Wie die Sterne wollten - Arthur W. Friedrich - E-Book

Wie die Sterne wollten E-Book

Arthur W. Friedrich

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Beschreibung

Im Mittelpunkt dieses Buches steht das Leben des Realschullehrers Wolfgang Bronner, der sich gegen alle Vernunft hoffnungslos in eine seiner minderjährigen Schülerinnen verliebt und dem dabei klar wird, dass er mit aller Macht gegen diese Leidenschaft ankämpfen muss, die sonst damit droht, sein an der Oberfläche in geordneten Bahnen verlaufendes bürgerliches Leben zu zerstören. An Hand der Schilderung seines Schicksals und weiterer unterschiedlicher Lebensläufe soll der Bezug zur Aussage "Da ist's denn wieder, wie die Sterne wollten" aus Goethes Gedicht "Urworte. Orphisch - Ananke" dargestellt werden.

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Inhaltsverzeichnis

1 Der Fund

2 In der Bahnhofswirtschaft

3 Erinnerungen an die Nachkriegszeit

4 Ein neuer Lehrer

5 Die Befragung

6 Emil Sailer

7 Eine Erinnerung

8 Im Kollegium

9 Ein wichtiges Gespräch

10 Neue Gesichter

11 Ein weiterer Erfolg

12 Bronner wird heimisch

13 Der Ausbruch

14 Nächtliche Überlegungen

15 Ein Streit

16 Unter Freunden

17 Der Aufbruch

18 Die Rückkehr

19 Ein stilles Mädchen

20 Die Zeugniskonferenz

21 Ein neues Schuljahr

22 Gegen die Regel

23 Gedanken an einem Sommertag

24 Schuldgefühle

25 Kara Ben Nemsi und Liebe

26 Richtig gehandelt?

27 Not Shakespeare, but a teacher in love

28 Gefühl contra Verstand

29 Begegnung im Möbelmarkt

30 Valentinstag

31 Depression

32 Vorfreude

33 Die Abschlussprüfung

34 Die Abschlussfeier

35 Ein Abend voller Hoffnungen

36 Die Beobachtungen einer Ehefrau

37 Urlaub

38 Die Diagnose

39 Schwere Gedanken

40 Ein unerwartetes Wiedersehen

41 Vorbereitungen

42 Der Entschluss

43 Ein Brief

44 Das Untersuchungsergebnis

45 Ein neues Leben

46 Die Medizinstudentin

47 Die Todesanzeige

48 Eine ganz normale Familie

49 Die Beerdigung

50 Ein aufschlussreiches Gespräch

51 Erkenntnisse und Einsichten

52 Alltag

53 Kurze Begegnung mit der Vergangenheit

54 Wen die Götter lieben

55 Die Betriebsversammlung

56 Rückblicke

57 Ergänzung

Verliebt in meine Schülerin, was kann ich dagegen tun? (Ein Beispiel aus dem Internet)

Die vorliegende Erzählung beginnt Ende der 60er Jahre und setzt sich dann fort.

ΑΝΑΓΚΗ, Nötigung

„Da ist’s denn wieder, wie die Sterne wollten: Bedingung und Gesetz; und aller Wille Ist nur ein Wollen, weil wir eben sollten, Und vor dem Willen schweigt die Willkür stille; Das Liebste wird vom Herzen weggescholten, Dem harten Muß bequemt sich Will und Grille. So sind wir scheinfrei denn, nach manchen Jahren Nur enger dran, als wir am Anfang waren“.

(„Urworte – Orphisch“ - Johann Wolfgang von Goethe)

1

Der Fund

“Yes I’m lonely, want to die”

(„Yer Blues“– The Beatles)

Der Tote sah nur auf den ersten Blick sehr friedlich aus. Bei genauerem Hinsehen aber waren in seinem Gesicht noch die Spuren des Todeskampfs zu erkennen und auch die Blutlache, in der er lag, sprach eine deutliche Sprache. Sie rührte von den der Länge nach aufgeschlitzten Pulsadern her und hatte sich allmählich auf dem Waldboden ausgebreitet. Die alten Kiefern über dem Toten bewegten sich leise im warmen Wind eines Sommerabends im August, während eine glühendrote Abendsonne langsam hinter den Wäldern am Fuß des Hohenzollern verschwand. Vom Vorgefallenen nicht im Mindesten beeindruckt, verrichteten die Roten Waldameisen weiterhin eifrig ihre Arbeit des Einsammelns von Kiefernadeln und Insekten.

Der Tote trug gewöhnliche Alltagskleidung; ein blaues Hemd, eine Cordhose und war ungefähr 25 - 30 Jahre alt. Er führte keinerlei Papiere mit sich, so dass eine Identifizierung durch die Spurensicherung der Kriminalpolizei im ersten Moment nicht möglich war. Zwei ältere Spaziergänger, ein vor kurzem nach Riesheim zugezogenes Ehepaar, hatten ihn eigentlich nur durch einen Zufall gefunden. Die beiden hatten einen Abendspaziergang zur „Kahlen Wand“, einem Hangrutsch im Weißjuragestein der Schwäbischen Alb unternommen. Der Mann hatte etwas in der Sonne blinken sehen und der blinkende Gegenstand erwies sich beim Näherkommen als die Armbanduhr des am Waldrand liegenden Toten. Nach der Überwindung des ersten Schreckens hatten sie sich sofort auf den Weg nach Riesheim gemacht, um von dort aus telefonisch die Polizei zu verständigen.

2

In der Bahnhofswirtschaft

“You know my temperature's risin'

The jukebox's blowin' a fuse”

(“Roll over Beethoven“– Chuck Berry)

In der Bahnhofswirtschaft der kleinen Gemeinde Riesheim spielte die Musikbox „Roll over Beethoven“ oder zur Abwechslung auch den in diesem Lokal von der älteren Generation sehr geschätzten „Drina-Marsch“. Einige Jugendliche bedienten sie durch das Einwerfen eines DM-Stückes, wofür man immerhin drei Musikstücke zu hören bekam, bevor dann ein anderer Gast seinen musikalischen Geschmack mit Hilfe von weiteren Geldstücken zum Ausdruck brachte. Die Zeit dieser Musikautomaten neigte sich langsam dem Ende zu; in vielen anderen Wirtschaften waren sie bereits aus den Räumen verschwunden. Die Jugendlichen betätigten sich dabei sehr lautstark an einem Tischkicker.

Der ganze Raum war durchzogen von einem eigenartigen, für diese Gastwirtschaft charakteristischen Geruch nach altem Holz, Tabakrauch und Bier. Im Verlauf des Abends würde noch ein gemischter Duft aus Metall, Schweiß, Kölnisch Wasser und Handwaschpaste dazukommen. Es war nach 17.00 Uhr und daher herrschte in einigen Fabriken bereits Feierabend, so dass sich schon eine kleine Schar von Gästen eingefunden hatte. Am Stammtisch, etwas von Musikbox und Tischkicker entfernt, drehte sich das Gespräch um den vor wenigen Tagen aufgefundenen Toten. Da man bisher noch nichts Näheres über ihn erfahren hatte, wurden allerlei Vermutungen angestellt. „Weshalb bringt sich denn so ein junger Mensch um?“ war die zentrale Frage in diesem Männerkreis, auf die eine Antwort gesucht wurde. Die möglichen Gründe dafür wurden ausführlich und geradezu leidenschaftlich diskutiert: Schulden, eine unheilbare Krankheit, ja sogar Liebeskummer wurden für möglich erachtet oder vielleicht ein Racheakt auf Grund der Mitgliedschaft des Ermordeten in einer verbrecherischen Organisation - „in der SPD!“ - wie ein mit einer filterlosen Zigarette und einem Hang zum zweifelhaften Humor ausgestatteter Zeitgenosse trocken anmerkte. „Oder von der Ehefrau für einen anderen verlassen“ bemerkte tiefsinnig ein anderer Gast, der offensichtlich auf diesem Gebiet über Erfahrungen zu verfügen schien. Einer phantasievollen Spekulation über den Toten war also Tür und Tor geöffnet. Für einige von den eifrig Diskutierenden erwähnten Möglichkeiten fanden sich Beispiele, die sich irgendwann einmal in dieser Gegend ereignet hatten. „Das weiß man noch gut!“ wurde öfters unter zustimmendem Kopfnicken angemerkt. Andere Gäste waren jedoch der Ansicht, dass der Aufgefundene für einen Selbstmord auf Grund der angeführten Motive einfach noch zu jung gewesen sei, jedenfalls vertraten die meisten diese Meinung.

„Warum gerade hier bei uns?“ war das zweite wichtige Problem, das von den rauchenden und biertrinkenden Männern nun erörtert wurde. „Na, er wird hier jemand gekannt haben; vielleicht hatte er vor, bei dem noch einmal nach Hilfe zu suchen, hat es sich dann aber anders überlegt - das wäre vielleicht ein Bezug zu unserer Gegend“ meinte ein gut gekleideter Gast, dessen volles schwarzes Haar an einigen Stellen bereits eine leichte Grautönung aufwies, was ihm ein etwas vornehmes, seriöses Aussehen verlieh. Er verfügte über eine sportliche Figur, war breitschulterig und wenn man dem Gespräch länger lauschte, bemerkte man, dass er in der Achtung der anderen Gäste offensichtlich etwas höher stand. Auch überlegte er genauer als die anderen was er sagte. „Warten wir es doch einfach einmal ab, was die Polizei herausfindet, so lange kann das ja nicht dauern“ riet der etwas stämmige, noch relativ junge Wirt und stellte drei neue Gläser Bier auf den großen runden Tisch, auf dem mittlerweile schon einige Zigarettenkippen im riesigen Stammtischaschenbecher lagen. „Du hast deine Zigarette wieder nicht ausgedrückt, die qualmt immer noch vor sich hin! Warum machst du denn das nie?“ fragte ein junger Mann mit auffallenden Locken etwas ärgerlich und in vorwurfsvollem Ton einen neben ihm sitzenden, ebenfalls jungen Gast, der ihn daraufhin ziemlich verwundert ansah. „Du weißt doch, dass es stinkt!“ fuhr der Lockenkopf dann fort. „Ja glaubst du vielleicht, dass die Zigarette, die du gerade rauchst, weniger stinkt? Was ist denn das für eine Logik? Außerdem hat meine keinen Filter, also verbrennt sie sauber, bis nichts mehr von ihr übrig bleibt!“ war die Antwort des Angesprochenen. „Du spinnst! Aber total!“ meinte der Lockige kopfschüttelnd. „Du hast ziemlich oft Einfälle wie alte Häuser! Und drück sie jetzt gefälligst aus; alle anderen Kippen fangen sonst ebenfalls wieder an zu qualmen! - Konrad, noch ein Bier, bitte!“ lautete dann seine Bestellung an den Wirt, der sie wortlos entgegennahm.

3

Erinnerungen an die Nachkriegszeit

“We'll go walking out

While others shout of war's disaster”

(„Livin in the past“- Jethro Tull)

Der junge Mann mit der sportlichen Figur und den bereits leicht grau werdenden Haaren setzte sich nach Verlassen der Gastwirtschaft in seinen blau-weißen Opel Kapitän, einem Traumauto der damaligen Zeit, und fuhr nach Hause. Obwohl die Entfernung von seinem Haus zum Lokal kaum einen Kilometer betrug, benutzte er zum bequemen Zurücklegen selbst einer so unbedeutenden Strecke das Auto, wie es fast alle im Dorf taten. Wenn man ein Auto besaß, zeigte man das auch bei jeder passenden Gelegenheit, denn es war ein Symbol des langsam zunehmenden Wohlstandes der Bevölkerung.

Karl Theurer war der Sohn eines reichen Fabrikanten und damit auch Erbe einer gut gehenden Textilfabrik am Ort. Nicht nur, dass er blendend aussah; er verfügte auch über den notwendigen Charme, um das Herz so mancher Dorfschönheit höher schlagen zu lassen. Aber bisher hatte er sich für keine von ihnen entschieden. Man munkelte zwar von mancherlei Affären, die er angeblich hatte, aber niemand wusste so genau, ob diese Gerüchte wirklich der Wahrheit entsprachen. Wer wie er über die Eigenschaften „Gutes Aussehen und Geld“ verfügte, hatte einfach so zu sein, wie sich die Leute das vorstellten!

Theurer setzte sich auf die Bank vor seinem Elternhaus. Sein Anzug roch stark nach Zigarettenqualm und Fett, ein Andenken an den Ort, wo er sich bis vor kurzem aufgehalten hatte. Sein Vater, ein überzeugter Nichtraucher, verabscheute diesen Geruch und wollte ihn nicht in seiner Wohnung haben. In kurzer Entfernung vom Haus standen zwei mächtige, uralte Trauerweiden, deren Zweige sich leise im Wind bewegten. Das monotone Plätschern des nahe gelegenen Friedhofsbrunnen schuf eine Idylle, die nur ab und zu durch das Schreien einiger Krähen gestört wurde.

Karl Theurer liebte diese Bank. Als Kind hatte er hier oft gesessen und ergriffen den männlichen Nachbarn und Verwandten gelauscht, wenn sie von ihren Kriegserlebnissen oder ihrer Gefangenschaft erzählten. Er war 1936 geboren worden und damit am Ende der vierziger und anfangs der fünfziger Jahre alt genug, diesen Männern und ihren Geschichten folgen zu können, wenngleich er auch nicht immer alles begriff. Ziemlich rasch aber verstand er, wer der häufig erwähnte „Ami“ war oder der „Tommy“ und natürlich auch der „Iwan“. Der letztere erschien ihm in seiner Phantasie als eine riesige, in eine Pelzjacke gehüllte Gestalt, mit grimmigem Gesichtsausdruck und ständig „Dawai! Dawai!“ rufend und manchmal träumte er nachts von dieser furchterregenden Erscheinung. Gespräche im eigentlichen Sinne konnte man diese Unterhaltung zwischen den Männern nicht nennen; es waren vielmehr kürzere Monologe, bei denen einer redete und die anderen schweigend zuhörten und ihre Zigaretten rauchten. Karl erfuhr, wie es den Männern in der Gefangenschaft ergangen war; einer von ihnen erzählte nur heitere Anekdoten, ein anderer dagegen schilderte mit sehr nüchternen Worten, wie sie beim „Franzosen“ gehungert hatten. Ein Spätheimkehrer berichtete davon, wie er mit ansehen musste, wie in irgendeiner namenlosen polnischen Stadt einer seiner Kameraden eine alte Frau, die diesem auf der Straße nicht schnell genug ausweichen konnte, mit den Worten „Du hast lange genug gelebt!“ einfach erschossen hatte. Man merkte diesem meist nachdenklichen Mann an, dass er diesen entsetzlichen Vorfall bis heute noch nicht verarbeitet hatte, denn er erzählte ihn fast bei jedem Treffen wieder, als würde er dabei insgeheim hoffen, dass sich durch diese Wiederholungen irgendwann ein weniger schreckliches Ende ergeben würde.

Aber es gab auch Erzählungen, bei denen eine gewisse Menschlichkeit durchschimmerte. Ein dem begierig lauschenden Karl sehr sympathischer Mann erzählte von seinen Erfahrungen in englischer Gefangenschaft und von einer sehr fairen Behandlung von Seiten der Bewacher. Ein anderer berichtete, wie er bei einer französischen Bauernfamilie im Lauf der Zeit allmählich als Familienmitglied betrachtet wurde und dass das Abschiednehmen bei seiner Entlassung ziemlich tränenreich verlaufen war und dass man sich, wenn die Zeiten wieder einmal „besser“ und „normal“ geworden waren, unbedingt wiedersehen wollte.

Karl sog das alles begierig in sich auf und wie er später einmal sagte, wusste er nach einiger Zeit nicht mehr so genau, ob er nicht selbst in Gefangenschaft gewesen war. Sein Vater saß ebenfalls auf der Bank und hörte schweigend zu, was die Männer erzählten, wobei sie ihre Zigaretten oder ihre Stumpen rauchten. Da er der Chef einer Fabrik war, die während der Zeit des Zweiten Weltkriegs unter anderem auch kriegswichtige Güter, nämlich Uniformen produzierte beziehungsweise produzieren musste, hatte man ihn, sicher auch auf Grund seiner eingeschränkten Sehkraft, nicht zum Militärdienst eingezogen. Deshalb konnte er sich nicht an diesen Gesprächen beteiligen. Er war nie ein Freund des Nationalsozialismus gewesen und hatte die damaligen Geschehnisse im Ort genau verfolgt. Er war sich von Anfang an sicher, dass dieses Reich keine tausend Jahre überstehen würde und hatte für die Herren in Braun nur den spöttischen Ausdruck „Nationalspezialisten“ übrig, bis er dann von einem Kunden angezeigt wurde, weil er sich geweigert hatte, diesen mit „Heil Hitler“ zu begrüßen. Dank seiner weit reichenden Beziehungen entging er aber einer Bestrafung.

Ab und zu fand sich auch ein Mann auf der Bank ein, dessen Erscheinen die anderen Kriegseilnehmer offensichtlich unangenehm berührte. Wenn er zu sprechen begann, hörten sie eine Weile seinem Monolog zu, aber versuchten dann, ihn vom Thema abzubringen, allerdings mit geringer Aussicht auf Erfolg, denn der Sprecher hielt hartnäckig an seinen Ausführungen fest. Wenn also alles nichts nützte, diesen Herrn zum Schweigen zu bringen, dann blickte zuerst einer von ihnen irgendwann auf seine Armbanduhr, machte eine entsprechende Bemerkung über die fortgeschrittene Zeit, stand auf und schlug ziemlich rasch den Weg nach Hause ein. Die anderen machten es ihm nach, einer nach dem anderen, drückten ihre Zigaretten aus und verschwanden ebenfalls unter ähnlichen, meist leicht durchschaubaren Vorwänden. Theurer Senior hatte seiner Frau die Anweisung erteilt: „Wenn der auftaucht, rufst du mich, und sagst, dass du mich unbedingt im Haus brauchst. Den Kerl will ich nicht in meiner Nähe haben!“ Karl konnte damals nicht herausfinden, was es mit diesem leicht dicklichen Herrn auf sich hatte. Im Krieg schien er auf Grund seiner Erzählungen nicht gewesen zu sein, sondern er hatte seinen Berichten nach zu schließen, die ganzen sechs Jahre hier in der Heimat verbracht. Er schien im „Dritten Reich“ eine wichtige Persönlichkeit im Dorf gewesen zu sein und eine führende Rolle beim politischen Geschehen in Riesheim gespielt zu haben, besonders am Kriegsende.

Wenn er nicht anwesend war und die Rede zufällig auf ihn kam, schnappte Karl dann Ausdrücke wie „Goldfasan“ und „ganz niedrige Parteinummer“ auf, aber auch „Drückeberger“ und „mangelnde Intelligenz“, „hätte Kariere machen können“, „hat am Schluss noch ziemlich viel Unheil angerichtet“, sah aber keine Zusammenhänge. Fragte Karl seinen Vater danach, so hieß es nur: „Das verstehst du jetzt noch nicht! Aber in ein paar Jahren werde ich es dir erklären!“ Also blieb dieser Dorfbewohner für Karl von einer dunklen, geheimnisvollen Aura umgeben.

Daran dachte er, als er heute wieder einmal hier saß. Seit einiger Zeit war er unter der Führung seines Vaters selbst in die Firma eingestiegen. Dieser hatte für eine gute Ausbildung gesorgt, seinen Sohn aber immer darauf hingewiesen, dass die Textilindustrie alles andere als krisenfest war. Es galt, sich immer auf dem Laufenden zu halten, sich über die neuesten Trends auf dem Markt zu informieren, um nicht eines Tages abgehängt zu sein. Und so reiste Karl Theurer schon in jungen Jahren mit seinem Vater ziemlich viel herum, in erster Linie in Deutschland, aber auch bereits ins angrenzende Ausland, nach Frankreich, in die Schweiz oder nach Italien. Die Begegnungen mit fremden Menschen, die auf Grund des erst vor kurzem zu Ende gegangenen Krieges nicht immer unproblematisch verliefen, vertieften seine Menschenkenntnis und steigerten sein Drang nach neuen Erfahrungen.

4

Ein neuer Lehrer

“He said, my name's the teacher

Oh that is what I call myself”

(„Teacher“ – Jethro Tull)

Nach kurzer Zeit bemerkte Mittelschullehrer Wolfgang Bronner, dass ihn zwei Schüler während der Pausenaufsicht genau beobachteten und seinen typischen Lehrergang mit den auf dem Rücken verschränkten Händen imitierten, wobei sie gemeinsam etwas provokant auf gleicher Höhe in ziemlich kurzem Abstand vor ihm hergingen, so dass er sie beim besten Willen nicht übersehen konnte. Er überlegte kurz, ob er die beiden zur Rede stellen sollte; dann entschloss er sich dazu, sie einfach zu ignorieren. Es hätte auch nichts gebracht, sich mit zwei Siebtklässlern an dieser Mittelschule in Steinberg herumzustreiten; wahrscheinlich hätte er sich dabei nur lächerlich gemacht und den Kürzeren gezogen. Er war erst vor kurzem an diese Schule gekommen und fühlte sich noch relativ fremd hier. Er kannte bisher seine Kollegen kaum, aber an ihnen gab es eigentlich nichts zu beanstanden; die meisten bis auf die immer vorhandenen Ausnahmen waren sehr nett zu ihm und versuchten, ihm die Eingewöhnung an seiner neuen Stelle möglichst leicht zu machen. Aber die sechs Jahre, die er vorher an seiner alten Schule in Stuttgart verbracht hatte, waren nicht so einfach aus dem Gedächtnis zu streichen, das bemerkte er ziemlich rasch. Mit seinem dortigen Chef war er eigentlich ganz gut ausgekommen. Dieser hatte ihm so manche Ungeschicklichkeit und das Hineintreten in die nach Bronners Empfinden überall lauernden Fettnäpfchen verziehen, unter anderem sogar das beinahe unentschuldbare Vergehen, dass er in einer Vertretungsstunde mit den Schülern Karten gespielt hatte, weil er als Junglehrer in seiner zweiten Unterrichtswoche noch nicht so richtig gewusst hatte, wozu Vertretungsstunden eigentlich vorgesehen waren. Sechs Jahre war er an dieser Stuttgarter Schule geblieben; hatte sich allmählich bei den meisten seiner Kollegen und Schülern Respekt und Anerkennung verschafft. Natürlich hatte es Ausnahmen unter ihnen gegeben, die ihn weniger schätzten, aber das hatte ihn nicht sonderlich gekümmert. Was ihm zu schaffen machte, war die an allen Schulen übliche Bürokratie, waren in seinen Augen seltsame Vorschriften, wie zum Beispiel das Anfertigen von Stundenplänen mit schwarzer und roter Tinte, die der Schulleitung einen Überblick über seine eigenen und in anderen Klassen gehaltenen Unterrichtsstunden verschaffen sollten. Diese Stundenpläne wurden von seinem Chef korrigiert und tags darauf fand er sie dann wieder in seinem Fach zur Ausbesserung vor, weil er einfach nicht damit zurechtkam. Er wollte unterrichten und keine Formulare ausfüllen, die seiner Meinung nach nur einen Selbstzweck erfüllten und die sowieso niemand brauchte; es sei denn, sie nach der Erstellung in irgendeinem Aktenordner verstauben zu lassen. Denn unterrichten konnte er und das wusste er auch, weil ihm manche Schüler offen mitteilten, dass sie diesen oder jenen Sachverhalt in Englisch oder Erdkunde bei ihm zum ersten Mal kapiert hätten. Außer dass er gut erklären konnte, setzte er sich auch für seine Schüler ein; er stimmte nie Aussagen zu wie „bei dem ist sowieso Hopfen und Malz verloren“ oder „bei dem ist jede Erklärung für die Katz!“. Einen hoffnungslosen Fall gab es für ihn nicht.

Nun also war er hier in Steinberg, nicht allzu weit weg von seinem Heimatdorf Riesheim an einem Ort, wohlgemerkt auf eigenen Wunsch, an den eigentlich kein Mittelschullehrer gerne hin wollte. Gut, wie immer zählte er auf die Zeit als seinen Verbündeten und er hatte keinesfalls vor, seine früheren in Stuttgart praktizierten Ideale aufzugeben. Aber er hütete sich streng, an seiner neuen Schule Sätze wie „In Stuttgart haben wir das aber so gemacht“, oder „eigentlich fand ich das an meiner alten Schule nicht schlecht“ bei Gesprächen unter den Kollegen zu verwenden. Dadurch schuf man sich nicht unbedingt Sympathien.

Von Zeit zu Zeit aber drängte sich ihm immer wieder der Gedanke auf, ob die Versetzung hierher nicht doch vielleicht ein Fehler gewesen sein könnte, obwohl sie ja von ihm beantragt worden war. Das war besonders an jenen Tagen der Fall, die durch schulische Misserfolgserlebnisse gekennzeichnet waren. Dann ging er in Gedanken noch einmal alle Gründe durch, die für diese Versetzung ausschlaggebend gewesen waren.

Der Hauptgrund war natürlich folgender: Ein Ereignis, das sein privates Leben entscheidend verändern würde, stand ihm demnächst bevor. Er würde im kommenden Sommer heiraten. Er war im September 30 Jahre alt geworden und war der persönlichen Ansicht, dass es so langsam Zeit für eine Ehe sei. Seine zwei Jahre jüngere zukünftige Frau namens Marianne aus dem Nachbarort Kirchdorf besaß ein sehr lebhaftes munteres Wesen, vielleicht etwas zu lebhaft für ihn mit seinem eher zur Nachdenklichkeit neigenden Charakter. Außer diesem aufgeweckten Wesen verfügte sie über braune lange Haare, auf die sie sehr stolz war und die sie mit wahrer Hingabe zu kämmen und zu bürsten pflegte. Sie liebte auch seinen von manchen Mitmenschen als etwas eigenartig empfundenen Humor, der manchmal Ansätze einer schwarzen Variante aufwies oder ab und zu auch ins Absurde umschlagen konnte. Sie würden sich beide gut ergänzen, dessen war sich Bronner sicher. Er hatte sich natürlich auch durch ihre attraktive Erscheinung von ihr angezogen gefühlt, ein Äußeres, das auch die Blicke vieler anderer Männer auf sich lenkte. Zwei Konkurrenten hatte er nach und nach aus dem Feld geschlagen, worauf er sehr stolz war! Und eine Menge weiterer Gründe sprachen dafür, dass diese Ehe eine glückliche Verbindung werden konnte. Ein völlig neuer Anfang, ein völlig neues Leben!

Zu den weniger wichtigen Gründen für seine Bitte um eine Versetzung gehörten sicher auch die Erfahrungen mit den nicht immer ganz so pflegeleichten Schüler der Großstadt, die ihm mit ihrer Disziplinlosigkeit das Unterrichten manchmal sehr erschwert hatten. Natürlich hatte er an seiner ersten Stelle Fehler gemacht, die einem Berufsanfänger eben unterlaufen, wie das bereits erwähnte Kartenspielen in einer Vertretungsstunde. Andere Fehler wogen nach seinem persönlichen Empfinden aber besonders schwer und er konnte sie sich einfach nicht verzeihen, obwohl sein Chef damals sehr nachsichtig gewesen war und mit Verständnis reagiert hatte. An der jetzigen Stelle würden sie keine Rolle mehr spielen und man konnte wieder neu anfangen. Außerdem keinesfalls zu unterschätzen war nun die Nähe seiner Dienststelle zu seinem Heimatort und damit auch ein mögliches Wiederaufleben der Verbindungen zu seinen alten Freunden. Dazu kam die Sorge um seine allmählich langsam älter werdenden Eltern, denen er sich ebenfalls verpflichtet fühlte und um die er sich kümmern wollte, so gut er eben konnte. Objektiv betrachtet, hatte er also nichts falsch gemacht. Und doch blieb ihm immer ein leiser Zweifel an der Richtigkeit seiner Handlungsweise. Für Bronner erschien es aus diesen Gründen nur logisch und geradezu selbstverständlich, dass er nach seiner Heirat in der Nähe der Heimatgemeinde leben wollte, ja vielleicht sogar in Riesheim selbst. Als er Marianne nach ihrer Meinung gefragt hatte, hatte sie durchblicken lassen, dass sie auch nichts gegen ein Leben an einem beliebigen anderen Ort einzuwenden gehabt hätte, aber sie würde sich dem Wunsch ihres zukünftigen Gatten fügen, weil sie Verständnis für seine Gründe empfinde. Dann meinte sie lächelnd, man könne eine Entscheidung auch rückgängig machen, wenn man erkennen müsse, dass sie falsch gewesen war!

5

Die Befragung

„When my body‘s landed

Hope she’ll die of shame“

(“Sally free and easy” - Alan Stivell)

Im Verlauf der Untersuchungen durch die Kriminalpolizei Balingen stellte es sich heraus, dass der Selbstmörder, ein Hilfsarbeiter aus Gammertingen, ursprünglich tatsächlich aus Riesheim stammte und dass er Emil Sailer hieß. Diese Nachricht verbreitete sich nach ihrer offiziellen Bekanntgabe durch die Behörde ziemlich rasch im Dorf. Als Ursache für den Selbstmord wurde tatsächlich Liebeskummer festgestellt, wenngleich dieses Motiv manchem zuerst etwas unglaubwürdig erscheinen wollte. Sailer hatte sich offensichtlich unsterblich in ein Mädchen aus einem Dorf auf der Alb verliebt, das unweit von Riesheim gelegen war. Er hatte das Mädchen bei einem der häufigen Musikfeste kennengelernt und hatte nur allzu gern ihr Angebot angenommen, ihrer Familie in seinem Urlaub bei der Heuernte zu helfen. Jeder im Dorf wusste ja, dass Sailer von Natur aus fleißig war, hilfsbereit sowieso und wie manche Leute sagten, mit einer Gutmütigkeit ausgestattet, die schon leicht an Naivität grenzte. Auf Grund der etwas einseitigen Beziehung zu diesem Mädchen wurde er oft von seinen wenigen Kameraden gehänselt, was er aber nur mit einem Lächeln zur Kenntnis nahm. Er wähnte sich am Ziel seiner Träume und hielt sich für den glücklichsten aller Menschen. Zwar kam es zu keinerlei Zärtlichkeiten von Seiten des Mädchens und sie duldete auch keine Annährungsversuche von ihm, aber er war zufrieden, wenn er nur in ihrer Nähe sein durfte. Als die Ernte eingebracht und seine Mithilfe zu Ende war, sollte sie angeblich gesagt haben: „So, das war’s! Ich brauche dich nicht mehr! Du kannst gehen! Ade!“

So ungefähr erzählte Emil es jedenfalls seinen Freunden am nächsten Tag. Was er aber bei diesem Bericht für sich behalten hatte, waren seine Gefühle gewesen, die er in jenem Moment empfunden hatte und seine Reaktion auf die unerhört schroffe und äußerst verletzende Verabschiedung. Er hatte das Mädchen nur äußerst ungläubig angeschaut, hatte das Ganze zuerst für einen schlechten Scherz gehalten, aber schließlich begriffen, dass sie es bitter ernst meinte. Da er von Natur aus kein großer Redner war und ihm in dieser für ihn äußerst demütigenden Situation sowieso nichts eingefallen wäre, hatte er sich nur umgewandt, um dann wortlos auf seinem Moped davon zu fahren. In ihm war eine Welt zerbrochen; in seinem Kopf herrschte eine Leere, wie wenn ihn ein Schlag mit einer Eisenstange getroffen hätte. Nein, er betrank sich nicht. Er saß nur stumm in seinem Zimmer, rührte sich zwei Stunden lang kaum vom Fleck und starrte aus dem Fenster. Er fühlte, dass er alles verloren hatte, was den Sinn seines einfachen Lebens ausmachte. Dann fasste Emil Sailer jenen Entschluss, den er ein paar Tage später konsequent umgesetzt hatte. Aber über diese Entscheidung hatte er gegenüber seinen Freunden kein Wort verloren. Er war im Leben eigentlich immer allein gewesen und wollte es auch im Tod sein. Der Gedanke, von ihnen wirkliche Hilfe erhalten zu können, erschien ihm lächerlich, ja geradezu grotesk. Wahrscheinlich hätten sie für ihn nur abgedroschene allgemeine Weisheiten oder dumme Sprüche übrig gehabt. Und auf beides konnte er in seinem derzeitigen Zustand nur allzu gut verzichten.

Bei dem Verhör des besagten Mädchens aus jenem Albdorf durch die Kriminalpolizei ergab sich dann folgendes: Sie beteuerte immer wieder unter Tränen, dass sie alles bitter bereue, aber sie hätte doch nur zum Ausdruck bringen wollen, dass er für die Ernte nicht mehr notwendig sei und am anderen Tag hätte er ja noch, wie ausgemacht, seinen Lohn bekommen sollen. „Sie meinen also, das Ganze war ein Missverständnis?“ fragte sie dann der vernehmende Kriminalbeamte namens Streicher von der Dienststelle Balingen. „Natürlich! Ich konnte doch nicht wissen, dass das alles solche Folgen haben würde. Es war doch nicht so gemeint! Und noch einmal: Ich habe ihm doch nie, nie Hoffnungen gemacht! Und seinen Tod wollte ich wirklich nicht! Ich wollte das alles wirklich nicht! Wer denkt denn gleich daran, dass er sich umbringen würde!“ „Das glaube ich Ihnen gerne“, meinte der Beamte und schaute das Mädchen etwas intensiver an. Sie war wirklich eine Dorfschönheit, mit einer guten, etwas üppigen Figur, mit langem blonden Haar und ausdrucksvollen blauen Augen und sich sicherlich ihrer Anziehungskraft auf Männer bewusst. „Ich weiß auch jetzt schon, wie sie in zwanzig Jahren aussehen wird: Ziemlich rundlich, mit drei Kindern und mit lauter Stimme das Regiment im Haus führend“ dachte er dann, sprach es aber natürlich nicht aus. Stattdessen sagte er abschließend: „Nun gut, aber dass Sie sich, etwas vorsichtig ausgedrückt, in dieser Situation mehr als ungeschickt und gedankenlos verhalten haben, müsste Ihnen eigentlich klar sein! Ich fürchte, dass Sie diese unglückliche Geschichte wohl Ihr ganzes Leben lang beschäftigen wird! Ich weiß natürlich nicht genau, welches Maß an Schuld Ihnen wirklich am Tod dieses unglücklichen jungen Mannes zukommt; das wissen nur Sie selbst. Und