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Widerstand als Selbstbehauptung E-Book

Luca Preite

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Beschreibung

In der Glorifizierung des Berufsbildungssystems der Schweiz bleibt oftmals ungenannt, wie viel Mühe einzelne Jugendliche zu bewältigen haben, bis sie einen Ausbildungsplatz erhalten. Von der Bildungspolitik als »gefährdet« eingestuft, verfügen sie nicht nur über geringere Ausbildungschancen, auch stehen sie Lehrpersonen und Berufsberatungen gegenüber, die grundsätzlich an ihrer Ausbildungsreife zweifeln. Vor diesem Hintergrund zeigt Luca Preite, weshalb sich »gefährdete« Jugendliche in der Beratungspraxis des Übergangssystems oft querstellen: Sich zu widersetzen ist schließlich die einzige verbleibende Möglichkeit, um den eigenen Werdegang aller Ungleichheit zum Trotz mitzugestalten.

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Luca Preite (Dr. phil.), geb. 1984, ist Dozent für Erziehungswissenschaften mit Schwerpunkt Jugend- und Bildungssoziologie an der Pädagogischen Hochschule der Fachhochschule Nordwestschweiz. Er forscht zu Bildungsverläufen und sozialer Ungleichheit aus einer subjektorientierten Perspektive.

Luca Preite

Widerstand als Selbstbehauptung

»Gefährdete« Jugendliche im Übergangs- und Berufsbildungssystem

Die Open-Access-Ausgabe wird publiziert mit Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung.

Dissertation zur Erlangung der Würde eines Doktors der Philosophie, vorgelegt und verteidigt im Herbstsemester 2020 am Institut für Bildungswissenschaften der Universität Basel. Erstbetreuer: Prof. Dr. Albert Düggeli (Universität Basel und Pädagogische Hochschule FHNW); Zweitbetreuer: Prof. em. Dr. phil. I habil. Hans-Ulrich Grunder; Drittbetreuerin: Prof. Dr. Christine Wiezorek (Justus-Liebig-Universität Gießen).

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution 4.0 Lizenz (BY). Diese Lizenz erlaubt unter Voraussetzung der Namensnennung des Urhebers die Bearbeitung, Vervielfältigung und Verbreitung des Materials in jedem Format oder Medium für beliebige Zwecke, auch kommerziell. (Lizenztext: https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de)

Die Bedingungen der Creative-Commons-Lizenz gelten nur für Originalmaterial. Die Wiederverwendung von Material aus anderen Quellen (gekennzeichnet mit Quellenangabe) wie z.B. Schaubilder, Abbildungen, Fotos und Textauszüge erfordert ggf. weitere Nutzungsgenehmigungen durch den jeweiligen Rechteinhaber.

Erschienen 2022 im transcript Verlag, Bielefeld © Luca Preite

Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld

Korrektorat: Anette Nagel, Osnabrück

Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar

Print-ISBN 978-3-8376-6344-0

PDF-ISBN 978-3-8394-6344-4

EPUB-ISBN 978-3-7328-6344-0

https://doi.org/10.14361/9783839463444

Buchreihen-ISSN: 2702-9271

Buchreihen-eISSN: 2702-928X

Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff.

Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de

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Inhalt

1.Gefährdete Jugendliche und verzögerte Berufsausbildungen

1.1Forschungsstand: verzögerte Bildungsverläufe und Transitionsforschung

1.2Theorie: Übergangsregime, Handlungsfähigkeit und Lebenswelten

1.3Methodologie: Fallstudien als individuensoziologischer Ansatz

1.4Zum Buch: ein kumulatives Dissertationsvorhaben

2.Lebensweltliche Werdegänge

2.1Migrantischer Hiphop als Subkultur: Das Fallbeispiel «Baba Uslender»

2.2«Ich bin nicht integriert, werde diskriminiert und spreche dennoch so, als hätte ich Germanistik studiert»

3.Parallelwerdegänge

3.1Gefährdete Jugendliche online

3.2Detailhandelsfachmann und Youtuber: Die Fallbeispiele von Zeki und Ardi

4.Die Ausbildung der Ausbildungslosen

4.1Frau Martinez, Herr Müller und Frau Gerber

4.2Berufsorientierung als individualisierender Lösungsversuch einer strukturellen Problemlage

5.Wider die Abkühlung

5.1Widersetzungspraktiken im bildungsinstitutionellen Setting

5.2Am Beispiel von Ardi, Bruno und Blerim

6.Reprise

6.1Subjektorientierung als epistemologischer Bruch und Kritik

6.2Handlungsfähigkeit im Übergangsregime

6.3Vier Erkenntnisse und zwei Implikationen

Literatur

Dank

 

 

 

 

Für meinen Großvater, der verdingt wurde; und für meine Großmutter, die auf uns schaute. Per i miei Nonni, die als Gastarbeiter und Gastarbeiterin kamen und gingen. Für meinen Vater, dessen italienischer Berufsabschluss in der Schweiz nicht anerkannt wurde. Für meine Mutter, der man versucht hat zu kündigen,als mein Bruder zur Welt kam. Für meine Eltern, die auf unsere Kinder schauen, während wir einen akademischen Weg bestreiten. Für Sandra, Emilio und Flavio. Per zio Gino.

1.Gefährdete Jugendliche und verzögerte Berufsausbildungen

In Bildungs- und Berufslaufbahnen vergesellschaften sich für Heranwachsende soziale Ungleichheiten (Bourdieu, 2007; Bourdieu und Passeron, 2007). Ebenso strukturieren bzw. (re)produzieren Jugendliche in ihren Bildungs- und Berufsverläufen selbst gesellschaftliche Positionierungen und Stratifikationen (Willis, 2012, 2013). Vor dem Hintergrund dieses dialektischen Verständnisses von Bildungs- und Reproduktionsprozessen untersucht das vorliegende Buch Werdegänge und Lebenswelten von Jugendlichen, denen aus Sicht « ‹der› Erwachsenengesellschaft» (Luedtke und Wiezorek, 2016, S. 9) eine Gefährdung im Hinblick auf die berufliche und gesellschaftliche Integration zugeschrieben wird. Ziel ist, mehr darüber zu erfahren, wie diese sogenannten «gefährdete[n] Jugendliche[n]»1 (Häfeli und Schellenberg, 2009, S. 15) wider diese mächtige Voraussage eigene Werdegänge in und außerhalb formeller Bahnen entwerfen, voranbringen und verwirklichen.

Als Datengrundlage für dieses Forschungsvorhaben dienen Gespräche mit Jugendlichen, ebenso Beobachtungen ihrer Handlungen und Artikulationen in Ausbildung, Erwerb und Freizeit. Konkret begleitet, befragt und untersucht wurden zwischen 2015 und 2017 sechsunddreißig Jugendliche und junge Erwachsene in der Nordwestschweiz. Gemeinsam ist diesen Jugendlichen die Erfahrung eines sogenannten «verzögerte[n] Übertritts» (Düggeli, 2017, S. 164) in die berufliche Grundbildung. Will heißen: Ihre Bildungslaufbahn ist gekennzeichnet durch den Besuch einer Übergangsausbildung als Vorbedingung für die Einmündung in die Berufslehre. Absolviert wurden unterschiedliche Übergangsmaßnahmen: von sogenannten schulischen Brückenangeboten, auch ‹10. Schuljahr› genannt, über Arbeitsbeschäftigungsprogramme, sogenannte ‹Motivationssemester›, bis hin zu Betriebspraktika und Vorlehren. Auf der Grundlage dieser vorberufsbildenden Ausbildung einerseits, verzögerten Berufsausbildung andererseits – je nachdem, welche Perspektive dazu eingenommen wird – weichen ihre Bildungsverläufe von der bildungspolitisch anvisierten Norm der «Sofortübertritte» (SKBF, 2018, S. 105) in die berufliche Grundbildung ab (SBFI, 2015). Auf der Grundlage dieser Abweichung wiederum gelten diese Jugendlichen – nunmehr aus einer sozialpolitischen Perspektive – als gefährdet im Hinblick auf ein «finanziell unabhängiges und selbstbestimmtes Erwachsenendasein» (Eidgenossenschaft, 2016) bzw. auf eine potenzielle «Sozialhilfeabhängigkeit» (Schmidlin, Kobelt, Caviezel, Clerc und Allemann, 2018, S. 1).

Abbildung 1: Übertrittsquoten in die Sekundarstufe II in der Schweiz

Eigene Darstellung; Quelle: Babel et al., 2016

Anmerkung: Die Schweizer Fachmittelschule entspricht in Deutschland dem beruflichen Gymnasium. Bei der eidgenössischen Attest-Ausbildung handelt es sich um eine zweijährige Berufslehre für sogenannte «schulschwache» Jugendliche. Das eidgenössische Fähigkeitszeugnis entspricht der drei- bis vierjährigen «Normlehre».

Quantitativ betrachtet stellen die untersuchten sechsunddreißig Jugendlichen mit ihren verzögerten Bildungsverläufen aber keineswegs eine Ausnahme dar. Mit dem Besuch einer Übergangsausbildung als konstituierendes Moment ihrer Gefährdungszuschreibung teilen sie die Erfahrung mit rund einem Viertel aller Abgänger:innen der Sekundarstufe I – etwa 20 000 von gesamthaft 80 000 pro Jahr (Preite, 2019; Sacchi und Meyer, 2016). In dieser Größenordnung ist die Normabweichung der verzögerten Berufsausbildung genauso ausgeprägt wie der mehrheitlich als Königsweg betrachtete Eintritt in das Gymnasium – in der Schweiz treten rund ein Viertel aller Jugendlichen nach Abschluss der Sekundarstufe I in das Gymnasium über (Babel, Laganà und Gaillard, 2016). Mag es demnach paradox erscheinen, verzögerte Berufsausbildungen als normabweichend zu analysieren, so darf nicht vergessen werden, wie normabweichend diese verzögerten Übertritte innerhalb des Bildungssystems kategorisiert und definiert bleiben2.

In der Wirtschafts- und Lehrstellenkrise der 1990er Jahre, im Rahmen einer parlamentarischen Soforthilfe, schweizweit ausgebaut, gelten Übergangsausbildungen in sozial- und bildungspolitischer Hinsicht nach wie vor als temporäre Überbrückungsmaßnahmen. Hiermit soll ein primär demografisch gedeutetes, sekundär jugendspezifisch verortetes Mismatching zwischen Angebot und Nachfrage auf dem Lehrstellenmarkt ausgeglichen werden (SKBF, 2018, S. 119f.)3. Ungeklärt bleibt dabei, inwiefern der Ausbau des Übergangssystems zwischen der Sekundarstufe I und II nicht auch vor dem Hintergrund einer strukturellen und nicht nur konjunkturellen «Angebotsknappheit» (Meyer, 2009, S. 76) von Ausbildungsplätzen zu interpretieren wäre. Ländervergleichende Studien dualer, d. h. arbeitsmarktorientierter Berufsbildungssysteme zeigen diesbezüglich, wie sich das wachsende Phänomen der verzögerten Berufsbildungseintritte nur bedingt mit der gängigen These der jugendlichen Ausbildungsunreife erklären lässt (Kohlrausch und Solga, 2012; Sacchi und Meyer, 2016). Vielmehr weisen Längsschnittstudien auf einen direkten Zusammenhang zwischen einem seit den 1990er Jahren einsetzenden und fortbestehenden Lehrstellenunterangebot und dem damit einhergehenden Ausbau des Übergangssystems hin (Granato et al., 2016; Hupka-Brunner, Meyer, Stalder und Keller, 2011).

Abbildung 2: Entwicklung der Anzahl Jugendliche in der Sekundarstufe I und II seit 1985 bis 2018

Eigene Darstellung; Quelle: Bundesamt für Statistik, 2017a, 2017b, 2018, 2019, 2020

Anmerkung: Tatsächlich sank im Kontext eines wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Strukturwandels der 1990er Jahre die Ausbildungsbereitschaft der Betriebe deutlich (Honegger und Rychner, 1998): 1985 bildeten etwa 24 % – circa 75 000 – aller Betriebe Lehrlinge aus; 2001 waren es noch 16 % bzw. 57 000 Betriebe, also rund ein Drittel weniger (Schweri und Müller, 2007). Konkret schlug sich dies in einem Abbau von etwa 11 000 bzw. einem Sechstel aller Lehrstellen nieder (Büchel, Geiss und Hägi, 2022). Parallel dazu stieg die Jugendarbeitslosenquote Anfang der 1990er Jahre von 0,3 % auf 6 % an und blieb seitdem in der Größenordnung zwischen 2 % und 6 % – je nach wirtschaftlicher Lage und sozialpolitischen Reformen des Zugangs zur Arbeitslosenversicherung für Jugendliche – als strukturelle Sockeljugendarbeitslosigkeit bzw. Jugenderwerbslosigkeit bestehen (Weber, 2005). Zum ersten Mal in der Geschichte der Schweizer Nachkriegszeit wurde also Anfang der 1990er Jahre eine Wirtschaftskrise nicht mehr wie bis dahin üblich durch die «Einschränkungen der Einstellung ausländischer Arbeitskräfte abgefedert» (Büchel et al., 2022, S. 12), sondern betraf nunmehr auch Teile der Schweizer Bevölkerung, allen voran Jugendliche und junge Erwachsene. Zwar stabilisierte sich der Lehrstellenmarkt insbesondere ab Mitte der 2000er Jahre. Über die ganze Zeitspanne betrachtet, konnte der Lehrstellenabbau der 1990er Jahre aber trotz des sogenannten Lehrstellenmarketings4 sowie der Förderung und Subventionierung von Lehrbetriebsverbünden nie gänzlich kompensiert werden (Sagelsdorff, 2018). Nach wie vor bilden nur 50 000 bis 60 000 Betriebe in der Schweiz Lehrlinge aus (Golder et al., 2019). In der Abbildung verdeutlicht sich diese Entwicklung in den Scherenbewegungen zwischen der Anzahl Schulabgänger:innen der Sekundarstufe I im Vergleich zu den Lehrlingen im ersten Lehrjahr. Deutlich sichtbar ist ein Lehrstellenunterangebot sowohl in der Mitte der 1990er Jahre wie auch in der Mitte der 2000er Jahre. Über die gesamte Zeitspanne zeigt sich, wie konstant die Berufslehreintritte bleiben, obwohl eine demografische Zunahme von Schüler:innen der Sekundarstufe I sowie Anstieg von Jugendlichen in der Sekundarstufe II zu verzeichnen ist. Vor diesem Hintergrund überrascht es auch nicht, wie die Anzahl Jugendlicher im Übergangssystem konstant wächst. Mehr denn je ist es den Betrieben heute möglich, potenzielle Lehrlinge aus einem erweiterten Bewerber:innenpool im Rahmen eines knapp gehaltenen Lehrstellenangebots zu selektieren. Zur Verfügung stehen den Bertrieben mehr Abgänger:innen der Sekundarstufe I sowie mehr Jugendliche im Übergangssystem. Eventuell ließe sich in Anbetracht dieses strukturellen Ungleichgewichts zwischen Betrieben und Jugendlichen auch die Persistenz von Diskriminierungsmechanismen bei der Lehrlingsauswahl im Bereich gender, race und class (Haeberlin, Kronig und Imdorf, 2005; Schwiter et al., 2014) verstehen.

Relativ unberührt von diesen wissenschaftlichen Infragestellungen verteidigen und behaupten Wirtschafts- und Berufsbildungsverbände zusammen mit dem Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation (SBFI) nach wie vor die These des sogenannten «Lehrstellenüberhang[s]» (SKBF, 2018, S. 119). Eine bedeutende Rolle in der Etablierung dieser These und der damit einhergehenden diskursiven Verschiebung von einer überwundenen Lehrstellenkrise hin zu einer gegenwärtig grassierenden Lehrlingskrise kommt dem sogenannten Lehrstellen- bzw. Nahtstellenbarometer zu. Hierbei handelt es sich um eine durch den Bund medial breit distribuierte und rezipierte Auftragsstudie. Diese wird im Auftrag des Staatssekretariats für Bildung, Forschung und Innovation (ehemals Bundesamt für Berufsbildung und Technologie) seit 1997 jährlich von privaten Markt- und Meinungsforschungsinstituten durchgeführt. Gezeichnet wird dabei das Bild von ausbildungsunwilligen und berufsbildungsunreifen Jugendlichen. Will heißen: Zumal Betriebe selbst zu Beginn des Ausbildungsjahres noch über etwa 2000 bis 7000 «offene Lehrstellen» (Golder et al., 2019, S. 41) anmelden, ist – so die Prämisse – davon auszugehen, dass potenziell alle Jugendlichen auch ohne Übergangsausbildung eine Lehrstelle hätten finden können, wenn sie zumindest bereit gewesen wären, sich auf gewisse Konzessionen in Rahmen der Berufswahl einzulassen.

Vorerst unabhängig von der wissenschaftlichen Überprüfung dieser Behauptung5 wird am Beispiel dieser These sichtbar, wie wichtig in bildungs- und sozialpolitischer, aber auch in sozial- und berufspädagogischer Hinsicht die Beantwortung der Frage nach einem effektiven Lehrstellenüber- oder Lehrstellenunterangebot ist. Verhandelt wird das, was sich mit Bourdieu (1993, S. 107ff.)als das Ringen um das Monopol der Deutungshoheit umschreiben lässt; sprich der Kampf um symbolische Macht. Je nachdem, welche Deutung vorherrschend ist, öffnen sich damit auch unterschiedliche Möglichkeiten der Adressierung von Jugendlichen und Ausbildungsbetrieben (Frieling und Ulrich, 2013). Sind es beispielsweise die Betriebe, die mit einem ausgedünnten Lehrstellenangebot und einer rückläufigen Ausbildungsbereitschaft eine sinkende Übertrittsquote in der Berufsbildung verursachen, so könnte dies eine Reihe bildungs- und wirtschaftspolitischer Maßnahmen implizieren, die, wie beispielsweise in der abgelehnten Lehrstelleninitiative von 2003 geschehen, auf eine verfassungsrechtliche Verankerung einer Berufsausbildungsgarantie zielen (Dahmen, Bonvin und Beuret, 2017). Sind es dementgegen die Jugendlichen, die diese Entwicklung bedingen, weil sie, wie Wolter und Jaik (2016, S. 4) behaupten, es als «Unentschlossene» vorziehen, statt einer lieber keine Lehrstelle anzutreten, so ändert sich der bildungspolitische und sozialpädagogische Handlungsspielraum, wie Jugendliche und auch deren Eltern im Rahmen beruflicher Orientierungen in der Schule, der Berufsberatung, der offenen Jugend- und Elternarbeit bis hin zum aktivierenden Sozialstaat (z. B. in Form des Case Managements6 oder den Invaliden-, Sozial- und Arbeitslosenversicherungen) dazu gebracht werden können, nicht-präferierte, nicht-lukrative und untergeordnete Bildungs- und Berufsverläufe einzuschlagen.

1.1Forschungsstand: verzögerte Bildungsverläufe und Transitionsforschung

Die Erforschung des Aufkommens und Fortbestehens der Übergangsausbildungen bzw. verzögerter Bildungsverläufe neben den allgemein- und berufsbildenden Normwegen ist in der Schweiz in erster Linie eine auftragsgeleitete Angelegenheit seitens kantonaler und eidgenössischer Bildungsverwaltungen; umgekehrt ist die Ausdifferenzierung der Schweizer Transitionsforschung an diesen eidgenössischen und kantonalen Forschungsimpuls geknüpft (Stolz und Gonon, 2008). Vor diesem Hintergrund ist es vielleicht weiter nicht überraschend, dass Schweizer Studien zu Übergangsausbildungen maßgeblich von Bestrebungen geprägt sind, sowohl die tatsächliche Anzahl an Jugendlichen zu messen, die eine solche Übergangsausbildung besuchen, wie vor allem auch zu erklären, weshalb sie dies tun. Wie Pool Maag festhält (2016, S. 603), zielen beide Fragen – das Ausmaß wie auch die Erklärung – neben einer «Analyse der Chancengerechtigkeit» stets auch auf die Verheißung einer möglichen «Governance im Bildungssystem». Sinnbildlich dominieren im Forschungsstand demnach quantitative Studien, die mittels einer Vielzahl von Variablen (soziale Herkunft, Schulbildung, Geschlecht, Migrationsstatus, Wohnort, Lese- und Mathematikkompetenzen, Selbstwirksamkeit, Resilienz usw.) und methodisch stetig ausgereifterer Ansätze exakt diesen zwei Fragen nachzugehen versuchen (Bayard Walpen, 2013; Brahm, Euler und Steingruber, 2014; Glauser und Becker, 2016; Jaik und Wolter, 2019; Keller, 2014; Sacchi und Meyer, 2016).

Betrachten wir diese quantitativ-erklärenden Forschungstendenzen genauer, so lässt sich grob gesagt eine Entwicklung von eher objektivistisch-strukturalistischen Prämissen hin zu eher subjektivistisch-individualistischen Prämissen nachzeichnen. Will heißen: Wurden verzögerte Übergänge anfänglich als Produkt von strukturellen Bildungsungleichheiten untersucht (z. B. Haeberlin et al., 2005), so verschob sich der Fokus, je mehr sich die Verzögerungen als sozialer Tatbestand etabliert hatten, hin zu pädagogisch-psychologischen sowie bildungsökonomischen Ansätzen. Untersucht und betont werden nunmehr ein sogenanntes Wahlverhalten sowie psychologische Grundvoraussetzungen ebendieser Jugendlichen (z. B. Jaik und Wolter, 2019; Neuenschwander et al., 2012). Paradoxerweise, wenn auch nicht überraschend, vollzog sich in dieser Entwicklung – weg von struktureller Bildungsungleichheit hin zu psychologischen Merkmalen und Bildungspräferenzen – die Stärkung einer deterministischen Leseart. Denn übrig blieb so einzig die These der unentschlossenen und entscheidungsunfähigen Jugendlichen als scheinbar essentialistischer Charakterzug, wenn es darum geht zu (v)erklären, weshalb einzelne Jugendliche im Vergleich zu anderen mehr Mühe haben, eine Lehrstelle zu finden.

Neben diesem dominanten quantitativen Erklärungsstrang finden sich, wenn auch am Rande, qualitative Studien, die Gestaltungs- und Bewältigungserfahrungen erschwerter Bildungsübergänge in den Blick nehmen (Heinimann, 2006; Kamm & Gebhardt, 2019; Kamm et al., 2019; Mey, 2015; Schaffner & Rein, 2012; Scherrer & Künzli, 2013). Diese Untersuchungen lassen sich im europäischen Kontext einer subjektorientierten Übergangsforschung verorten (Stauber, Pohl und Walther, 2007). Neben der Frage, wie Jugendliche Übergänge gestalten, wird unter einer dialektischen Perspektive ebenso berücksichtigt, in welchen praxeologischen und diskursiven Konstellationen dies geschieht (Cuconato und Walther, 2015). Walter und Pohl (2016) führen hierzu das Konzept des vergleichenden Übergangsregimes ein. Dieses aufgreifend ordnen Stolz und Gonon (2008) die Schweiz in Anlehnung an Deutschland dem erwerbsorientierten Regimetyp zu, welcher sich einerseits durch eine «Koppelung eines selektiven Schulsystems an ein standardisiertes Berufsbildungssystem» (Pohl und Walther, 2016, S. 126) und andererseits durch eine Defizitzuschreibung bei gescheiterten Übergängen auszeichnet.

Als ein Kernthema der subjektorientierten Übergangsforschung scheint sich die Verhandlung sogenannter «realistischer Berufsperspektiven» (Walther, 2014, S. 122) zwischen Jugendlichen und den Akteur:innen des Übergangsregimes – Berufsberatende, Lehrperson und Sozialarbeiter/innen – zu zeigen. Die realistische bzw. unrealistische Berufsperspektive wird verstanden als eine Dichotomie, vor deren Hintergrund «Jugendliche aus den unteren Bildungsgängen» und nur diese dazu bewogen werden, «ihre beruflichen und damit auch ihre Teilhabeansprüche abzusenken» (Walther, 2014, S. 122). Mit Bezug auf das theoretische Konzept des Cooling-out (Goffman, 1952) wird dabei sowohl untersucht, wie Jugendliche diese Abkühlungsprozesse einerseits internalisieren, und andererseits, wie sie sich diesen zu widersetzen versuchen (Mey, 2015; Walther, 2014), beispielsweise, indem sie die Übergangsausbildung in letzter Instanz abbrechen (Heinimann, 2006). Vermehrt wird dabei auch eine Genderperspektive verfolgt bzw. danach gefragt, wie in diesen Widersetzungspraktiken sogenannte Männlichkeits- und Weiblichkeitserwartungen mitwirken (Mey, 2015; Thielen, 2014a, 2014b).

Diese qualitativen Abkühlungsthesen finden nunmehr auch Nachhall in quantitativen Bildungsverlaufsstudien, die belegen, dass sich die Spannbreite der erreichbaren Ausbildungs- und Berufspositionen nach dem Besuch einer Übergangsausbildung verringert (Meyer & Sacchi, 2020; Sacchi & Meyer, 2016). Für den Schweizer Kontext äußert sich diese Reduktion der Ausbildungsspannbreite exemplarisch anhand der eidgenössischen Berufsattest-Ausbildungen. Es handelt sich dabei um eine verkürzte, zweijährige Anlehre, die vor knapp zehn Jahren mit dem Ziel eingeführt wurde, sogenannten «schulschwachen» Jugendlichen den Direkteinstieg in die Berufsbildung zu ermöglichen. Entgegen der bildungspolitischen Intention kommen diese Berufsattest-Ausbildungen mehrheitlich aber erst nach der Absolvierung einer Übergangsausbildung zustande (Hofmann und Häfeli, 2015). Daher ist es fraglich, inwiefern die sogenannte Kompensations- bzw. Orientierungsfunktion der Übergangsausbildung nicht doch eher auf eine Aspirationsabkühlung anstatt – wie gemeinhin angenommen – auf einen Ausgleich schulischer Defizite zielt (Solga und Kohlrausch, 2013).

1.2Theorie: Übergangsregime, Handlungsfähigkeit und Lebenswelten

Vor dem oben geschilderten Hintergrund wird vorgeschlagen, Bildungs- und Berufsverläufe von sogenannten gefährdeten Jugendlichen einerseits im Rahmen der theoretischen Kontextualisierung und Konzeptualisierung sogenannter Übergangsregime (Walther, 2006) zu untersuchen. Neben dem «Zusammenspiel sozioökonomischer und institutioneller Strukturen» (Pohl und Walther, 2016, S. 125) im Übergangsgeschehen öffnet sich in dieser Konzeption auch die Möglichkeit, diskursive Praktiken, sogenannte «Deutungsmuster» (ebd.), in die Analyse jugendlicher Bildungs- und Berufsverläufe miteinzubeziehen. Ersichtlich wird beispielsweise, wie es in erwerbszentrierten Übergangsregimen wie demjenigen der Schweiz, Österreich und Deutschland gleichzeitig dazu kommt, dass «Lebenslagen des Übergangs zu[nehmen], die nicht mehr durch den Normallebenslauf gedeckt sind, von Institutionen und Politik aber reaktiv als vom Normalen abweichend, riskant, defizitär und/oder hilfsbedürftig klassifiziert und adressiert werden» (Pohl und Walther, 2016, S. 123). Trotz einer «Erosion von Normalarbeitsverhältnissen» (Wiezorek und Stark, 2011, S. 8) und trotz eines messbar höheren Durchschnittsalters von Berufslehrbeginnenden im Vergleich zu Erstjahrgymnasiast:innen (17,2 Jahre bei Lehrlingen zu 15,8 bei Gymnasiast:innen; eigene Berechnungen; Quelle: Bundesamt für Statistik, 2020) wird nämlich bei als gefährdet klassifizierten Jugendlichen nach wie vor und eventuell mehr denn je an der traditionellen Normvorstellung eines direkten Einstiegs in die Berufsausbildung festgehalten. Ganz so, als ob eine ein- bis zweijährige vorberufliche Ausbildung bei diesen gefährdeten Jugendlichen, und nur bei diesen,automatisch Tür und Angel zu einer Inanspruchnahme sozialstaatlicher Hilfeleistung und Abhängigkeit führen würde.

Sichtbar könnte eventuell auch werden, wie die Gefährdungszuschreibung per se einer Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung bzw. der sozialen Ungleichheit dient (Stošić, 2017; Wiezorek, 2009). Ferner könnte deutlich werden, weshalb diese Gefährdungszuschreibung im Sinne einer «Reproduktionsstrategie» (Bourdieu, 2007) seitens der Akteure des Berufsbildungssystems (z. B. des Staatssekretariats für Bildung, Forschung und Innovation, der Schweizerischen Berufsbildungsämter-Konferenz, der Schweizerischen Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK), des Schweizerischen Gewerbeverbandes usw.) mit allen Mitteln und aller Macht zu etablieren, zu erhalten und zu erweitern ist. Auf dem Spiel steht mehr als die von der Schweizerischen Koordinationsstelle für Bildungsforschung suggerierte Kostenfrage vorberuflicher Übergangsausbildungen (vgl. SKBF, 2018, S. 307ff.); auf dem Spiel steht die arbeitsmarktorientierte Berufsbildung, d. h. das Schweizer Berufsbildungssystem als Gold-Standard (vgl. Hoffman und Schwartz, 2015).

In dieser Hinsicht stellt das theoretische Konzept des Übergangsregimes das theoretische Fundament dar. Damit nun aber Werdegänge und Lebenswelten gemeinsam interpretiert werden können, braucht es neben dieser eher struktur- und diskurszentrierten Rahmung auch eine akteurszentrierte Konzeptualisierung jugendlicher Bildungs- und Berufslaufbahnen. Diesbezüglich beziehe sich die Untersuchung neben dem Konzept des Übergangsregimes auf die bourdieusche Perspektive des Werdegangs als einer «sozialen Laufbahn» (Staab und Vogel, 2014, S. 163). Gemeint ist damit, dass Werdegänge von Heranwachsenden nicht nur durch gegenwärtige Konstellation im Übergangsgeschehen bedingt, sondern zugleich in den Deutungs-, Wahrnehmungs- und Bewertungsschemata, sprich in der Position und Disposition der Jugendlichen selbst, präfiguriert sind (vgl. Bourdieu, 2007, S. 221ff.; Jurt, 2008). Jugendliche treten unterschiedlich in das Übergangsgeschehen bzw. in das Übergangsregime ein; ihre spezifische und einmalige Geschichte ist dabei stets Teil ihres Werdegangs. Ausgehend von dieser soziologischen und sozialisationstheoretischen Perspektive scheint es demnach möglich, den Blick hin zu den Akteur:innen und ihrer Agency (Emirbayer und Mische, 1998; Grundmann, 2010; Raithelhuber, 2011), sprich, auf ihre Handlungsfähigkeiten zu lenken.7

In Ergänzung zum Konzept der sozialen Laufbahn nach Bourdieu bedient sich die Untersuchung zusätzlich der sozialisations- und jugendtheoretischen Überlegungen der Cultural Studies (Clarke, Hall, Jefferson und Roberts, 1981; Lindner, 1981), insbesondere mit Blick auf die Theoretisierung der jugendlichen und jugendkulturellen Lebenswelten bei Willis (1981). Die konzeptionelle Nähe zwischen Bourdieu und Willis ist dabei insofern bemerkenswert, als dieser (Willis, 1977, S. 128) Bourdieu explizit zitiert, woraufhin ihn Letzterer dazu einlädt, in den Actes de la Recherche en sciences social zu publizieren (Laurens, 2000; Willis, 1978). Dennoch ist auch davon auszugehen, dass hier in zwei unterschiedlichen Kontexten – einem englischen und einem französischen – mit zwei unterschiedlichen Perspektiven – einem stärker ethnografischen gegenüber einem stärker bildungssoziologischen – an zwar ähnlichen, gleichwohl aber unterschiedlichen Fragestellungen und Erkenntnissen bezüglich der Reproduktion sozialer Ungleichheit in Momenten der Bildungsexpansion gearbeitet wurde. Der Verweis auf die Cultural Studies und Willis eignet sich hierbei ideal, um neben den sozialräumlich verorteten Werdegängen ebenso die lebensweltlichen, sprich die peer- und jugendkulturellen Rahmungen der sozialen Laufbahn miteinzubeziehen. Analog dem bourdieuschen Konzept des sozialen Raums bzw. seiner Weiterentwicklung als Feldtheorie ist bei Willis (1981, S. 236) stets der Gedanke einer «soziosymbolischen Homologie» zwischen jugendlichen Gesellschaftspositionen und jugendkulturellen Artikulierungen durchdringend. Und nur ein solches dialektisches Verständnis erlaubt es womöglich, Werdegänge und Lebenswelten entgegen einer deterministischen Perspektive als «vermittelt durch den Raum der Möglichkeiten, die offen stehen» (Jurt, 1995, S. 94), zu betrachten und zu deuten. Darüber hinaus bietet sich aber ebenso die Möglichkeit an, am Beispiel der jugendlichen Perspektive Aussagen über «die Dynamik des sozialen Raums [zu] treffen» (Staab und Vogel, 2014, S. 163); will heißen: ausgehend von individuellen Jugendgeschichten hin zu den gesellschaftlichen Verhältnissen vorzudringen und umgekehrt.

1.3Methodologie: Fallstudien als individuensoziologischer Ansatz

Auf der Basis dieser Ausgangslage postuliert und untersucht das vorliegende Buch folgende Forschungsfrage: Wie erfahren, gestalten und behaupten gefährdete Jugendliche Werdegänge und Lebenswelten im Rahmen verzögerter Berufs- und Bildungslaufbahnen?8In methodischer Hinsicht ist diese Fragestellung in Anlehnung an eine subjektorientierte Übergangsforschung bearbeitet (Stauber, Pohl und Walther, 2007). Will heißen: Handlungen, Praktiken, Äußerungen und Deutungen von Subjekten stehen im Zentrum der Analyse. Neben der Perspektive der bereits genannten sechsunddreißig Jugendlichen fließen in die Analyse dabei auch Perspektiven von gesamthaft siebzehn professionellen Erwachsenen ein, die als Lehrpersonen, (Kon-)Rektoren, Case Manager und Berufsberaterin im Übergangssystem tätig sind. Diese Perspektiven der professionellen Erwachsenen ergänzen, kontrastieren und rahmen die primär im Zentrum stehenden Analysen von Jugendlichen im Übergangsgeschehen.

In erkenntnistheoretischer Hinsicht wird ein individuensoziologischer Ansatz verfolgt (Bourdieu, 1997; Martuccelli und Singly, 2012). Ziel ist es, die soziale Wirklichkeit aus der Sicht der Betroffenen selbst zu rekonstruieren und rekonstituieren. Mögen «die gesellschaftlichen Akteure», wie Bourdieu (1997, S. 796) betont, «die Weisheit hinsichtlich dessen, was sie sind und was sie tun, nicht mit Löffeln gefressen» haben, so sind sie dennoch keine «Gelackmeierten», wie Willis (1981, S. 17) ergänzt; mehr noch: «sagen sie vielleicht nicht, was sie wissen, oder wissen [sie] vielleicht nicht, was sie sagen, meinen [sie doch] was sie tun – zumindest in der Logik ihrer Praxis» (Willis, 2013, S. 199). Demnach ist es redlich, legitim und relevant, ihre Sicht der Dinge ins Zentrum der Analyse zu stellen. Dies umso mehr, als im Rahmen der Gefährdungszuschreibung zwar sehr viel über, kaum aber mit diesen Jugendlichen gesprochen, geschweige denn ihnen zugehört wird, wenn es aus Perspektive der Erwachsenengesellschaftdarum geht, ihre Bildungs- und Berufsverläufe zu erklären (Koch und Bojanowski, 2013).

Abbildung 3: Sample

Eigene Darstellung

Anmerkung: Mit dem Forschungsvorhaben war ursprünglich geplant, die Rekrutierung von potenziellen Interviewkandidaten im Rahmen einer quantitativen Studie zu Bildungsübergängen in Basel-Stadt durchzuführen. Zumal sich aber nur zwei der knapp 500 mittels Fragebogen befragten Schüler:innen des Zentrums für Brückenangebote Basel-Stadt (ZBA) schriftlich bereit erklärten, an einem nachfolgenden Interview teilzunehmen, waren wir aufgefordert, nach alternativen Wegen zu suchen. In gewisser Hinsicht darf es dabei auch nicht überraschen, dass die Rücklaufquote bzw. die Zusagen zu einem Nachfolgeinterview im Rahmen dieser quantitativen Vollerhebung der Schüler:innen des ZBA gering ausfiel. Eine Erklärung könnte sein, dass die Frage nach der Teilnahme auf der letzten von zwölf Seiten des Fragebogens platziert war, den die Schüler:innen am letzten Vormittag vor dem Start der Sommerferien auszufüllen hatten. Aus diesem Missgeschick entstand aber auch die Möglichkeit, das Sample an Jugendlichen zu erweitern. So konnten von nun an über den baselstädtischen Rahmen hinaus auch Schüler:innen sowie Abgänger:innen von Übergangsausbildungen eingeschlossen werden, die aus eher schulischen Übergangsausbildungen, wie zum Beispiel dem 10. Schuljahr und Brückenangeboten, oder aus eher sozialpädagogischen Übergangsmaßnahmen und Arbeitsbeschäftigungsprogrammen wie dem Motivationssemester oder dem Case Managementstammen. So gesehen blieb die Erfahrung einer verzögerten Bildungs- und Berufslaufbahn seitens der Jugendlichen nach wie vor konstituierend für die Zusammensetzung des Samples. Dies war aber nicht mehr einzig an einen bildungsinstitutionellen Kontext zu knüpfen, sondern wurde um die Perspektive der im Übergangssystem bzw. im Übergangsgeschehen mitwirkenden und mitarbeitenden Erwachsenen ergänzt. Befragt wurden letztlich Schüler:innen von zwei Klassen in Brückenangeboten in den Kantonen Basel-Stadt und Aargau, Schüler:innen einer sogenannten Integrations- und Berufswahlklasse (einer Übergangsausbildung für junge Geflüchtete), Teilnehmer:innen von Motivationssemestern, sprich von sozialpädagogischen Übergangsmaßnahmen, Abgänger:innen von Übergangsausbildungen und Übergangsmaßnahmen, Lehrpersonen, Rektoren und Konrektoren von kantonalen und privaten Übergangsausbildungen, eine Berufsberaterin, ein Case Manager, der Leiter eines kantonalen Erziehungsdepartementes, der Leiter eines kantonalen Case Managements, die ehemalige Leiterin des Bundesamtes für Berufsbildung und Technologie (BBT), der Gewerbeverband Basel-Stadt, drei Bildungs- und Sozialwissenschaftler:innen sowie die Regisseurin Anna Thommen, die den mehrfach prämierten Dokumentarfilm «Neuland» über eine Berufs- und Integrationsklasse in Basel-Stadt produzierte. Ein Zufall war, dass mit Baba Uslender alias Granit Dervishaj auch ein Jugendlicher befragt wurde, der im Rahmen seines Werdegangs zentral mit der Frage des verzögerten Bildungs- und Berufswerdegangs Erfahrungen gemacht hatte. Davon ausgehend gelang es, das Vorhaben weg von einer rein institutions- hin zu einer jugendzentrierten Perspektive zu führen.

Erhoben wurden diese akteurszentrierten Perspektiven auf der Basis unterschiedlicher methodischer Instrumente. Neben Gesprächsmethoden – konkret: themenzentriertes Einzel- bzw. Gruppeninterview (Schorn, 2000), E-Interview (Bampton und Cowton, 2002) – kamen auch ethnografische Methoden – konkret: Feldbesuche, Beobachtungen, informelle Gespräche (Brockmann, 2011) – sowie dokumentarische Analysen sogenannter «naturally occuring data» (Silverman, 2009, S. 55) – konkret: Aktivitäten von Jugendlichen in sozialen Medien sowie ihre Bewerbungsdossiers – zum Einsatz. Diese Datensammlung bildet die empirische Grundlage. Ihre Einzelteile, sprich die Artikelpublikationen, wurden als Fallstudien bzw. nach dem Fallstudienansatz konzipiert (Yin, 2012). Auf der Basis eines «fallanalytischen Vorgehens[s]» (Wiezorek, 2011, S. 90) zielten diese Artikelpublikationen mit ihren jeweiligen Subfragestellungen, theoretischen Schwerpunkten und inhaltlichen Themensetzungen auf eine «systematische Erforschung des (neuen) Gegenstandbereichs» einerseits sowie auf die «fallbezogene[…] Reflexion und Diskussion (bestehender) theoretischer Wissensbestände» bzw. eine «Ausdifferenzierung von Wissensbeständen» andererseits.

Die in den jeweiligen Artikelpublikationen analysierten Fälle können als das gelesen werden, was Martuccelli und Singly (2012, S. 104ff.) soziologische Porträts nennen: Darstellung von Einzelperspektiven, die im Singulären beginnen, um davon ausgehend das Soziale zu erforschen. Es handelt sich also um Einzelfallstudien, die möglichst bestrebt sind, sich auf die «Einzigartigkeit einer Lebensgeschichte einzulassen», um diese «gleichzeitig in ihrer Einmaligkeit und in ihrer Allgemeinheit zu verstehen» (Bourdieu, 1997, S. 788). Voraussetzung dafür sind nach Martuccelli und Singly wie auch nach Bourdieu Kontextualisierungen und Theoretisierungen des Einzelfalls; d. h., es geht darum, im Einzelfall mehr als einen Fall zu rekonstruieren.