Widerstand der Vernunft - Susan Neiman - E-Book

Widerstand der Vernunft E-Book

Susan Neiman

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Beschreibung

Susan Neiman zeigt in ihrem intellektuellen Aufruf, dass es neue politische Ideen braucht, um Populismus und konservativen Nationalismus aufzuhalten. Wenn heute den Fakten, der Vernunft und dem politischen Mitdenken nicht der Raum gegeben wird, den es bracht, werden die Lügen der "postfaktischen" Populisten Konsequenzen haben. Susan Neiman ruft dazu auf, für Wahrheit und Moral öffentlich einzutreten, Alternativen zu denken und zu leben und den bedenklichen politischen Entwicklungen in den USA und Europa so die Stirn zu bieten.

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Seitenzahl: 63

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Susan Neiman

Widerstand der Vernunft

Ein Manifest in postfaktischen Zeiten

Sämtliche Angaben in diesem Werk erfolgen trotz sorgfältiger Bearbeitung ohne Gewähr. Eine Haftung der Autoren bzw. Herausgeber und des Verlages ist ausgeschlossen.

1. Auflage© 2017 Ecowin Verlag bei Benevento Publishing,eine Marke der Red Bull Media House GmbH, Wals bei Salzburg

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags, der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen sowie der Übersetzung, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Medieninhaber, Verleger und Herausgeber:Red Bull Media House GmbHOberst-Lepperdinger-Straße 11–155071 Wals bei Salzburg, Österreich

Satz: MEDIA DESIGN: RIZNER.AT

ISBN 978-3-7110-0154-2

eISBN 978-3-7110-5221-6

Inhalt

Glatte Lügen

Armut und Rassismus: Wahrheiten und Lügen

Gerechte Geschichtsbilder

Postfaktisches Denken auf hohem Niveau

Glück im Unglück?

Danksagung

Zur Autorin

Glatte Lügen

Am 4. Dezember 2016 packte ein 28-jähriger Mann zwei Kampfgewehre in sein Auto und fuhr 500 Kilometer von seiner Heimatstadt in North Carolina zu einem Restaurant in Washington, D. C. Das Comet Ping Pong, in der US-Hauptstadt für gute Pizza und Tischtennis bekannt, war vor den Präsidentschaftswahlen zum Gegenstand einer Verschwörungstheorie geworden. Demnach betrieben Hillary Clinton und ihr Wahlkampfmanager John Podesta in diesem Gebäude einen Kinderpornoring. Es hieß, in einem Keller würden Kinder gefangen gehalten und missbraucht. Als Beweise dienten von Wikileaks veröffentlichte E-Mails, in denen mehrmals von »cheese pizza« die Rede war. Das, so die Verschwörungstheoretiker, sei nichts anderes als ein Codewort für child pornography.

Die Theorie war pikant genug, um die New York Times am 21. November 2016 zu einem Bericht darüber zu veranlassen – mit bemerkenswerten Folgen. Der Artikel wurde von den Anhängern der Theorie als Beweis dafür betrachtet, dass die sogenannte »Lügenpresse« unter Druck stand und damit versuchte, den Pornoring zu beschützen. Statt weniger verschwörungstheoretische Berichte erschienen nun noch mehr. Eine Website nahm den Artikel aus der New York Times Satz für Satz kritisch auseinander. Indem er sich dabei den Anschein der Vernunft gab, gelang es dem anonymen Autor, die Vertrauenswürdigkeit der wichtigsten Zeitung Amerikas in Zweifel zu stellen. Gab es etwa keine Kindersklaverei auf dieser Erde? Hatte die katholische Kirche nicht jahrelang versucht, pädophile Priester vor der Öffentlichkeit und der Justiz zu schützen? Und hatte die BBC sich nicht geweigert, ihren Publikumsliebling Jimmy Saville selbst dann nicht zu überprüfen, als sich immer mehr Beweise dafür häuften, dass er im Lauf seiner Karriere Hunderte von Kindern missbraucht hatte?

Schon eine knappe Stunde verbrachter Zeit auf solchen Websites genügt, um einen nachdenklichen Leser zur Verzweiflung zu bringen. Viele der anonym schreibenden Autoren geben sich hier einen seriösen Anstrich. Forscher und Experten werden zitiert, Bilder analysiert, herzzerreißende Interviews mit schönen Mädchen, die angeblich von ihren Großmüttern als Sexsklavinnen verkauft wurden, vorgeführt. Sogar die Fragen nach der Plausibilität eines Befunds werden regelmäßig von den Autoren selbst gestellt: »Ich weiß, es klingt verrückt, aber je mehr ich forschte, desto deutlicher wurde es …« Die Art und Weise der Beweisführung erscheint auf den ersten Blick dermaßen überzeugend, dass es kaum überrascht, wenn Millionen von Menschen offensichtlich sogar Theorien glauben, wonach Michelle Obama ein Mann, Barack Obama schwul und ihre Kinder adoptiert seien.

Angesichts des Wirrwarrs, das im Internet zu finden ist, hat Edgar Maddison Welchs Mission fast etwas Rührendes. »Ich wollte selbst herausfinden, was an der Geschichte wahr war.« Schade nur, dass er dafür mit seinem Maschinengewehr im Anschlag in das Restaurant eindrang. Allerdings verhielt er sich relativ besonnen: Statt wild um sich zu schießen, feuerte er nur auf ein Türschloss, das zum Keller führte. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass hier unten keine Kinder gefangen gehalten wurden, ließ er sich widerstandslos festnehmen. Tage später beteuerte er vom Gefängnis aus: »Ich wollte nur Gutes tun, aber irgendwie ist es schiefgelaufen.« Als der Vorfall durch die Nachrichten ging, verbreiteten einige Unbelehrbare die Meldung, dass Welch ein Schauspieler sei, bezahlt von den liberalen Medien, um Theorien wie jene vom Kinder-pornoring zu diskreditieren.

Diese Tat veranlasste Papst Franziskus zu einer Kritik, die noch schärfer ausfiel als seine bisherigen scharfen Botschaften. In einem Interview mit dem belgischen Magazin Tertio sagte er: »Die Medien sollen klarer und transparenter sein und nicht, entschuldigen Sie den Ausdruck, in eine Koprophilie verfallen, die stets bereit ist, Skandale und widerliche Dinge zu verbreiten. Da die Menschen dazu tendieren, an Koprophagie zu leiden, kann das sehr gefährlich sein.« Wer hätte gedacht, dass der Papst den Terminus technicus für »Scheiße fressen« kennt, den wir Normalsterblichen erst einmal nachschlagen müssen? Doch Welchs Tat war unter denen, wo Falschmeldungen oder fake news sehr reale Folgen hatten, die harmloseste.

Bei einem anderen Fall gab es neun Tote. Nachdem der 21-jährige Dylann Storm Roof rassistische Websites verschlungen hatte, auf denen verkündet worden war, dass Hunderte von weißen Frauen täglich von Afroamerikanern vergewaltigt würden, erschoss er 2015 neun Kirchgänger in Charleston, South Carolina, um einen Rassenkrieg anzuzetteln. Nach seinem Prozess, in dem er sich ausdrücklich weigerte, seine Tat zu bereuen, wurde Roof zum Tod verurteilt.

Politisch noch folgenreicher waren die fake news, die Donald Trump produzierte, als er sich zum ersten Mal in die Politik wagte: Als Anführer der sogenannten »Birther-Bewegung« behauptete er, Barack Obama sei nicht in den USA geboren und folglich nicht berechtigt, US-Präsident zu sein. Auch wenn die Beliebtheitswerte Obamas am Ende seiner Amtszeit fast doppelt so hoch wie jene seines Nachfolgers waren, trug die Birther-Bewegung dazu bei, dass ein Teil der Nation Obama immer noch als unamerikanisch und illegitim abschrieb – und alles dafür tat, dass er möglichst wenig politisch umsetzen konnte.

Noch mehr Leid produzierten die Nachrichten, dass Saddam Hussein Massenvernichtungswaffen besitze. Diese Meldungen wurden ohne ernsthafte Prüfung von vielen renommierten Medien verbreitet. Später hat sich die New York Times öffentlich dafür entschuldigt; die Verantwortlichen der Bush-Regierung haben nicht einmal das für nötig gehalten. Über die Zahl der irakischen Toten gibt es noch keine verlässliche Auskunft, und die Folgen des Irakkrieges wirken bis heute nach. Wäre der sogenannte »Islamische Staat« (IS) ohne diesen Krieg entstanden?

So grausam der anhaltende Terrorismus auch ist, es gibt noch tiefgreifendere Folgen des Irakkrieges. Lügen wird immer mehr zur Normalität, das Vertrauen immer weiter zerstört, und dieser Vertrauensverlust wird wiederum für weitere Lügen ausgenutzt. Als die CIA berichtete, dass russische Hacker 2016 in die US-Wahlen eingriffen, um Trump zum Sieg zu verhelfen, konnte dieser den Bericht höhnisch abweisen: »Das sind dieselben Leute, die sagten, Saddam Hussein hätte Massenvernichtungswaffen.« Berechtigtes Misstrauen zu missbrauchen, um allgemeines Misstrauen so weit zu verbreiten, dass keinen seriösen Untersuchungen mehr geglaubt wird – dies ist eine Taktik, die jede Form der Gemeinschaft unterhöhlt. Denn jede Gemeinschaft setzt eine gemeinsame Wirklichkeit voraus, deren Existenz von Trumps Sprechern aber geleugnet wird. Inzwischen meinen mehrere Kritiker, die Strategie sei bewusst gewählt worden: Die permanente Verbreitung von offensichtlichen Lügen diene dazu, Gegner zu verwirren. Psychologen nennen diese Strategie Gaslighting. Sie zielt darauf ab, ihr Objekt in den Wahnsinn zu treiben.

Natürlich haben frühere Politiker immer wieder Fakten unterschiedlich interpretiert, um ihre eigenen Positionen zu unterstützen. Es geht aber nicht mehr um Interpretationen: Trumps Sprecherin Kellyanne Conway will uns Lügen als »alternative Fakten« verkaufen. Kurz nach Trumps Wahl wurde George Orwells Roman 1984 zur Nummer eins auf der Amazon-Bestsellerliste. Allerdings loben die eigenen Anhänger Trumps Authentizität – »He tells it like it is« –, während sie Hillary Clinton als unauthentisch erleben. Aber Authentizität, wie schon Adorno in Jargon der Eigentlichkeit