Where Summer Stays (Festival-Serie 1) - Ivy Leagh - E-Book
SONDERANGEBOT

Where Summer Stays (Festival-Serie 1) E-Book

Ivy Leagh

0,0
9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

**Vielleicht sind wir nicht füreinander bestimmt. Aber was, wenn wir es trotzdem versuchen?** Wegrennen, und zwar ganz weit weg. Das ist Charlies einziger Wunsch, als sie während ihres Klassikradio-Praktikums auf ein riesiges Rockfestival geschickt wird. Am liebsten würde sie sich die kommenden vier Tage einfach im Zelt verstecken, vor all dem Lärm und den Menschenmassen, die sie so sehr überfordern. Doch dann trifft sie auf Levy mit seiner faszinierend charismatischen Art, dem Eyeliner und den unzähligen Tattoos – und plötzlich fühlt sie sich wie im freien Fall. Er macht Charlie mutig, in seiner Nähe fühlt sie sich sicher Aber dann fallen ihr Verhaltensweisen an Levy auf, die sie nicht begreift. Er scheint ein ganz anderer Mensch zu sein, als er vorgibt, und zurück im Alltag wendet Levy sich plötzlich von ihr ab – ohne zu wissen, dass ihr Herz in seiner Nähe immer schneller schlägt … Knisternde Emotionen, atmosphärische Vibes und ganz viel Gefühl – tauche ein in einen Sturm an Gefühlen, der dich sprachlos zurücklassen wird. »Ivy Leaghs Humor und überzeugender Schreibstil treffen auf spicy New-Adult-Romance – ›Where Summer Stays‹ ist ein absolutes Must-Read für den Sommer 2023!« SPIEGEL-Bestseller-Autorin Beril Kehribar »Where Summer Stays« ist der erste Band der gefühlvollen »Festival-Serie« bei Carlsen. Weitere Bände der New Adult Romance: -- Where Summer Stays -- Where Winter Falls -- Where Spring Hides -- Where Autumn Leaves - erscheint im Januar 2025//

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 591

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



 

ImpressDie Macht der Gefühle

Impress ist ein Imprint des Carlsen Verlags und publiziert romantische und fantastische Romane für junge Erwachsene.

Wer nach Geschichten zum Mitverlieben in den beliebten Genres Romantasy, Coming-of-Age oder New Adult Romance sucht, ist bei uns genau richtig. Mit viel Gefühl, bittersüßer Stimmung und starken Heldinnen entführen wir unsere Leser*innen in die grenzenlosen Weiten fesselnder Buchwelten.

Tauch ab und lass die Realität weit hinter dir.

Jetzt anmelden!

Jetzt Fan werden!

Ivy Leagh

Where Summer stays

**Wir sind nicht füreinander bestimmt. Aber was, wenn wir es trotzdem versuchen?**

Wegrennen, und zwar ganz weit weg. Das ist Charlies einziger Wunsch, als sie während ihres Klassikradio-Praktikums auf ein riesiges Rockfestival geschickt wird. Am liebsten würde sie sich die kommenden vier Tage einfach im Zelt verstecken, vor all dem Lärm und den Menschenmassen, die sie so sehr überfordern. Doch dann trifft sie auf Levy mit seiner faszinierend charismatischen Art, dem Eyeliner und den unzähligen Tattoos – und plötzlich fühlt sie sich wie im freien Fall. Er macht Charlie mutig, in seiner Nähe fühlt sie sich sicher Aber dann fallen ihr Verhaltensweisen an Levy auf, die sie nicht begreift. Er scheint ein ganz anderer Mensch zu sein, als er vorgibt, und zurück im Alltag wendet Levy sich plötzlich von ihr ab – ohne zu wissen, dass ihr Herz in seiner Nähe immer schneller schlägt …

WOHIN SOLL ES GEHEN?

Vorbemerkung für die Leser*innen

Dein ultimatives Festival-Set-up

Vita

Buch lesen

Danksagung

Triggerwarnung

© privat

Ivy Leagh, geboren 1992, braucht bloß drei Dinge: Reisen, Koffein und das Schreiben. Nachdem sie eine Weile als freie Journalistin in Berlin und London kostenlos Konzerte besuchen und Stars interviewen durfte, verbringt sie mittlerweile ihre freie Zeit neben dem Literaturstudium lieber damit, an ihren Geschichten zu feilen. Ihrer Liebe zu Großstädten gibt sie inzwischen nur noch während ihrer Reisen nach; sie lebt wieder in ihrer Heimatstadt Würzburg.

To Joe Lycett

VORBEMERKUNG FÜR DIE LESER*INNEN

Liebe*r Leser*in,

dieser Roman enthält potenziell triggernde Inhalte. Aus diesem Grund befindet sich hier eine Triggerwarnung. Am Romanende findest du eine Themenübersicht, die demzufolge Spoiler für den Roman enthält.

Entscheide bitte für dich selbst, ob du diese Warnung liest. Gehe während des Lesens achtsam mit dir um. Falls du während des Lesens auf Probleme stößt und/oder betroffen bist, bleib damit nicht allein. Wende dich an deine Familie, Freunde oder auch professionelle Hilfestellen.

Wir wünschen dir alles Gute und das bestmögliche Erlebnis beim Lesen dieser besonderen Geschichte.

Ivy Leagh und das Carlsen-Team

DEIN ULTIMATIVES FESTIVAL-SET-UP – MAINSTAGE

Day 1

I Wanna Be Your Slave – Måneskin

Hate Me – Blue October

Madness – Muse

Day 2

Cut – Plumb

Alles Wegen Dir – Kraftklub

Tissues – Yungblud

Day 3

Running Up That Hill – Placebo

Blaues Licht – Kraftklub

Bei Dir – Felix Kummer

LoveOnStage Special Guest: Harry Styles

Day 4

It Ends Tonight – The All-American Rejects

Crooked Ways – Motion City Soundtrack

Pointless – Lewis Capaldi

I Will Follow You Into The Dark – Death Cab for Cutie

Encore Stage: Yungblud & Måneskin

Part 1: Herzlich willkommen auf dem Rock Never Dies

WIE SCHÖN, DASS WIR UNS WIEDERSEHEN!

Wir bitten alle Festivalbesucher, zur ihrer eigenen Sicherheit auf der Event Area auf Behältnisse aller Art zu verzichten. Sämtliche nicht erforderlichen Gegenstände sollten unbedingt auf den Campingplätzen belassen werden. Auf dem Festivalgelände sind neben Kleidung nur Handys, Portemonnaies, dringend benötigte Medikamente, Schlüsselbunde und Bauchtaschen erlaubt. Die sicherheitsrelevanten Abläufe werden gemeinsam mit der Polizei und den Sicherheitsbehörden entwickelt und umgesetzt.

Die Mitnahme von Getränken ist nicht gestattet. Es gibt zahlreiche kostenlose Wasserstellen, siehe hierzu den Wasserstellenplan.

Aktuelle Warnmeldungen erhalten Festivalbesucher über die Festival-App und die Screens an den Musikbühnen. Das Rock Never Dies genießt eine geländeweite LTE-Netzabdeckung. Bitte tragt den eigenen KFZ-Schlüssel immer bei euch, um euch, falls nötig, auf direktem Weg zu einem Fahrzeug begeben zu können. Ein Zelt ist kein sicherer Ort bei einem Gewitter! Anderen Besucher*innen signalisieren angeschaltete Warnblinker, dass noch Plätze im Auto frei sind.

Mit dem Code-Satz »Wo geht’s nach Panama?« könnt ihr an allen Verkaufsständen, bei den Sicherheitsbehörden, Mitarbeitern und Schutzengeln in Notsituationen diskret um Hilfe bitten.

DAS KAPITEL, IN DEM ICH NEANDERTALER UND GLITZERSCHMETTERLINGE HASSE

Charlie

»Damit ist es amtlich.« Ellas Stirn liegt in Falten, als sie ihr Handy in Richtung ihres Zeltes schleudert, bevor sie sich wieder zähneknirschend meiner Wange widmet. »Toni ist ein Vollidiot.«

Das glaube ich ihr sofort. »Was schreibt er denn?«

»Dass ich übertreibe.« Sie bläst sich den Pony aus der Stirn, während sie den Pinsel in ihrer Linken in den Streuglitzer taucht und mit der anderen Hand meinen Kopf fixiert. »Derzeit stellt sich Toni total quer. Statt auf meine Ängste einzugehen, blockt er alles ab, seit er in Kanada ist. Ich weiß nicht, was er da drüben treibt, aber ihm scheint unsere Beziehung inzwischen so ziemlich scheißegal zu sein.«

»Deshalb bist du sauer auf ihn?«

Jetzt drückt die Pinselspitze wieder gegen meine Wange. »Ich bin sauer, weil Toni nicht mit mir darüber redet.«

Ich nicke und erlaube Ella, meinen Kopf in den Nacken zu legen. »Ich hoffe, er kapiert es bald.«

Ellas bitteres Lachen übertönt den Seufzer, der ihr entweicht. »Deine linke Wange ist jedenfalls so gut wie fertig. Ich dachte, ich hätte nach dem normalen Glitzer gegriffen, aber der ist ganz schön grell für Pastellrosa … Ist nicht weiter schlimm«, schiebt sie schnell hinterher, als sie meinen Blick auffängt. »Keine Sorge.«

Das sagt sich so leicht. Denn bei der bloßen Vorstellung, noch dreiundneunzig weitere Stunden an diesem chaotischen Ort bleiben zu müssen, schnürt es mir jetzt schon die Kehle zu.

Wieso um alles in der Welt habe ich einem Festival zugestimmt? Ich hasse Glitzer. Ich hasse ohrenbetäubend laute Rockmusik und Hitze und Camping … Toll. Ich habe gerade einmal drei Stunden des bevorstehenden Vier-Tage-Horrors hinter mich gebracht und hasse jetzt schon alles und jeden um mich herum.

Unauffällig schaue ich zur Blechdosen-Burg, die Leni vorhin entlang meiner Zeltwand gestapelt hat. Irgendwann als Tribut der diesjährigen Hungerspiele zu enden, hätte ich so ziemlich als Letztes in meinem Leben erwartet.

Nur ein paar Tage, erkläre ich meinem Verstand. Es gehört zu meinem Job. Ich werde es überleben. Ich muss.

»Wegen Toni …«, lenke ich meine Gedanken weg von der aufkommenden Panik, doch Ella unterbricht mich noch im selben Atemzug.

»Er kann mich mal!« Sie greift nach meinem Kinn und dreht meinen Kopf ein wenig zu grob zur Seite. »Wenn er zurückkommt, erschlag ich ihn einfach mit meinem Plattenspieler, und das war’s dann mit uns.« Sie verdreht die Augen, bevor sie den Oberkörper ein Stück nach hinten lehnt und einen Finger auf die Lippen legt. »Sieht richtig schön aus, aber du darfst auf keinen Fall in den Glitzer reinfassen, bei der Hitze verschmiert er sonst sofort.«

»Geht klar.«

Mit einem Lächeln rückt Ella ihr gemustertes oversized Kleid zurecht, das sie zu schlichten Sandalen und viel zu viel Glitzer im Gesicht trägt. In ihre bronzefarbenen Boxer Braids hat sie bunte Lederstreifen eingeflochten, auf denen mein Blick ruht, bis Ella sich wieder vorbeugt und die feinen Härchen der Pinselspitze mich erneut kitzeln. Ihr ist anzusehen, dass ihr die Sache mit Toni mehr zusetzt, als sie zugeben will. Auch wenn ihre Mundwinkel nach oben zeigen, verrät sie ihr verkniffener Blick.

Ich schlucke, weil sie und Leni mich mit genau demselben Ausdruck angesehen haben, als wir vorhin das Zeltgelände betreten haben. Auch deshalb schlägt mir mein Verstand seit drei Stunden panisch Fluchtpläne vor. Ich ignoriere sie ebenso wie die Tatsache, dass sich bei jedem besorgten Blick meiner Freundinnen etwas in mir zusammenzieht. Denn wenn ich damit beginne, zu sehr darüber nachzudenken, auf was ich mich hier eingelassen habe, fällt mir vielleicht wieder ein, dass mir für derart aufregende Abenteuer eigentlich der Mut fehlt.

Genau genommen, weiß ich an so einem fremden Ort wie diesem überhaupt nichts mit mir anzufangen. Ich habe dem Festival vorgestern nur spontan zugestimmt, weil der Chef des Klassikradios, bei dem ich im Moment ein Praktikum absolviere, glauben soll, dass ich meinem Wunsch, als Radiomoderatorin zu arbeiten, gewachsen bin, und nicht, dass ich absolut keine Ahnung habe, was ich tue. Ich wollte ihm nicht die Wahrheit sagen.

Da er wirklich dringend jemanden gebraucht hat, der an seiner Stelle aufs Rockfestival fährt, hat Jonas zum Glück nicht weiter nachgefragt und mir gestern früh drei Freikarten in die Hand gedrückt. Deshalb konnte ich meine beiden besten Freundinnen, Ella und Leni, mit hierherbringen. Alleine wäre ich definitiv nicht gefahren. Ganz gleich, ob Jonas mir völlig überraschend seine Empfehlung für einen Volontariatsplatz in Aussicht gestellt hat, wenn ich mich auf dem Rockfestival gut schlage.

Wie aufs Stichwort vibriert mein Handy. Ohne mich zu ruckartig zu bewegen, ziehe ich es unter dem Oberschenkel hervor und entsperre den Bildschirm.

JONAS: Es ist 13 Uhr, Charlotte, und das Einzige, was ich bisher in der Story sehe, ist ein halb aufgegessenes Hörnchen. Herrgott, Sie werden doch wissen, wie man sich auf Social Media verhält?!

Mein schlechtes Gewissen lässt mir das Blut in den Kopf schießen. Jonas meint den neu geschaffenen Instagram-Kanal des Klassikradios, den ich in den kommenden Tagen mit ausreichend Content füllen soll. Es geht um ein paar Storys und Beiträge, die dafür sorgen, dass meine Kehle trocken wird, wenn ich nur daran denke, mich dafür durch das unübersichtliche Chaos aus Zelten und Menschen zu schlagen.

Ich war noch nie auf einem Festival. Das Gute an Jonas’ Nachricht ist, dass er das noch nicht rausgefunden hat. Und wenn doch, dann scheint diese Tatsache seiner Empfehlung nicht im Weg zu stehen, solange ich ansprechenden Inhalt abliefere, während er auf einer dringlichen Vertriebssitzung festhockt. Mehr Reichweite hat der eingestaubte Sender dringend nötig, denn – Überraschung – kaum jemand hört mehr Radio. Die Zahlen sind die reinste Katastrophe, und Jonas’ letzter Rettungsversuch, so habe ich ihn verstanden, ist Social Media. Leider bin ich dort seit einem Jahr nicht mehr aktiv.

»Wenn Leni wieder von den Toiletten zurück ist, könnte sie ein Video davon drehen, wie ich dich schminke.« Ella lächelt und deutet auf den Handybildschirm, auf dem noch immer WhatsApp geöffnet ist. »Das wär doch passender Content, oder?«

»Ich denke schon.« Toiletten sind bloß ein ganz schlechtes Thema. O Gott, enge, stinkende Festivaltoiletten! Die Vorstellung, sich dort eingesperrt eine eklige Infektion zu holen, reicht meinem Hirn aus, um mich augenblicklich mit einem neuen Fluchtplan zu versorgen.

Während sich Ella stumm meiner Wange widmet, schweift mein Blick also über halb fertig aufgebaute Zelte, weiße Campinggarnituren und einzelne Menschengruppen hinweg in die grobe Richtung der Parkplätze. Dort steht Lenis alte Schrottkarre, mit der wir es entgegen ihrer Erwartung heute Morgen von Berlin in die Brandenburger Einöde geschafft haben. Einen Augenblick lang schätze ich die Distanz ein. Ich war früher im Leichtathletikteam, und seit wir das Zeltgelände betreten haben, stehe ich sowieso quasi unter Dauerstrom, weshalb ich es sicher trotz der Hitze irgendwie im Slalomlauf über das Gelände schaffen würde. Leni sperrt den Wagen nie ab, weil niemand so dämlich wäre, das Teil zu klauen. Vielleicht benötigt es ein klein wenig Gewalt, um die Tür aufzubekommen, aber immerhin funktioniert der Gurt auf der Fahrerseite einwandfrei.

Allerdings habe ich keinen Führerschein. Wie teuer es wohl ist, von der Polizei … Ach, verdammt, was wird das eigentlich? Großveranstaltungen gehören zu meinem Job als angehende Radiomoderatorin dazu. Ich weiß, dass das Rockfestival schon seit Monaten ausverkauft ist. Andere Leute würden sich deshalb vermutlich ein Bein ausreißen, um an meiner Stelle hier sein zu dürfen. Es ist nur …

Normalerweise plane ich unbekannte Situationen penibel im Voraus, um nicht von all den neuen Eindrücken überwältigt zu werden. Doch was das Festival hier anbetrifft, bin ich kläglich gescheitert. Ich habe es schon befürchtet – absolut nichts an diesem unbekannten Ort ist kontrollierbar. Meine Vorahnung wird mit jeder Minute, in der sich der Zeltplatz mehr und mehr mit Besuchern füllt, realer. Trotz der warmen Temperaturen zittern nun meine verräterischen Finger, und weil ich es nicht unterdrückt kriege, seufze ich leise.

Sofort tätschelt Ella mit der freien Hand meine Schulter. »Geht’s dir gut?«

»Alles okay«, lüge ich und schiebe meine Hände zusammen mit dem Handy unauffällig unter meine Beine. »Ich glaub, ich trink mal was.« Dass ich Ella und Leni auf der Fahrt spaßeshalber darum gebeten habe, mich notfalls hier festzuketten, wenn ich meinem inneren Drang nachgeben und weglaufen will, kommt mir mittlerweile albern vor. Besonders Ella würde mich zurück zu Lenis Auto tragen, wenn mir das hälfe, einer emotionalen Überforderung zu entkommen.

Mit überfürsorglichem Blick wirft mir Ella ihre Wasserflasche in den Schoß. Kaum habe ich danach gegriffen, landet ihre Aufmerksamkeit auf meinen Fingern, die sich um das Plastik verkrampfen.

»Ich weiß, was wir ausgemacht haben«, sagt sie. »Aber wenn es dir zu viel wird, dann gibst du mir Bescheid, ja? Ich finde es wirklich toll, dass du dich auf ein Festival traust, und –«

»Es ist alles gut!« Trotzdem spüre ich mein Herz schneller schlagen, jetzt, da Ella es laut ausgesprochen hat. »Je häufiger du mich daran erinnerst, umso schlimmer wird das Ganze.« Immerhin weiß ich nun wieder, weshalb ich meinen Eltern nichts von meinem Festivalbesuch erzählt habe. Obwohl zumindest mein Vater Verständnis dafür aufbringt, dass ich mich ein Jahr nach dem Abitur endlich trauen und mich beim Radio bewerben musste, hat sich seine, aber ganz besonders die Sorge meiner Mutter nur verstärkt.

Ella seufzt leise. »Ich schweig ab jetzt wie ein Grab, versprochen.« Es ist absurd, aber ich bilde mir ein, dass die Pinselspitze trotzdem besonders vorsichtig über meine Haut gleitet und Ellas Ton betont locker wird, als sie fortfährt. »Du hast noch gar nicht erzählt, wie das Gespräch mit deiner Schwester gestern Abend lief.«

»Alex hat sich nicht gemeldet.« Sofort merke ich, wie sich ein Kloß in meinem Hals bildet, den ich nur mit Mühe herunterschlucken kann. Ich schließe die Augen. Bestimmt erwartet Alex, dass ich sie nach dem eskalierten Gespräch mit meinen Eltern letzte Woche anrufe. Ich kann mir ja selbst nicht erklären, weshalb ich gestern lieber stundenlang auf mein Handy gestarrt und gewartet habe, als einfach Alex’ Nummer zu wählen.

Nur weil Ella ein wenig zu laut ausatmet und mich das Geräusch dazu zwingt, die Lider wieder aufzuschlagen, erkenne ich aus dem Augenwinkel die breite Gestalt, die in einem bunten Hemd auf Ella und mich zusprintet. Ehe ich irgendetwas begreife, landet aus dem Nichts ein Schwall Wasser mitten auf meinem weißen Radio-T-Shirt. Für einen winzigen Moment erstarre ich vor Schreck, dann springe ich kreischend auf und sehe gerade noch den schlaksigen Typen mit mitternachtsschwarzen Haaren, der an mir vorbei- und dann ächzend seinem Kumpel hinterherrennt. Letzterer lässt den Henkel eines Wischeimers in seiner linken Hand hin- und herschwingen. Johlend ballt er die andere zur Faust, als der Schlaksige ihn keine fünf Meter von unseren Zelten entfernt einholt und unsanft zu Boden ringt.

»Was zur Hölle?!«, brüllt Ella in ihrem strengsten Erzieherinnentonfall.

Das habe ich eben auch gedacht. Mein Blick fällt auf meinen schwarzen Spitzen-BH, der sich unter meinem nassen T-Shirt abzeichnet. Und … o Gott! Das ist ein Albtraum. Ich weiß nicht, warum ich mich am liebsten sofort umdrehen und wegrennen will. Es ist ja nicht so, dass der Typ mich bedrängt hätte, aber ich hasse es einfach, derart überrumpelt zu werden.

Ich hole tief Luft und sehe, dass der Schwarzhaarige dem anderen gerade wenig liebevoll auf den Hinterkopf schlägt. Kurz darauf rappelt er sich auf, klopft Staub und Dreck von der Stoffhose und seinem schlichten schwarzen Tanktop und reicht dem Eimer-Typen eine Hand.

Während er seinen Kumpel vom Boden hochzieht, trifft sein Blick kurz auf meinen. Alles, was ich aus der Entfernung erkenne, sind ungewöhnlich dichte schwarze … Wimpern?

Na ja, er wirkt auf mich im Grunde exakt so, wie laut Jonas der Social-Media-Kanal des Radiosenders aussehen soll: entspannt und sorgenlos. Es ist, als hätte mir jemand freundlicherweise ein Lernbeispiel vor die Nase gestellt. Allein die zig Tätowierungen, von denen ein Teil verschwindet, als er die Hände in die Hosentaschen schiebt …

»Sorry, ihr zwei«, ruft er da. »Otis ist unser Problemkind.«

»Schon okay«, stoße ich hervor und presse die Lippen zusammen, weil es plötzlich Otis’ herausfordernder Blick ist, der meine Oberweite sucht.

»Die Abkühlung steht dir gut.«

Mein Herz setzt kurz aus, dann stürzt es in meinen Magen. Das hat er gerade nicht gesagt!? Ein Gefühl wandert meine Wirbelsäule hinauf, so ekelhaft, als hätte jemand Fremdes erst mein Essen angeleckt und mich danach gezwungen, es aufzuessen. Überfordert binde ich mir automatisch mein Radio-Shirt unterhalb des durchblitzenden BHs zu einem Knoten und verdecke den nackten Bauch mit einem Arm.

»Widerlicher Neandertaler!« Ella schießt von ihrer Avocado-Luftmatratze hoch und steht jetzt mit dem Pinsel in der einen und dem Puderfässchen in der anderen Hand neben mir. Sie schnappt nach Luft. »Passt mal lieber auf, dass euch beim Feuermachen kein Mammut niedertrampelt.«

Obwohl ich weiß, dass Ella die Schlagfertige von uns dreien ist, und selbst Leni ihr in unangenehmen Situationen das Wort überlässt, hätte mir so was auch einfallen können. Tut es aber immer erst Minuten später. Deshalb starre ich die beiden Typen stumm an, vergrabe mein Gesicht halb in meinen Händen und hoffe, dass der hochgewickelte Stoff wenigstens den BH verdeckt. Ich hätte auf Ella hören und heute Morgen gleich den Bikini anziehen sollen.

»Ist ja gut!« Otis hebt abwehrend die Hände und schiebt sich an seinem Kumpel vorbei. »Anstrengend, die Weiber, oder?«

Der Schwarzhaarige wirft uns einen schnellen Blick zu. »Noch mal Entschuldigung! Otis legt seit seiner Teenagerzeit Frauen trocken und nicht flach.« Seine Hand greift nach dessen Hemdärmel, um ihn zu sich zurückzuziehen. »Wir sind noch dabei, rauszufinden, wo genau wir ihn verloren haben, aber an guten Tagen schafft er es sogar, sich zu entschuldigen.«

»Sag mal, geht’s noch?« Kurz wirkt Otis so, als wollte er zurückrudern, doch was er dann anfügt, ist: »Wusste nicht, dass auf Festivals der ganze Me-too-Scheiß auch gilt.«

»Autsch.« Ella schmeißt Pinsel und Glitzer auf die Luftmatratze und verschränkt ihre Arme vor der Brust. »Ich an deiner Stelle wäre froh, dass du Frauen jetzt auch endlich mal in die Augen sehen kannst.«

Einen Augenblick lang fällt Otis anscheinend keine passende Erwiderung ein, weshalb es bis auf die Musik, die seit ein paar Minuten aus einem der Nachbarzelte dringt, still ist.

Ich bilde mir ein, die Band zu kennen. Mein Vater vergöttert Muse, und wenn ich mich nicht täusche, ist es die markante Stimme ihres Frontsängers, die gerade einen regelmäßigen Drumbeat durchbricht.

»Wie auch immer.« Otis wirkt bedient. »Hauen wir ab, Levy!«

Die Drums setzen wieder ein und mein Dad würde genau jetzt mit den Fingern auf dem Küchentisch trommeln und in den Beat fallen.

Levy hingegen zuckt zusammen, irgendwie reflexartig. Im nächsten Moment drückt er Otis seine flache Hand auf den Rücken, um ihn nach vorne zu schieben und sich gleichzeitig festzuhalten. Ich kapiere sein Verhalten nicht, aber es geht mich auch nichts an. Außerdem fängt er sich eine Sekunde später wieder.

»Wenn ich euch beiden irgendetwas als Entschädigung bringen kann, mein Zelt ist in der Nähe des Supermarkts. Meldet euch einfach.« Levys Stimme hat plötzlich einen dunklen, rauen Unterton, der es irgendwie schafft, mich dazu zu kriegen, ihm antworten zu wollen.

»Bring Otis als Wiedergutmachung einfach Manieren bei.«

Levy fasst sich an die Nase. Kurz befürchte ich, mit dem Spruch zu weit gegangen zu sein, dann lacht er. »Ich geb mein Bestes.«

»Das glaub ich dir sogar.« Mit einem Schnauben hebt Ella das Schminkzeug auf. »Du scheinst ja in Ordnung zu sein.«

Zwei Atemzüge dauert es, bis Levy ein leises »Danke« murmelt und Otis endlich von uns wegschiebt. Noch ein paar Sekunden mehr vergehen, die ich den beiden hinterherschaue. Otis schubst seinen Kumpel – vermutlich hat er mehr Unterstützung von ihm erwartet –, und als die beiden außer Sichtweite sind, stoße ich erleichtert die Luft aus.

»So ein Idiot.«

Mein Blick schwenkt zu Ella, die schon wieder irgendwie besorgt aussieht. Meine Güte, das Wasser, Otis’ Sprüche, dieser Levy – ich war gerade einfach ein wenig überrumpelt, mehr nicht.

»Äh, Charlie …«, beginnt sie, und ich will sofort dazwischengehen, aber Ella presst plötzlich panisch die Hände aufs Gesicht. »O Mann …«, stößt sie hervor, »ich hab doch gesagt, dass du aufpassen musst … Na ja, sagen wir es so, Otis hätte jetzt einen Grund, dir ins Gesicht und nicht auf die Titten zu starren.«

»Was? Warum?« Irgendetwas ist da in Ellas Unterton, und als ich hektisch auf meine Hände schaue, erkenne ich auch den Grund. Sie sind voller Glitzer. »Mist, ich hab alles verschmiert, oder?«

»Hast du.« Ella beißt sich auf die Lippe, und irgendwie wirkt es, als müsste sie sich zusammenreißen, um nicht laut loszuprusten.

»Leute«, höre ich kurz darauf Lenis Stimme. »Das Powerbank-Angebot war nichts und Ella hätte definitiv ihr DJ-Set mitnehmen sollen. Auf dem Weg hierher hab ich zig Flyer irgendwelcher DJ-Kollektive mit dämlichen Namen in die Hand gedrückt bekommen, aber wenigstens sind die Klos sau–«

Ich kann nicht sehen, wieso Leni stockt, weil Ellas in die Luft gerissene Arme mir die Sicht auf sie versperren. Es dauert ein paar hektische Armwedler, bis Lenis Stimme erneut über den halben Platz schallt.

»O mein Gott, Charlie!« Dass es in meinen Ohren so klingt, als sänge Leni die Worte, macht es nicht wirklich besser, weil: »Ist das ein Glitzerschwanz in deinem Gesicht?!«

DAS KAPITEL, IN DEM ICH ZIEMLICH LIBERAL BIN … FÜR EIN KLASSIKRADIO

Charlie

»Ist das … was?!«

Komm schon, Schicksal, dein Ernst? So viel, wie hier innerhalb weniger Minuten schiefgeht, hoffe ich für Leni und Ella, dass sie genügend Seile zum Festbinden dabeihaben.

»Es sieht nur auf den ersten Blick so aus.« Leni hockt sich entspannt auf die Luftmatratze und schiebt die Schminksachen beiseite, um mir Platz zu machen. »Es ist eher … Kannst du dich noch an das Dickpic erinnern, das ich euch neulich in die Gruppe geschickt hab? Von dem Spanier, der mich nach der letzten Bully-Tour nicht in Ruhe gelassen hat?«

»Nein. Nein. Nein.« Mit der flachen Hand rubble ich über meine Wange, bevor ich es aufgebe und mich zu Leni setze. »Wo ist mein Handy?!«

Ella beugt sich über meine Schulter nach vorn und zieht mein Smartphone unter der Luftmatratze hervor, um es mir zu reichen. »Meinst du den, dem wir die Nummer vom Urologen als Antwort geschickt haben?«

»Genau der!« Leni bricht in Gelächter aus.

»Könnt ihr bitte damit aufhören?! Ich wusste, dass das alles total bescheuert ist! Ich hätte Jonas nie zusagen dürfen, scheiß auf die Freikarten, scheiß auf seine Empfehlung!« Ich muss die Kamera-App nicht öffnen. Das, was sich im verdunkelten Bildschirm spiegelt, reicht. »Scheiß auf den ganzen Scheiß hier! Wie krieg ich das Zeug wieder ab, verdammt?«

Vor lauter Aufregung dreht sich mir der leere Magen um, und weil Leni und Ella nach meinem winzigen Ausbruch kurz still geworden sind, ist das Knurren darin übermäßig laut zu hören. Die beiden giggeln sofort wieder los, und diesmal muss ich mein Prusten genauso mit der Hand ersticken.

»Das ist nicht lustig«, schimpfe ich, kann mein Lachen aber nicht zurückhalten. »Ich hab einen Schwanz im Gesicht und nur ein halbes trockenes Tankstellen-Croissant im Bauch, Himmel noch mal.«

»Essen haben wir genug dabei, und hier steht drauf, dass du den Glitzer mit Seife und Wasser ganz leicht abbekommst.« Ella dreht die neonfarbene Verpackung in ihrer Hand. »Geh einfach kurz zu den Toiletten und wasch dich dort. Wenn du wieder da bist, sorgen wir dafür, dass du nicht mehr auf den ganzen Scheiß hier scheißen musst, okay?«

»Ich weiß nicht«, kommt es plötzlich trocken von Leni. »Wir haben so was Ähnliches mal während einer Tour ein paar Kids ins Gesicht gestreut. Bei denen ging’s nur mit Klebestreifen wieder ab. War ein riesiges Drama. Ich bin fast durchgedreht, die Kids haben geschrien wie am Spieß …«

»Nicht. Hilfreich. Leni!« Ich strecke mich, um an das türkisfarbene Badehandtuch mit Otter-Motiv in meinem Zelt zu kommen. »Erklär mir lieber mal, warum zur Hölle ich gleich in den ersten drei Stunden hier auf den größten Vollidioten des Festivals treffen muss.«

»Keine Ahnung«, sagt Ella. Ihre Augen sprechen Bände. Klasse, Otis ist also nur die Spitze des Eisbergs gewesen. Ich denke einfach nicht weiter darüber nach … und atme tief durch.

»Heißt, ich drücke mir lieber mal selbst die Daumen, dass sich in der Toilettenschüssel nichts bewegt?«

Wieder gackern Leni und Ella los. »Eben waren sie noch sauber«, versichert mir Leni zwischen zwei Lachern. »Aber Ella hat recht: Wenn du zurückkommst, dann schmieden wir einen Survival-Plan! Dein Chef kann nicht von dir erwarten, dass du hier Berge versetzt, wenn du noch nie zuvor auf einem Festival warst.«

Ich beiße mir auf die Lippe. Jonas anzulügen, was meine fehlende Festivalerfahrung und die Angst anbetrifft, das hier alles nach wenigen Stunden überfordert abbrechen zu müssen, war, im Nachhinein betrachtet, vielleicht keine so gute Idee. Denn jetzt stehe ich ziemlich unter Druck.

Ella kennt meine Ängste. »Gib mir mal dein Handy«, fordert sie. Nachdem ich ihr das Gerät in die Hand gedrückt habe, knipst sie ein Foto von der Blechdosenburg vor meinem Zelt. »Dazu schreibst du jetzt einfach was Lustiges.«

»Was denn?«, frage ich unsicher. »›Melde mich als freiwilliger Tribut für die diesjährigen Hungerspiele‹?«

Ella lacht. »Fände ich gut.«

»Ernsthaft?« Ich finde Fotos von Blechdosen total öde.

»Bei Festival-Content geht’s um die Atmosphäre, um den Vibe«, erklärt Leni mit einem Augenzwinkern, während Ella als Nächstes ein Bild einer Flasche mit rotoranger Flüssigkeit knipst, die sie aus ihrem Rucksack zieht.

»Und um Musik, Alkohol«, fährt Ella fort. »Ich hab uns Pimm’s gemischt.« Sie öffnet die Flasche und nimmt einen Schluck. »Mit Gurke, Zitrone, Himbeeren, Orange und extra viel frischer Minze, exakt nach deinem Rezept, Charlie. Aber vielleicht solltest du vorher was essen.«

Ich greife nach der Flasche, und während ich nicht lange überlege, sondern gleich mehrere Schlucke daraus nehme, knufft mich Leni in die Seite. »Außerdem haben wir die Regel, nichts zu hinterfragen, was das Wort ›kostenlos‹ enthält, schon vergessen?«

Ich reiche die Flasche grummelnd an sie weiter und schließe für einen Moment die Augen. Der Geruch sonnenerhitzter Erde steigt mir in die Nase, und ich konzentriere mich nur noch darauf, ihn tief ein- und wieder auszuatmen. Das hilft ein bisschen, meine angespannten Nerven zu beruhigen.

»Es ist alles nicht so dramatisch, wie es aussieht«, beruhigt mich Ella und verstaut die Flasche wieder in ihrer Tasche. »Und notfalls haben wir genug Alkohol dabei.«

Am liebsten hätte ich jetzt ein paar Momente für mich, aber bei der Lautstärke um mich herum wird das schwierig. Deshalb stemme ich die Hände in das dürre Gras neben der Luftmatratze und drücke meinen Körper nach oben. So ganz ist die Hitze noch nicht wieder aus meinem Gesicht gewichen.

Auch Leni bemerkt das. »Beruhigt es dich, dass ein Glitzerschwanz im Gesicht noch nicht einmal unter die Top Twenty meiner peinlichsten Festivalmomente fällt?«

Meine Mundwinkel zucken. »Definitiv.« Ich werfe mir mein Badetuch über die Schulter und ziehe eine Grimasse, während mich Ella und Leni kichernd in eine Umarmung ziehen.

Das Festival ist wie eine Vier-Meter-Hürde, die ich überspringen muss, wenn ich Jonas’ Empfehlung erhalten, ganz besonders aber, wenn ich mir, meinen Eltern und ihm beweisen will, dass ich bereit für mein eigenes Leben bin. Was meine schnelle Überreizung anbetrifft, bin ich erst seit einem Jahr im Training, aber mit viel Anlauf wird es schon klappen. Deshalb fokussiere ich ab sofort einfach das Ziel, setze Scheuklappen auf und sprinte ohne Umwege direkt bis zu meiner Empfehlung durch … oder fürs Erste zu den Toiletten.

Mein Blick huscht ein letztes Mal in Richtung der Parkplätze, dann trifft er auf Ellas besorgten Ausdruck. Wahrscheinlich kann ich zumindest meiner einzigen Schulfreundin nicht wirklich etwas vormachen, aber irgendwie kriegen wir die nächsten Tage schon durchgezogen.

***

Die Grasfläche, die ich kurz darauf überquere, ist total ausgetrocknet, platt getreten und braun. Die Sonne brennt mir aufs Gesicht, und ich kann nicht verhindern, dass mein Blick hilflos zwischen chaotisch aufgebauten Zelten umherirrt. Zelt. Weg. Zelt. Weg. Himmel, wieso sieht hier denn alles gleich aus?

Es ist jetzt schon so drückend heiß, dass ich es mittlerweile richtig bereue, eine enge Jeans angezogen zu haben. Immerhin ist das T-Shirt in Rekordzeit getrocknet. Ich klemme mir das Badetuch zwischen die Beine und binde mir meine Haare zu einem Dutt hoch. Eigentlich haben sie nicht die richtige Länge dafür, aber allein schon weil mir die feinen Strähnen ständig an den Lippen kleben, will ich sie aus dem Gesicht haben. Mit der freien Hand schütze ich mich anschließend so gut es geht vor der Sonne. So übel war Otis’ Abkühlung im Nachhinein eigentlich gar nicht, auch wenn ich mir lieber selbst Wasser ins Gesicht geschüttet hätte.

Vor einem bunt lackierten VW-Bus mit Aufstelldach bleibe ich kurz stehen. Davor tanzt ein zierliches Mädchen mit Blumenkette im Haar so entspannt zu sanften Rockbeats, als gäbe es nur sie und ihre Freundin mit hübschem Afro-Look, die beide Hände auf die Hüften des Mädchens gelegt hat und sich mit geschlossenen Augen ganz und gar in ihrem Rhythmus verliert. Die zwei wirken ziemlich vertieft, weshalb ich sie nicht nach einem Foto für die Story frage, sondern für einen Moment der Musik lausche, die aus dem Inneren des Bullys dringt. Leni karrt mit einem ähnlichen Teil Touristen durch Deutschland. Eigentlich möchte sie Musicaldarstellerin werden, aber soweit ich weiß, hat sie bisher keine ihrer Bewerbungen abgeschickt, weil ihre Eltern wollen, dass sie das Familienreiseunternehmen übernimmt.

Ich hole tief Luft, als ein Lächeln meine Mundwinkel überzeugt. Für den Bruchteil einer Sekunde fühle ich womöglich das, was Leni und Ella an Festivals so fasziniert.

Dann vibriert mein Handy erneut. Weil meine enge Jeans aber wegen der Hitze an meiner schweißnassen Haut festklebt, muss ich das Smartphone von unten aus der Tasche pressen. Als ich es endlich zu greifen kriege, stolpere ich im selben Atemzug über eine stramm gespannte Zeltschnur. Ich reiße die Arme zum Schutz nach vorne, taumle und kann mich gerade noch so in der Luft fangen. Nur mein Handy landet lautlos auf dem verdorrten Gras. Alex’ Bild auf dem Display erlischt.

»He, da ist aber jemand stürmisch.« Die Stimme, die an mein Ohr dringt, klingt atemlos und heiser. Nach langer Partynacht und zu viel Alkohol.

Ich hebe mein Handy auf, und kaum drehe ich meinen Kopf ein Stück nach links, schaue ich direkt auf eine Sonnenbrille, deren Gläser aus Bierkrügen bestehen. Irritiert richte ich mich auf.

Als ich nicht sofort auf seinen Spruch reagiere, rückt der Typ seinen Strohhut zurecht und dreht sich ein Stück von mir weg, sodass ich seinen roten Nacken erkennen kann. Entschuldigend hebt er die Schultern und startet den ›Wetten, dass..?‹-würdigen Versuch, gleichzeitig eine volle Bierdose in einer Hand zu jonglieren und mit der anderen einen Hering in den staubtrockenen Boden zu pressen. Ich muss mir auf die Unterlippe beißen, um nicht laut loszulachen, weil er dabei ziemlich bescheuert aussieht.

»Ich such eigentlich die Toiletten«, sage ich schnell. Bevor der Typ aufblickt, lege ich zur Sicherheit eine Hand flach auf meine verunstaltete Wange und tue so, als würde ich gemeinsam mit ihm über seine Antwort nachdenken.

»Lauf einfach weiter geradeaus.« Er hebt seinen Arm ein klein wenig zu schwungvoll, und das Bier in seiner Hand schwappt über den Dosenrand direkt neben die nackten Füße seines Kumpels. Der trägt auch eine dieser Bierkrug-Brillen, dazu ein blaues Fußballtrikot sowie rot geblümte kurze Badeshorts, und blickt von einem weißen Plakat hoch, auf das er 10/10 geschrieben hat. Ich glaube, er nimmt mich erst jetzt so richtig wahr, aber ihm ist sowieso etwas anderes wichtiger.

»Alter, Sven, dein Ernst?«, schimpft er. »Das Bier!«

»Was denn? Die junge Dame hier ist in Not …« Strohhut deutet eine Verbeugung an, was hockend total albern aussieht, verschüttet noch mehr von seinem Bier und kassiert augenblicklich einen festen Schlag gegen die Schulter. Keine Sekunde später rollt die Bierdose über das Gras bis kurz vor meine Schuhe. Überall verteilt sich braungoldene Flüssigkeit. Brauereigeruch vermischt sich mit der flirrenden Hitze und mir wird übel.

»Na großartig, du Vollidiot! Hier, nimm dir ein neues.«

Das unkontrollierte Gezappel der beiden macht mich nervös, und ich weiß nicht einmal genau, weshalb. Wahrscheinlich liegt es daran, dass ich nicht einschätzen kann, wie ich mich jetzt verhalten soll. Also suche ich nach dem passenden Moment, mich mit einem leisen Murmeln zu verdrücken, aber jedes Mal, wenn ich dazu ansetzen möchte, sagt einer der beiden Jungs etwas.

Dafür kommt jetzt auch noch ein dritter Typ auf mich zu. Er trägt ein schlichtes dunkelblaues Shirt mit einem Stern auf der rechten Brust, in dessen Mitte der Berliner Bär prangt. Irgendwoher kenne ich das goldene Wappen. Unwillkürlich werfe ich einen Blick auf mein zerknittertes Klassikradio-Shirt, das ich bis eben im Gegensatz zur Jeans eigentlich für eine gute Wahl gehalten habe.

»Wer ist denn euch zugelaufen?« Als der Typ uns erreicht, bleibt er mit verschränkten Armen vor mir stehen. Sein Gesichtsausdruck ist überheblich, und das lässt meine Wange vor Hitze spannen und meine Beine kribbeln. Ein besserer Fluchtmoment wird sich mir nicht mehr bieten, aber ich merke sofort, dass ich zu lange gewartet habe, weil der Fremde jetzt tief Luft holt.

»Ich bin Leon …«, sein Blick fällt auf das Plakat, »… und das hier können wir bei dir in jedem Fall schon mal ausprobieren.«

»Charlie«, antworte ich automatisch, obwohl ich eigentlich keine große Lust habe, mit jemandem Freundschaft zu schließen, der Menschen in Zahlen bewertet.

»Hörst du diesen Klassiksender auf deinem Shirt?« Leon wirkt überrascht.

»Ich arbeite für ihn«, sage ich wahrheitsgemäß – das wird definitiv für Nachfragen sorgen.

»Und was machst du dann auf diesem Festival?«

Ich seufze, weil es jetzt eh egal ist. »Fotos für unseren Instagram-Kanal.«

»Wirklich?« Leon sieht neugierig aus, und auch Sven und der andere Typ betrachten mich interessiert.

Ich verziehe den Mund. Ist es wirklich so abwegig, dass ein Klassikradio über ein Rockfestival berichtet? »Wir sind eben ein ziemlich liberaler Sender.«

Ich schaue schnell zu dem bunten Bully und versuche dabei, nicht auf meinen beschleunigten Herzschlag und die Reaktionen der Jungs zu achten. Trotzdem sehe ich aus dem Augenwinkel, wie Leon irritiert eine Braue hebt.

»Dann willst du sicher ein Foto von uns machen.«

Es dauert einen Moment, bis ich begreife, dass diese Nachfrage ziemlich viel Sinn ergibt. »Klar, das wäre … super.«

Leon grinst. »Du kannst das Bild natürlich auch für deine private Pinnwand nutzen –«

»Alles gut«, unterbreche ich ihn, und während ich mir ein paar lose Strähnen hinters Ohr schiebe, streift mein Blick die anderen zwei. »Ist das für euch okay?«

Sven räuspert sich und zur Sicherheit schenke ich ihm ein breites Lächeln. Bitte verwickle mich jetzt nicht auch noch in ein langwieriges Gespräch! »Klar, warum nicht.«

Ich atme erleichtert auf, und während ich ein paar Schritte zurückgehe, fällt mein Blick auf mein Festivalbändchen: Um in einer Schafherde nicht aufzufallen, sollte man in erster Linie wohl ein Schaf sein. Das schreibe ich mir später irgendwo auf, oder ich nutze es als Bildunterschrift für Lenis Blechdosen-Burg.

Sven und sein Kumpel richten sich ächzend auf und zupfen sich ein paar dünne Grashalme von den nackten Knien. Leon schiebt sich seine schwarze Sonnenbrille vom Kopf auf die Nase und positioniert sich zwischen seinen beiden Freunden. Ich öffne die Kamera-App und nehme das Handy quer.

»Wenn’s für eine Story ist, dann halt das Teil lieber hochkant.« Sven lächelt mich aufmunternd an.

»H-hochkant, klar.« Wenn ich so weitermache, kann ich mir gleich auf die Stirn tätowieren lassen, wie wenig Ahnung ich von Festivals habe.

Leon dreht den Kopf zu seinem Kumpel. »Ist wohl doch für ihre Pinnwand.« Und wieder zurück zu mir. »Was ist das da eigentlich in deinem Ge–«

»Alter, frag nicht so viel, wir müssen eure Zelte noch aufbauen, bevor wir uns heute Abend mit den anderen am Supermarkt treffen«, kommt mir Sven mit einem Zwinkern zuvor. »Bist du bereit, liberaler Sender?«

»Bereit.«

Ich drehe das Smartphone, richte es auf die drei Jungs und schieße ein paar Bilder, bevor ich es wieder zurück in die Hosentasche stecke.

»Super!« Die Situation sorgt dafür, dass ich erst mal ordentlich Luft holen muss, bevor ich weiterrede. »Ich lad das Bild gleich in unsere Story.«

Die Jungs feixen und Leon kramt sofort sein Handy aus der Hosentasche. »Ich überprüf das, und wenn du magst, komm gern später beim Supermarkt vorbei. Am ersten Abend hocken wir dort zusammen und … trinken.«

Ganz sicher nicht. Ich nicke Leon höflich zu und sehe, wie sich die anderen beiden um ihn herum positionieren. Alle drei starren auf den Bildschirm, wo sich gerade mit großer Sicherheit die Instagram-Seite des Radiosenders aufbaut. Followeranzahl Follower-Anzahl: sechzehn. Es wären eigentlich siebzehn, aber Marianne aus dem Marketing steht Social Media kritisch gegenüber.

»Das ist ja wirklich ein Scheißklassikradio?!« Svens Brüllen motiviert meine Beine, ein klein wenig schneller zu gehen. »Klassik modern gedacht«, liest er nun die Sender-Bio vor. »Betreut von Charlotte Leyfert.« Auf diesem Zusatz hat Jonas bestanden, damit er die Empfehlung später besser begründen kann.

Ich laufe noch ein bisschen schneller, doch das Lachen der Typen dringt bis zu mir durch, und Leons laute Stimme gleich hinterher. »Ich folg dir trotzdem mal, liberaler Sender«, ruft er. Warum? »Bist definitiv eine Zehn von zehn.«

Die Begründung akzeptiere ich ausnahmsweise, weil, na ja, vielleicht bin ich ja gar kein so mieses Schaf wie angenommen.

Unsicher drehe ich mich zu den dreien um, weil ich für eine winzige Sekunde an die Situation mit Levy vorhin denken muss, in der ich mich einfach getraut habe, das zu sagen, was mir auf der Zunge lag. Vielleicht funktioniert es ja so auf Festivals? Fremder Ort, fremde Regeln.

»Ich dachte eher, weil deine Oma sich freut, wenn sie dich da sieht.«

Sven lacht, und ich beschließe, dass ich zumindest ihn mag. Immerhin hat er mich vor der Glitzerpenis-Frage gerettet, was ich einfach als gutes Omen deute. Um mein Schicksal nicht weiter herauszufordern, sehe ich jetzt trotzdem zu, dass ich weiter in Richtung Toiletten stapfe, bevor die drei meine gespielte Ungezwungenheit noch enttarnen.

Aber als ich nach ein paar Minuten das Gefühl habe, im Kreis zu laufen, hole ich tief Luft und gehe zielstrebig auf eine schattige Fläche zu. Mein Handy hat während des Gesprächs eben vibriert. Ein kurzer Blick aufs Display genügt, und ich weiß, dass Leni einen Lageplan mit wichtigen Festivalhinweisen in die Gruppe geschickt hat. Im Laufen überfliege ich die zig Hinweise, die der Veranstalter auf einem Bild zusammengefasst hat: flächendeckendes Internet, Autoblinker bei Gewitter anschalten. Was zur Hölle?!

Ich schiebe die Nachricht weg, bevor ich eine schmale Baumreihe erreiche und mich erschöpft an einen der Stämme lehne. Ich bin erst ein paar Stunden hier und fühle mich jetzt schon total ausgelaugt. Vielleicht liegt es an der unbekannten Umgebung. Vielleicht auch nur daran, dass ich noch immer nichts Ordentliches gegessen habe. In meiner Therapie habe ich jedenfalls für überreizende Situationen wie diese eine gedankliche Schrittfolge gelernt, die mir die Angst davor nehmen soll, meiner Überforderung blind ausgeliefert zu sein.

Hätte ich die Kombination aus Atemübungen und Körperbewusstsein schon auf dem Gymnasium beherrscht, hätte ich verhindern können, dass jeder außer Ella dort die übersensible Opfer-Charlie in mir gesehen hat. Deshalb kann ich Ella unmöglich böse sein, wenn sie sich um mich sorgt. Ich selbst schäme mich nicht nur dafür, wie hilflos ich den Anfeindungen meiner Mitschüler ausgesetzt gewesen bin, sondern auch, weil ich mich jahrelang selbst für etwas verurteilt habe, das schlichtweg mein Charakter ist. Manchmal bin ich ihnen fast dankbar für das, was sie mir angetan haben. Sonst wäre ich nach meinem achtzehnten Geburtstag nie zur Therapie gegangen, bei der ich dann wiederum Leni kennengelernt habe. Es kommt, wie es kommt, sagt mein Vater immer.

Ich schließe die Augen und projiziere jeden einzelnen Teil meines Körpers als Bild vor mein inneres Auge. So entspanne ich mich Stück für Stück. Währenddessen erlaube ich den Gedanken und Gefühlen, wie ein Bienenschwarm in mir umherzukreisen. Vor einem Jahr noch glichen jeder Gedanke und jedes Gefühl einer Wespe, die wild zusticht und immer wiederkommt, weil ein Stich sie nicht tötet. Dank der Therapie sind Reize mittlerweile zu Bienen geworden, die wissen, dass ein einziger Einsatz ihres Stachels tödlich für sie endet. Gleichzeitig habe ich begriffen, dass es Bienen nun einmal braucht, damit ein Ökosystem funktioniert. Deshalb klappt es seit einem Jahr also meistens zwischen den Gedanken, Gefühlen und mir.

Ich lockere die Schultern und scanne mit den Augen die unbekannte Umgebung. Mit schweißnassen Fingern streiche ich mir die Haare aus der Stirn, krame mein Handy hervor und öffne die Instagram-App. Dort lade ich das neue Foto zu dem Croissant in die Story. Sofort weicht ein wenig Anspannung aus meinem Körper. Innerlich gebe ich mir ein High Five und schiebe mein Handy zurück unter mein Handtuch, bevor ich wieder die Augen schließe und mich entspanne. Vielleicht habe ich die kommenden Tage sogar Spaß, wenn ich weiterhin so ein lässiges Schaf bin.

Geräusche ziehen an mir vorbei, ein Chaos aus lauten Stimmen und Musik. Ich atme tief durch und schlucke ganz viel Überforderung herunter. Von irgendwoher mischt sich der immer gleichbleibende Beat eines Elektrosongs in meine Gedanken, und als nach ein paar Minuten auf das letzte Bum ein neuer Beat folgt, hilft die Atemübung endlich dabei, meine angespannten Nerven zu beruhigen.

DAS KAPITEL, IN DEM ICH NEUE BLICKWINKEL ZIEMLICH GUT FINDE

Charlie

»Hey, du!«

Ich spüre etwas an meinem Arm und reiße erschrocken die Augen auf. In meinem Kopf hämmert sofort wieder ein wildes Gewirr aus Stimmen, Elektromusik und Gelächter gegen meinen rasenden Puls an. Einen kurzen Moment noch hängt mein Verstand in der Entspannungsübung fest, dann steigt Panik in mir auf und ich stoße ein überfordertes Keuchen aus. Ich versuche, mich aufzurappeln, aber anscheinend bin ich noch nicht wieder ganz bei mir. So verliere ich das Gleichgewicht, kippe mit einem hilflosen Schrei vornüber und reiße im selben Augenblick instinktiv die Hände nach vorn, um meinen Kopf davor zu bewahren, unkontrolliert auf den Boden aufzuschlagen.

»Fuck, alles okay?« Wieder ist da eine fremde Hand an meinem Arm, die ich mit einer ruckartigen Bewegung beiseitestoße, obwohl ein Teil meines Verstandes registriert, dass ich die Stimme kenne, die unsicher hinterherschiebt: »Bist du eingeschlafen?«

Auf einem Festival? Wie dumm wäre das? Meine Verwirrung über seine Frage ist so ziemlich der einzige Grund, dass ich nicht in Panik vor der aufsteigenden Überforderung wegkrieche.

Ächzend reiße ich meinen Oberkörper zurück, was ganz und gar keine gute Idee ist, weil es sich jetzt anfühlt, als würde mein Kopf implodieren. Keuchend schließe ich die Augen. Mit aller Macht scheint mich der unbekannte Ort gerade überrollen zu wollen. Zig Horrorszenarien durchfluten unkontrolliert meinen Verstand, sodass keine Meditationsübung hilft, dort Ruhe reinzubekommen. Nur mit voller Konzentration schaffe ich es überhaupt, geregelt Sauerstoff in meine Lungen zu transportieren.

Erst als ich am Rascheln seiner Hose höre, dass der Typ neben mir in die Hocke geht, bemerke ich ihn wieder.

»Oder hast du zu viel getrunken? Schaffst du es, mich anzuschauen?«

Ich spüre, dass er näher kommt und augenblicklich wieder zurück auf die Fersen sinkt, als ich mit einem erstickten Laut die Lider aufschlage und vor ihm zurückweiche.

»Okay, vergiss es.«

»Ich bin nicht betrunken, ich hab versucht, mich zu entspannen.« Nur mühsam kommen die Worte aus meinem Mund, und noch anstrengender ist es, meinen Körper dazu zu bringen, sich aufzurichten. Die Hand, die mir sofort wieder entgegengestreckt wird, ignoriere ich und drücke mich mit beiden Händen vom Boden ab.

Ich blinzle. Das Erste, was ich wahrnehme, ist der nackte Oberkörper voller kleiner und großer schwarzer und bunter Tattoos, der meinen anscheinend bis eben noch vor der Sonne abgeschirmt hat. Dann erkenne ich, dass er zu Levy gehört. Er ist nicht so schmächtig, wie es aus der Entfernung vorhin gewirkt hat. Aber es ist Levy – der Typ, der seinen Kumpel wegen mir zurechtgewiesen hat und sich jetzt ebenfalls aufrichtet.

»Ich wollte dich nicht erschrecken, sorry. Du sitzt in der prallen Sonne, und ich hatte Sorge, dass du es nicht mitkriegst, wenn du einen Hitzeschlag bekommst.« Er zieht eine Hand aus der Hosentasche seiner Stoffhose, und damit fällt mein Blick automatisch auf die tiefschwarze Zahlenreihenfolge dort: 1206. Eine indigoblaue Linie geht mittig durch sie hindurch und endet knapp über einem Mal an seinem Daumen. Es ist kreisrund und dunkelrot, keine wirklich auffällige Narbe.

Jetzt hebt Levy den Arm, und ich folge der Bewegung bis hoch zu seinem Gesicht. Er bemerkt meinen Blick und wischt sich fahrig über die Augen, womit er den sorgfältig gezogenen Eyeliner-Strich auf dem Unterlid verschmiert. In seinem linken Nasenflügel steckt ein schlichter Ring, und um den Hals trägt er eine Art Band, das so aussieht wie Lenis Samt-Choker. Wow, das ist … na ja, es lenkt mich auf jeden Fall für einen Moment davon ab, dass ich meinen Atem noch immer nicht ganz unter Kontrolle habe und mir deshalb ein wenig schwummrig wird.

Levy beugt sich nach vorn. Sofort überrumpelt die unerwartete Bewegung meine überreizten Sinne. Ein ersticktes Keuchen entweicht mir.

»Ich heb nur dein Zeug auf, bevor es jemand klauen kann, okay?« Mit einem Lächeln wartet Levy auf meine Zustimmung, und als ich perplex nicke, greift er nach Handy und Handtuch neben mir, um mir beides zu reichen. »Am besten lässt du Wertsachen nicht so offensichtlich rumliegen, wenn du das nächste Mal entspannst.«

»Ob du es glauben willst oder nicht: Ich bin nicht eingeschlafen.«

»Selbst wenn …«, erwidert Levy locker und beißt sich auf die Unterlippe. »Ist mir auch schon passiert. Hat mich fünfzig Euro und meine vollgestempelte Tattoo-Bonuskarte gekostet.« Mit einem Grinsen streckt er mir sein anderes Handgelenk entgegen. »Siehst du. Hab ich bis heute deshalb nicht fertig bekommen.« Er dreht es so, dass ich den tätowierten Schriftzug lesen kann, der mitten im Satz endet. Pflicht oder …

Wahrheit? Wer lässt sich denn den Namen eines Spiels in verkehrter Reihenfolge tätowieren?

Ich muss lächeln. »Als ob …«

Grinsend fährt sich Levy mit einer Hand über den Nacken, die andere greift nach seiner Wasserflasche, um sie sich unter den Arm zu klemmen, bevor beide wieder in seinen Hosentaschen verschwinden. »Weshalb musstest du dich denn entspannen?«

»Es ist absolut unmöglich, inmitten des Zeltchaos die Toiletten zu finden.«

»Ach so.« Er wirft einen Blick über seine Schulter. »Du meinst die neben dem Supermarktzelt, gleich dort hinten.«

Mein Blick fällt auf das große weiße Zelt mit bunten Lichterketten, das zugegeben eindeutig unter den anderen hervorsticht. Direkt dahinter erkenne ich mit viel Fantasie eine erste Reihe blauer Dixi-Klos.

Ich kann das frustrierte Seufzen nicht zurückhalten. »Gäbe es hier irgendwo ordentliche Hinweisschilder, hätte ich die Dinger auch auf Anhieb gesehen.«

Levy dreht den Kopf wieder um und mustert mich prüfend. »Es gibt … vergiss es«, beendet er den Satz. Doch allein sein Ausdruck macht eindeutig, dass an den Wegen sehr wohl Schilder angebracht sind. Sein Blick wandert von meinen Sneakers über die enge Jeanshose nach oben, bleibt kurz an meinen zu Fäusten verkrampften Händen hängen und landet schließlich auf meiner bemalten Wange. Der Glitzerschwanz – verdammt.

»Frag nicht!«, platzt es aus mir heraus.

Levy runzelt die Stirn und legt den Kopf schief. »Ist das ein …?«

»Es ist ein sehr würdevoller Glitzerschmetterling, genau. Den im Übrigen dein Kumpel eiskalt zerstört hat, weshalb ich auch die dämlichen Klos suche. So kann ich das nicht fotografieren.«

Levy trinkt einen Schluck aus seiner Wasserflasche, bevor er sie mir reicht. Mit einem Kopfschütteln lehne ich ab. Auf keinen Fall rühre ich irgendein wildfremdes Getränk an, da kann Levy noch so vertrauenswürdig wirken.

»Ich wollte ›Penis‹ sagen.« Mit einem Grinsen trinkt er aus, und ich glaube, dass er die leere Wasserflasche eigentlich zerdrücken will, doch als er meine zusammengepressten Lippen bemerkt, klemmt er sie zwischen Bauch und Hosenbund ein.

»Aber vielleicht fangen wir noch mal von vorne an.« Levy räuspert sich leise und schiebt die Hände zurück in die Hosentaschen. »Tut mir leid, dass Otis das Kunstwerk auf deiner Wange zerstört hat und deine Follower deswegen eine Stunde länger als üblich auf die sieben einfachsten Festival-Make-up-Looks zum Nachschminken warten müssen.«

Ich werde ganz sicher nicht darauf antworten. Schon allein deshalb nicht, weil Levys Tonfall zum Ende hin ein klein wenig sarkastisch wurde. Aber wie vorhin schon verspüre ich plötzlich den eigenartigen Drang, dagegenhalten zu wollen.

Ich beiße die Zähne zusammen und zucke mit den Schultern.

»Ich bin Levy«, fährt er fort. »Dreiundzwanzig, und jep: Das ist Eyeliner. Wenn du mir also den Namen deines Blogs verrätst, dann kann ich bestimmt noch was dazulernen.«

Okay, das … Ich kann mein Lachen nicht unterdrücken. »Das bezweifle ich ehrlich gesagt.« Mit dem Daumen zeige ich auf das Klassikradio-Logo auf meiner Brust. »Charlie, also eigentlich Charlotte, neunzehn, und anscheinend mit Glitzerschwanz auf der Wange.«

»Keine Influencerin?«

Ich schüttle den Kopf. »Definitiv nicht.«

Levy lässt sich nicht anmerken, wie er das findet. »Dein Glück. Auf Festivals herrscht meistens mieser Empfang.«

»Dieses Jahr haben sie für Influencer zusätzliche Sendemasten in den Boden gerammt«, erkläre ich ihm grinsend. Zumindest stand das so ähnlich auf dem Bild, das Leni in die Gruppe geschickt hat. »Du solltest die Festivalhinweise lesen.«

Levy wirkt genauso irritiert über meine schlagfertige Antwort wie ich. »Hab ich wohl vergessen.«

»Ziemlich fahrlässig, wenn du mich fragst.«

Levy verlagert sein Gewicht auf das andere Bein. »Du hast eben übrigens ›schläft auf Festivals ein‹ vergessen.«

»Ich bin nicht eingeschlafen!«

»Hattest du gesagt, stimmt.«

Levys schiefes Grinsen reizt mich, und plötzlich will ich ihn übertrumpfen. »Weißt du was, ich speichere mir einfach den Standort der Toiletten auf Google Maps ein, damit ich ihn nicht mehr vergesse.« Kaum haben die Worte meinen Mund verlassen, will ich sie einfangen und wieder zurückschieben. Was rede ich denn da? Als ob …

»Festival-Orte lassen sich nicht auf Google Maps einspeichern.« Levys Lachen verdrängt meine Sorge, ihm mit meiner erbärmlichen Antwort viel zu viel über meine Unerfahrenheit verraten zu haben. »Aber wenn noch mal jemand so blöd nachfragt wie ich eben, behauptest du einfach, dass das auf deiner Wange ein Einflügelschmetterling ist.«

Levy beugt sich leicht zu mir vor, und ich frage mich, wie ein Mensch nach Sommer riechen kann. Nach Limone und Sonnencreme, und ein klein wenig verschwitzt, was mich bei den Temperaturen nicht wirklich überrascht. Dass sich mein Herz bei Levys Geruch zusammenzieht, hingegen schon.

»Einflügel… was?«

Er blinzelt. »Wie die Keinohrhasen-Til-Schweiger-Scheiße?«

»Ach so.« Schräger Vergleich. »Ich gehe ihn einfach abwaschen.«

»Oder das.«

»Falls ich die Toiletten ohne Google Maps finden sollte.«

Levy betrachtet mich, dann klemmt er den Silberring in seinem Nasenflügel zwischen den Fingern ein. »Den hab ich verdient.«

Mir fällt auf, dass Levys Wimpern mit dem Lidstrich ein mitternachtsschwarzes Oval um das Braun darin bilden, weshalb die Iriden selbst im Schatten richtig intensiv wirken. Seltsamerweise mag ich die Kombination.

»Gut«, sagt er. »Ich bin eigentlich auf dem Weg zur ersten Zeltplatzparty …«

»Was für eine Party?« Ich habe keine Ahnung, warum ich ihn das überhaupt frage. Die Hoffnung, dass er mich einlädt, ihn zu begleiten, ist es jedenfalls nicht. Entweder habe ich Sonne abgekriegt, oder … ich versuche gerade, ein Gespräch, das ich eigentlich beenden wollte, an einem Ort zu verlängern, den ich um alles in der Welt verlassen will. Unwillkürlich muss ich schon wieder lächeln, denn allein die Vorstellung ist echt absurd.

»Irgendein DJ-Kollektiv legt in einem umgebauten Caravan mitten auf dem Zeltplatz auf, die Leute tanzen dicht gedrängt zu ohrenbetäubender Musik. Es ist zusammengefasst …« Schon allein in meiner Vorstellung der blanke Horror? Beängstigend? Verrückt? »Ziemlich genial! Irgendwie befreiend. Willst du mitkommen?«

»Auf gar keinen Fall!«

Wieder kann ich nicht herauslesen, ob Levy meinen schockierten Ausruf genauso peinlich findet wie ich. Es ist ein wenig beängstigend, wie gut er darin ist, kaum offensichtliche Reaktionen zu zeigen – als stünde man einem Soldaten der britischen King’s Guard gegen. »Das Gute an Festivals ist, dass du nichts tun musst, aber alles machen darfst. Es schadet jedoch nicht, hin und wieder den eigenen Blickwinkel zu wechseln. Mal was Neues auszuprobieren. Sagt man doch so, oder?«

Ich bin mir nicht sicher, ob nur ich die Anspielung in seinen Worten gehört habe. »Klingt jedenfalls ziemlich weise. Vielleicht solltest du ja über eine Karriere als Influencer nachdenken.«

»Gute Idee«, sagt er. »Dass ich da noch nicht selbst drauf gekommen bin.« Jetzt unterdrückt er ein Lachen, da bin ich mir sicher. Ich erkenne es daran, wie Levy mühsam die Zähne zusammenbeißt, während sich die Gesichtsmuskeln trotzdem nach oben bewegen. O Gott, das sieht so dämlich aus, dass ich lospruste. So richtig laut, mit diesem dämlichen Schweinchenquieken zum Ende hin. Oft genug hat mich irgendjemand deswegen aufgezogen, weshalb ich normalerweise mühsam darauf achte, es zu unterdrücken. Aber gerade … ging das nicht. Und ich bereue es sofort.

Denn Levy spannt sich an. Seine Augen verengen sich plötzlich und die Lippen werden schmal. »Na ja, meine Leute warten auf mich. Falls du dich hier noch mal entspannen magst, bleib am besten im Zelt oder …« Er lässt den Satz unbeendet und schluckt ein paarmal.

Levys abrupte Distanziertheit verwirrt mich, weil ich seine körperliche Anspannung kenne, viel zu gut kenne, und mir den Grund dafür dennoch nicht erklären kann. Jetzt tut es mir leid, dass ich seine Einladung eben so abrupt abgeschmettert habe.

Ich merke, dass ich schon eine Weile ganz automatisch langsam ein- und wieder ausatme, und weil Levy meine geregelte Atmung jetzt übernimmt, lächle ich. »Dann … äh, man sieht sich.«

»Du weißt, was man über Festivalseen behauptet?« Ein Zwinkern begleitet seine Handbewegung in Richtung meines Badehandtuchs, das ich mir gerade über die Schulter werfen will.

»Was denn?« Ich glaube, ich will es gar nicht wissen.

»Geh da lieber zu früh rein als zu spät. Ab morgen besteht der See nicht mehr ausschließlich aus Wasser.«

»Igitt.« Ich verziehe angewidert mein Gesicht.

Levy zuckt mit den Schultern und wendet sich zum Gehen. »Viel Spaß noch auf dem Festival.«

Ich habe keine Ahnung, wieso mein Herz mir bis zum Hals schlägt und warum ich erst jetzt wieder die Stimmen um mich herum wahrnehme, die Lautstärke, die Musik und meine körperlichen Reaktionen. Als hätte Levy das alles für ein paar Momente einfach ausgeknipst.

»Danke«, rufe ich ihm hinterher. »Und man –«

Levy dreht sich herum, und diesmal unterbricht er mich sofort, bevor ich mich wiederhole. »Man kann sich auf Festivals nicht so einfach wiedersehen.« Er lächelt nicht, aber mir fällt auf, dass sein Gesicht trotzdem wieder weicher wirkt. »Wobei … Google Maps hab ich noch nicht probiert.«

»Jaja.« Diesmal bin ich diejenige, die energisch an ihm vorbeigeht, aber verdammt, meine Mundwinkel zeigen verdächtig weit nach oben.

»Mach’s gut …« Levys Stimme stockt, und ich glaube, dass er sich unsicher ist, welchen Namen er rufen soll. »Charlie.«

Verdammt, klingt das schön aus seinem Mund.

Eigentlich will ich antworten, dass ich ziemlich froh wäre, wenn Google Maps hier funktionieren würde, damit ich Levy noch mal über den Weg laufen kann, aber das lasse ich lieber. Stattdessen winke ich kurz und steuere die Toiletten an. Erst als ich beim Supermarkt schon ums Eck gelaufen bin, fällt es mir ein. Der Insta-Kanal! Die Empfehlung! Levy! Foto!

Nein, ich kann ihn jetzt nicht noch um ein Foto bitten. Das klingt nach der billigsten Ausrede, um ein eindeutig beendetes Gespräch weiterzuführen.

Vor mir stehen zig Leute, die ich fragen könnte. Aber Fremde anzuquatschen, ist nicht gerade meine Paradedisziplin, und Levy kenne ich ja nun schon ein bisschen. Außerdem hat er doch vorhin irgendetwas von neuen Blickwinkeln gefaselt. Damit könnte ich es begründen, mich jetzt wieder zu ihm umzudrehen …

Finde ich gerade Argumente, einer Situation hinterher- und nicht vor ihr wegzulaufen?

Das ist … mehr als ungewöhnlich. Und ein Problem.

Denn die Vorstellung, die nächsten Tage gemeinsam mit Levy auf dem Festival zu verbringen, sorgt dafür, dass es in meinem Magen plötzlich heftig kribbelt.

EVEN BE A CLOWN, JUST TO AMUSE YA

Levy

Tuncer: Dein Vater war eben hier im Späti. Alter, sag ihm, dass er das nicht mehr machen soll. Jedes Mal denk ich, die haben was gegen mich vorliegen.

Er hat es herausgefunden, alles klar. Obwohl ich nichts anderes von meinem Vater erwartet habe, macht mich diese Information noch irrer als Charlie. Wieso treffe ich dieses Mädchen genau heute? Zwei Jahre nach … Fuck.

Das kann ich gar nicht gebrauchen, denn mein Vater wird ausreichend dafür sorgen, dass ich meine Entscheidung bereue, nach einem Jahr Pause mit Otis und Gloria wieder hierher aufs Rockfestival gefahren zu sein. Spätestens am Montagmorgen lässt er mich bei sich antanzen, um mich auf seine Art an den genauen Wortlaut der Abmachung zu erinnern.

Mit ekelhafter Erleichterung im Magen kontrolliere ich in Gedanken den Inhalt meiner Adidas-Sporttasche, die ich heute Morgen noch schnell zu den anderen Sachen in Otis’ Wagen geworfen habe: das Poloshirt – marineblau mit goldenem Emblem – und dazu schwarze Oxford-Schuhe. Die Verkleidung werde ich vorher überstreifen müssen, denn mit Tanktop und Stoffhose brauche ich bei meinem Vater nicht aufzukreuzen. Er würde mich schon rausschmeißen, wenn er nur die Überreste des Eyeliners auf meinem Unterlid entdecken würde. Trotzdem springe ich, wenn der Penner nach mir ruft. Wie abgefuckt ist das eigentlich?

Ich stecke das Handy zurück in meine Hosentasche und hole tief Luft. Aus irgendeinem der Zelte schallt Muse. Ich verurteile die Rockband nicht dafür, dass sie zu den besten Musikern unserer Zeit gehören und deshalb beinahe verpflichtend ununterbrochen über den Zeltplatz eines jeden Rockfestivals dröhnen müssen, aber einige ihrer Scheißsongs sind für meinen abgefuckten Verstand kaum zu ertragen.

Besorgniserregender als die Gedanken an meinen Vater und Muse ist gerade nur Charlie. Keine Ahnung, wieso ihre Haare unbedingt auf Höhe ihrer Schultern enden müssen und warum Charlie sie trotz der knappen Länge zu einem unordentlichen Knoten hochgebunden hat. Was weiß ich, weshalb ihr Gesicht dadurch so wirkt, als würde es nur aus ihren hellen blauen Augen bestehen. Ihre verdammten Augen. Schlimmer noch als ihr Lachen.

Hat mich beides erst herausgefordert, dann überfordert.

Könnte mir vorstellen, dass es Charlie mit dem Festival ähnlich ergeht. Zumindest ließ ihre angespannte Körpersprache darauf schließen. Was macht sie dann hier? In einem Klassikradio-T-Shirt? Ich kenne den Sender, weil ich ihn gelegentlich höre, der Unverfänglichkeit seiner Songauswahl wegen. Otis und seine Schwester machen sich deshalb ständig über mich lustig.

Ich starre auf das Supermarktzelt und fühle mich rastlos, habe aber keine Ahnung, wieso. Eigentlich existiert in meinem Kopf für solche Situationen eine einzige simple Regel, die ich penibel einzuhalten versuche. Wäre mir Charlie in irgendeiner Bar in Berlin über den Weg gelaufen, würde ich mir jetzt einen alkoholfreien Drink bestellen und, während ich ihn leere, zu dem Entschluss kommen, es bei einer Frau zu versuchen, die mich aussucht, und nicht andersherum.

Aber dass Charlie das Festival ausschließlich wegen der Musik und belanglosem Sex besucht, bekomme ich mir definitiv nicht eingeredet. Trotzdem will ich ihr nachlaufen. Für einen Moment habe ich mir eben sogar eingebildet, dass sie unser Gespräch genauso wenig beenden wollte wie ich … und allein die Tatsache, dass mir solche Dinge an ihr auffallen, löst noch mehr Unruhe in mir aus.

Charlie ist nicht die erste Frau, die irgendeine Scheiß-Erinnerung in mir hochkochen lässt. Das passiert ständig, und normalerweise bin ich verdammt gut darin, das zu verdrängen. Aber an Charlie ist etwas, das ich einfach nicht ignorieren und noch weniger greifen kann, was ein nervöses, fast schon drängendes Gefühl in mir auslöst, sie kennenlernen zu wollen. Verdammt, was ist denn los mit mir?

War es doch keine gute Idee, hierher zurückzukommen?

Fuck. Wenn das schon so anfängt … miese Voraussetzungen.

Eigentlich sollte ich mich deshalb auf der Stelle verziehen, aber wie Charlie mich angelächelt hat, als mir wegen ihres Lachquiekens kurzzeitig eine Sicherung durchgebrannt ist, krieg ich nicht aus meinem Kopf. Als wüsste sie ziemlich genau, an welchem Abgrund ich in diesem Moment gestanden habe, hat Charlie angefangen, geregelt ein- und auszuatmen. Könnte ich mir aber auch eingebildet haben. Und selbst wenn. Dann hat Charlie eben geatmet, na und? Jeder Mensch atmet, Herrgott noch mal.