Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Das perfekte Auto, die Traum-Figur, der vollkommene Partner. Tagtäglich werden wir mit Bildern dieser scheinbaren Ideale konfrontiert. Doch durch die überhöhten Erwartungen an andere und uns selbst geraten wir schnell unter Druck. Zwar gibt es Bereiche, in denen fehlerfreies Handeln lebensnotwenig ist. Doch wenn wir den Wunsch nach Makellosigkeit und Perfektion auch auf die anderen Bereiche unseres Lebens übertragen, wird sie schnell zur Belastungsprobe. Cornelia Mack gibt Hilfestellungen, wie wir dem Zwang des Perfektionismus entkommen und das Leben auch unvollkommen genießen können.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 171
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Der SCM Verlag ist eine Gesellschaft der Stiftung Christliche Medien, einer gemeinnützigen Stiftung, die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.
ISBN 978-3-7751-7333-9 (E-Book)
ISBN 978-3-7751-5709-4 (lieferbare Buchausgabe)
Datenkonvertierung E-Book:CPI books, Leck
1. Auflage 2016 (5. Gesamtauflage)
Dieses Buch ist eine komplette Neuüberarbeitung des 2006 unter dem gleichen
Titel erschienenen Buches.
© der deutschen Ausgabe 2016
SCM-Verlag GmbH & Co. KG · Max-Eyth-Straße 41 · 71088 Holzgerlingen
Internet: www.scmedien.de · E-Mail: [email protected]
Soweit nicht anders angegeben, sind die Bibelverse
folgender Ausgabe entnommen:
Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe
in neuer Rechtschreibung, © 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.
Umschlaggestaltung: Kathrin Spiegelberg, Weil im Schönbuch
Titelbild: shutterstock.com
Satz: typoscript GmbH, Walddorfhäslach
Über die Autorin
Vorwort
Einleitung
Teil 1 – Gefangen im Perfektionismus
Grundmuster des Perfektionismus
Erfolgs- und Leistungsdenken
Sehnsucht nach Fehlerlosigkeit
Entscheidungsschwäche und Aufschieberitis
Allmachtsfantasien und Größenwahn
Regeln
Kritiksucht
Kontrollzwang
Wut
Schuldgefühle und Selbstabwertung
Empfindlichkeit und Angst
Überlastung
Einsamkeit
Extreme Auswüchse des Perfektionismus
Angst vor dem Leben
Körperliche Krankheit
Schlampigkeit und Faulheit
Konzentrationsstörungen und Verlust der Kreativität
Burn-out und Depression
Tendenzen zur Sucht
Gestörter Körperbezug
Zwangsverhalten
Hilfe bei Zwangsstörungen
Zusammenfassung
Ursachen des Perfektionismus
Hohe Begabung, herausragende Fähigkeiten
Geschwisterposition Nummer 1
Strenge Erziehung
Religiöse Enge
Chaotische Erfahrungen in der Kindheit
Sehnsucht nach der ursprünglichen Idee Gottes
Teil 2 – Echtwerden
Kennzeichen einer reifen Persönlichkeit
Die Schattenseite
Selbsterkenntnis – ein Weg in die Freiheit
Echtheit verändert Beziehungen
Angst vor Ehrlichkeit?
Ganzheitlich leben dürfen
Die Freiheit der Unvollkommenen
Vom Tun zum Sein
Genießen dürfen
Mittelmäßigkeit zulassen
Fehler machen dürfen
Humor entdecken
Freiwerden von der Selbstdarstellung
Gemeinsamkeit als Bereicherung erleben
Andere loben können
Gaben entfalten
Teil 3 – Brücken in die Freiheit
Umbrüche als Chance
Freiwerden von der Selbsterlösung
Brutto oder netto?
Sich lieben lassen
Pharisäer oder Zöllner?
Selbstgerechtigkeit entlarven
Befreiung erfahren
Veränderung als Krise
Kindheitsprägungen entlarven und entmachten
Unterscheiden zwischen Sache und Person
Negativen Selbstbotschaften Einhalt gebieten
Neue Du-Botschaften
Liebe neu lernen
Erziehungstipps gegen Perfektionismus
Bedingungslose Liebe
Konfliktfähigkeit
Echtheit und Offenheit
Versöhnungsbereitschaft und Vergebung
Verantwortung lernen
Zusammenfassung
Teil 4 – Der Perfektionist Petrus und sein Weg in die Freiheit
Die Ausgangssituation
Ein neuer Anfang
Der Abstieg in den Schatten
Neustart mit Rückschau
Durchleuchtung des Charakters
Schmerz, Trauer und Reue
Neuer Auftrag
Verheißung
Anhang
Eine Theaterszene
Szene 1
Szene 2
Szene 3
Meditation: Wer bin ich?
Perfektionismus – Ein Selbsterforschungsfragebogen von Reinhold Ruthe
Literaturverzeichnis
Anmerkungen
[ Zum Inhaltsverzeichnis ]
CORNELIA MACK, Jahrgang 1955, ist eine bekannte Referentin und Autorin. Sie hat Diplom-Sozialpädagogik mit Schwerpunkt Psychiatrie studiert. Mit ihrem Mann, Prälat Ulrich Mack, hat sie vier erwachsene Kinder und wohnt in Filderstadt.
[ Zum Inhaltsverzeichnis ]
Alles muss perfekt sein – oder? »Selbstverständlich«, sagen die einen und die anderen meinen: »Bloß nicht.«
Wie würden Sie antworten? Ist Ihnen Perfektion sehr wichtig oder ärgern Sie sich darüber?
Klar, perfekt sein zu wollen, ist nicht grundsätzlich schlecht. Dies kann durchaus ein gesunder Aspekt des menschlichen Lebens sein.
• Aber Perfektionismus hat eben zwei Seiten: Einerseits haben wir Sehnsucht nach Ordnung, Harmonie und Vollkommenheit. Andererseits kann dadurch großer Druck entstehen: Wir wollen alles richtig oder sogar perfekt machen, wir wollen den Erwartungen entsprechen. Das gehört doch schließlich zu einem gelingenden Leben dazu, oder?
Und wir haben auch Wünsche und Erwartungen an unsere Mitmenschen, an unser Leben oder sogar an Gott. Wenn sich diese Erwartungen dann aber nicht erfüllen, wenn das Leben so anders läuft oder sich Menschen anders verhalten, als wir uns wünschen, dann leiden wir. Dann kann uns die Kluft zwischen unserer perfektionistischen Erwartung und der Wirklichkeit das Leben schwer machen.
Hinter Perfektionismus steckt die Sehnsucht nach einem ge-lingenden Leben. Das ist nicht falsch.
Aber der Trugschluss lautet: Sobald ich alles fehlerfrei und vollkommen mache, ist das Leben super und macht Spaß und alle finden mich gut.
Doch unser Leben wird nicht perfekter, wenn wir allen inneren Antreibern gerecht werden. Im Gegenteil: Wir verfangen uns dabei möglicherweise in einem zwanghaften System.
Wir setzen andere mit unseren Erwartungen und Wünschen unter Druck. Oder wir tragen Selbstaufforderungen in uns, die lauten: Mach ja alles richtig, erlaube dir bloß keine Fehler, erwecke immer den besten Eindruck überall und zu jeder Zeit.
Um das zu erreichen, wird das Leben durchgetaktet, freie Zeit zum Genießen gibt es nicht, Fehler sind nicht erlaubt, Humor ist nur was für oberflächliche Menschen.
Man kann alles optimieren,aber ob es dadurch besser wird,ist eine ganz andere Frage.
Wie das Gefängnis des Perfektionismus aussieht, kenne ich aus persönlichem Erleben sehr gut. Aber ich weiß auch, dass und wie die Gefängnistüren geöffnet werden können.
Das Gegenbild zu Perfektionismus ist Barmherzigkeit. Barmherzigkeit mit sich selbst, mit anderen, mit dieser Welt.
Ja auch die Barmherzigkeit, mit der Gott uns begegnet und unser Leben unter ein ganz neues Licht stellt und neue Schwerpunkte setzt.
Nur so wird die tiefe Sehnsucht nach gelingendem Leben erfüllt. Ein Schlüssel dazu heißt Echtheit.
Wenn wir uns darauf einlassen, werden wir ganzheitlicher. Wir müssen nicht dauernd an unserem perfekten Image polieren, sondern dürfen auch unsere Schattenseiten zeigen. Selbst dann noch bleiben wir wertvolle Menschen.
Wer das für sich entdeckt, wird aufatmen und in der Gegenwart ankommen können.
Ich betrachte in diesem Buch das Thema aus drei Blickwinkeln. Stellen Sie sich vor, Sie schauen aus der Vogelperspektive auf einen großen Fluss mit zwei Ufern.
• Im ersten Kapitel beleuchte ich die eine Seite des Stromes, die Erscheinungsformen und auch extremen Auswüchse des Perfektionismus.
• Im zweiten Kapitel die andere Seite des Stromes: ein erfülltes, gelassenes, ganzheitliches und echtes Leben.
• Um von der einen auf die andere Seite zu kommen, braucht es Brücken. Diese beschreibe ich im dritten Kapitel.
• Im vierten Kapitel wird der Weg in die Freiheit am Beispiel des Petrus veranschaulicht.
Ich wünsche allen Lesern und Leserinnen, dass sie nach der Lektüre ihr Leben befreiter, humorvoller und gelassener gestalten und genießen können.
Cornelia Mack
[ Zum Inhaltsverzeichnis ]
Perfektionismus ist nicht nur schlecht. An vielen Stellen unseres persönlichen Lebens sind wir dankbar, wenn etwas perfekt läuft. Wenn die Kaffeemaschine funktioniert und das Auto anspringt, wenn wir Strom und Wasser haben und die Müllabfuhr kommt, dann freuen wir uns.
Wir sind dankbar, wenn es Menschen gibt, die sich ganz in eine Sache hineingeben und mit Perfektion etwas erledigen wollen und können. Und wir sind entspannt oder atmen auf, wenn gesellschaftliche Abläufe sich gut für das Miteinander gestalten. Daran leiden wir nicht, sondern das tut uns gut. Denn es hilft, dass manches im Leben reibungslos oder spannungsfrei verläuft.
Aber es gibt eben auch die andere Seite, die uns unter Druck setzt. In der westlichen Welt wird Perfektionierung in vielen Bereichen erwartet. Selbstkontrolle und Selbstdisziplin gehören zu den Mindeststandards im persönlichen Bereich. Wir sollen unsere Termine und Verpflichtungen einhalten, unseren Beruf verantwortungsvoll ausüben und gleichzeitig ein hohes Maß an Flexibilität zeigen. Außerdem sollen wir soziale Kompetenz beweisen, ehrenamtliches Engagement ist gefragt und wird erwartet. Dieser Perfektionierungswahn setzt uns unter Druck und vermittelt uns bei Nichterreichen der Standards ein permanentes Gefühl der Unvollkommenheit oder Minderwertigkeit. Denn dahinter steckt der Gedanke, dass der Wert eines Menschen sich an der Perfektion seines Lebensstils, seiner Wirkung, seiner Karriere, seines Besitzes, seines Internetprofils oder seines Aus-sehens misst.
Gerade im Internetzeitalter hängt das eigene Wertgefühl ganz stark von der Anerkennung in sozialen Netzwerken ab. Je mehr »Likes«, je mehr Aufmerksamkeit, desto besser, desto geliebter, desto wertvoller bin ich.
Und dazu kommen noch das perfekte Auto, die Traumfigur, die ideale Erziehung, der Top-Urlaub, der perfekte Partner, die geniale Beziehung, der Spitzenjob.
Mit solchen Ansprüchen werden wir täglich im Internet, Fernsehen, in Zeitungen oder in persönlichen Begegnungen konfrontiert. Wer all dem gerecht werden will, merkt schnell, wie schwer das ist und wie schnell man an einem oder mehreren dieser Ziele scheitert.
Sobald wir den Idealen nicht entsprechen können, fühlen wir uns schnell wertlos oder minderwertig.
Deshalb setzen sich viele Menschen selbst unter Druck oder lassen sich unter Druck setzen und geraten mehr und mehr in die Fänge des Perfektionismus. Entweder weil sie selbst vom perfektionistischen Denken und Handeln getrieben werden oder weil sie mit einem Perfektionisten zusammenleben oder -arbeiten. Dann werden sie ständig mit hohen Erwartungen konfrontiert und fühlen sich bei Scheitern minderwertig.
Dennoch: Perfektion ist nicht grundsätzlich schlecht. In bestimmten Bereichen unserer Gesellschaft ist sie sogar sehr wichtig: In der Medizin brauchen wir Menschen, die mit Perfektion arbeiten und entsprechende Ergebnisse erzielen können. Wenn wir uns einer Operation unterziehen müssen, wären wir wohl sehr erschrocken, wenn der Arzt sagen würde, zu 80 % könnte er das gewünschte Ergebnis erzielen.
Wenn wir unser Auto in die Werkstatt bringen, wollen wir, dass die Bremsen danach hundertprozentig arbeiten und nicht nur zu 75 %. Dazu braucht es Menschen, die wissen, wie man ein 100%iges Ziel erreicht. Diese Beispiele gelten für ganz viele Bereiche unserer Gesellschaft: für Landwirtschaft, Industrie, Politik, Pharmazie, Rechtswissenschaften, Medizin, Forschung usw.
Aus dieser Perspektive gesehen ist Perfektion gut und wichtig und wir können froh sein, wenn wir Menschen haben, die durch ihre persönlichen Fähigkeiten und Begabungen diesen Zielen gerecht werden können. Solche Menschen sind aber oft in Gefahr, nicht nur in bestimmten, sondern in allen Bereichen ihres Lebens perfekt sein oder werden zu wollen, und belasten damit sich selber und ihre Mitmenschen.
Sie geraten in das Hamsterrad von Leistung und Erfolg. Sobald das Rad nicht mehr läuft, sehen sie keinen Sinn mehr und fühlen sich wertlos oder empfinden sich als gescheitert.
Im schlimmsten Fall werden sie – wenn sie nicht das richtige Maß finden zwischen Begabung und Begrenzung – vollkommen geknechtet von den perfektionistischen Zielen.
Doch das muss nicht sein.
Es gibt Wege aus dem Gefängnis des Perfektionismus heraus.
Dazu ist es aber gut, den Perfektionismus etwas genauer unter die Lupe zu nehmen.
• Wie gestaltet er sich?
• Was sind die Konsequenzen?
• Woher kommt er?
• Was sind die Ursachen?
• Was ist die Alternative zum Perfektionismus?
• Wie komme ich heraus aus dem Hamsterrad?
• Wie sieht befreites Leben aus?
[ Zum Inhaltsverzeichnis ]
Sind Sie perfekt? Wenn Sie direkt gefragt werden, werden Sie vermutlich mit »Nein« antworten. Bei der nächsten Frage sieht die Antwort vielleicht anders aus: Wollen Sie – zumindest heimlich – gerne ein perfekter Mensch sein?
Wenn wir ganz ehrlich sind, müssten die meisten von uns darauf mit »Ja« antworten. Denn: Wünschen wir uns nicht ein gutes Image, einen anerkannten, erfolgreichen Job, daneben natürlich den perfekten Haushalt, einen unkrautfreien Garten, wohlerzogene Kinder, einen vorzeigbaren Ehemann oder die perfekte Ehefrau und viele echte Freunde und solche in sozialen Netzwerken, erholsame und zugleich interessante Urlaube und dann natürlich auch jede Menge im Hirn und möglichst wenig auf den Hüften?
Wer perfekt ist, wird allenfalls bewundert, aber nicht geliebt.
Doch in der Begegnung mit Perfektionisten gehen wir dann oft eher auf Distanz. Warum? Weil wir Perfektionismus bei anderen oft gar nicht einladend oder anziehend empfinden, denn er hat häufig etwas Unnahbares an sich. Perfekte Menschen wirken oft unmenschlich oder distanziert. Unerreichbar. Sie wollen und können anscheinend alles richtig machen, geben sich keine Blöße, wollen gut dastehen – vor sich selbst und natürlich erst recht vor anderen und wollen auf keinen Fall Schwächen zeigen, egal ob zu Hause oder im Beruf, im Fitnessstudio oder im Freundeskreis, in der Nachbarschaft oder in der Gemeinde.
Mit dieser Haltung üben sie einen unausgesprochenen Druck auf ihre Mitmenschen aus: hohe Erwartungen, heimliche Forderungen, unerreichbare Ziele.
Darum kann man sich in der Nähe von Perfektionisten oft nicht wohlfühlen, ja manchmal fängt man in deren Gegenwart sogar an, innerlich zu frieren, und zieht für sich Konsequenzen:
• Bevor ich ständig zu spüren bekomme, dass ich nicht gut genug bin und alles falsch mache, gehe ich doch lieber auf Distanz und weiche aus.
• Ich versuche den Kontakt mit jemandem zu vermeiden, der mir dauernd vermittelt, dass ich fehlerhaft bin.
• Wenn ich sehe, wie perfekt bei denen alles läuft, dann fühle ich mich noch Stunden nach der Begegnung minderwertig.
• Wenn die zu Besuch kommen, dann spüre ich an den Blicken und an der Mimik, dass sie sich als was Besseres fühlen.
• So überheblich, wie meine Arbeitskollegin sich mir gegenüber verhält, lege ich meine Arbeitszeiten so, dass ich möglichst wenig Zeitüberschneidung mit ihr habe und das Zusammensein mit ihr reduzieren kann.
Die Ausstrahlung von Perfektionisten führt dazu, dass sie oft von anderen Menschen gemieden werden. Die ideale Welt, die Perfektionisten nach außen zeigen oder erwarten, erscheint für andere unerreichbar. So entsteht soziale Distanz.
Andererseits trägt aber jeder Mensch in sich das tiefe Bedürfnis nach guten Kontakten, nach Nähe, nach Geborgenheit, nach Angenommensein. Doch Nähe entsteht durch Echtheit, durch Zugeben von Bedürftigkeit und durch die Bereitschaft zur Ehrlichkeit gegenüber den eigenen Schwächen. Und genau da beginnt das Problem der Perfektionisten: Es fällt schwer, sich das einzugestehen.
Denn sie definieren sich fast ausschließlich über ihre Leistung und ihre Wirkung. Schwäche und Ohnmacht, Hilfsbedürftigkeit bei sich selbst wollen sie nicht zugeben. Denn dann würde das Image des immer funktionierenden Menschen und dauerhaft gelingenden Lebens einen Kratzer bekommen. Schwäche und Fehler sind ein Widerspruch zur Perfektion. Genau deswegen stehen sie sich selber und auch wahrer Freundschaft oft im Weg.
Julia hat eine große Familie, sie hat drei Kinder und dadurch auch in vielen Bereichen Kontakte. Sie ist in zwei Schulklassen ihrer Kinder Elternvertreterin. Sie hat einen Halbtagsjob als Industriekauffrau. Auch in der sogenannten Freizeit setzt sie sich ein, wo immer sie einen Missstand oder eine Not entdeckt.
Ihren Haushalt bewältigt sie erfolgreich, sie steht oft schon sehr früh auf und arbeitet bis in die Nacht hinein, eben damit sie alles unter einen Hut bekommt – die Kinder zur Schule, der Weg zur Arbeit, das Haus ordentlich, der Garten gepflegt. Sie achtet auf ihr Äußeres, ihre Figur, ihre Kleidung. Sie ist auch engagiert in ihrer Gemeinde, sie arbeitet mit in einem Kreis für jüngere Frauen, außerdem singt sie in einem Chor und geht ins Fitnessstudio, denn ein bisschen Entspannung braucht der Mensch ja schließlich.
Sie kann schlecht Nein sagen. Vor einigen Monaten wurde sie gefragt, ob sie im Besuchsdienst für Neuzugezogene mitarbeiten wollte, denn da fehlen immer wieder Mitarbeiter(innen). Sie hat eine Weile darüber nachgedacht und hat auch gleich die innere Verpflichtung verspürt, sich einzubringen. Denn wenn es zu wenige gibt, dann muss sie doch oder etwa nicht? Wer macht es denn sonst?
Genießen, nichts tun kann sie sich nicht gestatten, denn das wäre ja reine Zeitverschwendung. Sie lebt unter ständigem inneren Druck, immer alles im Griff zu haben und sich ständig noch verbessern zu müssen, zu Hause, im Beruf und in der Freizeit. Gleichzeitig hat sie das Gefühl, Opfer der vielen äußeren Zwänge, Pflichten und Lasten zu sein.
Wenn sie gelobt wird, freut sie sich zwar, aber sofort steht in ihr ein innerer Kritiker auf, der zu ihr sagt: Es könnte aber noch besser sein. Oder sie fühlt sich bei Lob sogar wie ein Versager und denkt dann: Die meinen das doch nicht wirklich so, die sagen das aus Höflichkeit – oder sie denkt: Die anderen wissen ja gar nicht, wie es in anderen Bereichen bei mir aussieht. Wenn die das wüssten, würden sie mich bestimmt nicht loben.
In letzter Zeit erlebt sie es häufig, dass sie nicht mehr richtig schlafen kann, sie schreckt oft aus dem Schlaf hoch und dann kreisen ihre Gedanken um Erlebnisse und Aufgaben des vergangenen Tages. Immer wieder wird sie von Selbstzweifeln gequält, ob sie auch alles richtig gemacht habe – und vor allem, ob sie ja niemandem Anlass gegeben habe, etwas Schlechtes von ihr zu denken. Das wäre für sie ganz schlimm, wenn andere an ihr Kritik üben müssten. Sie möchte es gerne möglichst allen recht machen. Ein gutes Bild abzugeben, ist ihr sehr wichtig.
Damit die Selbstzweifel sie nicht so beherrschen, beschließt sie, in Zukunft noch eine halbe Stunde früher aufzustehen und ihren Tag mit Listen und Terminplänen noch besser durchzuplanen, damit sie für alle Fälle gewappnet ist. Diese Pläne braucht sie, um sich sicher zu fühlen. Sonst hat sie das Gefühl, ihren Tag nicht bewältigen zu können. Aber die Kehrseite davon ist, dass sie sich damit noch mehr unter Druck setzt. Wenn sie in diesem System so weitermacht, besteht die Gefahr, dass sie in einem Burn-out landet.
Mit ihren Fehlern kann sie nicht recht umgehen – und erst recht nicht mit denen anderer Menschen. Manchmal erschrickt sie über sich, vor allem dann, wenn sie die Kontrolle über ihre Gefühle verliert. Da reicht manchmal schon eine Kleinigkeit, die nicht so läuft, wie sie es sich vorgestellt oder geplant hat – und dann rastet sie aus.
Häufig erlebt sie es, wenn sie nach der Arbeit ihren Rundgang durchs Haus macht und in die Kinderzimmer kommt. Dann muss sie feststellen, dass die Kinder schon wieder Kleider, Lebensmittel, leere Getränkeflaschen und Schulsachen auf dem Boden verstreut haben, obwohl sie es ihnen doch schon so oft erklärt hat, dass sie das so nicht will. Die Arbeitsfläche auf dem Schreibtisch ist unter einem Berg von unterschiedlichen Materialien vergraben. Wie soll man da Hausaufgaben machen? Langsam staut sich in ihr der Ärger auf und entlädt sich in dem Moment, wenn die Kinder von der Schule nach Hause kommen.
Sie möchte ihre Kinder zwar lieben, aber deren Fehler sind für sie oft eine Blockade – sie denkt: Wenn die besser folgen würden, ordentlicher wären, wenn die nicht immer so laut wären, wenn die meinen Erwartungen besser entsprechen würden, dann könnte ich sie schon lieben. Aber so doch nicht. Es kann auch sein, dass sie im Blick auf ihren Ehemann solche Gedanken hegt: Wenn der endlich der treu umsorgende, zärtliche und liebevolle Mann wäre – so wie der von meiner Nachbarin oder Freundin – dann könnte ich ihn schon richtig lieben. Aber so nicht. Oder: Wenn er endlich mal selber auf die Idee kommen würde, die Reparaturen am Haus auszuführen, oder von sich aus mal fragen würde, wie es mir geht, dann könnte ich ihn von Herzen gernhaben, aber so geht das nicht. Der soll sich erst mal ändern, bevor ich Liebe zulasse.
Was passiert da? Sie knüpft ihre Liebe an Bedingungen – und zwar an die Bedingung des Wohlverhaltens oder der Erwartungserfüllung. Und wenn die anderen diesen nicht gerecht werden, wird sie aggressiv und unzufrieden.
Sollten an einem Tag zu viele ungeplante Dinge passieren, dann gerät sie so richtig aus dem Lot. Dann zerrinnt ihr die Zeit unter den Fingern und sie hat das Gefühl, nur noch zu schwimmen.
Am meisten hilft es ihr dann, wenn sie sich eine Weile aus dem Staub macht und ins Fitnessstudio geht. Außerhalb der Familie fällt es ihr leichter, sich im Griff zu haben. Meistens weiß sie auch, wie sie sich verhalten muss, damit sie gut ankommt. So aufgebaut, kommt sie wieder zu Hause an und fängt dann auch dort wieder an, alles nach ihrem Muster zu ordnen und zu sortieren. Aber wehe, wenn dann einer nicht spurt. Es ist schlimm für sie, wenn ihr Dinge entgleiten und unkontrollierbar werden.
Sie übernimmt Verantwortung oder Aufgaben oft deshalb, weil andere es nicht so gut machen, wie sie es machen würde. Sie tut vieles deswegen, weil sie nicht damit zufrieden ist, wie es die anderen machen. Oft ärgert sie sich über die Schlampigkeit oder Unordnung anderer und erledigt es dann doch lieber selber.
Die Kinder machen eben die Betten nicht so, wie sie es gern hätte – da korrigiert sie eben noch hinterher. Die Kinder putzen die Waschbecken nicht wirklich sauber, da fragt sie oft schon gar nicht mehr um Mithilfe.
Und wenn ihr Mann oder ihre Kinder die Spülmaschine einräumen, dann wird das Geschirr gar nicht sauber – dann macht sie es doch lieber selber.
Wenn es dann aber wirklich drauf ankommt – wenn sie zum Beispiel krank wird oder aus anderen Gründen ausfällt, – dann hängt alles an ihr, denn die anderen sind durch sie so unselbstständig geworden, dass sie nicht eigenverantwortlich handeln können.
So entsteht in ihr einerseits ein Gefühl von Wichtigkeit: Ohne mich läuft nichts richtig. Andererseits von Druck und Verantwortung und immer stärkerer Belastung: Alles muss ich alleine tun, niemand hilft mir.
Ihr Lebensgefühl ist eher das einer getriebenen als das einer dankbaren und gelassenen Frau. Sie ist nie wirklich zufrieden mit dem Erreichten, ständig findet sie etwas, das bei ihr oder bei anderen nicht in Ordnung ist. Sie steht permanent unter Druck. Immer meint sie, nicht genug getan, nicht genug gearbeitet, nicht genug geleistet zu haben.
Es ist, als ob jemand eine Peitsche über ihren Kopf schwingt und sie dauernd anfeuert: Mach weiter, immer weiter, mach’s besser, tue noch mehr, optimiere dich.
Manchmal fragt sie sich, was eigentlich echte Freundschaft ist. Sie zweifelt gelegentlich daran, ob sie echte Freunde hat. Kontakte hat sie viele, aber meistens ist sie dort die Gebende, die, von der man erwartet und nimmt. Tief in ihr steckt das Bedürfnis, auch einmal um Hilfe zu bitten. Manchmal würde sie sich gerne äußern