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Das Leben steckt voller Überraschungen - positiv, wie negativ. Oft sind es aber die bösen Überraschungen, Verletzungen und schlimmen Erlebnisse, die uns vereinnahmen. Obwohl der Volksmund sagt, dass Zeit die Wunden heilen würde, ist es ein Irrtum zu glauben, dass Heilung von selbst kommt. Cornelia Mack verschafft Überblick über verschiedene Arten von Verletzungen und zeigt mit praktischen Hilfestellungen - auch aus ihrer Erfahrung in der Seelsorge -, wie wir Heilung für unsere verletzte Seele finden können.
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Seitenzahl: 250
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Der SCM Verlag ist eine Gesellschaft der Stiftung Christliche Medien, einer gemeinnützigen Stiftung, die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.
ISBN 978-3-7751-7391-9 (E-Book)
ISBN 978-3-7751-5798-8 (lieferbare Buchausgabe)
Datenkonvertierung E-Book:CPI books, Leck
© der deutschen Ausgabe 2017
SCM Verlagsgruppe GmbH · Max-Eyth-Straße 41 · 71088 Holzgerlingen
Internet: www.scm-haenssler.de; E-Mail: [email protected]
Text auf S. 41, Auszug aus: Kaléko, Mascha / »Memento«: Verse für Zeitgenossen Copyright: Mascha Kaléko: Verse für Zeitgenossen. Erstveröffentlichung: 1956 Rowohlt Verlag, Hamburg © 2015 dtv Verlagsgesellschaft, München
Die Bibelverse sind, wenn nicht anders angegeben, folgender Ausgabe entnommen:
Lutherbibel, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart
Umschlaggestaltung: Kathrin Spiegelberg, Weil im Schönbuch
Titelbild: Javier Pardina, stocksy.com
Foto Umschlagrückseite: Brandi Redd, unsplash.com
Satz: typoscript GmbH, Walddorfhäslach
Über die Autorin
Vorwort
Einleitung
1. Verletzungen
Verluste
Auszug aus dem Elternhaus
Umzug, Flucht
Arbeitslosigkeit oder Ruhestand
Wechseljahre und Älterwerden
Krankheit
Tod
Verletzungen durch Menschen
Verletzung durch Eltern bzw. nahe Verwandte
Emotionale Ungeborgenheit in der Kindheit
Die weitergetragene Verletzung
Scheidung der Eltern
Verletzungen im Ehealltag
Missverständnisse und Konflikte
Krise durch Kinderlosigkeit
Krise durch eine Schwangerschaft
Krise durch eine Fehlgeburt
Verletzung durch Untreue
Scheidung
Verletzungen durch Krisen in der Familie
Die Geburt des ersten Kindes
Tod eines Kindes
Hochzeit der Kinder
Geburt von Enkelkindern
Im Erziehungsprozess
Verletzungen durch erwachsene Kinder
Selbstverletzung durch Abtreibung
Mobbing und üble Nachrede
Traumatische Erfahrungen
Einleitende Gedanken
Sexueller Missbrauch in der Familie
Vergewaltigung im Erwachsenenalter
Einbrüche, Diebstähle, Überfälle
Entführungen
Unfälle oder Katastrophen
2. Reaktionen auf Verletzungen
Normale Reaktionen
Schock
Verleugnung
Wut und Aggression
Fluchtverhalten
Angst
Rückzug
Selbstabwertung
Selbstmitleid
Schweigen – Verdrängung
3. Heilung
Ja zur Heilung
Den Nutzen der Verletzung entlarven
Das Unrechtsystem durchschauen
Den Zwiespalt verstehen
Die falschen Aufträge zurückgeben
Die Reaktionen des Umfelds entmachten
Eigene innere Widerstände loslassen
Ein sicherer Ort
Gut zu sich selbst sein
Äußere und innere Sicherheit
Distanz zum verletzenden Geschehen
Ja zur Erinnerung
Träume
Orte und Bilder der Vergangenheit
Die Familiengeschichte
Ja zur Trauer
Trauer zulassen
Trauern heilt
Neue Sichtweisen durch Trauer
Trauern macht ehrlich
Heilung und Trost
Unser inneres Kind
Gott – der bessere Vater, die bessere Mutter
Ja zu neuen Botschaften
Keine negativen Selbstbotschaften mehr
Positive Gegenbilder und Gegengedanken
Die Waffenrüstung Gottes
Eintreten für Gerechtigkeit und Recht
Ja zur Vergebung
Vergebung muss durch die Trauer hindurch
Vergebung braucht nicht die Entschuldigung der Täter
Vergebung lässt Wahrheit zu
Perspektivwechsel
Was ist mit eigener Schuld?
4. Heilung braucht Zeit
Das Dazwischen
Jakob am Jabbok
Hilfreiche Rituale
Das Ergebnis anschauen
Trauerort
Gemeinschaftsrituale
Ja zum Hier und Jetzt
Dankbarkeit
Gemeinschaft
Weiser Umgang an Jahrestagen
Futur zwei
Das Herz im Himmel verankert
5. Wie helfen wir anderen?
Mitleiden statt Mitleid
Verständnis statt Ratschläge
Hilfe zur Selbsthilfe
6. Der Nutzen von Verletzungen
Literatur
Anmerkungen
[ Zum Inhaltsverzeichnis ]
Cornelia Mack, Jahrgang 1955, hat Sozialpädagogik mit Schwerpunkt Psychiatrie studiert. Ihre zahlreichen Bücher (u. a. »Angst«) werden ebenso geschätzt wie ihre vielseitigen Vorträge. Aus ihrer langjährigen Erfahrung als Seelsorgerin gibt sie Betroffenen und Seelsorgern Hilfestellungen weiter. Cornelia Mack hat vier erwachsene Kinder und wohnt mit ihrem Ehemann in Filderstadt bei Stuttgart.
[ Zum Inhaltsverzeichnis ]
Mit diesem Buch möchte ich Hoffnung aufzeigen und Hilfestellungen anbieten. Nicht alle, aber viele der geschilderten Situationen habe ich persönlich erlebt und durchlitten. Vieles kenne ich auch aus meiner Beratungstätigkeit und aus Begegnungen mit verletzten Menschen.
Meine Erfahrung ist: Wir müssen in Krisen und verletzenden Ereignissen nicht scheitern. Wir müssen hindurch, aber wir bekommen auch wieder Kraft, uns auf Neues und Unbekanntes einzulassen. Im Rückblick sehen wir es nicht sofort, aber in einem gewissen Abstand können wir entdecken, welcher Segen auf den schweren Zeiten des Lebens lag und wie wir eben dadurch gereift sind und für die Zukunft gestärkt wurden.
Das Leben kann einem viele Wunden zufügen.
Da sind zum einen die Wunden, die uns durch Brüche und Verluste in der Lebensbiografie geschlagen werden, wie zum Beispiel durch berufliches Scheitern, Schicksalsschläge wie Krankheiten, Unfälle oder Katastrophen bis hin zu Verlusten von Menschen durch einen Umzug oder den Tod.
Und da sind Wunden, die uns willentlich oder versehentlich durch Menschen zugefügt werden, wie etwa ein Vertrauensbruch, Gewalt, Scheidung einer Ehe oder verletzende Kindheitserfahrungen.
An solchen Erfahrungen können wir sehr leiden oder fast zugrunde gehen. Verletzungen im Leben können uns viel an Lebensqualität nehmen.
Wir wissen aber auch, dass sowohl Verletzungen und Wunden als auch Brüche und Verluste zu jedem Leben dazugehören, je länger wir leben, desto mehr. Manches davon ahnen wir, manches bahnt sich von langer Hand an. Dann können wir uns darauf einstellen. Andere Verletzungen treffen uns völlig unerwartet aus heiterem Himmel. Danach ist das ganze Leben anders und es kann sich aus der veränderten Situation eine handfeste Lebenskrise entwickeln. Diese kann sich äußern in Lebensverweigerung, in einem grundsätzlichen Nein zu allem Zukünftigen, in Verbitterung oder Hartherzigkeit.
Dies geschieht dann, wenn die Betroffenen sich in Abwehrreaktionen verfestigen, Trauer und Schmerz nicht zulassen, sich auf das Neue nicht einlassen wollen. Dadurch kann Vertrauen in sich selbst, in andere Menschen und in Gott endgültig zerbrechen. Je existenzieller Menschen davon betroffen sind, desto mehr fühlen sie sich solchen Ereignissen hilflos ausgeliefert.
Verletzende Erfahrungen und Verluste bergen aber auch Chancen in sich. Sie leiten Prozesse des Umdenkens ein, sie verändern unser Leben und führen es auf neue Pfade. Sie lassen uns den Sinn und das Ziel des Lebens überdenken. Sie können letztlich auch Aufbrüche einleiten und uns Heilung im tieferen Sinn schenken.
Verletzungssituationen beinhalten also immer beides: Krisen und Chancen. Sie sind oft schwer zu bewältigen, aber sie können auch stärken und wachsen lassen. Die Wege, die wir in solchen Zeiten gehen müssen, sind manchmal sehr mühsam, aber sie müssen nicht in einer Sackgasse enden.
Ein besonders großer Schatz, um durch dunkle Täler des Lebens hindurchzukommen, sind die Aussagen der Bibel. Die persönliche Gottesbeziehung kann zu einem Ort der Geborgenheit werden und zu einem Wegweiser zu neuen Horizonten des Lebens. Auch daran möchte ich Sie als Leser dieses Buches teilhaben lassen.
So können Sie dieses Buch unter unterschiedlichen Blickwinkeln lesen, entweder weil Sie verletzt wurden und nach Heilung suchen oder weil Sie viel mit Menschen zu tun haben, die verletzt oder verwundet sind, sei es in der Beratung oder Seelsorge oder auch als Helfer in der Flüchtlingsarbeit, Krankenhausbegleitung, Eheberatung oder Seniorenarbeit.
Im ersten Teil schildere ich viele Umbruch- und Verletzungssituationen. Möglicherweise interessiert oder betrifft Sie davon nur ein kleiner Teil. Sollte dies der Fall sein, mache ich durchaus dazu Mut, auch gleich zum zweiten oder dritten Teil des Buches weiterzugehen, in dem es um Abwehrreaktionen und Hilfen geht. Denn dies ist das Hauptanliegen dieses Buches, dass Menschen Heilung erfahren und neuen Mut für das Leben schöpfen können.
[ Zum Inhaltsverzeichnis ]
»Zeit heilt Wunden« ist ein bekanntes Sprichwort, aber: Stimmt es denn? Ja und nein. An diesem Sprichwort ist etwas Wahres und etwas Falsches dran.
Wahr ist, dass es Zeit braucht, bis Wunden, die uns zugefügt werden, verheilen. Wenn wir eine Verletzung an unserem Körper haben, einen Schnitt, einen Knochenbruch oder eine Entzündung, dann braucht es Zeit, bis die Wunden heilen – und im seelischen Bereich ist das genauso. Wir werden nicht von heute auf morgen heil, wenn uns etwas Schlimmes widerfahren ist. Es braucht Zeit, eine Beleidigung oder üble Nachrede zu verkraften. Es braucht Zeit, das Erlebnis zu verarbeiten, wenn der Ehepartner untreu war. Es braucht Zeit und viel seelische Arbeit, um mit einem Todesfall oder einer Scheidung umgehen zu können. Und es braucht Zeit, schlimme Erlebnisse aufzuarbeiten wie zum Beispiel einen Unfall, einen Überfall, einen Einbruch, das Miterleben einer Katastrophe. Und erst recht braucht es Zeit, schlimme Verletzungen aus der Kindheit wie etwa emotionalen, körperlichen oder sexuellen Missbrauch zu verarbeiten.
Ähnlich langwierig sind Prozesse der Heilung, wenn Menschen Opfer von Krieg und Kriegswirren wurden oder sogar als Täter in solches Geschehen verwickelt waren und dadurch selbst traumatisiert wurden.
Auch die nachfolgenden Generationen sind häufig davon belastet.1
Der Autor Matthias Lohre beschreibt in seinem Buch »Das Erbe der Kriegsenkel« aus eigner Erfahrung die Atmosphäre seiner Kindheit so: »Wenn die Katastrophe zum Alltag wird, fällt es schwer, eigenes und fremdes Leid als beklagenswert anzusehen. Die bewusste Erinnerung an die Seelennot geriet unter die Trümmer. Millionenfach mitbegraben wurde der Kontakt zu den eigenen schmerzlichen Empfindungen.«2
Je schlimmer das Erlebnis ist oder je länger es verdrängt wird, desto unwahrscheinlicher ist es, dass im Lauf der Zeit die Wunden heilen. Bei leichteren Traumatisierungen oder einmaligen Traumata erholt sich bei einem größeren Teil der Betroffenen das Gehirn innerhalb eines halben Jahres. Aber bei großen Katastrophen (Zugunglücken, Terror oder Krieg, Lawinenverschüttung, Flugzeugabsturz oder das Miterleben eines Erdbebens, Schiffsuntergangs oder Tsunamis) leiden die Betroffenen oder die Helfer fast immer unter posttraumatischen Belastungsstörungen.3 Deren Heilung kann sehr lange dauern.
Das Wahre an dem Sprichwort lautet also: Es braucht Zeit, damit Wunden heilen können. Falsch ist die Aussage, dass es die Zeit sei, die die Wunden heilt. Die Zeit ist in diesem Satz das »Subjekt«, also das Wirkende oder Handelnde. Und das stimmt so nicht. Was unsere Wunden wirklich heilen kann, ist nicht die Zeit, die darüber hinweggeht, sondern Erfahrungen, die einen Gegenpol zu den schlimmen Erlebnissen bilden, die uns verletzt haben: Liebe, Trost, Geborgenheit.
Hilfreich ist mir dabei das Bild einer Standwaage mit zwei Schalen, die einander austarieren: Das Schwere in der einen Schale muss aufgewogen werden durch etwas Gewichtigeres in der anderen Schale. Es braucht etwas Tiefergreifenderes als die Verletzung, um heil zu werden. Zum Glück kennen viele Menschen solche Erfahrungen. Davon wird in diesem Buch öfter die Rede sein.
Noch etwas ist falsch an diesem Sprichwort: Es gibt Wunden, die werden nie dadurch geheilt, dass Zeit darüber hinweggeht. Es gibt Menschen, die ihr Leben lang an Lebenswunden leiden – wie zum Beispiel sexuellem oder emotionalem Missbrauch in der Kindheit, schweren Traumata durch Krieg, Gewalt oder Naturkatastrophen oder auch einer überlebten Abtreibung.
Solche Menschen brauchen eine bewusste Entscheidung, ihre Lebensverletzungen aufarbeiten zu wollen.
Wenn sie sich nicht auf den Weg machen, bleiben sie ihr Leben lang verhaftet in der Vergangenheit, bleiben stecken in ihren Schutzmechanismen, die sie sich aufgebaut haben. Das kann sich in kindlichem, zurückgezogenem oder ängstlichem Verhalten äußern. Ihr Leben bleibt eingeschränkt und schmalspurig.
Im Bild des Buchcovers ist dies mit aufgenommen. Manche Menschen halten sich an ihrer Verletzung fest wie die Frau am Kaktus. Sie wissen gar nicht mehr, dass es auch schmerzfrei gehen könnte. Bestimmte Verhaltensmuster sind zu sicheren Zonen geworden, wie ein Steg über ein Moor. Wehe, ich trete einen Schritt daneben. Dann versinke ich im Morast. Das bedeutet: Dann kommen Gefühle von Wut und Verletzung hoch, von Hilflosigkeit oder Entsetzen. Das kann dann viel gefährlicher erscheinen als der schmale Weg, auf dem man sich auskennt.
Die Psychoanalytikerin Luise Reddemann beschreibt es so: »Bei traumatischen Erfahrungen scheint es so zu sein, dass sich unsere Persönlichkeit ›aufspaltet‹. Ein Teil funktioniert weiter, ein anderer bleibt ›in der traumatischen Erfahrung stecken‹. Der weiter funktionierende Teil hat den Vorteil, dass er wenig oder nichts von dem Schlimmen weiß und deshalb mit dem Leben recht gut fertig wird. (…) Oft sind diese gut funktionierenden Teile allerdings bemüht, möglichst wenig Gefühle an sich heranzulassen, was sich im Lauf des Lebens durchaus als störend oder belastend auswirken kann.«4
Wenn sich nun solche Menschen entschließen, Heilung zu wollen, dann stimmt dieses Sprichwort wieder – es braucht Zeit, bis sie Heilung erleben, und es braucht viel Geduld.
Denn innere Heilung verläuft nicht geradlinig, sondern immer wieder über Umwege und Rückschläge. Dennoch ist es ein Weg, der nach vorne weist und sich lohnt, weil sich das Leben danach in neuen Dimensionen erschließt.
Niemand muss gefangen oder eingezwängt bleiben auf schmalen Wegen. Um bei dem Bild zu bleiben: Das Moor kann trockengelegt werden, die Sumpfleichen können geborgen und begraben werden, die Wege können breiter und sicherer werden, das Leben kann sich in neuer Fülle entfalten.
[ Zum Inhaltsverzeichnis ]
Im medizinischen Bereich steht »Verletzung« als Bezeichnung für eine Wunde. Und die Übersetzung des Wortes »Trauma« bedeutet ebenfalls Verletzung oder Wunde. Menschen, die davon sprechen, dass sie verletzt wurden, meinen entweder den Körper oder die Seele. In der Folge davon kann es sein, dass auch die Lebenssicherheit verletzt ist oder die persönliche Würde, vielleicht auch eine Beziehung oder das positive Lebensgefühl.
Etwas Schlimmes oder Bedrohliches, Angstmachendes, Demütigendes oder Beschämendes ist in das Leben eingebrochen. Verursacht durch Dummheit oder Mutwillen von Menschen oder auch durch Dinge, technische Fehler, Naturkatastrophen oder auch durch eine Krankheit.
Dadurch kann das bisherige Leben in seinen Abläufen massiv gestört werden. Menschen beschreiben ihre Erfahrungen so:
• Mein ganzer Alltag wird durchgeschüttelt wie in einem Würfelbecher.
• Alle Abläufe funktionieren nicht mehr.
• Meine Erklärungsversuche und meine Denkmuster stimmen nicht mehr.
• Ich fühle mich haltlos, wie ein Blatt, das in einen Wirbelsturm geworfen wurde.
• Ich schäme mich, ich kenne mich mit mir und anderen nicht mehr aus.
• Ich bin so aufgewühlt, dass ich nicht mehr klar denken kann.
• Ich habe Angst vor dem, was kommen wird.
Menschen reagieren auf Eingriffe in ihre Lebenssicherheit häufig mit Schock, Verleugnung, Schuldgefühlen, Angst, Lebensunlust, Entsetzen oder Trauer.
Im folgenden Kapitel möchte ich verschiedene Ursachen von Verletzungen aufzeigen – zunächst Verluste, dann Verletzungen durch Menschen und zuletzt Traumata, die sowohl durch Menschen als auch durch Katastrophen in das Leben eintreten können.
Verluste ziehen sich durch das ganze Leben. Das fängt an in der Kindheit, wenn ein Haustier stirbt oder man Freunde verliert durch Schulwechsel oder Umzug. Auch der Tod von Menschen kann schon sehr früh in ein Leben einbrechen, wenn Geschwister oder Großeltern oder ein Elternteil sterben. In der Jugend gibt es Enttäuschungen, Verletzungen durch Mitschüler, Mobbing oder enttäuschte Liebesbeziehungen. Und im Erwachsenwerden zeigen sich Verluste durch eigenes Versagen, berufliches Scheitern, materielle Verluste, Beziehungsstörungen in der Ehe, im Beruf, in der Verwandtschaft oder Nachbarschaft.
Einige von diesen Verlusten möchte ich etwas näher beschreiben.
Dieses Thema hat zwei Seiten und Sie können es aus zwei Perspektiven betrachten – entweder aus Ihrer eigenen, als Sie von zu Hause ausgezogen sind, oder falls Sie Kinder haben, aus der Perspektive der Eltern, die loslassen müssen.
Schauen wir es zuerst aus der Perspektive an, von der alle betroffen waren oder sind: aus der Perspektive des Kindes.
Der Auszug aus dem Elternhaus ist der Abschied von einer wichtigen prägenden Phase im Leben. Viele bedeutende Erfahrungen im Elternhaus haben Spuren hinterlassen und uns zu einer Persönlichkeit werden lassen – oder uns im negativen Fall Schaden zugefügt. Durch den Auszug bricht viel Gewohntes weg: Gefühle der Geborgenheit und Sicherheit, manches an Bequemlichkeiten und Vorzügen. Oder auch Erlebnisse von Angst und Ungeborgenheit. Sowohl positive als auch negative Erfahrungen können das Abschiednehmen schwer machen. Es kann Angst machen, einen vertrauten Ort zu verlassen.
Je nachdem, wie stark die Eltern ein Kind an sich binden, können Schuldgefühle das Weggehen erschweren. Manche Eltern senden Botschaften aus wie: Wenn du gehst, bin ich einsam. Oder: Weil du nicht oft genug anrufst, geht es mir schlecht. Oder: Was mache ich denn ohne dich? Oder: Ich mache mir solche Sorgen, wenn du nicht regelmäßig anrufst. Solche Aussagen können sehr belastend sein.
Kinder, die das Elternhaus verlassen, müssen den Mut haben, Eltern einen Schnitt zuzumuten. Gerade dadurch eröffnen sich auch den Eltern neue Horizonte.
Kinder spüren oft sehr genau, wann sie »reif« genug sind, um das Nest zu verlassen, eigene Wege der Ausbildung und Welterfahrung zu gehen und selbst Verantwortung für den Tagesablauf, die Finanzen, die Wäsche, den Einkauf, das Kochen zu übernehmen.
Schauen wir das Thema aus der Perspektive der Eltern an, zeigt sich auch hier, dass dieser Schritt sehr wehtun kann.
Eltern stehen von Anfang an in der Herausforderung, Kinder wieder loszulassen. Dieser Prozess beginnt bei der Geburt mit dem Durchtrennen der Nabelschnur und wird immer neu durchlebt: beim Abstillen, beim ersten Ausgehen ohne das Kind, beim ersten Übernachten des Kindes ohne Eltern, beim ersten Kindergartentag oder Schultag, beim ersten Urlaub ohne Eltern, beim ersten festen Freund oder der Freundin, beim Schulabschluss und schließlich beim Auszug der Kinder aus dem Haus.
Das Fortgehen der Kinder kann ein gewaltiger Einschnitt für beide Seiten sein, der auch sehr verletzend sein kann. Eltern verabschieden sich von der Kindheit der Kinder. Das Zimmer der Kinder wird ganz oder teilweise leer geräumt, die Zeiten der Begegnung mit ihnen werden seltener, die Möglichkeiten des Austausches nehmen ab. Die Geräusche im Haus oder in der Wohnung verändern sich, die Anteilnahme am Lebensgefühl, an der Sprach- und Erfahrungswelt der jüngeren Generation wird schwieriger.
Manche Mütter berichten, wie sie nach dem Auszug eines Kindes zuerst in das leere Zimmer des Kindes gingen und dort weinten. Dazu tauchten Zweifel und Fragen auf: Haben wir es richtig gemacht mit unseren Kindern? Konnten wir ihnen im Verhalten und in den Werten des Lebens Entscheidendes mitgeben? Auch Misslungenes drängt sich in die Erinnerung, Fehler oder Situationen des Streits. Ein Gefühl von Versagen kann sich einschleichen. Die Zeit der Erziehung ist vorbei. Das Weggehen der Kinder trägt den Charakter der Endgültigkeit. Dieser Gedanke kann sehr bedrängend sein.
Dadurch entstehen für die Eltern, für Mütter manchmal mehr als für die Väter, zunächst Hohlräume und Leerläufe. Vor allem, wenn das letzte oder einzige Kind geht, verändert sich Grundlegendes im Alltag. Mütter, die nie berufstätig waren, erleben solche Einschnitte heftiger. Berufstätige Mütter tun sich manchmal mit der »neuen Freiheit« etwas leichter, da sie nicht komplett auf die Kinder fokussiert waren. Aber dennoch bricht ein wesentlicher Teil des Alltagserlebens weg.
Der Tagesablauf wird nicht mehr durch Kinder mitbestimmt. Die mit ihnen verbundenen Aufgaben fallen weg. Die Waschmaschine wird nicht mehr so schnell voll, es muss weniger eingekauft, geputzt, gekocht, aufgeräumt werden. Sinn und Inhalt des eigenen Lebens war bei vielen Müttern (und Vätern) zu einem wesentlichen Teil durch die Kinder geprägt.
Nach einem solchen Abschied beginnt zunächst eine »Brachzeit«: Aufgaben und Inhalte, Gespräche und Gewohnheiten, die mit den Kindern verbunden waren, liegen brach. Brachzeiten in der Natur sind immer auch Vorbereitungszeiten für eine neue Fruchtfolge und später eine neue Ernte. Zunächst aber ruht der Acker und es tut sich darin vermeintlich nichts. Dieses Aushalten von »Nichts« ist schwer, aber darin wird bereits das Neue vorbereitet: neue Chancen, neue Aufgaben. Die entstehenden zeitlichen Freiräume können nach und nach entdeckt und gestaltet werden und neue Herausforderungen können sich auftun.
Nicht alle Mütter oder Väter lassen ihre Kinder gerne gehen. Manche wollen nicht loslassen, sondern an alten Mustern festhalten. Es kann sein, dass Mütter oder Väter die Kinder in falscher Weise an sich binden. Sie machen ihnen ein schlechtes Gewissen oder geraten in Panik. Manche haben vielleicht Angst davor, wieder abends, am Wochenende oder im Urlaub mit dem Ehepartner allein sein zu müssen. Eltern können oft sehr subtil vermitteln, dass sie ein Problem mit dem Auszug eines Kindes haben. Da reicht oft schon ein veränderter Tonfall, ein vorwurfsvoller oder angstvoller Blick, und das Kind spürt: Es ist nicht okay, dass ich gehe – oder: Ich kann die Eltern nicht sich selbst überlassen, das bringt Probleme mit sich.
So werden den Kindern emotionale Ketten angelegt, obwohl sie eigentlich Flügel bräuchten. Nur wer Kinder freilässt, gewinnt sie auf neue und andere Weise zurück.
Eine Hilfe zum Freilassen ist
• Ich traue dem Kind zu, dass es gute Wege gehen wird.
• Ich bin dankbar für viele schöne gemeinsame Erlebnisse.
• Ich kann auch von meinem Kind lernen.
• Ich kann aus der Vergebung leben.
Das Wissen, dass Gott auch aus Fehlern der Eltern Gutes oder noch Besseres machen kann, darf entlasten und Hoffnung für die Zukunft der Kinder schenken. So können Eltern ihre Kinder wirklich freigeben, damit beide – Eltern und Kinder – zu neuen Wegen aufbrechen können.
In der Schöpfungsgeschichte – schon ganz am Anfang der Bibel – wird das Gelingen des Generationenverhältnisses aufgezeigt.
Dort heißt es: »Darum wird ein Mann seinen Vater und seine Mutter verlassen und seiner Frau anhangen, und sie werden sein ein Fleisch« (1. Mose 2,24).
Für das Gelingen einer Ehe und eines Lebens als Erwachsener ist das Verlassen der Eltern eine wichtige Voraussetzung.
Auch Jesus hat deutlich und klar seine Eltern verlassen. In Johannes 2 wird dies in der Geschichte der Hochzeit zu Kana besonders deutlich.
Jesus ist dort, seine Mutter und seine Jünger sind auch eingeladen. Mitten im Feiern geht der Wein aus. Maria, die Mutter von Jesus, meint nun, ihr Sohn könne da doch sicher etwas tun. Sie weiß doch so viel über die Verheißungen über seinem Leben. Schon von Anfang an wurde ihr das immer wieder gesagt: vom Engel Gabriel, von ihrer Verwandten Elisabeth, von den Hirten auf dem Feld, von den Weisen aus dem Morgenland, von Hanna und Simeon im Tempel. All diese besonderen Erinnerungen und Verheißungen trägt sie in ihrem Herzen. Jetzt ist ihr Sohn etwa 30 Jahre alt und sie denkt vielleicht: Jetzt könnte er doch endlich mal zeigen, wer er ist. Mütter haben oft viele Ideen, wie Kinder sich verhalten sollten, wie sie ihre Berufung leben könnten, selbst dann noch, wenn diese schon erwachsen sind.
Und so tritt sie mit den Worten an ihn heran: »Sie haben keinen Wein mehr.«5 Übrigens typisch Frau: Die Bitte beziehungsweise der Appell wird in eine Sachaussage verpackt. Das machen Frauen oft so – und die Männer sollen dann raten, was eigentlich mit dieser Aussage gemeint ist. Interessanterweise ist Jesus ein »Frauenversteher«. Er weiß genau, was seine Mutter ihm eigentlich sagen will. Denn er reagiert nicht auf die Sachaussage, sondern auf den dahinterliegenden Appell. Er reagiert sehr hart: »Was habe ich mit dir zu schaffen, Frau?«6 Fast könnte man erschrecken über die Art von Jesus. Wie kann er so mit seiner Mutter umgehen! Nicht einmal »Mutter«, sagt er zu ihr, sondern nur »Frau«. Darf man das? Oh ja – man darf. Jesus macht hier vor, was für das Generationenverhältnis ungeheuer wichtig ist. Selbst bei längst erwachsen gewordenen Kindern kann es zum Problem werden, wenn Eltern nicht loslassen. Kinder müssen sich lösen! Und sie dürfen es auch. Eltern haben keine Anordnungen mehr zu geben, wenn Kinder erwachsen geworden sind.
Wie reagiert Maria? War sie beleidigt? Wäre ja verständlich gewesen. Nein, sie macht Platz für das Wirken von Jesus. Sie tritt zurück, sie nimmt sich aus der Szene wie ein Schauspieler, der seine Rolle gespielt hat und von der Bühne abtritt. Sie sagt zu den Dienern nur noch: »Was er euch sagt, das tut.«7 Was für eine grandiose Aussage.
Diese Geschichte kann eine Hilfestellung für Eltern und Kinder sein. Kinder dürfen klare Grenzen ziehen und Eltern sollen sich mit ihren Botschaften und Aufforderungen an die Kinder zurücknehmen. So entstehen für beide Seiten Freiheiten und neue Möglichkeiten der Beziehungsgestaltung.
Manchmal gebe ich in der Seelsorge den Rat an Mütter, deren fast erwachsene Kinder noch zu Hause leben: Machen Sie sich ein unsichtbares Schild an die Zimmertür Ihres Kindes. Auf der Folie steht: Was geht’s dich an, Frau?
Das kann sehr entlastend sein. Die Kinder müssen ab einem gewissen Alter selbst Verantwortung tragen für den Zustand ihres Zimmers und für ihre Lebensgestaltung.
Noch wichtiger ist aber die Zurücknahme in dem Moment, wo die Kinder verheiratet sind. Eltern dürfen sich nicht in die Beziehung und Ehegestaltung einmischen. Ein Ehepaar soll zu einem neuen Wir finden. Das gelingt nur, wenn dafür auch Raum und Freiheit sind und Eltern beziehungsweise Schwiegereltern sich nicht dauernd mit Vorschlägen, Erwartungen, Kritik oder Besserwisserei zu Wort melden.
Umzüge oder Ortswechsel können sehr unterschiedlichen Gründen geschuldet sein.
Ein Umzug kann sehr belastend sein, zum Beispiel dann, wenn Menschen aus einer schwierigen oder verletzenden Situation heraus umziehen müssen: Die Arbeitsstelle oder die Wohnung wurde gekündigt, die nachbarschaftlichen Verhältnisse oder die Umweltbedingungen sind unerträglich geworden. Wieder andere werden durch Krieg oder Terror vertrieben und müssen fliehen.
In solchen Fällen kann ein Wegzug aus einem vertrauten Ort emotional sehr belastend sein und möglicherweise auch eine Krise auslösen.
Es gibt Umzüge, die eine Verbesserung der Lebensqualität mit sich bringen. Das ist dann der Fall, wenn neue Menschen, neue Aufgaben, vielleicht ein eigenes Haus oder eine eigene Wohnung auf einen warten.
Egal, ob nun Freude oder Schmerz der Anlass zu einem Umzug sind: Das Loslassen und Abschiednehmen kann in jedem Fall ein längerer Prozess sein.
Jahrelang haben Menschen an einem Ort gewohnt, Beziehungen geknüpft, Freundschaften geschlossen, viele Gespräche geführt, gemeinsam Schönes und Schweres erlebt. Dadurch entsteht eine emotionale Bindung an einen Ort und eine lebensbiografische Erinnerung, die mit Erlebnissen an verschiedenen Stellen dieses Ortes verbunden ist. Beheimatung zeigt sich dadurch, dass beim Gehen durch einen Ort vergangene Erinnerungen lebendig werden: Dort habe ich gesehen, wie das Auto gerade noch rechtzeitig bremsen konnte, als das Kind unachtsam auf die Straße lief. – An dieser Ecke hatte ich ein interessantes Gespräch mit einer Fremden, die nach dem Weg gefragt hat. – Damals habe ich mich in der Fußgängerzone geärgert über ein Ehepaar, das sich lauthals gestritten hat, usf.
Gerade dann, wenn Menschen gemeinsam Schweres durchgestanden haben, wenn sie Leid und Tod erlebt, schwierige Herausforderungen oder Gefahren überstanden, miteinander an Gräbern getrauert haben, ist das Gefühl von Heimat besonders stark.
Je nachdem wie intensiv die emotionale Bindung an einen Ort war, kann ein anstehender Umzug einen intensiven Trauerprozess auslösen. Wenn man es lange genug vorher weiß, kann es sein, dass man einen Jahresablauf ganz bewusst mit den Gedanken erlebt, jedes Mal »das letzte Mal« dabei zu sein.
Das letzte Mal Ostern, Pfingsten, Weihnachten an diesem Ort oder: Zum letzten Mal feiere ich Geburtstag in dieser Wohnung, mit diesen Menschen. Das letzte Mal bin ich bei dieser Veranstaltung dabei …
In den verbleibenden Tagen gehe ich zum letzten Mal in meinem gewohnten Geschäft einkaufen, zu meinem Arzt, auf den vertrauten Spazierweg, zu Freunden oder Nachbarn auf Besuch.
Meistens sind dabei auch wehmütige Gedanken des Abschieds gegenwärtig.
Durch einen Umzug können Freundschaften intensiviert werden, durch räumliche Distanz mehr Tiefe gewinnen. Genauso kann es aber geschehen, dass solche Kontakte verloren gehen oder verflachen. In einem solchen Fall kann dies einen schmerzhaften Trauerprozess oder eine Sinnkrise nach sich ziehen.
Besonders hart ist ein Ortswechsel, wenn er durch finanzielle Nöte oder Arbeitslosigkeit, durch Naturkatastrophen, durch Kriegswirren oder sogar Vertreibung erzwungen wird.
Für Flüchtlinge stellt sich die Problematik noch viel drastischer dar. Häufig sind sie traumatisiert – entweder durch den Krieg oder auch durch die Flucht. Im neuen Land kennen sie oft die Sprache nicht, und erst recht nicht die Kultur. Das Wertesystem funktioniert nach anderen Maßstäben, die Verhaltensmuster, Gestik und Mimik sind anders, die Gerüche und Geräusche unvertraut. Manche werden auch nicht willkommen geheißen, sondern haben auch im neuen Land Ablehnung oder sogar Hass und Gewalt erlebt.
Zu flüchten und Asyl zu beantragen, bedeutet ein hohes Maß an Abhängigkeit und ein extrem niedriges Maß an Möglichkeiten zur Selbstbestimmung der Alltagsabläufe. Das kann auch eine sehr entwürdigende und damit zusätzliche verletzende Erfahrung sein.
Die Erwartungen zu Beginn einer Flucht waren mit Sicherheit ganz anders als die Wirklichkeit, die sie dann vorfinden. In den Warteschleifen der Behörden fühlen sich viele gedemütigt oder ohnmächtig. Aber Vertrautheit und Sichauskennen sind wichtig für die Entwicklung eines Heimatgefühls.
Der Beginn an einem neuen Ort – egal, aus welchen Gründen ein Ortswechsel stattgefunden hat – kann zunächst sehr schwierig sein. Anfangs fühlen sich Menschen wie ein Blatt im Wind. Es gibt keine Ankerpunkte für die Seele, keine vertrauten Orte, keine bekannten Gesichter, keine Erinnerungen, die mit meiner Lebensgeschichte verknüpft sind. Biografische Erinnerungen fehlen zunächst und rufen ein Gefühl von Heimatlosigkeit hervor.
Ich werde nicht gekannt und nicht gegrüßt oder sogar angefeindet. Und umgekehrt: Ich kenne die Menschen weder auf der Straße noch in der Nachbarschaft. Alles ist neu. Alles muss neu »erarbeitet« werden: Wo kann ich Arbeit oder eine Aufgabe finden? Wo gehe ich einkaufen, zum Arzt? Wo kann ich meine Hobbys pflegen? Wo lerne ich Menschen kennen, denen ich vertrauen kann?
Es kann viel Kraft kosten, sich am neuen Ort zurechtzufinden, aus dem Unvertrauten Vertrautes werden zu lassen, eine Umgebung zur Heimat werden zu lassen, seinen Platz zu finden, sich in den Beziehungen wohlzufühlen und in neuen Aufgaben wieder Sicherheit zu gewinnen. Oft sind solche Prozesse von Einsamkeit und Heimweh begleitet, von dem Gefühl, Außenseiter zu sein und nirgendwo wirklich dazuzugehören. Dabei ist der Schmerz des gerade vergangenen Abschieds immer noch genauso präsent und macht den Neuanfang schwer. Ja, der Schmerz kann sogar ein Hindernis sein, neu Heimat zu finden: Wenn ich mich jetzt wieder so intensiv auf Menschen einlasse, dann wird der nächste Abschied noch schwerer. Darum bin ich jetzt lieber vorsichtiger oder zurückhaltender mit Kontakten, dann wird auch der nächste Abschiedsschmerz nicht mehr so schlimm sein. Aber solche Gedanken sind gefährlich, denn Heimat finden Menschen erst, wenn sie sich selbst einbringen. Nur in dem Maß, wie sie für neue Beziehungen und Kontakte bereit sind, werden sie sich an einem neuen Ort eingewöhnen können. Heimat ist da, wo wir verstehen und verstanden werden.
Um Heimat zu finden, ist es wichtig, vertrauen zu können. Darum sollte man auch selbst nach Orten der Begegnungsmöglichkeit suchen, sich öffnen und die Initiative ergreifen.
Nicht Heimat suchen,
sondern Heimat werden sollen wir.
Ina Seidel8
Gerade auch Begegnungsmöglichkeiten mit anderen Christen an einem fremden Ort, Gottesdienstgemeinschaft oder Arbeit an einem Projekt sind für manche schon zur Hilfe geworden, um wieder Heimat finden zu können.
Lukas schreibt als Begleiter des Paulus (Apostelgeschichte 28,14): »Dort [in einer fremden Hafenstadt] fanden wir Brüder und Schwestern und wurden von ihnen gebeten, dass wir (…) dablieben.« Sie fanden also Gemeinschaft mit Geschwistern im Glauben und wurden von diesen willkommen geheißen. Dies war unerwartet und überraschend für Lukas.
Solche unerwarteten Begegnungen kann es an neuen Orten geben. Es kann geschehen, dass Menschen zu Freunden werden, von denen man es im ersten Moment nie vermutet hätte, und dass gerade die Andersartigkeit der anderen zur Bereicherung wird.
Es kann sein, dass sich am neuen Ort und unter anderen Rahmenbedingungen ganz andere Möglichkeiten des Engagements entwickeln können und bisher brachliegende Gaben und Fähigkeiten entfaltet werden können.
Für mich persönlich war der folgende Gedanke sehr hilfreich: Wo immer wir hingehen, wir gehen nicht ohne Christus.
Er ist schon vorausgegangen, er kennt den Weg und den neuen Ort mit all dem, was uns dort entgegenkommen wird.
Denk dran, wo immer du dich niederlässt:
Er ist schon da!Der dich getragen, geprägt, geführt und befreit hat.
Er ist schon dort, der dich in Ungeahntes, Neues führt.
Er ist schon dort.
Geh mit ihm, erfahr ihn, wie du es nie geglaubt.
Er ist schon dort. Geh – du bist nicht verlassen.
Der Herr zieht mit.
Bernhard von Clairvaux