Whiskey Chaser - Claire Kingsley - E-Book
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Claire Kingsley

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Beschreibung

Bootleg  Springs - die erfolgreiche Small Town-Reihe der Bestsellerautorinnen Claire Kingsley und Lucy Score!

Scarlett, die von ihren drei Brüdern aufgezogen wurde, hat eine harte Zeit hinter sich. Doch niemals lässt sie sich unterkriegen. Wie ein Wirbelwind sorgt sie überall, wo sie auftaucht, für Unruhe und reißt mit ihrem offenen Wesen alle mit. Ihre Lieblingsbeschäftigungen? Jeden Mann gnadenlos unter den Tisch zu trinken und Two-Step zu tanzen. Romantik oder gar tiefe Gefühle haben in ihrem Leben keinen Platz. Und der sexy Typ, der nebenan eingezogen ist? Da ist ihr Interesse rein nachbarschaftlich. Was auch sonst?

Devlin ist am Tiefpunkt seines Lebens angelangt: Ehe, politische Karriere und alle anderen Zukunftspläne sind mit einem Mal zerstört. Nun ist er im Haus seiner Großmutter in Bootleg Springs gestrandet, diesem winzigen Ort in West Virginia, der nur für zwei Dinge berühmt ist: schwarzgebranntem Schnaps und dem ungeklärten Fall eines verschwundenen Teenagers. Doch Devlin interessiert das alles nicht, denn er ist damit beschäftigt sich selbst leid zu tun. Leider versteht das seine neue Nachbarin nicht, die ihn ständig nervt und ihn aus der Reserve locken will.

Als sie dann seine Hilfe benötigt, muss sich Devlin entscheiden: bleibt er zurückgezogen in seinem Schneckenhaus oder hilft er dieser Frau, die ihm merkwürdigerweise einfach nicht mehr aus dem Kopf geht?


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Liebe Leserin, lieber Leser,

Danke, dass Sie sich für einen Titel von »more – Immer mit Liebe« entschieden haben.

Unsere Bücher suchen wir mit sehr viel Liebe, Leidenschaft und Begeisterung aus und hoffen, dass sie Ihnen ein Lächeln ins Gesicht zaubern und Freude im Herzen bringen.

Wir wünschen viel Vergnügen.

Ihr »more – Immer mit Liebe« –Team

Über das Buch

Bootleg  Springs - die erfolgreiche Reihe der Bestsellerautorinnen Claire Kingsley und Lucy Score!

Scarlett, die von ihren drei Brüdern aufgezogen wurde, hat eine harte Zeit hinter sich. Doch niemals lässt sie sich unterkriegen. Wie ein Wirbelwind sorgt sie überall, wo sie auftaucht, für Unruhe und reißt mit ihrem offenen Wesen alle mit. Ihre Lieblingsbeschäftigungen? Jeden Mann gnadenlos unter den Tisch zu trinken und Two-Step zu tanzen. Romantik oder gar tiefe Gefühle haben in ihrem Leben keinen Platz. Und der sexy Typ, der nebenan eingezogen ist? Da ist ihr Interesse rein nachbarschaftlich. Was auch sonst?

Devlin ist am Tiefpunkt seines Lebens angelangt: Ehe, politische Karriere und alle anderen Zukunftspläne sind mit einem Mal zerstört. Nun ist er im Haus seiner Großmutter in Bootleg Springs gestrandet, diesem winzigen Ort in West Virginia, der nur für zwei Dinge berühmt ist: schwarzgebranntem Schnaps und dem ungeklärten Fall eines verschwundenen Teenagers. Doch Devlin interessiert das alles nicht, denn er ist damit beschäftigt sich selbst leid zu tun. Leider versteht das seine neue Nachbarin nicht, die ihn ständig nervt und ihn aus der Reserve locken will.

Als sie dann seine Hilfe benötigt, muss sich Devlin entscheiden: bleibt er zurückgezogen in seinem Schneckenhaus oder hilft er dieser Frau, die ihm merkwürdigerweise einfach nicht mehr aus dem Kopf geht?

Über die Autoren

Lucy Score ist New York Times- und USA Today-Bestsellerautorin. Sie wuchs in einer buchverrückten Familie in Pennsylvania auf und studierte Journalismus. Wenn sie nicht gerade ihre herzzerreißenden Protagonist:innen begleitet, kann man Lucy auf ihrer Couch oder in der Küche ihres Hauses in Pennsylvania finden. Sie träumt davon, eines Tages auf einem Segelboot, in einer Wohnung am Meer oder auf einer tropischen Insel mit zuverlässigem Internet schreiben zu können.

Claire Kingsley schreibt Liebesgeschichten mit starken, eigensinnigen Frauen, sexy Helden und großen Gefühlen. Ein Leben ohne Kaffee, E-Reader und neu erfundene Geschichten ist für sie nicht vorstellbar. Claire Kingsley lebt mit ihrer Familie im pazifischen Nordwesten der USA.

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Lucy Score, Claire Kingsley

Whiskey Chaser

Aus dem Amerikanischen von Juna-Rose Hassel

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Grußwort

Informationen zum Buch

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Widmung

1: Scarlett

2: Devlin

3: Scarlett

4: Devlin

5: Scarlett

6: Devlin

7: Devlin

8: Scarlett

9: Scarlett

10: Devlin

11: Scarlett

12: Devlin

13: Scarlett

14: Devlin

15: Scarlett

16: Scarlett

17: Devlin

18: Devlin

19: Scarlett

20: Devlin

21: Scarlett

22: Devlin

23: Scarlett

24: Devlin

25: Scarlett

26: Scarlett

27: Devlin

28: Scarlett

29: Scarlett

30: Devlin

31: Scarlett

32: Scarlett

33: Devlin

34: Scarlett

35: Devlin

36: Scarlett

37: Devlin

38: Devlin

39: Scarlett

40: Scarlett

41: Devlin

42: Devlin

43: Devlin

44: Scarlett

45: Devlin

46: Scarlett

47: Scarlett

48: Scarlett

49: Scarlett

50: Scarlett

Epilog: Devlin

Liebe Leserin, lieber Leser,

Danksagung

Impressum

Lust auf more?

Für alle Mädels vom Lande und Freunde von Selbstgebranntem. Und meine Binge Readers Anonymous.

1

Scarlett

Ich hasste Beerdigungen. Sie rochen nach Lilien und Trauer. Zu viele Umarmungen und durchnässte Taschentücher. Und das schwarze Kleid, das ich bei Target im Ausverkauf gefunden hatte, verursachte Juckreiz, wo sich das Etikett an meiner Haut rieb.

»Euer aller Verlust tut mir echt leid, Scarlett.« Bernie O’Dell mit seinen eins achtzig und den hängenden Schultern schloss mich in eine ungelenke Umarmung. Heute hatte er den Friseurladen wegen der Beerdigung geschlossen. Er war einer von Jonah Bodines wenigen Freunden, die bis zum bitteren Ende bei ihm geblieben waren, selbst, als er keine Freunde mehr verdient hatte.

Ich schenkte Bernie ein mattes Lächeln und tätschelte ihm den Arm. »Daddy war immer dankbar für deine Freundschaft.«

Bernie bekam feuchte Augen, und ich reichte ihn an Bowie weiter, meinen netten Bruder. Nicht dass Jameson und Gibson nicht nett gewesen wären, aber Bowie war Konrektor der Highschool. Er war daran gewöhnt, mit Gefühlen umzugehen, die uns übrigen Angst einjagten.

»Gott hat einen Plan«, verkündete Sallie Mae Brickman und drückte mir dabei beruhigend die Hand. Ihre Hände waren stets eiskalt, egal zu welcher Jahreszeit. Selbst wenn am vierten Juli achtunddreißig Grad herrschten, blieb die Limonade in Sallie Maes Händen wahrscheinlich halb gefroren.

»Das hat er ganz bestimmt«, sagte ich, auch wenn ich mir absolut nicht sicher war, ob es einen Plan oder einen Gott gab. Aber wenn es Sallie Mae durch ihren Glauben besser ging, dann sollte sie unter allen Umständen daran festhalten.

Die Schlange der Kondolierenden füllte sich immer wieder auf wie ein schadhaftes Abwasserrohr, und Bernie erzählte Jameson gerade eine Geschichte vom Angeln. Mein Bruder war so etwas wie ein Einsiedlerkünstler, deshalb war das wahrscheinlich sein ganz persönlicher Alptraum. Unser Vater tot in einer Kiste hinter ihm, und vor der Tür eine Schlange wohlmeinender Bootlegger.

Bootleg Springs, West Virginia, war meiner bescheidenen Meinung nach der beste Ort der Welt, an dem man leben konnte. Während der Prohibition ging es hier beim Alkoholschmuggel hoch her – mein Urgroßvater Jedediah Bodine war eine Legende, weil er mit seinem schwarzgebrannten Schnaps Wohlstand in unser kleines Städtchen gebracht hatte – und nun waren wir mitten in einem Tourismus-Boom dank unseren heißen Quellen und dem halben Dutzend Bäder. Wir waren klein, aber oho. Jeder kannte jeden. Und wenn einer von uns starb – ganz egal, welche Stellung in der Gemeinde er in seinem Leben gehabt hatte –, putzten wir uns heraus, buken Kasserollen und sprachen unser Mitgefühl aus.

»Hey, Babe.« Cassidy Tucker, die attraktivste, bissigste Polizistin ganz West Virginias, trug Uniform und hatte ihre Schwester June im Schlepptau. Cassidy war seit dem Kindergarten meine beste Freundin und wusste genau, was für ein wildes Durcheinander hinter meiner traurigen Miene brodelte. Ich nahm sie fest in den Arm und zog auch Juney in unsere Umarmung.

June schlug mir zweimal auf den Rücken. »Bestimmt fällt dir ein Stein vom Herzen, weil du dir keinen Kopf mehr darüber machen musst, dass sich dein Vater in der Öffentlichkeit betrinkt«, sagte sie schroff.

Ich blinzelte. June war … anders. Zwischenmenschliche Beziehungen verwirrten sie. Lieber ratterte sie Sportstatistiken herunter, als Small Talk zu betreiben, aber das hinderte Cassidy und mich nicht daran, sie in gesellschaftliche Situationen zu zwingen. Außerdem war sie eine Bootleggerin. Alle hier waren an ihre Eigenarten gewöhnt.

»Da ist was dran, June«, sagte ich. Alle anderen waren zu höflich gewesen, um zu erwähnen, dass sich mein Vater zu Tode gesoffen hatte. Doch nur weil er echt beschissene Lebensentscheidungen getroffen hatte, hieß das nicht, dass er nicht zu Bootlegs sozialem Gefüge gehört hatte. Wir alle neigten dazu, Unzulänglichkeiten zu vergessen, wenn der Betreffende in der Bootleg Community Church in einer mit Satin ausgeschlagenen Kiste aufgebahrt war.

»Was ist?«, fragte June Cassidy und zog die Augenbrauen nach oben, während sie in der Reihe weiterrückten. Cassidy tätschelte June die Schulter.

Der alte Richter Carwell ergriff mit beiden Händen die meinen, und ich schielte nach rechts zu Bowie. Er umarmte gerade Cassidy … mit geschlossenen Augen. Ich nahm mir vor, ihn später deswegen aufzuziehen. Du riechst also auf der Beerdigung deines Vaters an den Haaren einer Polizistin, Bowie? Frag das Mädchen doch einfach, ob es mit dir ausgeht, verdammt nochmal.

»Das mit deinem Daddy tut mir leid, Scarlett«, schnaufte Richter Carwell. Der Mann sehnte sich schon seit fünfzehn Jahren nach seinem Ruhestand, aber Olamette County wollte davon nichts wissen. Mit Veränderungen tat sich Bootleg schwer.

»Danke, Sir«, sagte ich. »Und richten Sie Mrs. Carwell bitte meinen Dank aus für das Maisbrot, das sie geschickt hat.«

Carolina Rae Carwells Maisbrot war in vier Countys berühmt. Heute Morgen hatte ich mit Gibson, meinem ältesten Bruder, um das letzte Stück gekämpft und durch schmutzige Tricks gewonnen.

Jetzt war ich froh, dass ich damit eine gute Grundlage geschaffen hatte. Wie es aussah, lief es nämlich darauf hinaus, dass alle ihr Beileid bekundeten und gleichzeitig darüber tratschten, wie traurig Jonah Bodines Leben verlaufen und was für ein Segen es war, dass es nun zu Ende gegangen war.

Ein wahrer Segen wäre es gewesen, wenn mein Daddy vor zehn Jahren nach einem seiner vielen besoffenen Blackouts aufgewacht wäre und beschlossen hätte, sein Leben zu ändern. Stattdessen hatte er sich voll und ganz der Idee verschrieben, ein Säufer zu sein, und deshalb drehte sich jetzt in der Kirche, in die wir seit Mamas Tod keinen Fuß mehr gesetzt hatten, alles um uns vier letzten Bodines.

Ja. Nun war ich eine sechsundzwanzigjährige Vollwaise. Zum Glück hatte ich meine Brüder. Die drei mürrischen Jungs waren alles, was ich im Leben benötigte. Nun ja, sie, ein kaltes Bier, einen guten Country-Song und mein kleines Cottage am See. Viel mehr brauchte ich nicht.

»Na, das war ja mal echt eine beschissene Show«, murmelte Gibson und ließ sich in die vorderste Kirchenbank fallen. Er streckte sich und schob mit den Zehen seine Schuhe von sich. Seiner Veranlagung entsprechend arbeitete er als Schreiner und Möbeltischler – und er war allergisch gegen Anzüge. Er war der prototypische große, dunkle, gut aussehende Bad Boy. Mit Aggressionsproblemen. Die anderen in Bootleg hielten ihn für ein Arschloch. Für mich war er der große Bruder, der mitten in der Nacht loszog, um mir Tampons zu holen, wenn ich keine mehr hatte.

Zu seinem großen Entsetzen hatte er das gute Aussehen unseres Daddys geerbt. Dunkle Haare, eisblaue Augen und diesen Bart, der ihn innerhalb von zwei Tagen von schön und gepflegt in einen Höhlenmenschen verwandeln konnte. Gibson war das Ebenbild Jonah Bodines, und er hasste es.

Jameson krümmte seinen hochgewachsenen Körper vor den mit grünem Teppich verkleideten Stufen des Altars. Er schlug sich die Hände vors Gesicht, aber mir war sonnenklar, dass er nicht weinte. Natürlich war er überwältigt, aber das lag daran, dass er gerade viel zu lange viel zu sozial hatte sein müssen.

Bowie legte mir den Arm um die Schulter. »Hältst du das durch?«, fragte er.

Ich lächelte ihn schief an. »Ja. Du auch?«

»Ja.«

Reverend Duane hatte uns ein wenig Privatsphäre geschenkt, bevor Daddy für das Begräbnis weggebracht wurde. Keiner von uns war wirklich erpicht darauf gewesen. Wir hatten die Trauergäste und die Trauerfeier überlebt. Das Begräbnis fand im privaten Rahmen statt. Und es war das Letzte, was zwischen uns und rauen Mengen an Schnaps stand.

Ich warf einen Blick zu meinem Vater hinüber. Ich verstand nicht, weshalb die Leute sagten, die Toten sähen aus, als ob sie nur schliefen. In dem Moment, in dem Jonah Bodines Geist seinen Körper verließ, hatte er nichts Lebendiges mehr an sich gehabt. Genau dieser Gedanke war mir vor vier Tagen gekommen, als ich ihn tot in dem Bett vorfand, das er und meine Mama zweiundzwanzig elende Jahre lang geteilt hatten.

Von uns Bodines stand ich meinem Daddy am nächsten. Wir hatten zusammen gearbeitet. Besser gesagt, hatte ich das Familienunternehmen von ihm übernommen, als er nicht mehr nüchtern genug bleiben konnte, um irgendetwas hinzukriegen. Mit zwölf hatte ich Autofahren gelernt. Seitdem hatte mich Mama in den Sommerferien mit Daddy zur Arbeit geschickt, um sicherzustellen, dass er im Job nicht trank. Tat er aber. Und ich lernte, ein Auto mit Gangschaltung zu fahren, auch wenn ich mich dafür auf einen Stapel zusammengelegter Decken setzen musste.

Und jetzt war er nicht mehr da. Und ich hatte keine Ahnung, wie zum Teufel es mir damit ging.

»Bleibt es dabei, dass wir heute Abend ein Lagerfeuer machen, Scar?« Gibson sah mich an, als wüsste er, dass ich nicht voll und ganz zu denjenigen gehörte, die der Tod des Trunkenbolds im Grunde kaltließ.

»Ja, von mir aus gern.«

Mein kleines Häuschen am See mit dem Strandstück war perfekt, um Wochenenden einzuläuten, und das taten wir mit Lagerfeuern, Flößen und spontanen Konzerten – Bootleg war nicht gerade arm an musikalischen Talenten.

Während der heutige Abend für meine Brüder nur eine weitere Party war, würde ich insgeheim Abschied nehmen von dem Vater, den ich trotz allem geliebt hatte.

»Na, Bowie«, sagte ich, während ich ihn musterte. Er hatte Daddys rabenschwarze Haare und wie ich selbst die grauen Augen unserer Mutter. »Habe ich mir das eingebildet oder hast du vorhin versucht, Cassidy Tucker zu inhalieren? An wie vielen Nachbarinnen hast du bei dem Empfang denn noch so gerochen?«

Er biss die Zähne zusammen, was die hohen Bodine’schen Wangenknochen noch mehr betonte. »Halt die Klappe, Scarlett.«

Ich grinste, es war mein erstes richtiges Lächeln heute. »Ich will dich nur ärgern«, beruhigte ich ihn.

Bowie hatte es zwar nie zugegeben, aber der Mann war heimlich verliebt. Soweit ich wusste, hatte er in dieser Hinsicht nie irgendetwas unternommen. Was ich tun würde, wenn es da einen Kerl gäbe, der mir gefiele? Ich würde es ihm sagen. Das Leben war kurz, und Orgasmen waren großartig.

2

Devlin

Das Haus roch nach Zuckerplätzchen und Staub. Meine Großmutter genoss ein paar Wochen Frühlingsurlaub in Europa, zusammen mit ihrer Partnerin Estelle. Als sie hörten, dass ich Probleme hatte, dass mein ganzes Leben in Trümmern lag, hatten sie mir ihr gemütliches Haus am See angeboten, in irgendeinem winzigen Städtchen in West Virginia, das kein Mensch kannte.

Hier war ich noch nie gewesen. Ich lebte in Annapolis. An Feiertagen und sonstigen Ereignissen kam Gran immer zu uns. Wir waren diejenigen, die zu tun hatten, beharrte sie stets, auch wenn wir alle den wahren Grund dafür kannten. Meine Mutter – ihre Tochter – bekäme einen passiv-aggressiven Anfall, wenn sie sich, für wie lange auch immer, in dieser hinterwäldlerischen Provinz aufhalten müsste.

Diese hinterwäldlerische Provinz war momentan jedoch meine einzige Option. Ich war am Arsch und verarscht worden. Ich war vorübergehend verbannt. Und nun wollte ich einfach nur mit geschlossenen Augen dasitzen und die Vergangenheit für ein paar Monate verdrängen.

Einschließlich des Moments, in dem ich Hayden Ralston die Nase gebrochen hatte.

Gewalt war nie die Antwort, hatte mein Vater so hilfreich angemerkt. Doch das finstere Vergnügen, das ich empfunden hatte, als der Nasenknorpel dieses Mistkerls knirschend nachgegeben hatte, besagte etwas anderes. Es war untypisch für mich – einen Mann, der seit dem Kindergarten darauf getrimmt war, die Anerkennung der Öffentlichkeit zu erlangen.

Durch die Verandatür starrte ich in die Nacht hinaus. Ich hatte sie geöffnet, in der Hoffnung, die abgestandene Luft drinnen zu vertreiben, aber dadurch drang jetzt nur die stampfende Musik von nebenan in meine Abgeschiedenheit ein. Irgendein launiger Countrysänger beeinträchtigte meine Angst, was ich ganz und gar nicht schätzte. Ich war schließlich nicht hierhergekommen, um in irgendwelche Spring-Break-Partys zu geraten. Ich war hergekommen, um mich in meinem Elend zu suhlen.

Seufzend hievte ich mich aus Grans kariertem Ohrensessel und stakste zur Tür. Die Fliegengittertür zum Schieben protestierte, als ich sie öffnete. Noch etwas, was ich auf meine Liste der zu reparierenden Dinge setzen musste. Wenn Gran und Estelle schon so nett waren, einen gebrochenen Mann bei sich zu beherbergen, konnte ich immerhin so nett sein, ein paar Dinge, die repariert werden sollten, in Ordnung zu bringen. Mich selbst eingeschlossen.

Lagerfeuergeruch wehte durch den Wald auf das Grundstück herüber, als ich auf die Veranda hinaustrat. Wenn eine dieser Redneck-Partysäue auch nur die Spitze seines Cowboystiefels über die Grundstücksgrenze schöbe, würde ich ihm und seinen Freunden eine Klage wegen Hausfriedensbruchs androhen.

Ich folgte den Geräuschen, die meinen Ohren inzwischen fremd geworden waren, durch den Wald. Gelächter, Jubelschreie. Spaß. Einbindung. Zusammengehörigkeit. Ich hatte keine Ahnung mehr, wie sich diese Dinge anfühlten. Ich war ein Außenseiter, der nur zusah – in meinem alten Leben und auch hier in dieser rustikalen Szenerie. In der Schwebe zwischen vorher und nachher.

Der Pfad zwischen den Grundstücken war ausgetreten, aber ich wusste nicht, ob von menschlichen oder tierischen Füßen. Als ich aus dem Wald trat, fühlte es sich an, als wäre ich über eine Grenze in ein anderes Universum geraten. Ein ausgelassenes Fest. Im Garten tanzten und lachten Paare unter dem Sternenhimmel. Ein Dutzend weitere Menschen hatten sich um das Lagerfeuer versammelt, das knackte und prasselte und bläulichen Rauch in den Nachthimmel aufsteigen ließ. Das Gelände fiel zum schimmernden Wasser des Sees sanft ab. Das Haus – eigentlich eher eine Hütte – erinnerte mich an ein Puppenhaus. Klein und fein.

Die Musik wechselte zu einer Country-Hymne, die selbst ich schon mal gehört hatte, und die Menge reagierte, als hätten sie gerade alle im Lotto gewonnen. Jemand stellte die Musik lauter, und mir fiel wieder ein, weshalb ich hergekommen war.

»Wer wohnt hier?«, fragte ich ein Paar, das auf der improvisierten Tanzfläche herumwirbelte.

»Scarlett«, näselte die Frau in einem so heftigen Südstaatenakzent, dass ich das Wort fast nicht verstanden hätte.

Natürlich hieß sie Scarlett.

»Sie ist drüben auf dem Pick‑up.« Südstaatenakzents Freund nickte mit seinem bärtigen Kinn in Richtung eines roten Pick-ups, den jemand rückwärts an das Feuer herangefahren hatte. Eine jubelnde Menge umringte die Ladeklappe.

Das Paar fuhr fort, sich Stirn an Stirn zu wiegen. Steifbeinig ging ich durch das Gras auf den Rabatz zu. Rabatz? Das Hinterwäldlertum schien schon auf mich abzufärben.

Ich bahnte mir meinen Weg durch die Menge »nach drüben«, zum hinteren Schutzblech des Trucks, und hielt wie angewurzelt inne. Sie stand mit dem Rücken zu mir, das Gesicht der Menge zugewandt, und trug einen kurzen Jeansrock, eine karierte Bluse, die an der Taille geknotet war, und Cowboystiefel. Das Stück Bein zwischen Stiefeln und Rock war schlank und muskulös. Scarlett war klein, aber die Kurve ihrer Hüften war ausgeprägt. Wie sich jeder Mann das Mädchen von nebenan erträumte, und dabei hatte ich ihr Gesicht noch gar nicht gesehen.

Sie legte den Kopf in den Nacken, ihre Haarspitzen reichten so bis zu ihrem unteren Rücken. Die Menge jubelte noch lauter.

»Hau’s weg!« Ich nahm an, so sagte man hier, wenn man die Leute zum Trinken animieren wollte.

Schwungvoll richtete sich die schmächtige Frau wieder gerade, breitete vor ihrem bewundernden Publikum die Arme aus und präsentierte den leeren Ein-Liter-Becher aus Plastik in ihrer Hand. Sie schmetterte den Becher von der Ladefläche und verbeugte sich, wobei ich schemenhaft wahrnahm, wie weit dieser Rock hochrutschte.

Die Menge liebte sie. Und wenn ich nicht nur die leere Hülle eines Mannes wäre, wäre es mir zugegebenermaßen auch ein wenig so ergangen. Sie tanzte einen kleinen Boogie in diesen Stiefeln und beugte sich vor, um rings um die Ladefläche des Trucks emporgereckte Handflächen abzuklatschen. Bis ich an der Reihe war.

Sie hatte einen breiten Mund und ein paar Sommersprossen auf ihrer Himmelfahrtsnase. Ihre Augen waren riesig und von dichten Wimpern umrandet.

»Na so was, schaut mal alle her. Seht, wer endlich zum Spielen rausgekommen ist.« Ihre Stimme war süß und stark wie der Schnaps, den meine Großmutter zum Thanksgiving-Dinner mitgebracht hatte.

Bevor ich reagieren konnte, bevor ich fordern konnte, dass sie die verdammte Musik leiser drehen und sich respektvoll gegenüber ihren Nachbarn zeigen sollte, hatte sie die Hände auf mich gelegt. Genauer gesagt auf meine Schultern. Sie stützte sich auf und sprang, und ich konnte nur noch instinktiv handeln.

Ich griff ihr um die Taille, als sie von der Ladefläche des Trucks hopste. Meine Arme reagierten etwas langsamer. Ich hielt sie oben, und unsere Blicke trafen sich. Ihre Augen waren silbrig grau, groß und funkelten. Lachte sie mich etwa aus? Ganz langsam ließ ich sie herunter, ihr Körper berührte auf dem Weg nach unten jeden Zentimeter von meinem.

Sie war winzig, eine Waldfee aus West Virginia, die mir da an der Brust klebte.

»Wurde verdammt nochmal Zeit, dass du auftauchst.«

»Wie bitte?« Ich hatte es geschafft, zwei Worte sinnvoll zusammenzufügen, und gratulierte mir selbst.

Sie steckte sich die Finger in den Mund und stieß einen schrillen Pfiff aus. »Jetzt können wir die Musik leiser machen«, schrie sie beziehungsweise krakeelte sie oder wie immer man das in diesem gottverlassenen Städtchen nannte.

Sofort war die Musik nur noch halb so laut.

»Kennen wir uns?«, fragte ich, als ich endlich wieder Worte fand. Ich war mir ziemlich sicher, dass ich diesem Bier saufenden Wesen noch nie begegnet war.

Sie ignorierte meine Frage, packte mich stattdessen an der Hand und zog mich zu drei Kühlboxen, die auf halbem Wege zwischen dem Haus und dem Lagerfeuer standen. Sie bückte sich und fischte im Eis, ehe sie zwei Bierflaschen herauszog.

»Hier.« Sie hielt mir eine davon hin. »Hört mal alle her, das hier ist Devlin McCallister, Granny Louisas Enkel.«

»Hey, Devlin«, sagten die Leute, die um die Kühlbox herumstanden, im Chor. Alle hatten den Tonfall an sich, der in den Appalachen üblich war.

Verwirrt und völlig aus dem Lot blickte ich auf das Bier in meiner Hand hinunter, und weil ich nichts Besseres zu tun hatte, öffnete ich es. Die Musik war leise. Meine Mission war erfüllt. Ich sollte gehen.

»Komm schon«, sagte sie, während sie eine Kopfbewegung zu den Leuten am Feuer hin machte. »Ich stelle dich allen vor.«

In diesem Moment fiel mir nichts ein, was mir weniger gefallen würde, als irgendjemandem vorgestellt zu werden. Ich wollte mich einfach nur wieder in Grans Haus verkriechen und mich verstecken, bis …

Das war anders gewesen, als ich noch Abgeordneter meines Bundesstaats war. Ein verheirateter Mann mit einem hübschen Haus und dem Plan, es in fünf Jahren nach Washington D. C. zu schaffen. Aber jetzt, wo ich ein fast geschiedener, kürzlich in Ungnade gefallener, beurlaubter Abgeordneter war? Da hatte ich es nicht gerade eilig, Small Talk mit irgendjemandem zu betreiben.

»Devlin, das ist mein Bruder Jameson«, sagte sie und zeigte mit ihrer frischen Bierflasche auf einen Mann in einem grauen T‑Shirt. Er hatte die Hände in den Taschen vergraben, die Schultern eingezogen, als wäre auch er lieber woanders.

Ich nickte. Er nickte zurück. Ich mochte ihn sofort.

»Und das hier ist mein Bruder Gibson.« Sie legte die Hand auf die Flanellhemdschulter eines Mannes, der leise auf einer Gitarre klimperte.

Er musterte mich, als wären wir bei einer polizeilichen Gegenüberstellung, und grunzte.

Die Leute waren echt freundlich hier in der Gegend.

»Und das ist mein Bruder Bowie«, sagte sie und stieß mit der Schulter gegen einen Typen, der einen Strickpulli im Waffelmuster trug und ein Bier in der Hand hatte. Die Verwandtschaft war mehr als offensichtlich, wenn man alle drei so dicht beieinander sah. Scarlett hingegen hatte feinere Züge, und im Feuerschein wirkte ihr langes Haar eher rot als braun.

»Hey, Devlin. Was geht?« Bowie streckte mir die Hand hin und lächelte freundlich.

»Hey«, plapperte ich ihm nach, offenbar brachte ich nicht mal mehr bei einer sehr lockeren Vorstellung die erforderliche Leistung. Meine Mutter – die Königin der gesellschaftlichen Etikette schlechthin – würde vor Scham vergehen, wenn sie mich jetzt sehen könnte.

»Granny Louisa hat darum gebeten, dass wir alle dafür sorgen, dass Devlin sich hier wie zu Hause fühlt«, sagte Scarlett und sah Gibson dabei vielsagend an.

Er schnaubte. »Wie auch immer.«

Scarlett schlug ihm auf den Hinterkopf. »Be-nimm dich gefälligst.« Sie sprach das erste Wort wie zwei Wörter aus.

»Jaja«, grummelte Gibson und wandte sich wieder seiner Gitarre zu.

»Er ist der starke, zornige Typ«, erklärte Scarlett entschuldigend. »Jameson ist der Künstlertyp, der in Ruhe gelassen werden will. Und Bowie liebt einfach alle. Nicht wahr, Bowie?« Sie klimperte mit den Wimpern, als sie ihn ansah, und er blitzte sie an.

»Fang nicht schon wieder mit dem Scheiß an«, sagte Bowie und wedelte drohend mit dem Finger nach ihr, doch es lag keine Glut in seinen Worten.

Scarlett lachte, und es klang wie Vogelgezwitscher an einem sonnigen Sonntagmorgen. Es war ein so helles Lachen, dass irgendwo in mir ein Schalter umgelegt wurde.

»Und du bist?«, hörte ich mich sagen.

Sie sah mich schräg von der Seite an. »Na, ich bin natürlich Scarlett Bodine.«

Jemand drehte die Musik wieder auf ohrenbetäubende Lautstärke, und Scarlett jauchzte aus tiefster Seele, als sie die scharfen Klänge erkannte. Und mir fiel wieder ein, weshalb ich eigentlich hergekommen war.

»Es wäre nett, wenn ihr die Musik leiser stellen könntet«, fuhr ich sie an.

»Was?«, brüllte sie.

Ich beugte mich ganz nah zu ihr, wobei ich ihren Armen aus dem Weg ging, die sie im Takt der Musik nach oben riss. »Mach die Musik leiser!«

Sie lachte. »Devlin, es ist Freitagabend. Was erwartest du denn?«

Ich hätte die Grabesruhe eines Städtchens am Ende der Welt erwartet, dessen Einwohner um acht ins Bett gingen, während ich meine Wunden leckte. Ich hätte erwartet, dass meine Frau mir treu blieb. Herrgott, ich hätte erwartet, dass mein ganzes Leben anders verlaufen würde.

»Nicht jeder mag Partys«, sagte ich und klang dabei wie ein alter Mann, der Kinder von seinem Rasen verjagte. »Mach sie leiser oder ich rufe die Cops.«

»Na, entschuuuuuldige mal. Ich wusste gar nicht, dass dort, wo du herkommst, Spaß illegal ist«, sagte Scarlett schnippisch.

»Ruhestörung ist illegal, egal wo man herkommt, und ihr stört meine Ruhe.«

»Ach du liebes bisschen. Vielleicht solltest du dich einfach mal locker machen?«, schlug Scarlett vor, in ihrem Blick lag falsches Mitleid, während sie mit den Wimpern klimperte.

Ich wurde immer unsicherer, aber eines war klar: Es war ein Fehler gewesen herzukommen. Bootleg Springs war kein Ort, an dem man sich verstecken konnte, um zu heilen.

»Mach einfach leiser«, murrte ich. Dann drehte ich mich um und suchte Zuflucht im Wald.

»Wirklich schön, dich kennengelernt zu haben«, rief sie mir nach. Und noch etwas war klar. Scarlett Bodine war eine Lügnerin.

3

Scarlett

Ich schlug ein Ei auf und ließ es zu den anderen in die Schüssel tropfen. »Verdammt«, murmelte ich und fischte ein Stück Schale aus der dottrigen Masse. Ich nahm eine Gabel aus der Schublade neben der Spüle und schlug die Eier damit zu einer gleichmäßigen Suppe.

Hastig schaufelte ich den Speck aus der Pfanne, eine Sekunde bevor er verkohlte, und warf die Scheiben auf einen Teller, wo sie in sich zusammenfielen.

»Was zum Henker machst du da eigentlich?«

Devlin stand in der Küche und starrte mich an, als wäre ich irgendeine dahergelaufene Einbrecherin. Okay, irgendwie war ich in sein Haus eingebrochen. Aber zu meiner Verteidigung musste ich sagen, dass mich Granny Louisa darum gebeten hatte.

Das alles hätte ich ihm erklärt, doch er war lediglich mit einer tief sitzenden Baumwollpyjamahose bekleidet hier aufgetaucht. Und ich hätte um meine besten Stiefel gewettet, dass er darunter auch keine Unterwäsche anhatte. Äußerst widerwillig riss ich meinen Blick von dem los, was nach einer spektakulären Ausstattung aussah, und ließ ihn über seinen nackten Oberkörper wandern.

Er schnipste mit den Fingern. »Hallo?«

»Hi«, antwortete ich gut gelaunt.

Devlin verdrehte die Augen und stemmte die Hände in seine schmalen Hüften. »Was hast du in meiner Küche zu suchen, Scarlett?«

»Ich mache dir Frühstück.« Vielleicht war dieser Mensch morgens einfach noch ein bisschen schwer von Begriff. Warum sollte ich sonst mit einem Teller Speck in der Hand in seiner Küche stehen?

»Ich meine, warum machst du mir Frühstück? Wie bist du überhaupt hier reingekommen?«

Ich legte den Kopf schief. »Granny Louisa hat mich darum gebeten, nach dir zu sehen, und sie lässt unten immer die Tür offen. Da bin ich einfach reinspaziert.«

»Du bist in mein Haus eingebrochen …«

»Granny Louisas Haus«, korrigierte ich ihn.

»Du bist hier eingebrochen, um mir Frühstück zu machen?«

Allmählich wünschte ich, ich hätte ihm einfach ein paar Zimtschnecken kommen lassen und fertig. Offenbar hatte er keinen blassen Schimmer, was für eine Ehre es war, dass Scarlett Bodine Rührei für ihn zubereitete. Es gab Männer, die von diesem Moment träumten, und er zickte hier nur rum. Es war buchstäblich das einzige Gericht, das ich zubereiten konnte. Ich würde schon noch kochen lernen. Irgendwann. Aber vorerst ernährte ich mich von Sandwichs, Rührei und Fast Food.

Um ganz ehrlich zu sein, bezweifelte ich, dass ich viel verpasste. Und keiner der Männer, die ich gedatet hatte, hatte sich je darüber beschwert, dass ich besser im Bett war als in der Küche.

»Du kannst doch nicht einfach irgendwo eindringen«, fing Devlin schon wieder an. Er gebärdete sich, als würde er gerade einem Kindergartenkind beibringen, was zwei plus zwei ist.

»Klar kann ich das. Das tun wir alle. Ich wollte nur gutnachbarlich sein. Daran gewöhnst du dich besser«, sagte ich, während ich die Eier in die Pfanne goss.

»Ich will nicht gutnachbarlich sein.« Er biss die Zähne zusammen, wobei sein Kiefer ein sexy Knirschen von sich gab. Er war sogar noch attraktiver, als Granny Louisa gesagt hatte. Das überraschte mich, denn sie gehörte nicht zu den Frauen, die etwas unter Wert verkauften.

»Na, da hast du jetzt wohl keine andere Wahl«, sagte ich, während ich einen Pfannenwender aus dem Krug auf der Theke zog und die Eier damit wendete. »Kaffee läuft.« Ich nickte in Richtung Kaffeemaschine. »Vielleicht fühlst du dich besser, wenn du etwas Koffein bekommst.«

Er starrte mich fast eine volle Minute an, bevor er sich endlich auf den Kaffee zubewegte. Kaffee konnte ich einarmig und mit verbundenen Augen kochen.

»Scarlett, ich will nicht, dass du uneingeladen dieses Haus betrittst«, sagte er nach dem ersten Schluck.

Ich schob die Eier auf einen Teller, warf den übermäßig knusprigen Speck dazu und reichte ihm das Ganze. »Ach, das sagst du doch jetzt nur so.«

»Ich sage das und meine es auch so. Ich bin nicht hergekommen, um Freunde zu finden oder auf gutnachbarlich zu machen.«

»Weshalb bist du denn dann hergekommen?«, fragte ich. Welcher vernünftige Mensch würde schon der Einsamkeit halber nach Bootleg Springs kommen? Himmel, wir gingen bei den Ferienwohnungen praktisch von Tür zu Tür, nur um uns unseren neuen touristischen Freunden vorzustellen. Devlin würde ein böses Erwachen erleben.

Es klingelte an der Tür, und ich grinste. Ich hatte die Klingel extra für Granny Louisa eingestellt. Statt eines Klingelns ertönte Beethovens Fünfte. Das zauberte stets ein Lächeln auf die Gesichter von Granny Louisa und Estelle.

»Türklingel«, verkündete ich, für den Fall, dass er zu dumm war, es zu erkennen.

»Schon kapiert«, sagte er trocken und stelzte zur Haustür. Ich nahm mir eine Tasse Kaffee und schaute auf meinen Zeitplan. Bis zu meinem ersten Auftrag hatte ich noch eine halbe Stunde Zeit. Ich hatte Jimmy Bob endlich davon überzeugt, dass er mich die Dachrinnen des Rusty Tool reparieren ließ. Die Fassade des Eisenwarenladens hätte schon vor etwa zwanzig Jahren eine Auffrischung vertragen können, und ich hatte die Nase gründlich voll davon, jedes Mal nass zu werden, wenn ich vom Laden zum Diner ging, nur weil die Dachrinne überlief.

Danach hatte ich einen Wartungseinsatz in einem meiner Ferienhäuser. Der dieswöchige Mieter hatte es irgendwie geschafft, das Garagentor zu entprogrammieren. Danach würde ich beim Sheriff und Nadine Tucker vorbeifahren, um die Ofenfilter auszuwechseln und die Klimaanlage zu überprüfen, damit sie für den Sommer einsatzfähig war. Außerdem hatte ich vor, mir den Bootslift am Anleger von Emma-Leigh und Ennis kurz mal anzuschauen. Emma-Leigh hatte mir heute Morgen geschrieben, dass es in der Aufwärtsposition stecken geblieben war.

Ich hörte Stimmen aus dem Vorraum, dann ging die Haustür zu.

Devlin kam in die Küche und starrte auf den Teller in seiner Hand hinunter.

Ich spähte durch die Plastikverpackung. »Sind das Millie Waggles Brownies?«

»Kann sein. Ihren Namen habe ich nicht mitbekommen. Sie hat nicht viel gesagt.«

Millie kleidete sich wie eine Sonntagsschullehrerin und buk wie eine von Schokolade besessene Sünderin. Sie neigte dazu, die Zähne nicht auseinanderzubekommen, wenn Männer anwesend waren, die auf einer Skala von eins bis zehn mehr als eine Fünf erreichten. Ich wünschte, ich hätte ihr Gesicht gesehen, als der zerzauste Devlin oben ohne die Tür aufgemacht hatte. Wahrscheinlich sprach das arme Mädchen den ganzen Tag lang kein Wort mehr.

Ich nahm mir einen Brownie und biss hinein. »Mmh, o ja. Das ist ein Waggle-Brownie. Herr im Himmel, die Frau ist ein sündhaftes Genie.«

Devlin musterte mich mit einem undurchdringlichen Blick aus seinen braunen Augen. Interesse? Abneigung? Beides? Jedenfalls machte er es einem viel zu leicht, die richtigen Knöpfe zu drücken.

»Na, dann isst du mal besser, bevor die Eier noch kälter werden. Was willst du zum Abendessen?«, fragte ich und blinzelte ihn dabei unschuldig an.

Wieder knirschte er mit den Zähnen. Das wäre erledigt.

»Ich esse allein«, beharrte er.

Ich grinste zu seinem mürrischen Gesicht hinauf, das höllisch sexy war. »Das werden wir noch sehen.«

Er wandte sich von mir ab und zog eine Schublade auf, wobei er den Knauf abriss. »Dieses Haus fällt auseinander«, murmelte er.

»Ich kann das reparieren«, versprach ich. Es war doch nur ein Knauf, Herrgott nochmal. Er tat ja gerade so, als würde das ganze Haus über ihm einstürzen.

Er nahm ein Stück Papier von der Theke und kritzelte etwas darauf.

Neugierig schnappte ich es mir, sobald er sich wieder davon entfernt hatte. Schiebetüren gleiten nicht, Veranda muss gestrichen werden, Treppe knarrt, potthässlicher Teppich, oben leckt das Waschbecken, Schubladenknauf. Ich drehte den Zettel um, und meine Augenbrauen schossen nach oben.

»Nun ja, um die erste Liste kann ich mich auf jeden Fall kümmern, aber für die zweite brauchst du womöglich professionelle Hilfe.« Auf der Rückseite stand offenbar alles, was in Devlin McCallisters Leben schiefgelaufen war. Ganz oben: die falsche Frau geheiratet.

Er riss mir den Zettel aus der Hand.

»Danke, aber nein danke. Ich brauche deine Hilfe für gar nichts. Und schon gar nicht kann ich gebrauchen, dass du hier herumschnüffelst, während du so tust, als würdest du Dinge reparieren. Ich habe eine Liste, die lang genug für einen Handwerker ist.«

»Und wo willst du so einen herkriegen?«, fragte ich ironisch.

Er stapfte durch die Küche und funkelte Grannys Pinnwand an. Triumphierend riss er eine Visitenkarte ab. »Alles im Griff«, behauptete er.

»Um diese Jahreszeit sind sie ziemlich beschäftigt, die Tourismussaison fängt gerade an.«

Stur wählte Devlin.

Mein Handy klingelte in meiner Tasche, und ich fischte es heraus. »Bodine Reparaturservice. Scarlett hier. Wie kann ich Ihnen helfen?«

Knurrend legte Devlin auf.

4

Devlin

Etwa zwei Minuten, nachdem ich Scarlett rausgeworfen hatte, klingelte mein Telefon.

»Warum in drei Teufels Namen wirfst du Scarlett Bodine aus meinem Haus?«, fragte Gran ohne jede Einleitung.

Großartig. Meine Nachbarin war eine kleine Petze. »Dir auch einen guten Tag. Wie ist Rom?«

»Ach, komm mir jetzt nicht mit Rom«, sagte Gran. »Du bist mein allerliebster Lieblingsenkel, Devlin, und ich weiß, dass du es gerade nicht leicht hast. Aber du kannst nicht einfach unhöflich zu den Nachbarn sein.«

»Gran, sie ist in dein Haus eingebrochen und hat mir kalte, wässrige Eier gemacht.« Ich scharrte sie in den Müll und begnügte mich mit mehr Kaffee. Der Appetit war mir schon vor Monaten vergangen.

»Scarlett will nur nett sein.«

»Du lebst in einem Städtchen, in dem es als nett betrachtet wird, wenn jemand einbricht?«

»Muss ich dich daran erinnern, dass du in einer Welt lebst, in der dich deine Freunde und Verwandten verraten und verkaufen, um an die Spitze der Nahrungskette zu gelangen?«

»Jetzt bist du aber ein wenig theatralisch«, sagte ich und musste unwillkürlich lächeln. Gran nahm kein Blatt vor den Mund, wenn es darum ging, wie wenig Interesse sie an der politischen Welt hatte, in der sich meine Eltern und ich bewegten.

»Hör mal, ich will, dass du nett zu diesem Bodine-Mädchen bist. Ich verstehe, dass du nicht gerade erpicht auf Gesellschaft bist, aber ihr Daddy ist letzte Woche gestorben, deshalb würde ich es sehr schätzen, wenn du dich wenigstens bemühen würdest, höflich zu ihr zu sein.«

Sofort fühlte ich mich wie das größte Arschloch der Appalachen-Region. Ich ließ mich auf einen der Esszimmerstühle sinken. »Das habe ich nicht gewusst.«

»Na, dann weißt du es jetzt. Streng dich an.«

Ich blickte auf die Liste auf der Theke hinunter. »Ja, Ma’am.«

»Ich gebe dir jetzt Estelle. Sie will auch Hallo sagen.« Gran reichte mich an ihre Freundin weiter.

»Hey, mein Schöner«, sagte Estelle mit ihrer melodischen Stimme.

»Hey, Stell. Wie ist eure Europareise?«, fragte ich mürrisch.

»Großartig. Gestern haben wir mit ein paar alten Damen aus Dänemark bis in die Morgendämmerung Champagner getrunken. Aber ich mache mir Sorgen um dich.« Estelle und meine Großmutter waren seit zehn Jahren zusammen. Es war eine komplizierte Wendung gewesen, selbst für meine liberalen Eltern, aber jetzt konnte ich mir meine Großmutter ohne ihre spindeldürre, kecke bessere Hälfte gar nicht mehr vorstellen.

»Es geht schon«, log ich.

»Bootleg ist ein guter Ort, um aufzutanken«, sagte Estelle. »Tu etwas dafür und igle dich nicht ein wie Henrietta Van Sickle.«

»Ich hasse es wirklich zu fragen.«

»Henrietta Van Sickle lebt in einer Hütte in den Bergen und kommt nur einmal pro Monat herunter ins Städtchen, um Lebensmittel zu kaufen. Man erzählt sich, dass sie vor zwanzig Jahren ein Schweigegelübde abgelegt hat. Bisher hat sie es noch nicht gebrochen.«

Vielleicht hatte Henrietta Van Sickle auch einen Burn-out vom echten Leben und wollte nur in Ruhe gelassen werden, mutmaßte ich.

Ein Schweigegelübde und eine abgelegene Hütte? Die Idee gefiel mir so gut, dass ich sie als meinen offiziellen Plan B abspeicherte. Ein Plan A, durch den ich mein Leben zurückbekäme, fehlte mir noch. Aber wenigstens wusste ich jetzt, dass es einen Ersatzplan gab.

»Hör mal, gleich fährt unser Tourbus zum Nacktkabarett ab. Tu deiner Gran und mir den Gefallen und geh ab und zu raus. Vielleicht nimmst du Scarlett mit. In niemandem steckt mehr Leben als in diesem Mädchen.«

Ich stieß einen unverbindlichen Laut aus. »Viel Spaß beim Nacktkabarett.«

Wir verabschiedeten uns und legten auf. Ich starrte auf das Handy in meiner Hand und auf die Visitenkarte auf der Theke.

»Ruf mich an, wenn du es dir anders überlegst«, hatte Scarlett fröhlich gesagt, als ich sie zur Haustür hinausschob.

»Fuck«, murmelte ich.

»Die Stufen müssen erneuert werden«, sagte Scarlett, während sie noch mehr auf ihrem Klemmbrett notierte und die Verandatreppe begutachtete. »Und das Fenster da am Ende ist total verrottet. Ich kann es ersetzen, damit das Haus für den Winter besser isoliert ist.«

Vierundzwanzig Stunden, nachdem ich sie hinausgeworfen hatte, war sie wieder im Haus, ging meine Liste mit Kram durch, der repariert werden musste, und fügte ein paar eigene Ideen hinzu.

Wortlos folgte ich ihr durchs Haus und fragte mich, ob sie so gut in ihrem Job war oder nur die Gelegenheit beim Schopfe packte, einen Trottel auszunehmen, der nicht von hier war.

»Und bitte schwör mir bei allem, was dir heilig ist, dass ich den Teppich mit dem Kohlrosenmuster oben herausreißen darf.«

Der war wirklich eine Beleidigung fürs Auge.

»Du verlegst auch Teppich?«

»Ich kenne da einen Typen. Aber ich kann den alten herausreißen und dir Geld sparen. Ich und dieser Teppich hassen uns schon, seit deine Granny hier eingezogen ist.«

»Setz ihn auf die Liste.« Das war einer der Vorzüge, wenn man Partner in einer Familienkanzlei war. Mein Gehalt wurde überwiesen, obwohl ich möglicherweise meinen Ruf zerstört hatte.

Sie nickte rasch.

Die Liste wurde länger und länger, und inzwischen hätte ich am liebsten zu allem Ja gesagt, nur um zu sehen, wozu dieses Mädchen in der Lage war.

Sie sah anders aus als alle Handwerker, die ich kannte. Das war zugegebenermaßen eine sexistische Beobachtung und entsprach mir eigentlich ganz und gar nicht. Trotz des Werkzeuggürtels und der Stirnlampe wirkte Scarlett eher wie eine Grundschullehrerin und nicht wie die schwer arbeitende Inhaberin eines Handwerksbetriebs. Dennoch war sie beunruhigend hinreißend.

Ich war an schöne Frauen gewöhnt. Mein Vater war US‑Senator gewesen, und wir waren den Großteil unseres Lebens zwischen Annapolis und Washington D. C. gependelt, bevor er sein Amt niedergelegt hat und Berater geworden ist. Alle dort waren makellos, zumindest äußerlich. Scarlett hingegen rollte in einem Pick‑up-Truck an, hatte Schmutz am Kinn und Sägespäne und Schlamm auf den Knien ihrer Jeans. Ihrer ausgezeichnet sitzenden Jeans.

Mit dieser sexy Jeans und dem eng anliegenden Henley-Shirt würde sie auf ein Poster passen, das bei einem Teenager an der Wand hing. Ich hatte Werkzeuggürtel nie als sexy empfunden, aber so wie er sich um Scarletts wiegende Hüften spannte, war ich bereit, meine Einstellung noch mal zu überdenken.

»Also schön«, sagte Scarlett, während sie den Zimmermannsbleistift zurück in den Gürtel steckte. »Ich rechne alles zusammen, damit du ein genaues Preisangebot bekommst, aber eine Schätzung kann ich sofort machen.«

Sie nannte einen Preis, von dem mir nicht schwindelig wurde. »Granny Louisa bekommt den Freunde-und-Familie-Rabatt«, erklärte sie und notierte sich etwas auf ihrem Notizblock.

Ich blickte ihr über die Schulter. Ihre Handschrift sah aus wie die eines Dreijährigen, der herausfinden will, ob er Rechts- oder Linkshänder ist.

»Du kannst es dir überlegen und mir dann Bescheid geben«, schlug sie vor, während sie eine Ecke des Papiers abriss und mir reichte.

»Machen wir’s«, entschied ich. Ich wollte mindestens genauso gern sehen, wie sie das hinbekam, wie ich mich bei meiner Großmutter und Estelle dafür bedanken wollte, dass sie mich hier wohnen ließen.

»Also gut«, sagte Scarlett. »Ich kann morgen mit der Veranda anfangen und hier und da eines der kleineren Projekte dazwischenschieben. Ich habe diese Woche noch eine Dachreparatur und ein wenig Trockenbau, aber danach habe ich ein bisschen mehr Zeit.«

»Klingt gut«, erwiderte ich.

Falls meine Zustimmung sie überraschte, ließ sie es sich nicht anmerken. »Wunderbar. Hör mal, wenn ich schon da bin, würde ich gern das Dach überprüfen. Ich habe letztes Jahr ein paar Stellen geflickt und will sichergehen, dass sich keine weiteren Schindeln gelockert haben.«

Ich blickte nach oben. Das Dach war drei Stockwerke über dem Boden. Der erste Stock bestand aus einer Garage und einem ebenerdigen Keller.

»Okaaaaay.« Ich war nicht gerade erpicht von der Vorstellung, dass jemand so weit oben herumkletterte.

»Du brauchst nicht mit raufkommen«, sagte sie und tätschelte dabei meinen Arm, als wäre ich ein verängstigtes Kind. »Ich mach das schon.«

Rasch ging sie zu ihrem Pick‑up und nahm die Ausziehleiter aus ihrer Halterung. Pfeifend hielt sie sie über ihren Kopf und ging damit ums Haus. Ich rannte ihr nach.

»Soll ich sie vielleicht tragen?«, bot ich an.

Sie warf mir einen amüsierten Blick zu. »Ich glaube, eine Aluleiter schaffe ich noch.«

Sie lehnte die Leiter an die Vorderseite des Hauses und fuhr sie komplett aus. Wenigstens waren es hier nur noch zwei Stockwerke, aber trotzdem. Sie stellte ihren Stiefel auf die erste Sprosse und ruckelte an der Leiter herum, bis sie ins Blumenbeet einsank.

Scarlett war schon halb die Leiter hochgeklettert, bevor ich danach griff, um sie ihr zu halten. »Bist du sicher, dass du das tun willst?«, rief ich ihr nach.

Sie war bereits oben, hielt sich nur mit einer Hand fest und lachte. »Keine Sorge, Dev. Ich erwarte nicht, dass du mit raufkommst.«

Es war nicht so, dass ich Höhenangst hatte. Das hat mir nie zuvor Probleme bereitet. Es war nur so, dass mir momentan alles Angst einjagte. Das Unbekannte, Himmel nochmal, das Bekannte auch. Weg von der Arbeit zu sein, weg von meinem Zuhause, weg von Annapolis. Das Einzige, was schlimmer war, als weg von alledem zu sein, war die Vorstellung, dorthin zurückzukehren. Ich scheute jedes Risiko bis hin zu dem Punkt, dass es sich wie eine monumentale Aufgabe anfühlte, das Haus zu verlassen. Ich war schon seit drei Tagen in Bootleg und hatte mich noch nicht weiter gewagt als über die Grundstücksgrenze zu Scarletts Party.

Als ich nach oben blinzelte, sah ich gerade noch, wie Scarlett das Bein über die Dachkante schwang und verschwand. Seit ich eines Morgens beim Frühstück mitbekommen hatte, wie die Frau, mit der ich seit drei Jahren verheiratet war, unseren Ehevertrag durchging, hatte sich dieses hohle Gefühl in meiner Magengrube eingenistet, das sich heute plötzlich nicht mehr ganz so leer anfühlte. Der Himmel schien blauer als sonst, die Sonne greller. Die letzten Narzissen flatterten in der Brise um meine Hosenbeine.

»Scheiß drauf«, murmelte ich. Ich konnte auf eine verdammte Leiter klettern und auf einem verdammten Dach sitzen. Ich hatte schließlich noch Eier. Die hatte Johanna bei der Scheidung nicht bekommen.

Ich kletterte. Klar, womöglich taten mir die Finger weh, weil ich die Sprossen so fest umklammerte. Und vielleicht zitterten meine Knie ein wenig. Doch als ich die Dachkante erklomm, als ich ganz vorsichtig auf die mit Schindeln bedeckte Fläche trat, atmete ich tief durch, und zum ersten Mal seit Monaten fühlte sich das nicht an, als würde ich dabei ersticken.

»Du hast es geschafft.« Scarlett grinste von der Spitze auf mich herunter, wo sie gerade den Schornstein untersuchte.

»Ja, hab ich.« Ich sah auf den See hinaus, von hier hatte man eine noch bessere Aussicht als vom Haus. Er dehnte sich weit aus, eine glitzernde Fläche, die den Blick einfing und festhielt. Die Bäume, an denen frisches Grün wuchs, zitterten im Wind. Der Wind fühlte sich hier oben stärker an. Ich fragte mich, ob er stark genug wäre, die Wolken wegzupusten, die sich über mir angesammelt hatten.

»Die Reparaturen haben gehalten, und ich sehe auch keine neuen Stellen, über die man sich Sorgen machen müsste«, verkündete Scarlett, während sie aufstand und auf mich zugehopst kam, als wären wir auf flachem Untergrund.

»Gut.«

»Nicht schlecht, oder?«, sagte sie und starrte auf das Wasser hinaus.

»Nicht schlecht«, wiederholte ich.

Sie nahm einen belebenden Atemzug, füllte ihre Lunge mit Frühlingssonnenschein. »Ich liebe diese Jahreszeit. Alles erwacht wieder zum Leben.«

Gott, wie ich hoffte, dass sie recht hatte.

Wir hörten es beide. Das Rattern von Metall, und als ich mich umdrehte, sah ich mit Entsetzen, wie sich die Leiter zur Seite neigte und verschwand.

»Ach, fuck«, fluchte Scarlett und rannte zur Dachkante.

Ich kroch ihr hinterher und schnappte sie hinten am Gürtel, während sie über die Kante spähte. »Herrgott, Scarlett, würdest du bitte nicht vom Dach meiner Großmutter stürzen?«

»Ich klettere auf Dächern herum, seit ich zwölf war«, sagte sie und verdrehte die Augen wegen meiner Besorgnis.

»Und von wie vielen bist du heruntergefallen?«, fragte ich.

»Sechs oder sieben.« Unbekümmert zuckte sie mit den Schultern.

Meinem eigenen Seelenfrieden zuliebe zog ich sie weg von der Dachkante. »Wir sitzen in der Falle. Wir stecken hier oben fest.« Ich spürte, wie Panik in mir aufstieg, und hasste es. Ich hasste mich selbst. Die Angst, die ihre hässlichen, unangenehmen Klauen nach mir ausgestreckt hatte, als ich herausfand, dass mein ganzes Leben nur Schall und Rauch war, griff wieder nach mir, schlug mir wie eine Faust gegen die Brust.

»Pflanz deinen Hintern hierhin«, sagte Scarlett streng. Sie schob mich nach unten. Ich grub die Fersen in die Schindeln und bemühte mich, nicht daran zu denken, wie tief es runterging von dort, wo wir waren. Sie sank vor mir auf die Knie und starrte mich an, bis sich unsere Blicke trafen. »Alles wird gut. Ich hab mein Handy in der Tasche. Okay?«

Sie wollte mich beruhigen. Ich hasste die Tatsache, dass das notwendig war.

Ich nickte. Sie drückte durch die Jeans hindurch mein Knie. Der Kontakt half.

»Macht dir die Höhe Sorgen?«, fragte sie. Ihr Akzent ließ ihre Worte weich klingen.

Ich schüttelte den Kopf und schloss die Augen. »Das Leben macht mir Sorgen.«

Sie umfasste mein Gesicht, und ich schlug die Lider auf. Ihre klaren grauen Augen – die fast silbrig waren – waren nur Zentimeter von mir entfernt. Ihre weichen rosa Lippen waren knapp außer Reichweite. »Dir, Devlin McCallister, wird es bald wieder gut gehen.«

Es klang wie ein Versprechen. Vielleicht war es auch eine Drohung. Das war mir egal. Ich klammerte mich an diese Worte wie an eine Rettungsleine in einem Unwetter.

»Ich nehme dich beim Wort.«

»Nun, sehen wir mal, wie sich diese Beziehung entwickelt, dann merken wir ja, ob du mich sonst noch bei irgendwas nehmen kannst.« Sie zwinkerte mich übertrieben an, und ich spürte, wie es um meine Lippen zuckte.

Scarlett verstrubbelte meine Haare, als wäre ich ein Kind. »Ich ruf meinen Bruder an. Der holt uns schneller hier runter als die Schwerkraft.«

Sie bewegte sich nicht von mir weg, sondern setzte sich so dicht neben mich, dass sich unsere Hüften berührten.

»Gibs, was machst du gerade?«

Ich konnte seine Antwort nicht hören, aber ich stellte mir vor, dass er etwas Bissiges sagte.

»Gut, dann hast du ja Zeit, um deiner Lieblingsschwester zu helfen. Ich bin auf Granny Louisas Dach …«

Sie hielt inne und runzelte die Stirn. »Ich bin nicht heruntergefallen … Nein. Ich brauche keinen Krankenwagen … Herrgott, Gibs, jetzt mach dich mal locker. Die Leiter ist umgefallen. Dev und ich sitzen auf dem Dach fest, und ich krieg langsam Hunger.«

Sie hörte zu und verdrehte die Augen gen Himmel.

»Daaaanke«, säuselte sie und legte dann auf. »Er weiß, dass es sich um einen Notfall handelt, wenn Hunger im Spiel ist. In zehn Minuten ist er hier.«

5

Scarlett

Gibson musterte mich mürrisch, als meine Stiefel wieder auf dem Boden standen. »Ich bin nirgendwo heruntergefallen. Das schwöre ich«, seufzte ich und boxte ihm gegen den Arm. Er roch nach Sägespänen und Beize.

Devlin kletterte hinter mir herab. Er war schon sehr viel weniger grün um die Nase, als er wieder festen Boden unter den Füßen hatte.

»Danke für die Rettung«, sagte Devlin zu Gibson.

Mein Bruder, der unhöfliche Mistkerl, grunzte nur. Ich trat ihm gegen den Fußknöchel. »Autsch! Verdammt nochmal, Scarlett!« Er schubste mich, und ich lachte.

»Ich entschuldige mich dafür, dass mein Bruder ein griesgrämiger Bastard ist, Dev. Ich habe ihn bei der Arbeit gestört. Das ist ungefähr so, als hätte ich ihn aufgeweckt.«

Gibson seufzte. »Schon gut. Ich war ohnehin fertig mit Beizen.«

»Gibson baut die feinsten Schränke hier in der Gegend«, erzählte ich Devlin. »Ich bearbeite gerade deine Granny, damit sie ihn ihre Küche in Angriff nehmen lässt. Ich glaube, bald hab ich sie so weit.«

»Brauchst du sonst noch was?«, fragte Gibson.

»Du darfst jetzt gehen«, entließ ich ihn hoheitsvoll.

Er setzte sich in Bewegung und grummelte, was für eine gewaltige Nervensäge ich doch sei, doch er kam nur ein paar Schritte weit. »Hier.« Er zog einen Schokoriegel aus seiner hinteren Hosentasche und warf ihn mir zu.

Man konnte über Gibson Bodine sagen, was man wollte, aber mein Bruder hatte ein goldenes Herz. Nur dass es unter jeder Menge Dornen verborgen war. Und vielleicht ein paar Gargoyles und Feuer speienden Drachen. Aber es existierte und war sehr viel größer, als die meisten ahnten.

»Danke, Gibs«, sagte ich, während ich die Schokolade auspackte.

Ohne ein weiteres Wort sprang er in seinen Truck und fuhr davon. Wenigstens hatte er keinen Kavaliersstart in Granny Louisas Einfahrt ausgeführt. Er war womöglich doch kein totaler Neandertaler.

»Lass uns mittagessen gehen«, sagte ich zu Dev.

»Mittagessen?«, wiederholte er.

»Du weißt schon, die Mahlzeit zwischen Frühstück und Abendessen?«

»Ich weiß, was Mittagessen ist.«

»Ich denke ans Moonshine, wenn du mitwillst.«

»Ist Moonshine nicht schwarzgebrannter Schnaps?«

»Das ist ein Diner, du Schlaumeier. Da gibt’s die besten Truthahnsandwichs, die ich je gegessen habe.« Er sah immer noch ein wenig blass aus für meinen Geschmack. Ich würde niemals einen Mann, der mitten in einer Krise steckte, alleinlassen. Und es gab nichts, was Whits Essen nicht kurieren konnte.

Er wirkte nicht besonders überzeugt.

»Wie viele Besucher hattest du heute schon?«, fragte ich und spielte den Trumpf aus, den ich im Ärmel hatte.

»Dich und deinen Bruder mitgezählt? Vier.«

Ich nickte. »Sie sind neugierig auf dich. Wenn du dich in der Stadt zeigst, bist du nicht mehr der mürrische Fremde. Sie werden nicht mehr das Bedürfnis verspüren, bei dir zu klingeln und dir Backwaren zu bringen, wenn du das Haus ab und zu verlässt.«

Das überzeugte ihn nicht so recht. »Willst du damit sagen, dass sie mich in Ruhe lassen, wenn ich in die Stadt gehe?«

»Nicht vollkommen. Aber es werden längst nicht mehr so viele Fremde bei dir auf der Matte stehen.«

»Ich weiß nicht, Scarlett. Mir geht so viel durch den Kopf.«

»Ein Mann muss essen. Komm. Ich lade dich ein.« Ich hakte mich bei ihm unter und ließ ihm keine Wahl.

Der arme Kerl protestierte nicht mal, als ich ihn auf den Beifahrersitz meines Pick-ups schob. Ich hatte diesen panischen, verstörten Blick schon mal gesehen. Als wir noch jünger und sehr viel dümmer waren, hatten wir vier auf dem Eis Quatsch gemacht. Jameson war eingebrochen. Seine Augen hatten auch diesen fassungslosen Blick, als das Eis unter seinen Füßen nachgab. Wir zogen ihn heraus, bildeten eine tropfnasse Menschenkette. Und dann lagen wir da auf dem Eis, zitternd, lachend, halb weinend. So machten wir das, wenn einer von uns in Schwierigkeiten steckte. Wie es aussah, hatte Devlin keine Menschenkette hinter sich.

Ich unternahm eine kleine Stadtrundfahrt mit ihm. »Und das hier sind die heißen Quellen. Sie halten den See hübsch warm und ziehen wie verrückt Touristen an. Wir haben mehrere Thermalbäder an diesem Ende der Stadt. Und das ist das Lookout.« Ich deutete auf die Bar auf dem Hügel. »Hat dir deine Gran etwas über die Geschichte von Bootleg erzählt?«

»Nein, hat sie nicht«, sagte Devlin. Er wischte sich die Hände an den Jeans ab. Noch immer war er eindeutig nervös, aber wenigstens war er jetzt zu ganzen Sätzen übergegangen.

»Nun ja, Bootleg Springs war während der Prohibition die wohlhabendste Stadt in West Virginia.«

»Ah, daher der Name«, erwiderte Devlin, der wusste, was ich damit sagen wollte.

»Mein Urgroßvater Jedidiah Bodine war der erste, der eine Schnapsbrennerei einrichtete, und sein Schnaps wurde berühmt. Schon bald brannte die ganze Stadt Fusel, und donnerstagnachts beluden sie immer Boote damit. Oben auf dem Aussichtshügel war stets eine Wache postiert. Sie überquerten den See nach Maryland, wo sie den Fusel übergaben. Von dort wurde er nach D. C. und Baltimore weitergeschmuggelt.«

Devlin gab ein unverbindliches Geräusch von sich, aber ich plapperte unaufhörlich weiter, während wir durch die Main Street fuhren, und deutete auf Sehenswürdigkeiten. Wie die Stelle, an der Jedidiah eine lustige Verfolgungsjagd mit der Polizei anzettelte, die letztendlich dazu führte, dass seine Destille hochging. Dieses Ereignis wurde noch immer jährlich mit einer engagierten Reinszenierung inklusive Feuerwerk gefeiert.

Einen Block vor dem Diner hielt ich am Straßenrand an. Das Moonshine nahm das gesamte Erdgeschoss eines dreistöckigen Backsteingebäudes ein. Der ganze Block roch nach Bratkartoffeln und Speck. Olfaktorische Souvenirs, die noch vom Frühstücksansturm in der Luft lagen.

Ich führte Devlin hinein und ließ mich in meine Lieblingsnische hinten im Diner gleiten. Von diesem Aussichtsplatz konnte ich alle meine Nachbarn kommen und gehen sehen.

Devlin musterte skeptisch die fettige Speisekarte auf dem Tisch. Ich selbst brauchte nicht hineinzuschauen. Ich wusste, was ich wollte.

»Hi, Scarlett«, sagte Clarabell, Oberkellnerin und Inhaberin des Moonshine. Sie zog einen Stift aus ihrem kupferroten, auf dem Kopf aufgetürmten Haar. Sie und ihr Mann Whitfield, der die Schnellgerichte zubereitete, servierten hier inzwischen schon seit über zwanzig Jahren himmlische Speisen. »Wie geht’s euch?«

»Ganz gut, Clarabell«, erwiderte ich und ließ untern Tisch fallen, dass Devlin gerade eine Panikattacke auf einem Dach erlitten hatte. »Danke für die Peperoni-Rolls von letzter Woche. Das war wirklich sehr aufmerksam von dir.«

»Keine Ursache. Ich bin froh, wenn sie euch geschmeckt haben. Was kann ich euch beiden bringen?«

»Ich hätte gern das Truthahnsandwich und eine Pepsi«, bestellte ich, während ich die Speisekarte zur Tischkante schob.

Devlin blickte von seiner Karte auf, Unentschlossenheit schien ihm in sein attraktives Gesicht geschrieben. »Ich nehme, was sie nimmt.«

Clarabell warf ihm ihr typisches schiefes Lächeln zu und nahm die Speisekarten an sich. »Tut mir leid wegen deinem Daddy, Scarlett«, sagte sie. Dann eilte sie davon und verschwand hinter der Theke.

Es war irgendwie seltsam zu wissen, dass ich vor einer Woche genau in dieser Nische meinem Vater gegenübergesessen und versucht hatte, ihn mit Kaffee und Bratkartoffeln nüchtern zu bekommen.

»Meine Großmutter hat mir von deinem Vater erzählt«, begann Devlin. »Es tut mir leid.«

»Danke«, sagte ich schroff. Ich hatte noch keine Zeit gehabt, mich an die Vorstellung eines Lebens ohne ihn zu gewöhnen. Jeden Morgen hatte ich immer zuerst daran gedacht, wie schwierig es werden würde, Dad aufzuwecken und arbeitsbereit zu kriegen, wenn er überhaupt in der Lage wäre, mich zu begleiten. Noch immer war dies morgens mein erster Gedanke, doch jetzt folgte darauf die Erkenntnis, dass das nicht mehr notwendig war. Ich erinnere mich an jedes einzelne, schmerzliche Detail, als ich sein Schlafzimmer betrat und ihn tot vorfand.

Seitdem war es die Hölle, morgens aufzuwachen. Aber wenn ich dafür sorgte, dass ich ständig beschäftigt blieb, konnte ich davor weglaufen, bis ich es aushielt, mich damit zu konfrontieren. »Es war keine große Überraschung«, gestand ich. »Es schien nur eine Frage der Zeit zu sein.«

Ich wollte die Erinnerung an meinen Daddy nicht noch weiter beschmutzen, indem ich noch mal aufwärmte, auf wie viele Arten er die Familie im Stich gelassen hatte. Nicht einem Mann gegenüber, der ihn niemals kennenlernen würde.

»Tut mir leid«, sagte Devlin. Es klang schlicht, aufrichtig, lieb.

»Danke«, entgegnete ich und wechselte das Thema. »Wie geht es dir jetzt?«

Clarabell kam mit unseren Getränken und einem Augenzwinkern zurück. Devlin spielte mit dem Strohhalm herum, den sie für ihn daließ.

»Ich habe das Gefühl, dass ich dir eine Erklärung schulde«, sagte er.

Ich sah ihn an. Obwohl er die Augenbrauen zusammengezogen hatte, war sein Blick nicht hart. Dieser eckige Kiefer sprach für ihn. Und die Bartstoppeln. Ich hatte eine Schwäche für diesen nachmittäglichen Bartschatten. Seine Augen waren kaffeebraun und sorgenvoll. Sein Haar war irgendwas zwischen hellbraun und blond, und momentan wurde es lediglich von den nervösen Fingern gestylt, mit denen er hindurchfuhr.

»Du schuldest mir erst was, wenn ich mit der Arbeit fertig bin«, erwiderte ich. Falls er unsere Beziehung rein geschäftlich halten wollte, war das in Ordnung. Auch wenn ich zugegebenermaßen ein winziges bisschen enttäuscht wäre.

»Ich habe in letzter Zeit einiges durchgemacht«, sagte er. »Allerdings nichts so Schlimmes, wie ein Elternteil zu verlieren.«

»Lass uns nicht dein ›Leid ist größer als meins‹ spielen«, sagte ich und drückte ihm die Hand, bevor ich nach meiner Limo griff. »Schmerz ist Schmerz.«

Er verzog das Gesicht. »Ich war verheiratet. Theoretisch bin ich das auch noch für ein paar Wochen.«

»Lässt du dich scheiden oder hast du vor, sie umzubringen?«, fragte ich leichthin.

Seine Mundwinkel gingen nach oben. »Das sage ich dir dann noch.«

»Was ist passiert?«