Whistleblowing - Esther Wyler - E-Book

Whistleblowing E-Book

Esther Wyler

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Beschreibung

Whistleblowing ist weder ein neues noch ein unbedeutendes Phänomen. Aber anders als in den USA, wo es schon seit Jahrzehnten Medien, Öffentlichkeit und Wissenschaft beschäftigt, wird Whistleblowing diesseits des Atlantiks nur zögerlich und widerwillig behandelt. Esther Wyler kennt sich mit diesem Thema aus. Als Juristin befasst sie sich mit der rechtlichen Situation von Whistleblowern in Deutschland, der Schweiz und anderen europäischen Ländern und vergleicht die internationale Gesetzgebung. Whistleblower bewegen sich im Zwischenbereich von Legalität und Illegalität. Und doch ist ihre Arbeit ein notwendiges Korrektiv, wenn die institutionellen Wege zur Konfliktregulierung oder Problembereinigung nicht mehr funktionieren.

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Esther Wyler

Whistleblowing

Bedingungen und internationale Rechtssituation

Mit einem Vorwort von Margrit Zopfi

Elster Verlag • Zürich

ISBN 978-3-906065-65-6

© 2012 by Elster Verlagsbuchhandlung AG, Zürich

Alle Rechte vorbehalten

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Dadurch begründete Rechte, insbesondere der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Vervielfältigungen des Werkes oder von Teilen des Werkes sind auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie sind grundsätzlich vergütungspflichtig.

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Hofackerstrasse 13, CH 8032 Zürich

Telefon ++41 (0)44 385 55 10, Fax ++41 (0)44 305 55 19

[email protected]

www.elsterverlag.ch

E-Book-Herstellung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

In Erinnerung und zärtlicher Liebe für meine Mutter,wir vermissen dich schmerzlich!

In Dankbarkeit und tiefer Zuneigung für meinen Vater.

Wenn ihr mich sucht,sucht mich in euren Herzen.Habe ich dort eine Bleibe gefunden,bin ich immer bei euch.

(Antoine de Saint-Exupéry)

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Einleitung

I. Was ist Whistleblowing?

1. Begriffliches

2. Kriterien

3. Whistleblowing-Verlauf

3.1. Ereignis und Auslöser

3.2. Bewertung und Entscheidungsfindung

3.3. Akt des Whistleblowings

3.4. Reaktionen aus dem Umfeld

3.4. Evaluation durch den Whistleblower

II. Whistleblowing im internationalen Vergleich

1. Ausgangslage

2. USA

2.1. Die Pentagon Papers

2.2. Der Freedom of Information Act

2.3. Der Watergate-Skandal

2.4. Der Whistleblower Protection Act (WAP)

2.5. Die Employment-at-will-Doktrin

2.6. Sarbanes-Oxley Act (SOX)

2.7. Dodd–Frank Act

3. Großbritannien

3.1. Der Zusammenbruch der Barings Bank

3.2. Public Interest Disclosure Act (PIDA)

4. Deutschland

4.1. Der Fall der Altenpflegerin Brigitte Heinisch

4.2. Rechtslage

4.3. Reaktionen auf Entscheid des EGMR im Fall Heinisch

4.4. Rechtsprechung

4.5. Politische Vorstöße

5. Schweiz

5.1. Zürcher Whistleblowerinnen

5.2. Rechtslage

5.2.1. Übersicht

5.2.2. Treuepflicht des Arbeitnehmers

5.2.3. Amtsgeheimnis

5.2.4. Kündigungsschutz

5.3. Rechtsprechung in Sachen Whistleblowing

5.4. Politische Vorstöße und Gesetzgebungsprojekte

III. Whistleblowing und Gesellschaft

1. Politiker und Informantenschutz

2. Arbeitgeber fürchten Whistleblowing

2.1. «Denunziantentum im Arbeitsverhältnis?»

2.2. Siemens-Affäre

2.3. Tatort Pensionskasse

3. Whistleblowing und Medien

3.1. Die «vierte Macht» im Staat

3.2. Risiken des Going Public

3.3. Whistleblowing zwischen Macht, Medien und Politik

4. WikiLeaks, OpenLeaks und die Whistleblower

4.1. US-Soldat Bradley Manning

4.2. Demokratie, Geheimnis und Transparenz

5. Ethische Dissidenten sind unbeliebt

6. Whistleblowing: Zivilcourage am Arbeitsplatz

IV. Schlussbemerkungen

Literaturverzeichnis

Vorwort

Das Buch von Esther Wyler ist keine Betroffenheitsgeschichte, obwohl man eine solche von der bekannten Zürcher Whistleblowerin hätte erwarten können. Aber Esther wäre nicht sie selbst, wenn nicht ihr auf wissenschaftliche Fakten geschulter Geist die Oberhand gewonnen und das persönliche Schicksal in den Hintergrund gedrängt hätte. Natürlich kommen die Zürcher Whistleblowerinnen und ihr Kampf gegen Behörden und Justiz darin vor, aber nur dort, wo sie ein bedeutendes und wegweisendes Fallbeispiel in der Schweiz verkörpern. Wohl aus Bescheidenheit und weil ihr das eigene Ego weniger wichtig ist als die Sache, um die es geht, macht Esther von der emotionalen Belastung, die wir beide in zugespitztem Maße durchleben mussten, kein Aufheben.

Sie verliert kein Wort über die lange Leidensgeschichte an ihrem Arbeitsplatz im Sozialdepartement Zürich, wo wir ohnmächtig zuschauen mussten, wie die Leitung über Jahre hinweg dem Missbrauch von Sozialhilfe in geradezu abenteuerlicher Weise aktiv Vorschub leistete und der Bevölkerung über das wahre Ausmaß der ausgerichteten Fürsorgegelder Sand in die Augen streute. Sie beklagt sich nicht über das nervenaufreibende und kräfteverschleißende Strafverfahren, welches uns fast fünf Jahre lang in Bann hielt. Sie prangert die in der Schweiz vorherrschende Unsitte nicht an, den zu strafen, der die Fehler der Mächtigen enthüllt, anstatt ihn für seinen uneigennützigen Einsatz für das Wohl einer ganzen Gemeinschaft zu ehren. Kurz, sie ist kein Michael Kohlhaas, der sein Leben lang gegen das Unrecht, das man ihm angetan hat, kämpft, nach dem Motto: «Es werde Recht, selbst wenn darüber die Welt zugrunde ginge.»

Esther Wyler ist kein auf Vergeltung bedachter Mensch, der sich von erlittenem Unrecht nicht befreien kann. Davor schützt sie ihre Intelligenz und ihre Bescheidenheit. Sie misst ihrem Ansehen in der Öffentlichkeit wenig Bedeutung bei, bricht aber dafür umso mehr für die christlich-humanistischen Werte – Gerechtigkeit, Moral und Anstand – eine Lanze. Solche Menschen sind oft einsam; einsam, weil sie auch – und ganz besonders dann – zu ihren Werten stehen, wenn die öffentliche oder publizierte Meinung ihrem Streben nach Transparenz und korrektem Handeln im aufklärerischen Sinne entgegensteht.

Ich wünsche ihr und ihrem sorgfältig recherchierten Buch die verdiente Aufmerksamkeit und eine wohlwollende Rezeption, damit Mut und Zivilcourage und das Aufdecken gravierender Missstände im öffentlichen und privaten Bereich die ihnen zustehende Achtung erhalten. Möge das Anliegen aller uneigennützigen Whistleblower auf das gewünschte Interesse in Volk, Behörden, Unternehmen und vor allem auch in der Politik und in der Justiz stoßen, damit ihr Einsatz zum Wohle der Gesellschaft einen Wandel im Denken möglich macht. Es ist an der Zeit, dass in Zukunft das ungestörte Funktionieren von Institutionen, Ämtern und Firmen nicht höher gewertet wird als das korrekte Handeln im Auftrag und im Sinne des Volkes beziehungsweise der Angestellten und der Kunden. Esther Wyler hat durch ihren Mut und das Schreiben dieses Buches schon sehr viel dafür getan.

Margrit Zopfi

Einleitung

«Whistleblowing – ein Phänomen mit vielen Facetten» ist ein Satz, der im Zusammenhang mit der Thematik öfters mal verwendet wird und sich für «Uneingeweihte» als leere Floskel und nichtssagende Phrase präsentieren mag. Missstände unter gewissen Bedingungen publik zu machen, sollte ja in einer Demokratie nichts Außergewöhnliches sein. Um diesen Vorgang zu beschreiben, müsste weder die englische Sprache noch diese geschwollene Ausdrucksweise bemüht werden. Es ist denn auch nicht der Akt des Whistleblowings selbst, welcher in irgendeiner Weise spektakulär wäre, sondern vielmehr das Zusammenspiel von Aktion und Reaktion.

Das eigentliche Phänomen mit vielen Facetten ist die Gesinnung, die Staat, Politik und Gesellschaft gegenüber Whistleblowern einnehmen. Der Rechtsstaat verfolgt sie, die Politiker lavieren, und Bürgerinnen und Bürger reagieren irritiert und unsicher gegenüber Menschen, die laut und deutlich das aussprechen, was man aus falsch verstandenem Anstand nur als Protest hinter vorgehaltener Hand formuliert. «Wo kämen wir hin, wenn jeder sagen würde, was Sache ist?»

Es brüskiert und verstört, wenn Einzelne aus der Masse ausscheren und sich keinen Deut um althergebrachte Regeln kümmern. Auch wenn es demokratischen Verhaltensweisen widerspricht, funktionieren Überbleibsel von Obrigkeitsdenken auch hierzulande nach wie vor perfekt. Deshalb werden Whistleblower «exkommuniziert» und ins gesellschaftliche Abseits gedrängt, wo sie bitte schön auch bleiben sollen.

Ziel dieses Buches ist es nicht, zu sagen, «wie es ist», sondern vielmehr sollen die unterschiedlichen Aspekte von Whistleblowing bewusster gemacht und mögliche Erklärungsansätze für die Ambivalenz der Thematik aufgezeigt werden. Die Publikation versteht sich als Anstoß und Beitrag zu einer Veränderung der vorherrschen Sichtweise; dazu gehört auch, dass gewisse Annahmen und möglicherweise auch eigene Erfahrungen durchaus provokativ und etwas kategorisch formuliert werden.

In Teil I der Arbeit werden die Grundlagen der Thematik Whistleblowing behandelt. Teil II befasst sich im Detail mit der Situation von Whistleblowern jenseits und diesseits des Atlantiks (USA, England, Deutschland und Schweiz). In Teil III wird Whistleblowing im Zusammenspiel mit verschiedenen gesellschaftlichen Akteuren diskutiert, und Teil IV schließt die Arbeit mit einem kurzen Schlusskommentar ab.

Aus Gründen der Übersichtlichkeit wird im Rahmen der vorliegenden Darstellung vorwiegend die männliche Form für Bezeichnungen von Personen verwendet. Sämtliche Ausführungen gelten jedoch selbstverständlich für beide Geschlechter gleichermaßen. Alle zitierten Internetadressen basieren auf dem Stand vom 30. Juni 2012.

I.Was ist Whistleblowing?

Nachdem der Schweizer Nationalbank-Präsident Philipp Hildebrand wochenlang wegen Verdachts auf Insiderhandel bei Devisengeschäften in der Kritik gestanden hatte, erklärte er am 9. Januar 2012 seinen sofortigen Rücktritt. Anlass und ultimativer Auslöser dieses unfreiwillig schnellen Entscheids war das Wochenmagazin «Weltwoche», welches Philipp Hildebrand in einer Vorabmeldung und nachfolgend in der Ausgabe vom 5. Januar 2012 vorwarf, er habe über sein persönliches Konto bei der Bank Sarasin & Cie AG in Zürich Mitte August 2011 einen Dollarkauf in Höhe von 504000 US-Dollar angeordnet, nur wenige Wochen vor dem Beschluss der Schweizerischen Nationalbank (SNB), auf dem Devisenmarkt zugunsten des Schweizer Frankens zu intervenieren. Am 4. Oktober, nach der Intervention, habe er diese Dollarposition mit einem Gewinn von 75000 Schweizer Franken wieder abgestoßen. Um diesen Vorwurf zu belegen, veröffentlichte die «Weltwoche» private Kontoauszüge des Ehepaars Hildebrand und prangerte das Verhalten des SNB-Präsidenten mit heftigen Worten an:

Der vielgerühmte und auffällig geschniegelte Herr Hildebrand selbst entpuppt sich als Gauner, der sich illegal Vorteile erschleicht. Seine Abwehrversuche erinnern fatal an die untauglichen Manöver des deutschen Bundespräsidenten Christian Wulff, sich gegen die Wirklichkeit zu stemmen. Und die hohe politische Korona aber, die Hildebrand trotzdem schützt und stützt, besteht offenbar aus einem dichten Geflecht von Lügnern und Vertuschern.1

Am 1. Januar 2012 stellte sich ein 39-jähriger IT-Supporter der Bank Sarasin & Cie der Kantonspolizei Zürich. Er gab an, den Kontoauszug des Nationalbank-Präsidenten an sich genommen zu haben, weil er – so die Angaben der Zürcher Staatsanwaltschaft – bei Hildebrands umstrittenen Dollar-Transaktionen von einem Insidervergehen ausgegangen war. Daraufhin entließ ihn die Bank fristlos. Eine wichtige Rolle in der Affäre Hildebrand spielte auch der ehemalige Schweizer Bundesrat und Chefstratege der konservativen Schweizerischen Volkspartei (SVP), Nationalrat Christoph Blocher, ein heftiger Kritiker Hildebrands. Nach bisherigem Kenntnisstand bemächtigte sich der IT-Mitarbeiter der Bank der Daten im Spätsommer 2011. Er wandte sich offenbar zunächst an seinen Freund aus der Jugendzeit, den Thurgauer Rechtsanwalt Hermann Lei, worauf die beiden Anfang Dezember gemeinsam Blocher unterrichteten. Dieser gab die Information wenig später an die damalige Bundespräsidentin Micheline Calmy-Rey weiter und zeigte ihr eine Kopie des Bankauszugs. Nochmals drei Wochen später druckte die «Weltwoche» ein abgeändertes Faksimile von Hildebrands Bankauszug ab.

Gegen den Whistleblower und gegen den Anwalt wurde noch im Januar 2012 ein Strafverfahren wegen möglicher Widerhandlung gegen das Bankengesetz eröffnet. Beim Parlamentarier Christoph Blocher gestaltete sich dies nicht so einfach. Im März wurden bei ihm wegen des Verdachts auf Verletzung des Bankgeheimnisses Hausdurchsuchungen durchgeführt. Die Staatsanwaltschaft musste die beschlagnahmten Unterlagen jedoch versiegeln, da Christoph Blocher sich auf die parlamentarische Immunität berufen konnte.

Am 11. Juni 2012 verweigerte das Schweizer Parlament Blocher aber diesen Schutz. Es war ein politisch motivierter Entscheid, wie er von einem politischen Gremium nicht anders zu erwarten ist.

Der Ex-SNB-Präsident wurde strafrechtlich nicht belangt, da er sich rechtlich nichts hatte zuschulden lassen kommen. Der Rücktritt sei jedoch aus «moralischen Gründen» unumgänglich gewesen, wie es in Kommentaren aus dem Umfeld der SNB hieß. Klar, denn neben dem gesetzten Recht gibt es noch die «Corporate Governance», das «Soft Law», den nicht voll ausgeschriebenen Verhaltenskodex, an den sich auch ein Nationalbankpräsident zu halten hat.

Die Affäre Hildebrand löste eine mittlere Staatskrise aus, und die Schweiz bot für kurze Zeit das Bild einer medialisierten Stimmungsdemokratie. In atemlosem Tempo produzierten Online-Medien immer wieder neue Sichtweisen auf das Ereignis, gefolgt von schier endlosen Kolonnen von User-Kommentaren pro und kontra Hildebrand beziehungsweise Christoph Blocher und die SVP. Unterschiedliche Ideologien prallten aufeinander, politische Grabenkämpfe wurden ausgetragen. Journalisten warfen zeitweilig ihre medienethischen Grundsätze über Bord und beteiligten sich an der verbalen Überfütterung.

Zu welchen Ergebnissen die juristische Bewältigung der Turbulenzen rund um die Nationalbank letztendlich führen wird, kann zum jetzigen Zeitpunkt nur gemutmaßt werden. Sicher ist jedoch, dass das ungeliebte Thema «Whistleblowing» die Schweiz nicht mehr loslassen wird. Deshalb wäre es auch langsam an der Zeit, sich hierzulande an einen Kulturwandel heranzuwagen. Hinweise auf Gesetzesverstöße oder Fehlentwicklungen sollten frühzeitig ernstgenommen werden, denn sie lösen sich nicht in Luft auf. Statt in erster Linie den Überbringer der schlechten Nachricht zu verdammen, zu diffamieren und zu verfolgen, würde es dem Gebot der Fairness eher entsprechen, das Augenmerk auf die Missstände selbst und deren Beseitigung zu richten. Leugnen, Vertuschen und Schönreden kosten Zeit und Glaubwürdigkeit; es ist erstaunlich, dass diese Einsicht so lange auf sich warten lässt.

Dass Informanten keinen Schutz genießen, liegt nicht allein in der Verantwortung von Unternehmen und Verwaltungen, sondern auch und vor allem in derjenigen des Volkes. Denn: Whistleblowing ist letztlich ein gesellschaftliches Problem und die Ursachen seines Auftretens gehen uns alle an.

1. Begriffliches

«Gibt man auf einer Suchmaschine wie Google das Stichwort Whistleblowing ein, so erhält man Verweise auf über 25000 Dokumente und Websites. Dies zeigt zum einen das große Interesse am Phänomen, zum anderen jedoch auch die inflationäre Anwendung des Begriffs auf höchst verschiedene Sachverhalte.» Diese Feststellung machte Klaus M. Leisinger in seinem 2003 zu diesem Thema erschienenen unternehmensethischen Standardwerk.2 Die gleiche Aktion im Jahre 2012 ergibt bereits über vier Millionen Ergebnisse, die Beurteilung von Leisinger ist jedoch auch heute noch gültig.

Der Ausdruck Whistleblowing kommt aus den USA und hat dort seit den Neunzehnhundertsechziger- und Siebzigerjahren Eingang in den allgemeinen Sprachgebrauch gefunden. Der englische Begriff «to blow the whistle» (das Blasen einer Pfeife) wird allgemein als Metapher für Menschen verwendet, die Missstände nicht einfach hinnehmen, sondern durch deutliche Hinweise Alarm schlagen. In der Literatur wird mit Begriffen wie «Alarm schlagen», «ins Nebelhorn blasen», «Alarmglocken läuten» und so weiter gearbeitet, um jene ganz spezifische Art von Zivilcourage zu beschreiben, die wir hier diskutieren. In der deutschen Sprache gibt es kaum einen äquivalenten Begriff für Whistleblowing, welcher sich sprachlich durchgesetzt hätte oder dem Phänomen inhaltlich gerecht würde. Deshalb wird auch diese Darstellung dem Anglizismus mehrheitlich treu bleiben.3

2. Kriterien

Trotz der frühen wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Thema existiert bislang keine allgemein anerkannte Definition von Whistleblowing. Weit verbreitet ist jedoch die Begriffsdefinition von Janet P. Near und Marcia P. Miceli, welche Whistleblowing definieren als «the disclousure by organization members (former or current) of illegal, immoral, or illegitimate practices under the control of their employers, to persons or organizations that may be able to affect action».4

Ausgehend von dieser Definition handelt es sich beim Whistleblower daher um einen Insider, welcher illegale, unmoralische oder illegitime Praktiken seiner Organisation nach außen an eine Stelle oder Person trägt, die neben dem Vertrauen des Whistleblowers auch in der notwendigen Position ist, um den bestehenden Missständen Einhalt zu gebieten. Der Whistleblower hat zwar Kenntnis vom Problem, nicht aber die Macht, es zu lösen beziehungsweise zu beseitigen.

Auch im deutschen Sprachraum hat die wissenschaftliche Thematisierung des Whistleblowings in den letzten Jahren stark zugenommen. Seit 1999 vergibt die Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW) alle zwei Jahre einen Whistleblower-Preis. Damit sollen Persönlichkeiten geehrt werden, die in ihrem Arbeitsumfeld oder Wirkungskreis schwerwiegende, mit erheblichen Gefahren für Mensch und Gesellschaft, Umwelt oder Frieden verbundene Missstände aufgedeckt haben.5

Für Dieter Deiseroth, Richter am Bundesverwaltungsgericht in Leipzig und aktiver Befürworter eines effektiveren Whistleblowerschutzes, muss das Verhalten eines Beschäftigten (oder ehemals Beschäftigten) in einem Unternehmen oder einer öffentlichen Verwaltung folgende Kriterien erfüllen, damit man von Whistleblowing sprechen kann:

Es muss erstens eine brisante Enthüllung vorliegen

(revealing wrongdoing)

, ein Sachverhalt also, der erheblichen Zündstoff für eine Diskussion, Auseinandersetzung oder Ähnliches enthält. Ein Whistleblower deckt demnach in seinem Arbeitsumfeld gravierendes Fehlverhalten, schwerwiegende Missstände oder Fehlentwicklungen auf, die mit Gefahren oder Risiken für Leben, Gesundheit und Umwelt, das friedliche Zusammenleben der Menschen, die demokratische Meinungs- und Willensbildung oder andere wichtige Grundrechte verbunden sind oder jedenfalls verbunden sein können.

Zweitens erfordert Whistleblowing ein «Alarmschlagen»

(going outside)

. Ein solches erfolgt im Regelfall zunächst intern, also im persönlichen oder beruflichen Wirkungskreis des Whistleblowers (internes Whistleblowing). Wird dieses interne Alarmschlagen unterdrückt oder bleibt es wirkungslos, wendet sich der Betreffende an Außenstehende oder an die Öffentlichkeit (externes Whistleblowing).

Drittens liegt Whistleblowing nach Deiseroth nur dann vor, wenn es aus primär uneigennützigen Motiven heraus erfolgt

(serving the public interest),

die am Schutz gewichtiger Rechtsgüter orientiert sind.

Und viertens schließlich nimmt der Whistleblower in Kauf, dass sein Alarmschlagen mit erheblichen Risiken und/oder Nachteilen für die eigene berufliche Karriere oder die persönliche Existenz (oder die von Angehörigen etc.) verbunden ist

(risking retaliation).

Internes Whistleblowing bezieht sich auf illegale oder illegitime respektive unmoralische Handlungen oder Unterlassungen innerhalb der Organisation oder des Unternehmens, die außerhalb des üblichen Dienstweges bekannt gemacht werden.

Dazu kann es kommen, wenn der Arbeitnehmer seinen Verdacht oder Hinweis nicht seinem unmittelbaren Vorgesetzten anvertrauen möchte oder kann oder weil er von dieser Instanz nicht ernst genommen wird und sich entschließt, eine oder mehrere Hierarchieebenen zu überspringen. Die Meldung bleibt jedoch in diesem Fall im Betrieb, und die Verantwortlichen haben die Möglichkeit, den Missstand, die Mängel oder die Gefahr rechtzeitig zu beseitigen.

Externes Whistleblowing liegt dann vor, wenn das interne Alarmschlagen unterdrückt wird beziehungsweise wirkungslos bleibt und sich der Beschäftigte entschließt, an Organisationsexterne oder an die Öffentlichkeit zu gelangen, namentlich an Aufsichtsbehörden, Strafverfolgungsorgane (Polizei, Staatsanwaltschaft), Ombudsleute, politische Mandatsträger, Berufsverbände oder Gewerkschaften, Journalisten und Massenmedien. Dieser Weg geht in den meisten Fällen einher mit der Verletzung von arbeits- und strafrechtlichen Bestimmungen (Treuepflicht, Berufsgeheimnis, Amtsgeheimnis).

In beiden Varianten besteht die Möglichkeit, die Hinweise anonym oder offen beziehungsweise unter Bekanntgabe des eigenen Namens zu machen. Für Deiseroth handelt es sich bei Whistleblowern um «ethische Dissidenten», das heißt um Personen mit Zivilcourage, die ungeachtet der für sie nachteiligen Konsequenzen aus gemeinnützigen Motiven auf Missstände hinweisen und auf Abhilfe drängen:

Whistleblower widmen sich also als Insider aus «ihrer» Organisation heraus vor allem Fragen des Umwelt-, Gesundheits- und Verbraucherschutzes sowie der Sicherheit von Produktionsanlagen und anderer gefahrenträchtiger Einrichtungen. Sie versuchen zudem, Korruption und Verschwendung in staatlichen und privatwirtschaftlichen Bürokratien aufzudecken. Sie lenken die Aufmerksamkeit auf rechtlich oder ethisch fragwürdige Praktiken von Entscheidungsträgern, die Interessen von Bürgern oder der Allgemeinheit beeinträchtigen (können).6

3. Whistleblowing-Verlauf

Man wird nicht von heute auf morgen zum Whistleblower. In fast allen Fällen handelt es sich bei Whistleblowern um fachlich versierte Mitarbeitende, die schon einige Jahre in einem Unternehmen oder in einer öffentlichen Verwaltung arbeiten und über intimste Kenntnisse der Abläufe, der Kontrollmechanismen, der Fehler-, Kommunikations-, Führungs- und Unternehmenskultur einer Organisation oder eines Betriebes verfügen. Sie können aufgrund ihrer Fachkenntnisse Missstände, Mängel oder Gefahren erkennen und beurteilen. Mit dieser Feststellung sei dem von Arbeitgeberseite gerne abgegebenen Statement, Mitarbeiter könnten oft nicht beurteilen, ob in einem Unternehmen Rechtsverletzungen vorliegen, deutlich widersprochen; das Gegenteil ist der Fall.

Whistleblowing ist ein Prozess, der in verschiedenen Phasen abläuft. Meist ist bereits über einen längeren Zeitraum manches schief gelaufen, bevor sich Whistleblowing für alle sichtbar manifestiert. In aller Regel wurde bereits viel früher versucht, auf anderem Wege den Missstand zu thematisieren und zu beheben. In Anlehnung an die US-Wissenschaftlerinnen Marica P. Miceli und Janet P. Near (grundlegend ihr Buch: Blowing the Whistle, 1992; siehe auch Literaturliste) kann Whistleblowing mit dem Fokus auf die Sicht des Whistleblowers, der diesen initiiert und betreibt, als fünfstufiger zeitlicher Prozess begriffen werden.7

3.1. Ereignis und Auslöser

Es gibt keinen allgemeingültigen «Katalog», in dem klipp und klar geregelt wäre, was typische Whistleblowing-Situationen sind.

Merkmale können sein, wenn ethische Standards, Berufsnormen oder Verhaltenskodexe von Unternehmen verletzt werden, wenn Risiken bagatellisiert, vertuscht und missliebige Unterlagen vernichtet werden, wenn manipuliert und betrogen wird oder wenn eine Mentalität der Selbstbedienung, Begünstigung und Bestechung herrscht – all das also, was man gemeinhin unter dem Begriff Korruption zusammenfasst.

Korruption im Speziellen ist eine besonders weit verbreitete Form wirtschaftskriminellen Verhaltens. Korruption wird definiert als das Ausnutzen einer Machtposition zum eigenen Vorteil (aber zum Schaden vieler anderer). Sie umfasst sowohl die Korruption des Vertrauensträgers (aktive Korruption) als auch dessen Bereitschaft, sich korrumpieren zu lassen (passive Korruption).

Korruption kann den öffentlichen Bereich betreffen, zum Beispiel bei der Vergabe öffentlicher Aufträge und Konzessionen, oder in Bezug auf Steuer- und Zollbehörden. Sie kommt aber auch vielfältig unter Privaten vor, etwa als Bestechung von Mitarbeitern eines Vertragspartners oder Konkurrenzunternehmens. Korruption reicht von kleineren Geschenken bis zu Zahlungen in Millionenhöhe. Gemäß einer aktuellen Studie kostet die Korruption beispielsweise Deutschland im laufenden Jahr 250 Milliarden Euro.8

Am Anfang jedes Whistleblowing-Verlaufs steht die Wahrnehmung eines Ereignisses (Handlung oder Unterlassung) mit Missstandscharakter durch den potenziellen Whistleblower.9 Missstände können dabei verschiedenste Dinge sein, insbesondere Verstöße gegen Regeln aller Art (moralisch-ethische, rechtliche, innerorganisatorische, berufsständische, usw.) oder Risiken und Gefahren für Menschen, Organisationen und Umwelt. Anzumerken ist, dass es keineswegs einen tatsächlichen Missstand geben muss, sondern es reicht aus, dass für den potenziellen Whistleblower eine begründete Unklarheit oder ein Verdacht bezüglich des Vorliegens eines Missstandes entsteht, die diesen zu einem weiteren Nachdenken und einer Bewertung veranlassen.10

3.2. Bewertung und Entscheidungsfindung

Nach der Wahrnehmung des Ereignisses und dessen Missstandsqualität wird der potenzielle Whistleblower Überlegungen über die Notwendigkeit seines Handelns anstellen; er wird die möglichen Reaktionen der Organisation und seines Umfeldes abschätzen, über seine eigene Verantwortlichkeit zum Handeln nachdenken und seine persönlichen Handlungsmöglichkeiten überprüfen. In den meisten Fällen wird er feststellen, dass er selbst nicht in der Lage ist, den Missstand zu beheben.

Bei diesem Beurteilungsprozess spielen unterschiedliche Faktoren eine Rolle und beeinflussen das individuelle Bewertungsergebnis: Welche Wertüberzeugungen vertritt der potenzielle Whistleblower? Über welche Lebens- und Berufserfahrung verfügt er? Welche persönliche Biographie und welches private Umfeld hat er? Welche Informationen stehen ihm zur Verfügung? Wie ist seine Position, und welche Einflussmöglichkeiten stehen ihm in der Organisation zur Verfügung? Wie wird die mögliche Reaktion seiner Arbeitskollegen sein? Welche Bedeutung kommt der spezifischen Konfliktbearbeitungskultur im jeweiligen Unternehmen zu? Gibt es unternehmensinterne Anlaufstellen, an die er sich vertrauensvoll wenden könnte?

Bei der alles entscheidenden Frage, ob er besser schweigen oder aktiv nach außen treten sollte, spielt die Angst vor möglichen Repressalien eine wichtige Rolle. Auch wird sich der potenzielle Whistleblower schon in diesem frühen Stadium Gedanken darüber machen, ob sein Handeln die eigene wirtschaftliche Existenz gefährden könnte. Welche Variablen welchen Einfluss haben, ist Gegenstand wissenschaftlicher Forschung zur Motivation von Whistleblowern, die in vielem noch am Anfang steht. Sicher ist aber, dass es im Zusammenhang mit Whistleblowing Bedingungen in Staat, Gesellschaft und Organisationen gibt, die entweder Whistleblowing begünstigen oder aber erschweren.

Ist das Ergebnis des Bewertungsprozesses die starke Überzeugung, dass ein Handeln unabdingbar ist, so muss der Arbeitnehmer entscheiden, wie eine Meldung erfolgen soll und an wen. Soll er unternehmensintern auf die Missstände aufmerksam machen oder mit seinen Hinweisen an eine Stelle außerhalb der Organisation gelangen? Soll er dabei anonym oder unter Preisgabe seiner Identität handeln? Soll er alleine vorgehen oder versuchen, andere Personen seines Vertrauens beizuziehen?

3.3. Akt des Whistleblowings

In der dritten Phase wird der Missstand intern oder extern gemeldet, je nachdem zu welchem Ergebnis der Betreffende gelangt ist. Der «Risk Messenger» wird definitiv zum Whistleblower.

3.4. Reaktionen aus dem Umfeld

Sobald der Whistleblower seine Aktion beendet hat, kann er nur noch auf die Reaktion des Whistleblowing-Adressaten und/ oder der Organisation warten und hoffen, dass diese sowohl ihm gegenüber als auch in Bezug auf die erstrebte Missstandsbeseitigung positiv ausfällt. Warten und Hoffen sind daher charakteristische Elemente des Whistleblowing-Prozesses und für die psychische Situation des Whistleblowers sehr belastend. Zu Reaktionen kann es darüber hinaus von Dritten (zum Beispiel Kollegen) kommen, die vom Whistleblowing und/oder dem Missstand erfahren. Die ideale Antwort wäre eine schnelle und nachhaltige Beseitigung des Missstandes, gepaart mit einer positiven Reaktion (zum Beispiel Anerkennung, Belobigung, Belohnung) gegenüber dem Whistleblower. Dies ist jedoch eher selten der Fall.

Auch im günstigsten Fall muss sich der Adressat des Hinweises zunächst selbst ein Bild von der geschilderten Situation machen und dabei eventuell auch Unterlagen sichten und Dritte und/oder Beschuldigte zu der Angelegenheit befragen. Letztlich befindet der Adressat sich in einer Situation, die derjenigen entspricht, die in Phase 2 (Bewertung und Entscheidungsfindung) geschildert wurde. Auch für ihn kommen alle dort dargelegten Bewertungsergebnisse in Betracht. Dabei kann aber eine Verschiebung insoweit eintreten, dass für den Adressaten das Problem nicht in dem Ereignis besteht, welches der Whistleblower als Missstand bewertet hat (weil dieses beispielsweise für ihn Teil einer bewusst gewählte Strategie ist oder weil er erkennt, dass gar kein Problem vorliegt), sondern darin, dass es in dieser Situation jemand (der Whistleblower) wagt, dies als Missstand zu bezeichnen und ihn diesbezüglich (vielleicht sogar noch unter Umgehung von Hierarchiestufen) zu adressieren.

Die Reaktion ist demnach immer eine doppelte, auf das Ausgangsereignis einerseits und auf das Whistleblowing und den Whistleblower andererseits. Neben der Art der Reaktionen (positiv, gemischt, negativ, gar nicht) spielt auch die Kommunikation dieser Reaktion an den Whistleblower und an Dritte eine entscheidende Rolle. Dort, wo Whistleblowing gewollt ist, wird man umgehend Schritte in die Wege leiten, um den Problemen adäquat begegnen zu können. Auch wird man dem Whistleblower ein positives Feedback geben. Zusätzlich wird das Ereignis innerhalb der Organisation offen und positiv kommuniziert. So jedenfalls würde man sich den Idealfall gerne vorstellen.

3.5. Evaluation durch den Whistleblower

Der Whistleblowing-Verlauf wird vorerst durch diese fünfte Phase abgeschlossen. Es findet eine erneute Beurteilung seitens des Whistleblowers statt, nämlich die Evaluation der wahrgenommenen Reaktionen. Sind diese derart, dass es zu einer Beseitigung der aufgezeigten Missstände kommt, wird der Prozess in dieser Phase endgültig beendet. Ist dies nicht der Fall, kann er auch wieder von vorn beginnen. Kennzeichnend bei wiederholtem Whistleblowing ist, dass jeweils ein neuer Adressat gewählt wird, von dem der Whistleblower erwartet, dass dieser besser in der Lage ist, die Entscheidung des vorherigen Adressaten zu korrigieren. Meistens trägt nachfolgendes Whistleblowing Eskalationstendenzen in sich, weil der interne Weg oft verlassen wird; internes zu externem Whistleblowing mutiert mit der für die betroffene Organisation schlimmsten Variante, dem Einbezug der Presse.

II.Whistleblowing im internationalen Vergleich

1. Ausgangslage