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Wie überlebt man als Punk in der Provinz? Wie überlebt man eine Klosterschule? Wie überlebt man als Vegetarier in Österreich? Wie überlebt man ein Konzert, ohne sein Instrument zu beherrschen? Wie überlebt man dreckige Tattoostudios, Sprünge von Brücken und Zugverspätungen? Und wenn man all das überlebt hat, wieso ist man dann eigentlich kein Rockstar geworden? HC Roth geht in seiner Autobiografie diesen existenzielle Fragen nach. Dafür hat er in seinen Erinnerungen gekramt, aber auch verlässlichere Quellen wie Kolumnen und Lesebühnentexte zitiert und seine Mutter befragt. Herausgekommen ist eine Reihe urkomischer, selbstironischer und gesellschaftskritischer Anekdoten. Für eine Übersetzung aus dem Österreichischen wurde an den entsprechenden Stellen Sorge getragen.
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H.C. Roth ist Anarcho-Liedermacher und Punkliterat, Comoderator und Mitbegründer der 1. Grazer Lesebühne. Er schreibt seit 1999 für das Ox-Fanzine. Er schreit gern auf Bühnen herum, mal liegend, mal stehend, mal mit Gitarre in der Hand, mal ohne, in Deutschland oder Österreich. Er verstört dann und wann das Publikum lokaler Poetry-Slams, weil es durchaus auch lauter werden kann, wenn er seine Texte liest. Mittlerweile macht er das auch vor Kindern. Das mit dem Vorlesen, nicht das mit dem Lautwerden.
Vor seiner Zeit bei Subkultur sind „Der Tag als Berta Bluhmfeld starb“ (2008) und „Wie ich verflucht wurde und die Zeit still stand“ (2010) sowie diverse Beiträge in Anthologien und Zeitschriften erschienen. Im März 2013 erschien dann der Roman „Der Flug des Pinguins“ in der Edition Subkultur. Es folgten drei von Groß und Klein gefeierte, extrem coole Kinderbücher und der Episodenroman „Genpoolparty“.
H.C. Roth lebt mit Frau und seinen drei Kindern in Graz/Österreich
www.edition.subkultur.de
HC ROTH: „Wie aus mir kein Rockstar wurde“
1. Auflage, September 2019, Edition Subkultur Berlin
© 2019 Periplaneta - Verlag und Mediengruppe / Edition Subkultur
Inh. Marion Alexa Müller, Bornholmer Str. 81a, 10439 Berlin
www.edition.subkultur.de
Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, Übersetzung, Vortrag und Übertragung, Vertonung, Verfilmung, Vervielfältigung, Digitalisierung, kommerzielle Verwertung des Inhaltes, gleich welcher Art, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags.
Lektorat und Projektleitung: Laura Alt
Cover: AKU! (www.akupower.de)
Satz & Layout: Thomas Manegold
print ISBN: 978-3-943412-49-9
epub ISBN: 978-3-943412-50-5
„Gestern scheint länger her zu sein als das Jahr 1951“, schreibt Johnny Cash in einer seiner Autobiografien. 1951 mag in meinem Fall nicht zutreffen, eher 2003, 1999 oder 1994. Während die letzten Jahre zeitlich verschwimmen, ich oft nicht genau weiß, was nun eigentlich wann war und wie lange dies tatsächlich her ist, kann ich die Erlebnisse und Geschichten aus dieser längst vergangenen Zeit exakt zuordnen. Ich weiß genau, wann was passiert ist und warum. Sie sind so präsent, als wären sie erst gestern geschehen. Und um genau diese Geschichten und Anekdoten, die ich ohnehin ständig erzähle, soll es im Folgenden gehen. Was in den letzten 15 Jahren passiert ist, gehört zum größten Teil nicht hierher.
An manches musste ich mich während des Schreibprozesses selbst erst wieder erinnern. Manches ist lustig, vieles peinlich, anderes traurig, eklig oder verstörend. Manches ist vielleicht auch für andere uninteressant. Aber ein bisschen Seelenstriptease – Nachfühlen, was wann warum in meinem Leben passiert ist und warum ich geworden bin, wie ich nun einmal bin, und warum verdammt noch mal eigentlich kein Rockstar – musste halt auch einmal sein. Manches sollte vielleicht nicht in die Öffentlichkeit, soll aber andererseits auch nicht in den Tiefen meiner Erinnerungen verschwinden. Dieses und jenes sollten meine Kinder oder meine Mutter (hallo Mama!) nicht unbedingt lesen. Manches wurde bereits im Ox-Fanzine, für das ich nun seit 20 Jahren schreibe, veröffentlicht, anderes in Poetry-Slam- und/oder Lesebühnentexten verarbeitet. Vieles ist neu geschrieben, nichts ist ausgedacht. Außer die Namen und die Namen der ganzen Bands, in denen vielleicht auch ihr irgendwann einmal gespielt habt, denn niemand von den Menschen, die in meinen Geschichten vorkommen, soll ungefragt namentlich erwähnt werden.
Warum es dieses Buch gibt? Weil ich mich in meinem 40sten Lebensjahr ein wenig mit den ersten 25 Jahren meines Lebens auseinandersetzen wollte. Ob das jemand lesen will? Das wirst du mir später, wenn du das Buch fertig gelesen hast, sagen müssen.
Nun wünsche ich viel Spaß mit meinem Leben, besser gesagt mit meiner Kindheit, Jugend, Adoleszenz und der einen oder anderen Geschichte von unterwegs. Der Rest geht euch dann doch nichts an.
Du läufst. Du läufst und läufst und läufst. Immer schneller und schneller und schneller. ‚Sitzt du noch oder läufst du schon?‘, denkst du dir nicht, da du erst fünf Jahre alt bist und dir diese Art zu denken, zu sprechen, zu schreiben erst sehr viel später aneignen wirst. Nein, du läufst einfach, läufst diesen unendlich langen, niemals enden wollenden Gang entlang, als den du den ausgebauten Bauernhofdachboden, in dem du mit deinen Eltern und deinem Bruder deine frühe Kindheit verbringst, wahrnimmst. Und hinter dir dieser Bruder. Ein Jahr älter, dementsprechend schneller und auch stärker ist er und hat dich bald eingeholt. Dich, der du ihm den Fernseher abgedreht hast, dieses große, klobige, hässliche, braune Ding, das da in der Küche steht und sogar schon Farbe kann. Warum du das getan hast, weißt du heute, so viele Jahre später, nicht mehr. Was gerade lief und warum dein Bruder das sehen wollte, weißt du auch nicht. Du weißt nur, dass er aufspringt und dir nachläuft und dich, der du da läufst und läufst und läufst, irgendwann auch erwischt. Du weißt nicht mehr, ob er dich stößt, ob er dich packt und schleudert oder ob du bloß versuchst, ihm auszuweichen, und dabei, ungeschickt wie du immer schon gewesen bist, stolperst. Du weißt nur, dass du fällst und dein Hinterkopf Bekanntschaft mit dem Heizkörper macht. Und dann weißt du nichts mehr, weil alles schwarz ist, ein großes schwarzes Loch ist, gefolgt von einem großen weißen Auto mit blauen Lichtern und einem grünen Kreuz statt einem roten. Du meinst, dich an Wildschweine auf einer Wiese zu erinnern, an der dieser lokal agierende grünbekreuzte Rettungsdienst vorbeirast, und daran, dass das Krankenhausgebäude, in das du gebracht wirst, außen gelb und innen weiß ist. Du erinnerst dich an ein zweijähriges Kind in einem Gitterbett, das dich nervt, obwohl es kaum sprechen kann, und an diesen etwa zehnjährigen Jungen mit der auffällig hohen Stimme. Du erinnerst dich daran, dass es Rahmschnitzel gibt und du ‚Rabenschnitzel‘ denkst, was du ekelhaft findest, aber ohnehin egal ist, da du nichts Festes essen darfst, weil du permanent erbrechen musst.
Du erinnerst dich an das Baby in den Armen deiner Mutter, das erst wenige Wochen alt und wohl deine Schwester ist.
Du erinnerst dich daran, dass du dich schon sehr gefreut hast auf das Abschlussfest im Kindergarten, das du schließlich nicht besuchen kannst, weil du auch nach dem Krankenhausaufenthalt noch lange ans Bett gefesselt bist, dich nicht bewegen darfst und über einen abgeschnittenen Benzinschlauch aus Gummi Suppe schlürfen musst. Den Geschmack nach Gummi hast du heute noch oft im Mund, wenn es wieder einmal Suppe gibt. Und wenn du daran denken musst, denkst du, du musst kotzen.
Du gehst nicht zum Fest, spielst nicht mit den Freunden und isst nicht die leckeren Brötchen, die die Kindergärtnerin sicher für euch bestrichen hat, weil du eben im Krankenbett herumliegst. Und so geht deine Kindergartenzeit einfach vorbei, all deine Freunde und Freundinnen wirst du nie mehr sehen. Außer den Einen, der House-DJ wird und in Bordellen auflegt, den siehst du manchmal in der Zeitung. Gehirnerschütterung heißt das Wort, das alle verwenden, die Ärzte, die Schwestern, die Eltern. Dieses Wort, das du nur ein halbes Jahr später wieder hörst, als du auf dem Eislaufplatz kerzengerade umfällst und auf dem Hinterkopf landest. Dieses Wort, das mit sieben oder acht Jahren abermals Relevanz für dich bekommt, als du einem Schulfreund deines Bruders die Zunge zeigst und er dich auf der schmalen Straße vor eurem kleinen Bauernhof mit dem Fahrrad niederfährt. Dieses Wort, das im Alter von zehn Jahren schon wieder in dein Bewusstsein dringt, als du regungslos auf der Wiese liegst, da das Seil der Schaukel gerissen ist und du gegen die Holzlatten dieser Holzhütte gekracht bist, die ihr zu Hause „Presse“ nennt, weil hier zu Großvaters Zeiten Äpfel zu Apfelmost gepresst wurden.
Dieses Wort, Gehirnerschütterung, geht dir mit etwa 22 Jahren durch den Kopf, als du bei einem Konzert einer Düsseldorfer Band, die noch nie über Jägermeister gesungen hat, von der Bühne springst und dich niemand fängt. Und 32 Jahre nach der Sache mit dem Fernseher liegst du wieder im Bett, weil an deinem Arbeitsplatz der Kopf eines anderen mit voller Wucht gegen deinen gerammt wird.
Aber jetzt, im Juni 1985, ist dieses Wort Neuland für dich, bedeutet für dich Krankenhaus und das abrupte Ende eines wichtigen Lebensabschnittes, das abrupte Ende deiner Kindergartenzeit.
Diese Bekanntschaft mit dem Heizkörper, der Rettung1, dem Krankenhaus, das jähe Ende deiner Kindergartenzeit ist eine wichtige Erinnerung deiner frühen Lebensjahre, aber nicht deine erste.
Das Erste, an das du dich in deinem Leben bewusst erinnerst, ist, wie du im Alter von drei Jahren in ein Matador-Rad2 beißt, weil du glaubst, dass es ein Weihnachtskeks ist.
Du erinnerst dich aber auch an viele andere Geschehnisse und Begebenheiten aus deiner Kindheit. Manches ist verschwommen, anderes ganz klar. Das hängt davon ab, wie alt du zu diesem Zeitpunkt warst und wie lange das alles schon wieder her ist. Manchmal sind es konkrete Erlebnisse. Manchmal ist es ein Geruch, ein Geräusch, ein Gefühl.
Du erinnerst dich daran, wie du mit deinem Bruder alle Spielsachen, die ihr besitzt, auf den Gang räumst und die Eltern schimpfen. Du erinnerst dich daran, wie du mit dem Dreirad durch eben diesen Gang fährst und wie du mit demselben Dreirad am Hühnerstall vorbeirollst und du Angst vor den Hühnern hast, die da am vergitterten Fenster stehen und mit den Flügeln schlagen. Du erinnerst dich an den modrigen, dunklen Getränkekeller. Du erinnerst dich an den Holzverschlag, der an den Hühnerstall angebaut ist und den ihr damals noch Garage nennt. Du erinnerst dich an den Bautrupp, angeführt von deinem Onkel, der den Holzverschlag abreißt und die neue richtige Garage hinbaut, die da heute noch steht. Du erinnerst dich an diesen einen Hilfsarbeiter mit der Lernschwäche, den alle für „ein bisschen dumm“ halten und gerne verarschen und an diesen Typen, der gerade einmal 16 Jahre alt und zehn Jahre später tot ist. Du erinnerst dich an das Plumpsklo und den modrigen Geruch im Dachgeschoß des Stallgebäudes, das abgerissen wird, als du 14 bist. Du erinnerst dich an den Bautrupp, angeführt von deinem Onkel, der mit deiner geringen Mithilfe anstelle des Stalls das neue Haus deiner Großeltern baut – das Haus, in dem dein Großvater väterlicherseits sterben wird, wenn du 16 Jahre alt bist, und in dem du später vorübergehend selbst wohnen wirst. Du erinnerst dich an das Plumpsklo auf dem Bauernhof deiner Großeltern mütterlicherseits, dort wo auch deine Cousins wohnen, mit denen du neben dem Klo immer gegen die Stallwand urinierst. Du erinnerst dich an Übernachtungen dort bei den Cousins in diesen Stockbetten und dass ihr das Spiel habt, dass der Erste, der schläft, „ich“ rufen soll. Du erinnerst dich daran, wie du in frühesten Kindheitstagen immer bei deiner Oma in die Küche wackelst und mit stolzgeschwellter Brust behauptest, du seist der Bürgermeister und dass das alle ganz niedlich finden.
Du erinnerst dich an die sterbende Großtante, die da in einem kleinen Kämmerchen wohnt, und an das Haus in der Oststeiermark, in dem sie zuvor gelebt hat. Du erinnerst dich, dass die sterbende Großtante deiner Familie vor ihrem Auszug alte Lebensmittel schenkt, die sie nicht mehr braucht, und daran, dass du dich wunderst, dass es auch helle und nicht nur dunkle Nudeln, es auch hellen, nicht nur dunklen Reis gibt. Du erinnerst dich daran, dass ihr diese Lebensmittel dann aber doch nicht esst, da euch beim Öffnen der Packungen die Würmer in Scharen entgegenkriechen.
Du erinnerst dich an die Urlaube mit deinen Großeltern mütterlicherseits und an die Geschichten, die dein Großvater immer erzählt, von seinen Fahrten mit dem Fahrrad durch die schöne Steiermark. Du erinnerst dich nicht daran, dass er jemals erwähnt hätte, dass diese romantischen Fahrradfahrten im Krieg stattfanden und er als Soldat unterwegs war. Du erinnerst dich an die Vorfreude auf diese Urlaube und daran, dass du dir dann und nur dann Comichefte kaufen darfst – Asterix, Lucky Luke, Clever & Smart. Du erinnerst dich an das Gasthaus, wo ihr immer Pause macht, an eine schmale tunnelreiche Strecke, an einem großen See. Du erinnerst dich an den ersten Aufzug, mit dem du in deinem Leben fährst, dort in diesem ersten Hotel, das du je betreten sollst. Du erinnerst dich an jenes Hotel, in dem dein Onkel arbeitet, an den speziellen Geruch dort, an die Farbe des Zimmerfußbodens und das Kaufhaus gegenüber. Du erinnerst dich daran, dass du, als du einmal mit deinen Eltern für einige Tage da bist, in einem dieser Hotelzimmer den Papst im Fernsehen siehst.
Du erinnerst dich, wie du während desselben Kurzurlaubs tausend Tode stirbst, als ihr mit eurem kleinen grünen Polo auf engen, steilen Straßen den höchsten Berg des Landes hinaufkriecht, und dass du dich darüber wunderst, dass auf diesem Berg Menschen im Sommer Ski fahren. Du erinnerst dich daran, dass ihr am Fuße dieses Berges in ein Gasthaus einkehrt und deine Eltern dir und deinem Bruder Frankfurter Würstel3 und Almdudler bestellen, so wie sie es nach euren gelegentlichen Sonntagskirchbesuchen im Dorfgasthaus auch immer tun. Du erinnerst dich daran, dass du genau dort auch die ersten Pommes frites deines Lebens essen darfst, aber trotzdem unzufrieden bist. Du erinnerst dich nicht mehr daran, was deine Eltern essen, aber daran, dass du lautstark und für alle gut hörbar sagst: „Das ist gemein, ihr dürft sowas Gutes essen und wir kriegen schon wieder nur Frankfurter.“
Du erinnerst dich daran, dass du eure sonntäglichen Kirchenbesuche stinklangweilig findest, du aber trotzdem Ministrant wirst, weil dein Bruder auch einer ist.
Du erinnerst dich an deinen Großvater väterlicherseits als kleinen, buckeligen alten Mann mit Glatze, obwohl er in deiner frühen Kindheit jünger ist, als dein dir überhaupt nicht alt erscheinender eigener Vater es jetzt ist. Du erinnerst dich an den Geruch in der Bauernstube deiner Großeltern und an den Lieferwagen des Weinlieferanten. Du erinnerst dich an deine Großmutter väterlicherseits als eine alte Frau in Schürze.
Du erinnerst dich an das Verstecken im Heuboden, das Trettraktorfahren auf dem noch nicht asphaltierten Hof, an den Schotter, der deine Hosen ruiniert, wenn du mit dem Fahrrad stürzt, an das Spielen mit den Nachbarstöchtern und an das Rodeln und Skifahren drüben auf dem Hügel. Du erinnerst dich daran, dass du es komisch findest, dass du in einem Ort namens Bubendorf wohnst, es dort aber fast nur Mädchen gibt. Du erinnerst dich an den nahen kleinen Bach und dessen Mündung in den gar nicht so großen Fluss, an der du als Kind viel Zeit verbringst, erinnerst dich an diesen Bach als deinen Zufluchtsort, wenn es zu Hause wieder nervt. Du erinnerst dich daran, mit deinem BMX-Rad über einen Schotterberg zu fahren und dir an der Stallwand die Nase blutig zu schlagen. Du erinnerst dich daran, in der Sandkiste eine Playmobilfigur zu vergraben, weil du hoffst, dass daraus neue Figuren wachsen. Die Figur wirst du niemals wiederfinden.
Du erinnerst dich an den grünen Polo deiner Eltern und daran, wie zerschlagen du manchmal bist, wenn du nach langen Autofahrten zu Hause wieder aufwachst. Du erinnerst dich daran, mit deinem Vater in dieses Bergdorf zu fahren, um Ferkel zu holen, du erinnerst dich daran, mit dem Vater in diese Bergarbeiterstadt zu fahren, wo die gemästeten Schweine geschlachtet werden. Du erinnerst dich, dass es beim Bergbauernhof immer Kekse und süßen Tee gibt und beim Schlachter Wurst. Du erinnerst dich an den Geruch eines Sägewerkes, an das Wasserkraftwerk, das du einmal besichtigst, an Kuhställe und die Schweine zu Hause. Du erinnerst dich an hängende Schweinehälften im Stall und an die Angst in den Augen der Schweine, an die Geräusche, die sie machen, wenn sie sich gegenseitig zerfleischen. Du erinnerst dich an Hunde, vor denen du Angst hast, aber nicht an den großen Bernhardiner, der sich angeblich auf dich gesetzt hat, als du zwei warst. Du erinnerst dich an eine Verfolgungsjagd quer über Wiesen und Äcker – du läufst voraus, Nachbars Hund hinter dir her. Du läufst und läufst und läufst. „Er will doch nur spielen“, heißt es hinterher. Du erinnerst dich daran, dass du nach dieser Verfolgungsjagd in deiner ersten und auch einzigen Jungscharstunde4. Papier recycelst. Du erinnerst dich an deine Zeit als Ministrant, an all die Frühmessen, die du Sonntagfrüh um 07:00 Uhr mit deinen Cousins und deinem Bruder ministrierst. Du erinnerst dich an Trinkgelder bei Beerdigungen und Hochzeiten und daran, dass du beim Fußballmatch nach der Ministrantenstunde immer als Letzter in die Mannschaft gewählt wirst. Du erinnerst dich an Musikstunden und an Auftritte als zweite Geige im Musikschulorchester. Du erinnerst dich daran, dass dein Vater dich oft zu spät holt, weil er auf dem Hof zu tun hat, und du dann traurig bist. Du erinnerst dich daran, wie du da Woche für Woche stehst und wartest, und daran, wie du dabei einmal ein Ufo siehst.
Du erinnerst dich nicht an deinen ersten Schultag, aber an den Tag, an dem du deine erste Brille bekommst.
Ox-Fanzine #112, Februar/März 2014)
… sagt der verkleidete Mann in seinem seltsamen Aufzug zu der verkleideten Frau mit der Langhaarperücke. Was die in einem Turm sitzende Frau erwidert, weiß ich allerdings nicht, denn ich spiele lieber mit meiner Brille.
Es ist irgendein Nachmittag an irgendeinem Wochentag des Jahres 1989. Ich bin gerade neun Jahre alt, besuche die dritte Klasse der Volksschule und sitze jetzt im Theater, im Haus der Jugend, um genau zu sein. Sechs Jahre später wird dieses Theater bereits seit einiger Zeit „Orpheum“ heißen und ich vom Bassisten einer bekannten New Yorker Hardcoreband Bühnenverbot bekommen, weil ich Romeo, meinem ehemaligen Schulkollegen aus der Unterstufe, mit einem für mich typischen ungeschickten Sprung einen Halswirbel ausgerenkt habe. Das kann ich jetzt, im Jahr 1989, aber noch nicht wissen – dass der Bassist irgendwann die Band verlassen wird, um Pornostar zu werden, ebenso wenig. Romeo lerne ich auch erst eineinhalb Jahre später kennen.
Nein, ich sitze einfach nur in der letzten Reihe, finde Theater langweilig, denke mir, dass Bücher interessanter sind, was sich bis heute nicht groß geändert hat, und experimentiere mit dem unförmigen Drahtgestell, das da seit Kurzem mein Gesicht entstellt. In den nächsten Jahren werden noch einige weitere modische Unmöglichkeiten da oben über der Nase herumsitzen und die eine oder andere Nazi- oder Proletenfaust sich damit vergnügen. Jetzt aber vergnüge ich mich selbst, setze das Ding auf, setze es wieder ab, setze es wieder auf. Sehe Rapunzel scharf, sehe sie wieder unscharf, sehe sie wieder scharf, sehe sie wieder unscharf, sehe sie wieder scharf, wieder unscharf, scharf, unscharf und so weiter, bis irgendwann der Prinz doch in den Turm steigt – mal scharf, mal unscharf – und am Ende alles gut wird.
In vier Jahren werde ich Kontaktlinsen bekommen. Das ist aber noch kein Thema, als dieses neue Brillending auf der Nase mir die Zeit bis zum finalen Rapunzel- und Prinzengeküsse versüßt. Ebenso wenig allerdings auch, dass junge Menschen irgendwo in Deutschland in jenen Tagen Wichtigeres zu tun haben, als Rapunzel scharfzumachen und stattdessen ein Punkrockfanzine gründen und dieses nach ihrer Katze benennen.
Davon dass ich zehn Jahre später einem dieser jungen Menschen – er heißt Joachim Hiller und trägt auch eine Brille – einen Brief schreiben und mich um Mitarbeit in seinem Heft bemühen werde, habe ich noch keinen Tau. Ich langweile mich lieber im Haus der Jugend. Dass da die Ramones bereits gespielt haben und Bad Religion oder NOFX das noch tun werden, sagt mir wieder keiner. Was aber egal ist, als ich dann im Sommer 1999 eine Postkarte von besagtem Herrn Hiller bekomme und er darin schreibt, ich solle ihn einmal anrufen. Dass es weitere vierzehn Jahre dauern soll, bis ich Herrn Hiller persönlich treffe, will Rapunzel mir nicht flüstern – die knutscht lieber mit ihrem Prinzen. Dem wiederum scheißegal ist, dass ich mit den ersten beiden Ox-Mitarbeitern, denen ich persönlich über den Weg laufe, auch gleich auf Lesereise, auf meine erste richtige Tour überhaupt gehe, und ich so – dann bereits in den 30ern – doch noch den von Kindheit an geträumten Traum eines Rockstar-Daseins zumindest ein wenig leben kann. Ja, davon will Rapunzel nix wissen, sie tauscht lieber Speichel mit Prinzen aus, lacht über den Neunjährigen mit der hässlichen Brille in der letzten Reihe und ist heute wahrscheinlich Bankbeamtin oder tot.
Du erinnerst dich nicht an deinen ersten Schultag und auch nicht an den Moment, als die Schule aufhörte, dir Spaß zu machen. Du bist kein guter Schüler und auch kein sonderlich motivierter. Du hast andere Dinge im Kopf und schreibst andere Dinge in deine Hefte. Statt zu lernen, erfindest du Bands, die Noise Factory, Vergammelte Speisen oder Incubator heißen, und zeichnest sie auf die Doppelseiten, die du aus deinen Schulheften herausreißt. Du zeichnest sie, wie sie posieren mit ihren wilden Frisuren und ihren Ohrringen und ihren Zigaretten. Ihren zerrissenen Hosen, ihren Chucks und den Springerstiefeln. Wie sie auf der Bühne rocken und mit dem Tourbus rumfahren. Damit beginnst du mit zwölf oder 13 Jahren und hast mit 17 noch nicht damit aufgehört. Musik ist halt wichtiger als Schule und irgendeinen Weg brauchst du schließlich, um es in der sechsten Klasse5 auf sechs „Nicht genügend“6 im Halbjahreszeugnis zu bringen.
Als sechsjähriger Vorschulklassenknirps ist das aber noch anders. In die echte Schule darfst du noch nicht, weil irgendein Psychologe meint, du wärst noch nicht schulreif. Vielleicht liegt es an den ganzen Gehirnerschütterungen oder an den ganzen Giftstoffen in der gülligen Landluft. Die Lehrerin hat Locken, ihr dürft mehr spielen, als ihr lernen müsst, und Gerry, der heute Heizungen baut, ist auch in der Klasse und dein bester Kumpel in jenen Tagen.
Deine Mutter, die Lehrerin von Beruf ist, ist zu Hause, weil sie ein Baby hat, das wohl deine Schwester ist. Mit deinem Nachbarn, der Milchbauer ist und politisch fragwürdige Meinungen vertritt – was du in dem Alter aber noch nicht wissen kannst – und täglich seine Milch in den größeren Ort, wo auch die Schule ist, fahren muss, weil da die Milchtransporter von der Molkerei warten, kannst du morgens mitfahren. Dein Bruder und all deine Nachbarstöchter sind auch im Auto. Wie ihr alle im Auto Platz habt, ist dir heute schleierhaft. Die drei Kilometer nach Hause geht ihr zu Fuß, ihr seid immer sehr viele, eine ganze Heerschar von Kindern. Manchmal prügeln sich die Kleinen mit den Großen, die Kleinen landen im Dreck, die Großen lachen sich ins Fäustchen. Eine ganz normale Kindheit auf dem Land halt.
Als deine Mutter wieder arbeiten gehen darf, darfst du in die echte Schule, denn jetzt bist du wohl reif genug. Als Lehrerin bekommst du dann auch gleich deine Mutter. Zu Hause nennst du sie „Mama“, in der Schule „Frau Lehrerin“. Sie ist zu allen Schülern freundlich, aber streng, zu dir mehr streng als freundlich – so nimmst du es zumindest wahr. Du erinnerst dich zwar nicht an deinen ersten Schultag aber daran, wie sie einmal zu Hause sagt, du sollst dieses und jenes Heft am nächsten Tag nicht mit in die Schule nehmen. Und wie sie dich dann tags drauf in der Schule prompt tadelnd fragt, wo denn dieses und jenes Heft nun sei, und du antwortest: „Meine Mama hat gesagt, ich soll das Heft zu Hause lassen, Frau Lehrerin“.
Dein bester Freund ist Albert, mit Marco verstehst du dich auch gut, mit Gerfried hast du nix zu tun, erst Jahre später seid ihr Saufkumpane. Am liebsten magst du Deutsch, Aufsätze schreiben liegt dir – Bildgeschichten, Fortsetzungsgeschichten, freies Schreiben. Lesen kannst du schon, bevor du in die Schule kommst, du liest viel und gerne und alles, was du in die Finger bekommst. Irgendwann hört das wieder auf und du liest jahrelang gar nix, bis deine spätere Freundin diesen und jenen Film nicht in der Videothek ausleihen will, weil sie ihn schon gesehen hat, und du notgedrungen das Buch zum Film kaufen und lesen musst.
Auch Mathematik geht dir zu Beginn deiner Schullaufbahn noch leicht von der Hand, was sich aber schneller, als für deine Noten gut ist, ändern soll. Turnen7ist nicht dein Fach, liegt dir nicht, kannst du nicht, du bist motorisch eine Null, was deiner späteren Sozialisation in einer sportorientierten Gesellschaft nicht unbedingt zugutekommt. Beim Fußball bist du immer der Letzte, der gewählt wird, und ihr spielt viel und oft Fußball. Irgendwann beginnst du, deine Sportsachen zu Hause „zu vergessen“. In der Unterstufe bist du ein guter Läufer, dein Lehrer zu jener Zeit ist auch der einzige, der versteht, dass du motorische Defizite hast, und zumindest versucht, deine Stärke, das Laufen, zu fördern. Leider sehen alle späteren Sportlehrer in dir nur eine faule Sau und einen unbrauchbaren Fußballer.
Zeichnen und Werken sind auch nicht dein Ding, was dich nicht daran hindert, später alles vollzukritzeln und dein erstes Buchcover selbst zu malen. Ansonsten bist du ein guter Schüler mit Motivation und guten Noten und total verliebt in Francesca, mit der du Jahre später gemeinsam eine Jugendgruppe leitest und die heute beruflich das Gleiche macht wie du. Ja, du gehst gerne in die Schule. Noch.
Du erinnerst dich an euren Nachbarn, diesen grobschlächtigen Kerl, dessen Bauernhof auf dem kleinen Hügel gegenüber von eurem Hof steht. Jeden Tag kommt er zu euch runter, um mit deinem Vater zu reden. Um mit seiner hohen, rauen, ziemlich nervtötenden Stimme über andere Nachbarn, die Politik oder Ausländer herzuziehen. Jeden Tag steht er da und schimpft und schimpft und schimpft, aber niemals ruft er an. Das könnte er auch gar nicht, selbst wenn er wollte. Ein Telefon hat er zwar – ein Bad mit fließendem Wasser und ein an die Kanalisation angeschlossenes WC bis heute nicht – aber seine Familie teilt sich mit deiner Familie Anfang bis Mitte der 80er Jahre den Anschluss. Das heißt konkret, dass der Nachbar euch nicht anrufen kann und ihr nicht den Nachbarn und dass eure Leitung stundenlang tot ist, wenn der Nachbar einmal andere Menschen anruft, um über Ausländer und die Politik zu schimpfen. Irgendwann wird aus dem halben Anschluss ein ganzer, der Nachbar kommt aber dennoch jeden Tag vorbei. Ob er heute ein Handy hat, ist dir nicht bekannt.
Das erste Handy deines Vaters jedenfalls wird sehr groß sein und sperrig und eine längere Lebensdauer haben als jedes Smartphone von heute. Und er wird sich, fasziniert wie er davon ist, stundenlang damit beschäftigen. Auch wenn man damit außer zu telefonieren gar nix tun kann, liegt er irgendwann Ende der 90er Jahre kurz nach Weihnachten krank im Bett und drückt wie besessen auf diesem Ding herum.
Du erinnerst dich auch an diesen Samstagvormittag Mitte der 80er als deine Eltern, dein Bruder und du in die nahegelegene Glasverarbeitungsstadt fahrt, wo es so etwas ähnliches wie ein Einkaufszentrum gibt. Dort arbeitet ein anderer Nachbar und dieser ist der Meinung, dass ihr unbedingt einen Videorekorder haben solltet. Und dass dieser Videorekorder auf gar keinem Fall mit diesem VHS-System, von dem gerade alle reden, ausgestattet sein sollte. Das sei ein Irrtum und überbewerteter Müll. Das einzig wahre Videosystem, das längerfristig überleben könne, sei Video 2000. Der Nachbar ist ein seriöser, vertrauenswürdiger Mann mit Ahnung, daher gibt dein Vater ihm oben im Einkaufszentrum 12.000 Schilling bar auf die Hand und der Nachbar deinem Vater dieses klobige, schwarze Videorekorderding. Dazu gibt es jede Menge dieser doppelt bespielbaren Leerkassetten. Es ist gut, dass ihr gleich einen Großvorrat davon mitnehmt, denn wie sich herausstellt, ist der wahre Irrtum Video 2000 und Leerkassetten sind bald so wie das Gerät selbst wieder vom Markt verschwunden. Ihr aber habt jetzt also viele Jahre lang dieses Ding im Haus stehen und könnt euch, wann immer ihr wollt, alte Pumuckl- oder ALF-Folgen ansehen. Einmal – die Eltern sind gerade irgendwo unterwegs – durchforstest du ein wenig ihre Kassettensammlung, stößt auf eine dir nicht bekannte, legst sie ein und bekommst plötzlich nackte Menschen zu sehen, die ihre Körper aneinanderreiben und dabei seltsame Geräusche von sich geben. Du verstehst zwar nicht, was du da siehst, findest aber durchaus Gefallen daran – die Kassette hingegen, als du sie ein paar Tage später wieder suchst, aber nicht mehr.
Du erinnerst dich des Weiteren an diese braune Satellitenschüssel, die dein Vater irgendwann Anfang der 90er am Stalldach befestigt, und die schwarze Box, die er „Receiver“ nennt, die euch nun ermöglicht, deutsches Fernsehen zu sehen. Tele 5, RTL, Sat 1, den ganzen Kram, MTV sogar und damit auch Videos von The Offspring und Nirvana. Sie befreit euch von der monopol-bedingten Abhängigkeit von den beiden staatlichen österreichischen Sendern, FS1 und FS28.
Du erinnerst dich lebhaft an dieses Computergeschäft in der großen Stadt, wo ihr diesen sogenannten „286er“ kauft, den ihr euch vom Verkäufer aufschwatzen lasst, obwohl auch schon der neue „486er“ auf den Markt gekommen ist. Diesen Computer, beziehungsweise seine Hülle, der Rest wird über die Jahre ausgetauscht und upgegraded, sollst du noch als Erwachsener besitzen und auf ihm zwei deiner Bücher schreiben. In diesem Sommer Anfang der 90er ist er zwar schon aufregend und neu für dich, der Computer, du bist durchaus stolz darauf, so etwas jetzt auch zu besitzen, und du schießt auch gerne mit diesem völlig verpixelten Raumschiff bunte Blöcke aus dem Weltall, aber alles in allem ist der Computer für dich nichts Weltbewegendes, nichts Lebenswichtiges, nichts, ohne das du nicht weiterleben könntest – er ist jetzt halt auch da. Für deinen Bruder sieht die Sache allerdings anders aus. Dieses graue 26.000 Schilling teure Ding übt auf ihn eine enorme Faszination aus und es soll seinen weiteren Lebensweg maßgeblich beeinflussen.
Du erinnerst dich an dieses große Unglück, da drüben in dem großen Land, das Sowjetunion heißt. Du erinnerst dich an die Sirenen und an die Eltern, die immerfort sagen, dass du nicht im Sand spielen, keine Pilze und keine Ribisel9 essen darfst. Du erinnerst dich daran, wie du einmal mit dem Trettraktor bei euch im Hof herumfährst, du dieselbe Sirene wie nach dem großen Unglück hörst und Panik bekommst. Du erinnerst dich daran, dass es ein Samstagvormittag ist, deine Mutter gerade einen Kuchen bäckt und dabei den Fernseher sehr laut aufgedreht hat, du erinnerst dich daran, wie sie sagt, du sollst keine Angst haben, die Sirene sei aus dem Fernseher gekommen.
Du erinnerst dich daran, wie das große Land namens Sowjetunion plötzlich – also für dich plötzlich, für die Menschen dort und die Erwachsenen hier weniger – in einige kleinere und einige ganz große Länder zerfällt. Du erinnerst dich daran, wie in diesem Land, das wohl Rumänien heißt, der Diktator gestürzt wird, und daran, dass dieser wohl ein sehr, sehr böser Mann war. Du erinnerst dich daran, dass er wohl alle Menschen in diesem Land immer ausspionieren ließ und die Menschen dort sehr arm sind. Du erinnerst dich daran, dass dieser Mann erschossen wird und du nicht verstehst, warum seine Frau gleich mit erschossen wird.
Du erinnerst dich daran, dass du es immer irgendwie lustig findest, dass es zwei Deutschländer gibt, und du erinnerst dich auch daran, dass das dann plötzlich – also für dich plötzlich, für die Menschen dort und die Erwachsenen hier weniger – nur ein Land ist. Du erinnerst dich daran, dass die Hauptstadt von einem dieser Deutschländer Bonn heißt und dass es eine Stadt in der Nähe mit dem Namen Köln gibt. Du erinnerst dich, dass ein Mann, der in einem gelben Haus zwei Kilometer weiter wohnt, mit einem sehr lauten Kampfflugzeug namens „Draken“ in der Nähe dieser Stadt namens Köln abstürzt und dabei stirbt. Du erinnerst dich daran, dass diese „Draken“ immer auf dem Militärflugplatz neben dem Badesee, wo du mit deinen Eltern und Geschwistern oft badest und Schlauchboot fährst, starten und daran, wie laut die Dinger sind.
Du erinnerst dich an dieses Spaceshuttle, das explodiert, und daran, dass die eine Frau, die da mit dabei war, eigentlich Lehrerin war wie deine Mutter. Du erinnerst dich an diesen amerikanischen Präsidenten, der Strauch heißt oder Hecke oder Busch. Du erinnerst dich an diesen Krieg im Irak, den er führt. Du erinnerst dich daran, wie dein Vater dir einige Jahre zuvor erzählt, dass es zwei Länder gibt, die Iran und Irak heißen und die gegeneinander Krieg führen. Du erinnerst dich daran, dass du das seltsam findest, weil Krieg ja so etwas ist, was früher war und wo deine Opas dabei waren, und nicht etwas, das jetzt stattfindet.
Du erinnerst dich daran, wie auf der drei Kilometer entfernten Bahnstrecke eine schwarze Dampflok vorbeifährt und dein Vater sagt, dass hinten im Waggon der Bundespräsident sitzt. Du erinnerst dich daran, wie sein Nachfolger gewählt wird und dass der nicht nach Amerika einreisen darf, weil er früher ein – wie es alle nennen – „Nazi“ war.
Du erinnerst dich an deinen netten, weißhaarigen Zahnspangenarzt, der immer ein ziemliches Durcheinander in seiner völlig überlaufenen Praxis hat und dir Zähne gerne im Stehen reißt. Du erinnerst dich daran, dass er später ins Gefängnis muss, weil auch er früher so ein – wie es alle nennen – „Nazi“ war. Du erinnerst dich daran, dass dein Zahnspangenarzt im Gefängnis stirbt.
Du erinnerst dich an diesen Schultag im Jahr 1989, an dem plötzlich eine Minute lang niemand etwas sagen darf. Gedenkminute nennen das die Lehrerinnen, weil 50 Jahre zuvor dieser Mann in Österreich einmarschiert ist und gesagt hat, dass es jetzt zu Deutschland gehört.
Du erinnerst dich an einen Mittwochabend – Zahnspangenarzt war immer Mittwochabend – an dem dein Vater und du vom Auto in die Zahnspangenarztpraxis geht und du sagst: „Papa, ich glaube in Jugoslawien gibt es bald Krieg.“ Du erinnerst dich daran, wie dein Vater dir den Kopf tätschelt und, um dich zu beruhigen, sagt, dass es ganz sicher keinen Krieg in diesem doch sehr nahen Nachbarland geben werde. Du erinnerst dich daran, wie nur eine Woche später der erste Panzer einfährt und nur 50 Kilometer von deinem Heimathaus entfernt alles in Flammen steht.
1 österr. für: Rettungsdienst,
2 österreichisches Holzspielzeug
3 österr. für: Wiener Würstchen
4 Jungschar: christliche Kinderorganisation
5 in Deutschland die zehnte
6 österr. für Ungenügend
7 österr. für: Sport
8 Fernsehen 1 und Fernsehen 2
9 österr. für: Johannisbeeren