Wie das Nashorn Freiheit fand - Katharina Lamprecht - E-Book

Wie das Nashorn Freiheit fand E-Book

Katharina Lamprecht

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Beschreibung

Krisen fordern uns heraus: persönliche Krisen wie eine schwere Erkrankung, Beziehungskrisen mit nahestehenden Menschen, gesellschaftliche Krisen wie die Auswirkungen des Klimawandels und Kriege. In solchen Situationen gewohnte Pfade zu verlassen, auch Altbekanntes zu hinterfragen, birgt erstaunliche Einsichten und schafft Raum für Entwicklung. Die Geschichten in diesem Buch erleichtern mit unerwarteten Wendungen diesen Schritt zum Perspektivenwechsel. Sie sprechen in Bildern zu uns, eröffnen einen anderen Zugang zur Krise und helfen so bei der persönlichen Entwicklung. Sie ermutigen dazu, auf die eigenen Bedürfnisse und Ressourcen zu achten, eigene und fremde Misserfolge zu tolerieren und damit krisenkompetent zu werden.

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Katharina Lamprecht, Bruchköbel bei Frankfurt a. M., ist Heilpraktikerin für Psychotherapie, Coach und Erzählerin mit eigener Praxis.

Stefan Hammel arbeitet als Klinik- und Psychiatriepfarrer, Kinder-, Familien- und Hypnotherapeut sowie als Ausbilder für Psychotherapie und leitet das Institut für Hypnosystemische Beratung in Kaiserslautern.

Adrian Hürzeler, Coach, Krisenpädagoge und Achtsamkeitstrainer mit eigener Praxis für Einzel- und Paargespräche in Lenzburg und Reinach (AG), Schweiz.

Martin Niedermann, Bern / Schweiz, ist Geschichtenerzähler, Coach, Heilpädagoge. Auftritte in Formationen mit Musik, Liedern und Geschichten.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

ISBN 978-3-497-03175-7 (Print)

ISBN 978-3-497-61771-5 (PDF-E-Book)

ISBN 978-3-497-61772-2 (EPUB)

© 2023 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München

Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung der Ernst Reinhardt GmbH & Co KG, München, unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen in andere Sprachen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Der Verlag Ernst Reinhardt GmbH & Co KG behält sich eine Nutzung seiner Inhalte für Text- und Data-Mining i. S.v. § 44b UrhG ausdrücklich vor.

Printed in EU

Covermotiv: © istock.com/neurobite (Nashorn); istock.com / Anna Valieva (Luftballon)

Satz: FELSBERG Satz & Layout, Göttingen

Ernst Reinhardt Verlag, Kemnatenstr. 46, D-80639 München

Net: www.reinhardt-verlag.de E-Mail: [email protected]

Inhalt

Einführung

Stufen von Entwicklung und Krise

Entwicklung bewirkt Krise und Krise bedingt Entwicklung

Stagnation, Durchgang und Entwicklung

Entwicklung ist überall

Gelungene Entwicklung bedeutet Veränderung mit Einsicht

Gesunde Ich-Entwicklung und Begegnung mit psychosozialen Anforderungen als Entwicklungsschritte

Dynamik der Krisen und Konflikte

Die Begegnung mit dem Doppelgänger

Der Weg in die Gesellschaft

1Der Einzelne: Bewältigung individueller Krisen und Entwicklung der Persönlichkeit

Segway fahren

Bäumiger Berater

Der Blick von der Klippe

Auf der Bremse stehen

Berge wälzen

Binge watchen

Kapillarität

Physik oder die Parallellösung

Relativitätstheorie für Laien

Hass ist …

Bühnenbeleuchtung

Spielplatzgespräche

Helikopterpilot

Hockeytraining

Morgens auf der Brücke

Ein Tropfen Olivenöl

French Press

Kakerlake auf Wanderschaft

Ins Café stolpern

Der Löwe am Ende der Straße

Fußball Finalspiel

Wer ist der Guide?

Tierisch auf den Wecker gehen

Roland in der Wüste

Die richtige Zeit

Wenn ich eine Leiche wäre …

Der Besen mit dem kurzen Stiel

Der Streit

Eisbrechender Kuss

Der Schutzmann

Man weiß halt nie

Nicht nur auf die Wölfe hören

Bananen aus eigener Ernte

Der Beifahrer

Laternen im Vorgarten

Der Schwarz-Weiß-Weg

Cellostunde

Warum ist die Banane krumm?

Die Cafés von Sarajewo

Der Traktor

Vergebliches Warten

2Die Gruppe: Krisenbewältigung und gemeinsame Entwicklung in Partnerschaft und Familie, Schule, Beruf und Freizeit

Ab auf die Wiese

Meinungsumlaufbahnen

Mitgefühlserschöpfung

Zum Glück ein alter Hase

So sensibel

Beim Lesen alter Briefe

Schöne Grüße aus dem Himmel

Die Wahrheit

Wie viel Ziel ist möglich?

Das orientalische Büro

Keine Blaue Mauritius

Skiurlaub

Wie in der Krise sich orientieren?

Genussvoll

Die beste aller Perlen

Nana

Dringend

Der Turm

Der Fahrkartenkontrolleur

Das Nashorn und sein Babysitter

Kettensätze

Schleierohreneulenbabies

Schuster, bleib bei deinem Leisten

Moor-Park

Das Bummeln

Das Labyrinth

Was hast du für mich?

Zusammenarbeit

Der Sternekoch

Wie ein Nashorn

Verständnis entwickeln

Die Baustelle

Zwiegespräch mit dem Mond

Läuse an Rosen

Krankheitsbehörde

Bananenbrot

Ein lahmer Hase

Unterwegs sein

Nachhaltige Eichhörnchen

Es gibt einen Raum

3Das Ganze: Krisenbewältigung und Entwicklung in einer lokal und global vernetzten Gesellschaft

Der Kriechenbach

Pusteblumenwiese

Hundertzwanzig Minuten

Mediation mit einem Nashorn

Autobahnkarambolage

Nicht vorbereitet

Auch wenn es das Letzte sein wird

Hundekacke im Park

Wilder Wein

Guter und schlechter Humor

Der verstopfte Geysir

Andere Eingänge

Mentales Aikido

Rückwärts vorwärts

Das Nest

Als die Erde ins Trudeln kam

Ameisenhügel

Stillleben

Verhältnismäßig

Dem andern nach

Neuland

Berechnungen

Bäume in der Sahara

Die Einmischung

Vom Tropfen zum Ozean

Stalingrad

Freudscher Versprecher

Zwei Fragen

Der große Schlüsselbund

Wiederkäuen

Den Tee wirken lassen

Vorausdenken

Der schwarze Tod

Spitzerspäne

Die rote Blume

Paradiesische Zustände

Es ist nicht möglich

Den Tankdeckel öffnen

4Ausklang: Veränderungsprozesse

Anhang

Stichwortverzeichnis

Alphabetisches Verzeichnis der Geschichten

Literatur

Einführung

Stufen von Entwicklung und Krise

In Mesopotamien standen seit Urzeiten sogenannte Zikkurate, das sind mehrstufige, mächtige Tempelbauten, als Symbol der Schöpfung. Das Zikkurat von Elemenanki bei Babylon entstand vor vielen tausend Jahren und steht als Rekonstruktion wieder aufgebaut im südlichen Irak. Auf der obersten Plattform befindet sich das Heiligtum, ein Raum mit riesigem Tisch und Sitzmöbeln. Die Stufen des Zikkurat waren unterschiedlich hoch, nach oben verjüngend. Steile Treppen führten auf jede Stufe. Erst einfach zu besteigen, dann wurden sie steiler, waren versteckt und schwierig zu finden. Nach jeder Treppe gab es mit Sonnensegel beschattete Plätze zum Ruhen und Besinnen. Zuoberst wurde der reale Wohnort einer Gottheit mit Statue dargestellt, der Platz der Verehrung aber, der Tempel, war selbst ebenerdig.

Die Stufen waren nicht nur in der Höhe unterschiedlich. Man konnte Farben rekonstruieren. Die erste Stufe war schwarz, die zweite schneeweiß, die dritte war lila, die vierte war blau, die fünfte war rot, die sechste war silbern und die siebte war golden. Der Babylonischen Stufentempel war ein Abbild der Schöpfung und in seinem Innern waren Mosaike mit wertvollen Steinen und farbigen, gebrannten Ziegeln, welche Mineralien, Pflanzen, Tiere und Menschen zeigten. Stufe um Stufe stieg man in dem „Abbild der Schöpfung“ zum Himmel, zur Wohnstätte eines Gottes. Auf dem steilen Weg, Stufe um Stufe, erfuhr man in einer Art Bildergeschichte mehr über die Schöpfung. Wichtig waren die Plätze, wenn man auf einer erreichten Stufe wieder ins Freie trat. Hier war Umsicht, Orientierung, Einkehr und Ruhe möglich, bevor man die nächste Stufe in Angriff nahm (George 2005 / 2006, 75 f.).

Man weiß heute, dass die Geschichte vom Turmbau zu Babel aus dem Alten Testament dieses Zikkurat meinte. 90 Meter hoch, 201 Meter breit muss es mächtig beeindruckt haben, gerade für Menschen aus einem anderen Kulturkreis, z. B. die semitischen Völker.

Keine Entwicklung ohne Krise. In der Darstellung der Bibel begann mit dem „Göttlich sein wollen“ die Sprachverwirrung. Menschen konnten sich nicht gegenseitig erklären oder verstehen. Ein neues Bewusstsein entwickelte sich unter den Menschen und stürzt einige davon in große Krisen.

Entwicklung bewirkt Krise und Krise bedingt Entwicklung

Bis ins letzte Jahrhundert schrieb sich das Wort Entwicklung noch als „Entwickelung“, und meinte etwas, was eingewickelt ist und von etwas oder jemanden ausgewickelt wird. Man nahm selbstverständlich an, dass „Entwickelung“ ein Ziel verfolgt, welches sich später einmal, ohne die „Wickelung“, als ein Verborgenes offenbart. Die Annahme, dass der Mensch sich entwickelt, ist alt; bereits der altgriechische Philosoph Solon (640–559 v. Chr.) erklärte, dass der Mensch sich in Siebenjahrschritten (Hebdomaden) entwickle (Solon 1933).

Dieses „Offenbarwerden des Verborgenen“ prägt bis heute die Entwicklungsgeschichte des Menschen. Maria Montessori, Janusz Korczak, Emmi Pikler, Jean Piaget, die Waldorfpädagogik und der psychoanalytische Ansatz arbeiten bei all ihrer Unterschiedlichkeit mit einem Gemeinsamen: Entwicklung erfolgt in Schritten oder Stufen. Dieser Entwicklungsvorgang kann verstanden und begleitet werden (Montessori 2014; Korczak / Beiner 2004; Pikler 2001; Piaget 2016; Eller 2020; Fonagy 2020).

Je mehr wir durch Kultur und Umwelt geprägt werden, desto mehr verändert sich das Verstehen der Welt. Diese Bewusstseinsentwicklung wird von der Kulturwissenschaft und Philosophie in Phasen unterteilt. Dieser Prozess der Bewusstseins- Entwicklung gestaltet sich durch die innewohnenden menschlichen Fähigkeiten und Möglichkeiten. Eine Entwicklung wird somit von zwei Faktoren bestimmt: dem menschlichen Bewusstsein und den äußeren Umständen. Entwicklung bedeutet kein Gleichgewicht zwischen innen und außen. Die Stufen oder Phasen werden dann erreicht, wenn ein Ungleichgewicht stattfindet. Somit ist Entwicklung eine heikle Situation, welche mit Konflikten und Krisen einherschreiten kann.

Entwicklung zeigt sich in Phasen, im Ereignis, welches durch innere Bewusstseinsentwicklung und äußere Kulturwerte und Weltveränderungen stetig voranschreitet. Entwicklung bildet den Menschen aus und ändert die Welt.

Stagnation, Durchgang und Entwicklung

Entwicklung hat immer eine Richtung. Ist das Entwicklungsziel nicht erreichbar, kann die Natur warten. Verpuppte Falter können bis zu sieben Jahre vorübergehen lassen, bis sie ein passendes Jahr finden, in welchem sie Schmetterling werden (Riedl 1975). Wie kann der Falter wissen, welches Jahr für ihn stimmig ist? Nicht immer findet Entwicklung final statt. Da gibt es fördernde und hindernde Kräfte, welche stören. Hinderung bei der Verpuppung der Schmetterlingsraupe bedeutet Stagnation, ist aber nicht existenziell. Beim Menschen hingegen bedeutet Stagnation in der Entwicklung Krise. Ein gelungener Durchgang durch Krisen ist Entwicklung. Entwicklung und Weltverständnis sind Systeme, in welchen wir uns bewegen und anpassungsfähig oder veränderlich sind. Konflikte entstehen aus dem Ungleichgewicht. Verwandelt sich das soziale und kulturelle Weltverständnis zu stark, gibt es Konflikte.

Im Zikkurat waren im Aufgang von Stufe zu Stufe Bilder der Schöpfung, Mineralien, Tiere, Pflanzen und Menschen. Man weiß nicht, zu welchem Zweck die Bilder da waren. Doch wird derjenige, welcher nach oben steigt, die Bilder und Symbole intensiv wahrgenommen haben.

Bildgestaltung ist seither ein bedeutsamer Teil in der therapeutischen Arbeit, wenn Entwicklung stagniert. Heilsame Geschichten sprechen in Bildern zu uns, eröffnen einen anderen bewussten oder unbewussten Zugang zu der Krise und schaffen Hilfe.

Den Wechsel zwischen Stagnation und stufenweiser Transformation veranschaulicht die Entwicklung der „Rüebliraupe“. Der Schwalbenschwanz ist in unseren Breiten einer der markantesten Schmetterlinge. Schwarz gelb gefärbt, mit mehreren blauen und einem roten Tupf am unteren Ende der Flügel. Diese laufen in den charakteristischen geschwungenen „Schwalbenschwanz“ aus.

Schwalbenschwänze legen dreimal zwischen Sommer und Herbst ihre Eier ab. Aus dem kleinen Ei schlüpft eine Raupe, frisst, wächst, häutet sich, damit sie weiterwachsen kann – frisst, wächst und häutet sich, bis zu viermal. Nach jedem Mal verändert sich ihre Farben ein klein wenig, bis sie sich zum letzten Mal so richtig satt isst. Dann häutet sie sich ein letztes Mal und wird die schönste Rüebli-Raupe. Nun sucht sie sich ihren Platz, wo sie sich endgültig verpuppen kann.

Bis zu 19 Tagen hängt sie da ohne äußere Regung. Es ist von außen nichts zu sehen: Lebt da was oder ist alles abgestorben? Wenn die Verpuppung gelingt, dann gibt es kein Wiedererkennen mit dem vorherigen Zustand. Eine neue Stufe ist erreicht: Ein Schmetterling wird aus der Puppe schlüpfen, sich entfalten und dann losfliegen. Die Entwicklung von der Raupe zum Schmetterling ist Erstarrung und Verwandlung, Todesnähe und höchste innere Aktivität. Gelingt die Transformation von der Raupe zum Schmetterling, kann man von einer gelungenen Entwicklung sprechen. Doch die größte Gefahr droht in dem Moment, in dem sich die Flügel entfalten. Der Schmetterling kann noch nicht fliegen. Vögel, Regen oder Wind können sein junges Dasein vernichten. Und fliegt der Schwalbenschwanz, wer denkt an die kleine Rüebliraupe in der Erstarrung?

Die Raupen der dritten Generation überwintern als Puppen und schlüpfen in den warmen Frühlingstagen (www.ruebliraupe.ch, 27.12.2022).

Entwicklung ist überall

Die Pflanze zum Beispiel ist ein System, welches von der Wurzel über Blätter, Stängel, Knospen und Blüte zur Frucht in Stufen organisiert ist. Jede neue Stufe nimmt die alte mit, verändert sie und gestaltet eine andere Form. Das ist eine Umgestaltung oder Formverwandlung (Metamorphose). Ist das System gestört, versucht die Pflanze trotzdem zu ihrem Entwicklungsziel zu gelangen – durch Mutationen. In Tschernobyl und Fukushima sind nach den Reaktorunglücken Pflanzen in seltsamen Ausführungen gewachsen: Fünfköpfige Auberginen, Himbeeren wachsen zu dritt und viert zusammen. Das Ziel ist noch da, die Ausführung aber gestört.

Wachstum und Wandel ist bei allen Organismen zu finden. Tiere, Pflanzen, selbst die unbelebte Materie im Kosmos unterliegen Veränderungen. Nirgends aber ist Entwicklung so deutlich wahrnehmbar wie beim Menschen und den von ihm geschaffenen und gelebten Systemen. So wie der Mensch sich selbst entwickelt, so sind Firmen, Organisationen und politische Systeme einer Entwicklung unterworfen. Äußere Systeme und Regeln stehen den veränderlichen inneren Anliegen gegenüber.

Gelungene Entwicklung bedeutet Veränderung mit Einsicht

Eine Krise ist eine Verdichtung, ein Knoten in der Abwicklung eines Entwicklungsprozesses. Hilfe in der Entwirrung des Entwicklungsknoten, der Krise, ist die Veränderung des inneren oder äußeren Systems. Das Bewusstsein kann man unterstützen und begleiten.

Sinngebung in Krisen sind, seit Menschen erzählen, Geschichten. Alle Kulturen sind im Umgang mit Krisen erfahren. Die Frauen und Männer, welche als Schamanen, Meister, Rabbi, Priester und Heilerinnen Menschen in Krise und Entwicklung unterstützten, erzählten Geschichten. Helfende Geschichten sind heute selbstverständlich in aktueller Medizin und Seelsorge von Menschen zu hören. Dazu eine kleine Geschichte.

„Was ist der Sinn des Lebens?“, wurde ein sehr weiser Mann gefragt. „Der Sinn des Lebens ist eine Teetasse“, soll die Antwort gewesen sein. Seine engsten und eifrigsten Schüler entsetzten sich über die vermeintlich profane Antwort und stellten sie offen in Frage. „Der Sinn des Lebens, eine Teetasse? Meister, das kann nicht sein.“ „Na gut“, antwortete der Meister, „dann eben keine Teetasse!“ (Anonym)

Was meint die Geschichte? Der Mensch ist fähig, sich mit Veränderung zu verändern. Er kann durch äußere Wechsel innere Werte verändern, er wird fähig, in der Veränderung seine Ziele zu verwirklichen. Er wird durch die Veränderung seines Bewusstseins äußere Regeln und Werte in Frage stellen und Wege finden.

Die Geschichte kann vieles bedeuten. Aber sie wirft eine neue Frage auf: Ist der Sinn des Leben eine „Sache“? Die Geschichte gibt keine Lösung mit einer Antwort. In neuen Systemen einen Inhalt geben können ist Entwicklung. Ist das die Antwort? Ja vielleicht, aber vielleicht auch nicht.

Gesunde Ich-Entwicklung und Begegnung mit psychosozialen Anforderungen als Entwicklungsschritte

Entwicklung findet in Stufen statt. Jede neue Ebene bringt Möglichkeiten, sich mit der Welt auseinanderzusetzen. Für den Psychoanalytiker Erik H. Erikson ist das Ziel der Entwicklung die Ich-Identität. Sie zeichnet sich vor allem durch ein Erleben von innerer Konstanz und Einheit aus. Entwicklung ist nach Erikson die gelungene Bewältigung seelischer Herausforderungen durch die sozialen Gegebenheiten. In Stufen entwickelt sich die Ich-Identität, um mit der sozialen Herausforderung zu wachsen (Conzen 2020). Die Entwicklung der Ich-Identität meistert die Krisen der verschiedenen Phasen:

Urvertrauen versus Urmisstrauen – Mutter: Kann ich der Welt vertrauen? Erreicht ist die Stufe, wenn die Angst vor dem Nichterfüllen der Bedürfnisse (z. B. Nahrung, Zuwendung) dieser Phase überwunden ist.

Autonomie versus Scham und Zweifel – Eltern: Ist es in Ordnung, ich zu sein? Gelungen ist hier die Entwicklung, wenn die Autonomie (etwa das selbständige Anziehen) gegenüber Scham und Zweifel überwiegt.

Initiative versus Schuldgefühl – Familie: Ist es in Ordnung so zu handeln, wie ich handle? Die Phase ist überwunden, wenn das Kind die Initiative ergreifen kann und den Umgang mit den eigenen Schuldgefühlen gelernt hat.

Leistung versus Minderwertigkeitsgefühl – andere Schulkinder und Nachbarn: Kann man in der Welt bestehen? Die Stufe ist geschafft, wenn das Kind dies ohne Minderwertigkeitsgefühle oder Überforderung meistert.

Identität versus Rollendiffusion – Rollenmodelle und Peergroups: Wo ist mein Platz in der Gesellschaft? Ist eine Ich-Identität gebildet, hat die Person diese Phase geschafft.

Intimität versus Isolation – Freunde und Partner: Bin ich zur Liebe in der Lage? Abgeschlossen ist die Stufe, wenn eine Balance zwischen Isolation und Intimität gefunden wurde.

Generativität versus Stagnation – der eigene Haushalt und das Arbeitsumfeld: Was und wie viel kann ich den einzelnen Lebensbereichen geben? Ist eine Balance zwischen Generativität und Stagnation geschaffen, ist diese Phase abgeschlossen.

Ich-Integrität versus Verzweiflung – die Welt selbst: War mein Leben gut? Gemeistert ist diese Phase, wenn die Person „Weisheit“ erlangt hat, also mit dem Tod Frieden schließen und das vergangene Leben als ein Gutes annehmen kann.

Gemeisterte Stufen lassen uns mit den Schwierigkeiten des Lebens umgehen. Auf jedem Wendepunkt einer Stufe tritt Verwundbarkeit auf. Doch sind auch Möglichkeiten für Entwicklung und persönliches Wachstum enthalten. Ist die Ich-Entwicklung vorangeschritten und man kann in der psychosozialen Struktur bestehen, steigt man in eine andere Stufe auf. Krisen sind in ihrem Auftreten entwicklungsbedingt und handhabbar.

Dynamik der Krisen und Konflikte

Jeder kennt auch Krisen, welche großen Schaden anrichten.

Krisen können nicht immer durch eine Ich-Entwicklung überwunden werden. Es gibt Krisen, die uns so erschüttern, dass sie nachhaltigen Schaden anrichten. Krisen und Konflikte sind aus demselben Holz geschnitzt! Immer wieder treffen unterschiedliche Einstellungen, Erwartungen und Interessen von Menschen, Organisationen, oder Völker aufeinander. Zum Glück sind Menschen fähig, aus diesen Krisen ohne große Verletzungen herauszufinden. Doch gibt es Dynamiken, welche in Konflikten zerstörerisch und abbauend sind. Friedrich Glasl (1994) hat eine Konfliktspirale entwickelt, welche in drei Ebenen unterteilt neun Stufen der fortschreitenden Zerstörung zeigt. Sind in der ersten der drei Ebenen Verhärtung, Debatten und Taten statt Worte noch Möglichkeiten, durch Einsicht zu einer gemeinsamen Lösung zu kommen, vorhanden (win – win), gibt es in der zweiten Ebene bereits einen Verlierer und Gewinner (win – lose): Koalitionen, Gesichtsverlust und Drohstrategien. In der letzten Ebene gibt es nur noch Verlierer (lose – lose): Begrenzte Vernichtung, Zersplitterung und gemeinsam in den Abgrund gehen (vgl. Abb. 1).

Dramen der großen Dichter leben von solchen menschlichen Tragödien. Goethes „Faust“ zeigt einen dramatischen, ungewollten Abstieg in den Ruin. Der Dichter schildert eine Eskalationsspirale für Gretchen bis zum bitteren Ende (Goethe 1986).

Die Dynamik in den Abgrund wird unterbrochen, wenn eine individuelle Handlung möglich wird. Die Kunst des Therapeuten besteht darin, den Klienten stufenweise vom Erleiden ins Gestalten zu führen.

Abbildung 1: Drei Ebenen und neun Stufen der Konflikteskalation nach Glasl (1994, 216, 218–219)

In der Krisen- oder Konflikteskalation schreitet die Ich-Entwicklung nicht mehr vorwärts. Immer entmenschlichter werden die Stufen, je tiefer die Eskalation sinkt. Welche Kräfte wirken und hemmen die Ich-Entwicklung?

Die Begegnung mit dem Doppelgänger

In der heutigen Zeit bezeichnet man jemanden als Doppelgänger, wenn er durch Zufall, gewollt oder familiär (Zwillinge) eine austauschbare physische Ähnlichkeit mit mir, respektive mit jemand anderem hat. Bereits in der literarischen Romantik zu Beginn des 19. Jahrhunderts tauchte die Figur des Doppelgängers auf (z. B. „Die Elixiere des Teufels“, Hoffmann 2017), teils als rational erklärbares Phänomen, teils in fantastischer Gestalt, von magischen Kräften erzeugt, um auf den Menschen Einfluss zu nehmen. Fortan trat der „Doppelgänger“ immer deutlicher als Projektion abgespaltener Persönlichkeitsanteile auf. Er wurde als Folge seelischer Vorgänge mit dem Ergebnis eines zerspaltenen Ichs dargestellt.

Auch Sigmund Freud greift den negativen Aspekt des Doppelgängers auf: Verdrängte Wünsche und unbewusste Ziele des Ichs werden auf den Doppelgänger projiziert. Freud definiert den Doppelgänger als „Ich-Spaltung“ und als „Entfremdung vom eigenen“ Selbst (Elliott 1999, 257). Der Doppelgänger ist das Negativbild, der Schatten meiner vorwärtsschreitenden Ich-Entwicklung. Unbewusst trifft der Mensch in ihm seine Schattenseiten, welche es in Krisen und Konflikten wahrzunehmen und zu überwinden gilt.

Ich-Entwicklung entsteht nicht trotz, sondern wegen erlebter Konflikte. Sie ist eine Antwort auf die Begegnung mit dem Doppelgänger oder Schatten im Durchlaufen der unterschiedlichen Konfliktstufen.

Wenn Konflikte jedoch eine destruktive, eskalierende Dynamik entwickeln, gilt es, eine Unterbrechung zu finden, die Menschen aus der Spirale zunehmender Lähmung und Zerstörung in eine Spirale zunehmender Gestaltung des Lebens führt. In der Krisen- oder Konfliktspirale entmenschlichen sich Wahrnehmung, Denken und Handeln. Ein neuer Impuls kann die Abwärtsbewegung unterbrechen und eine Entwicklung in Richtung auf neue Stufen ermöglichen. Geschichten sind solche Impulse. Sie lassen uns bewusst und unbewusst innehalten und schaffen einen Ausgangspunkt für Veränderungen.

Der Weg in die Gesellschaft

So werden unsere Erzählungen zu Wegweisern auf dem Pfad der Entwicklung. Das gilt, so wagen wir zu behaupten, nicht nur für einzelne Menschen, sondern auch für Gruppen, Organisationen und ganze Gesellschaften.

Vorauszusetzen ist, dass Geschichten nicht nur in konstruktiver Weise, sondern auch mit destruktiven Wirkungen erzählt werden können. So werden manche der Geschichten, mit denen sich Gruppen identifizieren und definieren, Konflikte nach innen oder außen fördern.

Die Geschichten, die in einer Familie, einem Verein oder einer Firma über die eigene Gruppe, ihre Mitglieder und Menschen außerhalb der eigenen Grenzen erzählt werden, prägen natürlich das Verhalten der Gruppenmitglieder untereinander und nach außen.

Verbreitet sind Narrative, die einzelne Personen aufwerten, indem sie andere abwerten. Noch verbreiteter sind solche, die dasselbe mit der eigenen Gruppe (Überzeugung, Religion, Nationalität) auf Kosten anderer Gruppen tun. Damit geht einher, dass bestimmte Denk- und Verhaltensweisen, die diese Gruppen nach innen verbinden und nach außen abgrenzen, aufgewertet werden. Entsprechend werden gegenteilige Denkweisen und Verhaltensweisen abgewertet. Ohne viele Abstriche wird man sagen können, dass die wahrgenommenen Grenzen zwischen gut und böse, richtig und falsch oder auch klug und dumm im Allgemeinen identisch sind mit denen zwischen dem „Wir“ der eigenen Gruppe und dem „Ihr“ oder „Sie“ der anderen.

Die Auf- und Abwertung anderer Menschen und Gruppen kann von diesen erwidert werden, indem sie sich selbst ebenfalls auf- oder abwerten, wenn eine Abhängigkeit besteht, wie dies etwa zwischen Kindern und ihren Eltern der Fall ist. Häufig führt sie aber auch in eine gegenseitige Würdigung bzw. Missachtung.

Geschichten, die wir anderen erzählen, können diese aus Kreisläufen der Selbstmissachtung und gegenseitigen Missachtung führen, die durch vorher erzählte und gehörte zerstörerische Narrative entstanden sind. So können Geschichten dazu beitragen, dass die guten Absichten und wertvollen Haltungen hinter vielen Verhaltensweisen gesehen und gewürdigt werden und dass auch Sichtweisen und Handlungsoptionen, die bisher noch gar nicht wahrgenommen wurden, ins Blickfeld rücken.

Es ist eine Erfahrung aus der Familientherapie, dass es einen Unterschied macht, ob wir eine neue Deutung, etwa in Form einer erzählten Anekdote, nur einer einzelnen Person oder einer ganzen Gruppe präsentieren, die sie gleichzeitig hört und in einer unwillkürlichen Bewegung gemeinsam darauf reagiert. Geschichten, die von einem größeren System gleichzeitig aufgenommen werden, wirken, bezogen auf dieses System, stärker, als solche, die nur von Einzelnen gehört und erwidert werden.

Aktuell nehmen wir wahr, dass ganze Gesellschaften intensiv und dauerhaft mit Krisennarrativen versorgt werden, die sich auf das Verhalten von Einzelnen, Gruppen und auf die politische Entwicklung von Ländern und Regionen auswirken. Ganz gleich, wie berechtigt oder unberechtigt die Erzählungen der jüngeren Zeit über Viren, Kriegshandlungen, über Rohstoffknappheit und Inflation sein mögen, so ist doch zu beobachten, dass sie vielerorts ein Erleben kollektiver Ohnmacht ausgelöst haben. Mit seinem lähmenden Potential ist dieses nicht nur individuell, sondern auch für die Gesellschaft als Ganzes riskant.

Also fragen wir uns: Was, wenn es möglich wäre, den Krisengeschichten, die wir als lähmend und einengend empfinden, stärkende, möglichkeitserweiternde Geschichten entgegenzuhalten, die unseren Mut und unsere Gestaltungskraft beflügeln?

Was, wenn die Geschichten, die für uns förderlich sind, weiter und weiter getragen werden?

Könnte es sein, dass die Geschichten, mit denen wir den gegenwärtigen Krisen begegnen, um Entwicklung zu ermöglichen, in die Gesellschaft hineinwirken wie ein Sauerteig, der den ganzen Teig, dem er beigegeben wird, durchsäuert?

Möglich wär’s. Und weil das, was möglich wäre, womöglich möglich ist, schicken wir unsere Geschichten mit Hoffnung in die Welt.

Abschließend eine Anmerkung zum Gendering und (Vor-)Lesen: In unseren Texten geht es der Autorin und den Autoren häufig um das Herstellen von Wahlmöglichkeiten. Daher bitten wir unsere Geschichtenlesenden, die für sie beim Lesen jeweils passende Form auch intuitiv zu nutzen.

1Der Einzelne: Bewältigung individueller Krisen und Entwicklung der Persönlichkeit

Jedes einzelne Glied einer Gruppe und der Gesellschaft, stärkt diese mit seinen individuellen Ressourcen. Auch wenn es sich in familiären, gesellschaftlichen oder globalen Krisen oft schwach und unzulänglich fühlt, führt kein Weg an der Ermächtigung jedes Einzelnen vorbei. Herauszufinden, welche Verantwortung vom einzelnen Individuum im Rahmen seiner Möglichkeiten und Kompetenzen wahrzunehmen ist, kann als Kernaufgabe bezeichnet werden. Dabei fällt der Selbstfürsorge eine lebenswichtige Schlüsselrolle zu. Dies bedeutet gleichzeitig, dass man diese vor allem auch selbstverantwortlich wahrnimmt. Denn der Einzelne kann die Obhut für sein Wohlergehen nicht allein in die Hände anderer (Partner, Familien, Freunde, Gesellschaft) legen. Somit muss der Fokus zum einen auf der Gesunderhaltung (Resilienz) und anderseits auf der Krisenkompetenz bzw. Gesundwerdung (Salutogenese) liegen.

Resilienz (Widerstandsfähigkeit) soll im obigen Zusammenhang als eine Persönlichkeitseigenschaft verstanden werden, mit welcher trotz Risikofaktoren (bspw. Gewalt, soziales Umfeld, Armut, Traumata etc.) Menschen in der Lage sind, ein erfolgreiches Leben zu führen. Nützliche Kompetenzen sind dabei: Selbstreflexion, Akzeptanz, Lösungsfokussierung, Erfolgsnetzwerk, Selbstverantwortung und Lebenszufriedenheit.

Wie entsteht Gesundheit? Die drei Dimensionen der Salutogenese (Gesundwerdung) nach Aaron Antonovsky (1997) führen nicht nur dazu, die oben erwähnte Widerstandskraft zu erlangen, sondern sie auch erhalten zu können. Es sind dies: Handhabbarkeit (das Gefühl etwas bewältigen zu können), Sinnhaftigkeit (das Gefühl von Bedeutsamkeit) und Verstehbarkeit (Zusammenhänge des Lebens verstehen können) in ihren gegenseitigen Wechselwirkungen.

Segway fahren

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