentlich kaum mehr Zusammenstöße, wir machen unseren gewaltfreien Protest gegen den Klimawandel und sie verheizen weiter in aller Ruhe die polnische Steinkohle. Und wenn sich ein paar Heißsporne auf die Schienen ketten, um die Züge aufzuhalten, kommen die Arbeiter mit einer Kiste Bier und Grillwürsten, schneiden die Leute von den Schienen und tragen sie von den Gleisen fort. Dann wird gemeinsam gegrillt und getrunken, und ein paar hundert Tonnen Kohle fahren ins Areal. Der Direktor hat für seine Strategie der Deeskalation vom Minister und vom Landeshauptmann volle Anerkennung gekriegt.«
»Ja, aber sie verbrennen trotzdem die Kohle und blasen nach wie vor CO2 in gigantischen Mengen in die Atmosphäre. Da muss doch was getan werden! Das können wir doch nicht zulassen! Die Eisbären in Grönland sterben und ihr esst Grillwürstchen! Wir müssen etwas unternehmen!«
Meinrad musterte Annegrit eingehend. Dreiundzwanzigjährige Studentinnen, die mit vollem Eifer und aus tiefster Überzeugung die Eisbären Grönlands retten wollten, hatten etwas ausnehmend Anziehendes. Wahnsinnig sexy. Wie lange würde er brauchen, um mit ihr im Gebüsch zu verschwinden? Ein noch fernes Donnergrollen war zu hören, die dunkle Wolkenbank schob sich von einem auffrischenden Westwind vorangetrieben auf sie zu.
»Meine Mutter ist Mathematikerin«, sagte Meinrad nach einer ganzen Weile bedeutungsvollen Schweigens. »Sie hat ausgerechnet, dass ich in den letzten zehn Jahren, durch die Art, wie ich lebe, so viel CO2-Äquivalente verbraucht habe, wie jemand, der einmal mit dem Auto von München nach Wien fährt. Bist du schon mal mit dem Auto von München nach Wien gefahren?«
Annegrit schaute Meinrad entgeistert an. Also war sie schon mal mit dem Auto von München nach Wien gefahren. Den Vergleich hatte Meinrad natürlich frei erfunden, mit solchen kleinen Erfindungen gelang es ihm immer wieder wunderbar, die Selbstsicherheit sich für klüger, erfahrener und wichtiger haltender Menschen gezielt zu unterlaufen. Meinrad schaute kurz in den Himmel. In etwa einer halben Stunde würden die Wolken brechen und für einen schönen Regenguss sorgen. Er schmunzelte vor sich hin.
»Und wenn du etwas unternehmen willst, dann bleib hier am Zaun als sichtbares Mahnmal gegen die Umweltzerstörung stehen. In drei Stunden komme ich wieder und bringe euch zum Abendessen in die Siedlung.«
Meinrad zwinkerte den beiden jungen Frauen zu und stapfte davon. Seine Mutter hatte schon vor drei Jahren gesagt, er wäre frühreif, und zum Glück hatte er die kräftige Konstitution seines Vaters geerbt. Das Leben konnte ein Vergnügen sein, vor allem wenn man verstand, sich einen Jux zu machen.
Das Donnern verdichtete sich. Vielleicht würde es nicht mal eine halbe Stunde dauern. Meinrad beschleunigte seinen Schritt.
Wenn die Müdigkeit das Einzige war, was einen wach hält, wird jedes Gespräch zu einer Tortur, wird jede gesellschaftskonforme Höflichkeit zu einer Höllenqual, wird jedes zwischenmenschliche Wort zu einem Peitschenschlag auf den nackten Rücken.
»… muss ich wirklich sagen, dass wir durch die klare Abgrenzung von Verantwortungsbereichen im Projektmanagement eine sehr solide Basis für die Meilensteine der Abwicklung gefunden haben. Also, ich bin zuversichtlich, dass der Verlauf eine positive Richtung nimmt. Und was unsere Software leistet, habe ich Ihnen demonstriert, Ihre Workflows werden damit effizient unterstützt, sodass …«
Worthülsen, die aus irgendeinem Repertoire gezogen und in beliebiger Form repliziert wurden. In einer Verfassung wie seiner war es gleichsam die einzige Überlebensmöglichkeit auf solche Repertoires zurückgreifen zu können. Robert Wieser hatte keine Ahnung, wie lange sich die Abschiedsprozedur nun schon hinzog. Am Nachmittag war die Gesprächsrunde geschrumpft, der Direktor und sein Stellvertreter hatten sich nach einer Stunde, wie sie formuliert hatten, aus dem Meeting ausgeklinkt, und Robert war mit dem Supplymanager und dessen Mitarbeiter im Konferenzraum verblieben, um die letzten offenen Punkte zu besprechen.
Die drei Männer in Anzügen standen beieinander, sie hatten ihre Unterlagen schon eingepackt, hielten ihre Taschen reisebereit in den Händen, wollten alle schon den kurzen Feierabend antreten und kauten doch noch immer Themen durch, die an diesem langen Arbeitstag schon mehrfach abgehandelt worden waren. Erst als der Supplymanager des Kohlekraftwerks Dürnfeld unmissverständlich auf seine Uhr blickte, war das Signal zum Aufbruch gegeben. Robert räusperte sich, seine Stimmbänder waren von der endlosen Diskussion angegriffen, und er reichte dem Mann die Hand.
»Also, auf Wiedersehen, Herr …«
Panik flammte auf. Da war er von neun Uhr morgens bis halb sechs Uhr abends mit dem Mann beisammen gesessen und hatte geredet und geredet, und jetzt war ihm der Name plötzlich entfallen. Robert versuchte sich nichts anmerken zu lassen.
»… Herr Magister.«
»Auf Wiedersehen, Herr Ingenieur.«
Robert reichte auch dem erschöpft wirkenden Mitarbeiter des Supplymanagers die Hand. Die drei Männer verließen den Konferenzraum, die beiden Mitarbeiter des Kraftwerkes begleiteten Robert bis vor die Tür auf den Parkplatz. Robert schnappte nach Luft. Es war angenehm warm, aber die Luftfeuchtigkeit war außerordentlich hoch. Wasserpfützen standen auf dem Parkplatz.
»Na, Gott sei Dank hat der Regen wieder aufgehört«, sagte Magister Reicher.
Robert war irritiert. Hatte es geregnet? Er wusste es nicht, er hatte es gar nicht bemerkt, er war viel zu sehr beschäftigt gewesen, seine Vitalfunktionen mit Routine und Verbissenheit aufrechtzuerhalten.
»Bei dem Regenguss werden unsere Ökofuzzis ganz schon geduscht worden sein«, witzelte Reicher, woraufhin sein Mitarbeiter ein bemühtes und doch irgendwie schadenfreudiges Lächeln aufsetzte.
Robert verstand gar nichts. Hatte er irgendetwas im Gespräch verpasst? Was meinte der Mann mit Ökofuzzis? Reicher interpretierte Roberts Miene offenbar richtig, denn er zeigte hinüber zu den Wiesen und Feldern.
»Dort stehen sie, unerschütterlich auch im Regen. Tja, Kohle dürfen wir nicht verheizen, aber der Strom soll schon aus der Steckdose kommen.«
Jetzt lachte auch Robert, denn er konnte sich dunkel erinnern, dass heute früh, als er mit dem Auto auf das Kraftwerk zugefahren war, ein paar verirrte Leute mit Stopp-dem-Klimawandel-Transparenten neben der Straße gestanden hatten.
»Na dann, wünsche ich noch eine gute Fahrt«, sagte Magister Reicher und reichte Robert erneut die Hand. Hörte das denn niemals auf?
Nach weiteren unendlichen Mühen, gelang es Robert die Sicherheitskontrollen hinter sich zu lassen und mit dem Auto langsam über die Landstraße zu fahren. Er öffnete die Fenster und schnappte nach der hereinströmenden Luft. Ein Blick in den Rückspiegel versicherte ihm, dass er das Kraftwerksareal wirklich hinter sich gelassen hatte. Robert lenkte den Wagen, ohne tatsächlich auf den Straßenverlauf zu achten, aber mit untrüglicher Routine auf den Wald zu. Sein Tempo war höchstens gemächlich, auf der Autobahn würde er den Wagen schon noch laufen lassen. Robert hatte Kopfschmerzen, sein Hals kratzte, ihm war übel und doch war er erleichtert. Das Geschäft war unter Dach und Fach, er hatte sich wieder einmal über die Ziellinie gerettet. Wie oft noch? Wie lange noch?
Meinrad geisterte durch den Wald, darauf achtend, nicht über Wurzeln oder herumliegende Äste zu stolpern. Ihm war schwindelig, alles drehte und bewegte sich in seinem Kopf. Das Zeug haue richtig rein, war ihm versichert worden, das sei kein gestreckter Biomüll, das sei erstklassiges, unverschnittenes Gras, das sei Natur pur. Die Neuankömmlinge aus München waren tatsächlich für einige Überraschungen gut, zuerst die hübschen Studentinnen, und dann noch die zwei langhaarigen Hanfzüchter. Achim und Bernhard, zwei urbane Tagediebe, deren literaturwissenschaftliche Studien sich insbesondere und, wie sie versicherten, mit zunehmender Ausschließlichkeit auf Handbücher über Hanfpflanzungen in geschlossenen Räumen erstreckten. Auf vierzig Quadratmetern im Dachgeschoss eines alten Zinshauses in München, das Achims Tante gehörte, hatten sie einen Marihuanagarten mit Lampen und Heizstrahlern eingerichtet, sodass sie nicht mehr von illegalen Importen abhängig waren. Die beiden hatten während des Regengusses in ihrem Zelt einen dicken Joint gedreht und Meinrad davon abgegeben. Meinrad hatte zwar schon einmal an einem Joint gezogen, aber davon war ihm damals augenblicklich schlecht geworden, sodass er keine große Lust verspürt hatte, der Einladung der zwei vermeintlichen Weltverbesserer zu folgen. Erst nach einiger Überredung hatte er doch an den ihm unter die Nase gehaltenen Joint gezogen und nun taumelte er, nachdem die erste Welle von Übelkeit überwunden war, total high durch den Wald.
Ihm war klar, dass er die beiden Kerle in den nächsten Tagen meiden würde wie der Teufel den Weihrauch. Da hielt er sich schon lieber an die Vergnügungen, die ihm die feschen Studentinnen zu bieten versprachen. Er beeilte sich, denn der Regen war längst vorbei, langsam brach der Abend an und in der Siedlung wurde schon in einem großen Kessel über offenem Feuer die allabendliche Suppe gekocht. Er hatte versprochen die beiden beim Zaun abzuholen und er war spät dran. Meinrad kämpfte sich durch den wankenden Wald, bemüht, sich von den überall auftauchenden absurden kleinen Waldkobolden und ihrem schalkhaften Gekicher nicht aufhalten zu lassen. Das Zeug haute wirklich rein.
Robert beugte sich nach vorn und öffnete das Handschuhfach. Darin befanden sich eine Menge CDs und er suchte nach der passenden Geräuschkulisse für die nächsten zwei Stunden Autofahrt. Er hielt seinen Musikgeschmack für nicht besonders erlesen, er hörte so ziemlich alles, was gerade irgendwie modern war, am liebsten waren ihm aber die alten Schlager aus seiner Jugendzeit, die flotten Popsongs der Achtzigerjahre, als die Welt noch spannend, die Musik tanzbar und das Leben noch voller Überraschungen war. Robert ächzte. Wo war die CD von ABBA, er konnte sie nicht finden, hatte er sie am Ende beim letzten Autoputz in der Garage liegen lassen? ABBA war seine Lieblingsgruppe. Obwohl er die Songs dieser Band schon tausende Male gehört hatte, schob er bei längeren Autofahrten die CD immer wieder gerne ein. Robert fluchte vor sich hin und kramte im Handschuhfach, das Auto mit mäßigem Tempo durch das Waldstückchen lenkend.
Ein dumpfer Schlag.
Robert sah, wie ein Körper in den Straßengraben geschleudert wurde. Mit einem Mal rumorte Adrenalin in seinen Adern, er trat voll auf die Bremse, wurde in den Sicherheitsgurt geworfen. Das Auto kam nach wenigen Metern zum Stillstand, schwer atmend klammerte er sich mit beiden Händen an das Lenkrad. Er versuchte sich die Sinneseindrücke der letzten Augenblicke zu vergegenwärtigen, versuchte herauszubekommen, ob er einer Täuschung, einem Tagtraum, einem Wahnbild zu Opfer gefallen war. Nein, alles war so real, restlos von Wirklichkeit durchdrungen. Er hatte sich zum Handschuhfach hinübergebeugt, hatte nicht auf die Fahrbahn geachtet, war nicht vom Gaspedal gestiegen, das Auto war zu weit an den Straßenrand geraten, so hatte er einen Fußgänger touchiert und in den Straßengraben gestoßen. Robert fingerte hektisch am Sicherheitsgurt, zog den Autoschlüssel ab und warf die Autotüre auf.
»Ist Ihnen etwas passiert? Sind Sie verletzt?«, rief er der im Straßengraben sitzenden Person zu.
Er erhielt keine Antwort, aber immerhin saß der Mann. Robert konnte das Gesicht des Mannes nicht sehen, dieser hielt ihm den Rücken zugewandt und massierte seine Schulter. Robert war völlig konfus. Seit fast fünfundzwanzig Jahren fuhr er Auto, und er fuhr berufsbedingt viel, bis auf ein paar kleine Dellen und Schrammen, an denen er meist selbst keine Schuld hatte, war ihm noch nie ein Unfall passiert. Schon gar nicht mit Personenschaden. Er schnappte nach Luft, seine Hände schwitzten, Robert stieg den kleinen Abhang hinunter, um dem Mann wieder auf die Beine zu helfen.
»Sind Sie verletzt?«, erneuerte er seine Frage und trat an den Mann heran.
Eine zum Glück nicht tiefe Schramme zog sich über das junge, bleiche Gesicht. Es war ein Jugendlicher. Robert beugte sich besorgt nach vorn.
»Natürlich bin ich verletzt!«, keifte Meinrad. »Da! Schaut das verletzt aus oder nicht?«
Der junge Mann zog den linken Ärmel seines zerrissenen Hemdes hoch und präsentierte eine leicht blutende Schürfwunde am Ellbogen.
»Kannst du aufstehen? Ich helfe dir. Gib mir die Hand.«
Robert versuchte dem Jugendlichen beim Aufstehen behilflich zu sein, dieser aber wollte sich nicht helfen lassen und erhob sich von allein.
»Na super, die Hose ist auch im Arsch.«
Das linke Hosenbein war zerschlissen und das Knie blutig geschürft.
»Ich rufe einen Krankenwagen. Du musst ins Spital«, sagte Robert und eilte zurück zum Auto, um sein Handy zu holen.
Meinrad spürte von der Benebelung nichts mehr, seine Sinne waren durch den Stoß kristallklar und geschärft, auch fühlte er keinen Schmerz. Das konnte nur der Schock sein. Wie hatte er es von Gebhardt, dem Arzt in der Kommune, gelernt? Die Atmung stabilisieren. Das war es. Meinrad lockerte seine Glieder, schüttelte den Schock von sich und atmete ein paar Mal tief ein und aus. Währenddessen wählte Robert die Notrufnummer der Rettung.
»Kein Krankenwagen«, brummte Meinrad und blickte Robert an.
»Was? Du bist verletzt, du blutest, du brauchst ärztliche Hilfe.«
»Kein Krankenwagen. Bis der da ist, ist die Blutung gestillt und Gebhardt wird die Kratzer mit Schnaps auswaschen.«
Robert hatte die Notrufnummer schon eingetippt, er brauchte nur noch die Ruftaste betätigten, um die Verbindung herzustellen.
»Wie bitte?«, fragte Robert entgeistert.
»Hören Sie, ich bin nicht versichert, ich kann mir keinen Krankenwagen leisten. Gebhardt ist Doktor der Medizin, er wird sich die Kratzer ansehen.«
Robert starrte den jungen Mann, dessen Gesichtsfarbe sich wieder normalisiert hatte und der plötzlich gar nicht wie ein Unfallopfer redete, mit offenem Mund an.
»Du bist nicht versichert …«, murmelte Robert ungläubig.
»Angeblich versorgen Krankenhäuser im Notfall auch Unversicherte, aber eigentlich habe ich keine Lust jemals in so einen Bunker reinzugehen. Nein, Gebhardt wird das schon machen, der kennt sich aus mit solchen Sachen.«
Meinrad machte ein paar Schritte, ließ die Arme und den Kopf kreisen.
»Nix gebrochen, nur ein paar Schrammen. Da haben wir verdammtes Glück gehabt. Das nächste Mal sollten Sie beim Autofahren schon nach vorne schauen und keine Schlingen fahren«, sagte Meinrad mit anklagendem Blick.
»Du stehst noch unter Schock, du musst jetzt dringend zu einem Arzt«, stellte Robert kategorisch fest und drückte endlich die Ruftaste seines Mobiltelefons.
Meinrad nickte grüßend und marschierte mit raumgreifenden Schritten los.
»Halt! Warte! So bleib doch stehen!«, rief Robert, doch der junge Mann blieb nicht stehen, also trennte er die eben aufgebaute Telefonverbindung und eilte hinterher. »Wohin gehst du? Du bist verletzt!«
Meinrad blieb abrupt stehen und drehte sich um.
»Sie wiederholen sich aber schon öfter, nicht wahr?«
Robert war verstört. So hatte er sich seinen ersten Verkehrsunfall mit Personenschaden nicht vorgestellt. Erst jetzt bemerkte er die seltsame Kleidung des Jugendlichen. War der Kerl ein Verrückter? Ein aus einer Irrenanstalt oder einem Jugendgefängnis entlaufener Insasse? Hatte er durch den Sturz einen Gehirnschaden erlitten?
»Ich habe eine Idee«, sprudelte Meinrad hervor, »weil beim Gehen spüre ich doch das angeschlagene Knie. Was halten Sie davon, wenn Sie mich mit Ihrem Auto nach Hause fahren? Gebhardt ist dort, er wird mich verarzten. Ich bin schon seit mindestens einem Jahr nicht mehr in einem Auto gefahren. Und Ihres schaut ja auch total toll aus. Was ist das für eine Marke?«
Roberts Gaumen fühlte sich trocken an, seine Lippen schienen aus Löschpapier zu sein. Konnte es Jugendliche geben, die einen Audi nicht erkannten, wenn er vor ihnen stand? Robert wischte alle Bedenken fort, er musste jetzt richtig handeln, er musste für seinen Fahrfehler und für den Unfall die Verantwortung übernehmen.
»Gut, ich bringe dich zu deinem Bekannten, zu diesem Arzt. Steig ein.«
Der silbergraue Audi, ein für den dynamischen Spurwechsel auf deutschen Autobahnen gebautes Fahrzeug, holperte im Kriechtempo über den Feldweg. Wenn da nur nicht die Bodenplatte ein paar Schrammen oder Dellen davonträgt, ging es Robert durch den Kopf.
»Müssen wir diesen Weg zu deinem Dorf nehmen? Warum nehmen wir nicht die richtige Straße? Soll das eine Abkürzung sein, oder was?«
Meinrad blickte Robert von der Seite an.
»Aber das ist die richtige Straße. Es gibt nur diese.«
Robert warf die Augenbrauen in Wellen.
»Das ist ein Traktorweg, keine Straße. Was für einen Dorf soll das sein?«
Sie bogen um eine Kurve und Roberts Blick fiel auf ein weitläufiges Areal, bestehend aus einer zu einem Campingplatz umfunktionierten Wiese, einem Obstbaumhain, in dem auch einige Zelte standen und einem lichten Waldstück, an dessen Rand sich eine Zahl von seltsamen Holzhütten befand.
»Das ist Hoffnung, das Dorf, in dem ich seit drei Jahren wohne. Da vorn kannst du anhalten. Du kannst mit diesem Auto nicht bis in das Dorf rein.«
»Hoffnung? Das Dorf heißt Hoffnung?«
»Ja, Hoffnung, so wie ›hoffen‹ mit ›ung‹, halt ein Hauptwort. Ich weiß gar nicht, wer von den Alten sich das ausgedacht hat, aber der Name hält sich hartnäckig.«
Robert hielt den Wagen an und stieg langsam aus. So etwas hatte er noch nie gesehen. Ein wilder Campingplatz und ein Jurtendorf, das war also diese Ökokommune, von der seine Kollegen in der Firmencafeteria gesprochen hatten, als er ihnen von seinem Auftrag berichtet hatte, im Kraftwerk Dürnfeld einen Workshop abzuhalten. Offenbar hatte es über dieses Dorf einmal einen Bericht im Fernsehen gegeben, den Robert, wie so vieles, was im Fernsehen lief, aus mangelndem Interesse an den immer gleichen lästigen Bildern nicht mitbekommen hatte. Einige Leute kamen auf den Wagen zu. Robert fühlte sich mit einem Mal restlos deplatziert, vollkommen overdressed und von einer Reihe missliebiger Blicke umlagert. Wallende Rauschebärte, wirres Hexenhaar, Kleidung, die aussah, als wäre sie beim Flohmarkt in einer maoistischen Kolchose übrig geblieben, und er stand da mitten im noch regennassen Gras in einem Businessanzug.
»Meinrad! Was ist dir passiert?«, rief eine Frau mittleren Altern, lief auf den Jugendlichen zu, nahm seinen Kopf in ihre Hände und inspizierte die Schramme im Gesicht.
»Kein Stress, Mama, das ist nur ein Kratzer. Aber vielleicht sollte Gebhardt mal mein Knie anschauen.«
Die rund zehn Personen umringten Meinrad und starrten auf das zerschrammte Knie.
»Kann man dich nicht einmal eine Stunde unbeaufsichtigt lassen?«, keifte Gerlinde Riemenschmied ihren Sohn an. »Wo hast du dich schon wieder herumgetrieben? Die Wunden müssen gesäubert werden, und auf dem Knie brauchst du einen Verband. Komm mit, ich gebe dir Arnikatropfen.«
Die Frau mit den hellwachen blauen Augen schaute Robert über die Motorhaube des Autos hinweg an. Ihr Blick war voller Wärme.
»Vielen Dank, dass Sie meinen Sohn hergebracht haben, das war sehr freundlich von Ihnen. Darf ich Ihnen etwas anbieten, Tee vielleicht oder Gemüsesuppe?«
Robert war irritiert, weil plötzlich alle zehn Personen der Gruppe ihn freundlich anlächelten.
»Äh, nein, danke, ich meine …«
»Na, kommen Sie schon, eine Tasse Tee, frisch aufgebrüht, und ein paar Dinkelkekse. Oder haben Sie es eilig?«
»Also, eilig nicht, aber ich wollte Ihren Sohn zu einem Arzt bringen. Es ist so, dass ich …«
»Apropos Arzt«, unterbrach Gerlinde Robert. »Da kommt unser Arzt schon.«
Robert folgte den Blicken der Einheimischen. Ein langer, dürrer Mann mit weitgehend grauem Haar, das er zu einem langen Zopf geflochten trug, und eine junge Frau eilten auf sie zu. Roberts Mund klappte für einen Moment auf, er vergaß zu atmen, er vergaß die Zeit und den Raum, die unüberbrückbaren Hürden und Hindernisse, die den Menschen im Leben immerzu entgegenstehen. Sein Puls rumorte. Diese junge Frau, konnte sie wahrhaftig da auf ihn zukommen, setzte sie wirklich ihre Schritte so, wie es den Augenschein hatte, irrte er sich, träumte er mit wachem Auge, oder war sie Wirklichkeit? Robert gaffte sprachlos. Diese junge Frau ging nicht, sie schwebte, in geschmeidigen Bewegungen setzte sie ihre Schritte barfuß in das Gras. Der Mann, den alle Gebhardt nannten, sah sich die Wunden von Meinrad an, nickte, beruhigte alle, das seien nur Kratzer, man müsse nur achten, dass die Wunden sich nicht entzündeten, er und Angelika würden sich um alles kümmern.
Angelika.