Wie eine Lilie unter Dornen - Ursula Koch - E-Book

Wie eine Lilie unter Dornen E-Book

Ursula Koch

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Beschreibung

Die Geschichte Gottes mit dem Volk Israel ist nicht nur eine Geschichte der Männer. Es ist auch eine Geschichte Gottes mit den Frauen. Im Alten Testament lesen wir davon, wie Rut Boas begegnet, wandern mit Mirjam durch die Wüste, hören das Versprechen der Hanna und danken gemeinsam mit Hagar, dem Gott Abrahams, für ihre Errettung aus der sengenden Sonne. Dieses Buch schlägt geschickt eine Brücke von der Vergangenheit in die Gegenwart und verdeutlicht, dass Gottes Geschichte mit den Frauen noch lange nicht zu Ende geschrieben ist.

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Seitenzahl: 261

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Ursula Koch • Wie eine Lilie unter Dornen

 

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im

Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

 

Die Bibelstellen sind folgender Übersetzung entnommen:

Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe © 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

 

 

© 2018 Neukirchener Verlagsgesellschaft mbH, Neukirchen-Vluyn

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Agentur 3Kreativ, Essen

unter Verwendung eines Bildes von

© bpk / Nationalgalerie, SMB / Jörg P. Anders

Lektorat: Dr. Susanne Roll, Neuenkirchen-Vörden

DTP: Magdalene Krumbeck, Wuppertal

Verwendete Schrift: Adobe Caslon Pro

Gesamtherstellung: GGP Media GmbH, Pößneck

Printed in Germany

ISBN 978-3-7615-6518-6 (Print)

ISBN 978-3-7615-6519-3 (E-Book)

ISBN 978-3-7615-6580-3 (Hörbuch)

 

www.neukirchener-verlage.de

 

 

 

 

»Wie eine Lilie unter den Dornen,

so ist meine Freundin unter den Mädchen …«

(aus dem Hohenlied Salomos)

Eine weite Reise …

In uralten Geschichten begegnen wir der Freundin des israelitischen Mannes, seiner Frau, seiner Geliebten. Sie ist nicht nur schön, sie ist auch geduldig, sie erträgt Mühsal und Last, sie hält der brennenden Sonne stand und ist Sturm und Regen ausgeliefert. Sie wartet in engen, lichtlosen Hütten oder eingeschlossen im weiten Palast. Sie ist unterwegs durch die Wüste. Sie sucht Wasser. Sie sammelt Getreide.

Mit kargen Worten erzählen uns die Texte der Hebräischen Bibel von ihrem Leben. Wie ein Schatten huscht sie weit entfernt von uns vorüber: die Frau, die mit den Erzvätern lebte, mit Abraham, Isaak und Jakob; die mit Mose durch die Wüste wanderte; zur Zeit der Richter und der Könige hoffte und liebte; die auf allen Wegen mitging mit dem Mann und mit den Söhnen, und doch kaum mitsprechen durfte …

Die Geschichte Gottes mit dem Volk Israel ist nicht nur eine Geschichte der Männer. Es ist auch eine Geschichte Gottes mit den Frauen. Doch die alttestamentlichen Texte, die uns davon erzählen, sind schwer zu »entziffern«. Vielen erscheinen sie »unleserlich«. In unserer Sprache neu davon zu erzählen, heißt: sich auf eine weite Reise zu begeben. Wenn wir das wagen, dann kann es sein, dass wir hinter allem Erleben und Leiden etwas von unserem eigenen Hoffen und Sehnen wiederfinden.

Ich danke allen, die mich auf dieser »weiten Reise« unterstützend und kritisch begleitet haben, insbesondere Herrn Dr. theol. Hans-Detlef Hoffmann für Rat und Hilfe in wissenschaftlichen Fragen.

 

Im Januar 2018

Ursula Koch

 

 

Dr. Hans Liebrich gewidmet

1

Hallo, Rut!

Hallo, Rut – entschuldige, so klingt das heute. Ich weiß, du nimmst es mir nicht übel. Wie sonst sollte ich dich herausrufen aus der Vergangenheit, in der du versunken bist? »Verehrungswürdige Rut«? »Gnädige Frau«?

Ich höre dich lachen, denn so kannst du nicht gewesen sein. Wie hättest du es dann gewagt, auf den Dreschplatz des reichen Boas zu gehen – mitten in der Nacht – wenn du nicht eine ganz pfiffige, mitunter sehr wagemutige junge Frau gewesen wärst? Gar nicht »würdig« hast du dich da benommen, eigentlich sogar … aber lassen wir das zunächst einmal.

Mehr als dreitausend Jahre liegen zwischen dir und mir. Meine Welt ist eine andere als die, in der du gelebt hast. Ich beneide dich ein wenig um die klaren Konturen deines Lebens: Da war der Ablauf des Jahres. Da waren Tag und Nacht. Da war Moab – und da war Israel. Und das war schon fast alles. Der Fluss noch und das Gebirge. Dein Dorf am Fuß eines Berges. Die alte Pinie. Am Anfang: Geburt. Am Ende: Tod. Leben ohne Fragen. Jeden Morgen ging im Osten die Sonne auf.

Rut, wie einfach das alles gewesen sein muss! Oder bilde ich es mir nur ein, dass alles einfach war, weil mein Leben so kompliziert geworden ist – mit seinen Erwartungen und Zwängen, eingeflochten in ein unüberschaubares Ganzes, belastet mit Verantwortung, gefangen in der Ohnmacht? Wirst du es mir sagen, Rut?

»Moabiter – neben Ammonitern und Edomitern eines der südostjordanischen Nachbarvölker Israels«, so steht es im Lexikon. Und du gehörst zu ihnen: Rut, die Moabiterin.

Eines Tages, du warst noch sehr jung, kamen Fremde in euer Dorf. Sie waren erschöpft und müde, in den Gesichtern brannten die Augen: Hunger! Lange hatte es im jüdischen Bergland nicht mehr geregnet. Die Felder um die kleine Stadt Bethlehem waren vertrocknet.

Das ganze Dorf lief zusammen. Es gab ja wenig Abwechslung unter der glühenden Sonne. Die Ältesten des Dorfes versammelten sich im Schatten der weit ausladenden Äste eurer alten Pinie.

Elimelech sprach einige Worte eures Dialekts. Seine Frau Noomi hockte, ein Kind auf dem Arm, am Boden. Ein zweiter Knabe hielt sich verängstigt am Zipfel ihres schwarzen Schleiers fest.

Elimelech fragte, ob er bleiben dürfe. Die Alten berieten und stimmten schließlich zu. Es gab genug Land. Und Elimelech kam ohne Waffen, er hatte nur Hunger. Andere waren vor ihm gekommen und weitergezogen. Andere würden nach ihm kommen. Man duldete sie wie Hunde, die ums Feuer schleichen, gierig nach einem Knochen. Blieben sie lange genug, vergaß man irgendwann, dass sie Fremde waren.

Nachdem sie sich sattgegessen hatten, begannen Elimelechs Söhne mit den Kindern des Dorfes zu spielen. Sie machten Jagd auf Schlangen und bauten sich Hütten aus dürren Ästen. Die Mädchen blieben bei den Häusern, schauten nur manchmal herüber, und hinter der vorgehaltenen Hand blitzten schwarze Augen.

Elimelech starb, als die Jungen gerade allein das Feld bestellen konnten. Ein heimtückisches Fieber warf ihn auf sein Lager. Er stöhnte, und der Schweiß strömte über sein Gesicht. Noomi kniete an seiner Seite und flößte ihm einen Sud ein, den sie mit ihrer Nachbarin gebraut hatte. Doch Elimelech ging ein zu seinen Vätern – fern von Bethlehem, seiner Heimat. Noomi erhob sich und schlang ihr Tuch fest um den mageren Körper. Nur einen Augenblick wankte sie, dann trat sie in die grelle Sonne vor der Tür und stieß einen Schrei aus. Aus den Lehmhütten ringsumher liefen die Frauen herbei und stimmten ein in ihr Schreien. Machlon und Kiljon, die Söhne, standen erstarrt vor Schrecken im Schatten der Wand. Sie mussten hineingehen und sich vor dem toten Vater verneigen. So tief neigten sie sich dabei, dass ihre Stirn den sandigen Boden berührte. Dann schickte die Mutter sie hinaus, und die Frauen wuschen den Toten.

Das ganze Dorf begrub Elimelech, denn er war einer der Ihren geworden. Nachdem sie ihn begraben hatten mit den Füßen nach Westen, so dass er der untergehenden Sonne in das ferne Reich der Toten folgen konnte, und nachdem sie Noomi wieder nach Hause begleitet hatten, nahmen sie Machlon und Kiljon in ihre Mitte. Die Männer setzten sich unter den Baum und schwiegen. Nach langer Zeit standen sie einer nach dem anderen auf, verbeugten sich vor Machlon und Kiljon und gingen zurück in ihre Hütten. Von diesem Tag an gehörten die jungen Männer zum Dorf. Und niemand erinnerte sich mehr daran, dass sie einst als hungrige Fremde gekommen waren. Sie sorgten für Noomi und saßen abends bei den anderen unterm Baum, bestellten in der Regenzeit ihr Feld und warteten auf die Ernte.

Machlon, der Ältere, heiratete zuerst. Orpas Vater war arm. Er gab die Tochter gern dem vernünftigen jungen Mann, der den Brautpreis zahlte, ohne zu feilschen. Ob Orpa schön war, wusste Machlon nicht, denn er hatte nur ihre Augen gesehen. In der Hochzeitsnacht, als das dumpfe Trommeln und Schlagen der Musikanten verklungen war, hob Machlon den Schleier von Orpas Gesicht und freute sich: Es war kein Makel an ihr. Sie lächelte freundlich und ließ geschehen, was geschehen musste.

Machlon war zufrieden mit seiner Frau. Still und demütig tat sie ihre Pflicht, wie es einer Frau ziemt. Und Machlon baute eine neue Hütte neben die der Mutter.

Kiljon dagegen schlich abends durchs Dorf. Keiner wusste, wohin. Seine Mutter betrachtete ihn sorgenvoll.

»Kiljon«, mahnte sie, »nimm dir eine Frau, die zu uns passt! Kiljon, wir sind als Fremde ins Land gekommen. Kiljon, sei bescheiden!«

Dann beobachtete einer, wohin Kiljon schlich: Der Älteste im Dorf hatte seinen Hof neben der alten Pinie. Und – der Älteste im Dorf hatte vier Töchter. Drei waren schon versprochen, und das ganze Dorf feierte die Hochzeiten, aß sich satt an den fetten Hammeln, die der Brautvater am Spieß braten ließ.

Kiljon wartete, bis alle drei Hochzeiten vorüber waren. Wenige Tage danach nahm er ein sauberes Hemd, das Noomi ihm genäht hatte, nahm den Hut seines Vaters und einen kräftigen Stock – und ging in das Haus des Ältesten. Noomi sah ihm sorgenvoll nach.

Als er wiederkam, trat er fest auf und trug den Kopf erhoben. Er kramte aus dem Tontopf in der Ecke der Hütte alle Münzen heraus, die er in den letzten Jahren vom Markt nach Hause gebracht hatte, und zog unter dem Geld zwei Armreifen hervor. Den einen schenkte er seiner Mutter, den anderen hielt er fest in der Faust und ging am Abend noch einmal durch das Dorf.

Aus den Häusern kamen die Frauen zum Brunnen, um Wasser zu holen. Aus dem Haus des Ältesten trat Rut. Sie war schmaler und kleiner als die anderen Mädchen. Und sie hatte den Schleier ein wenig lockerer gebunden.

Kiljon trat nahe an sie heran: Sie schlug die Augen nieder, wie es sich gehörte, und blieb stehen. In der Dämmerung streckte Kiljon die Hand aus und hielt ihr den Armreif hin. Blitzschnell griff sie danach und ließ ihn in ihrem Ärmel verschwinden. Nun hob sie mit beiden Händen den Krug auf den Kopf und folgte mit gemessenem Schritt den älteren Frauen ihres Hauses. Doch vor der Biegung des Weges drehte sie sich noch einmal um.

So warb Kiljon um Rut, und es wurde wieder Hochzeit gefeiert.

Aber, Rut, wie war das mit Kiljon und dir? Warum hast du kein Kind empfangen in der Hochzeitsnacht? Warum hatte auch Orpa kein Kind? Da kann doch etwas nicht stimmen. Noomi wartete vergeblich. Kein Lachen, kein Kindergeschrei in den drei Hütten, die nebeneinander am Rand des Dorfes stehen? Oder starb dir ein Kind? Hast du an kleinen Gräbern gestanden und die Tränen mit dem Schleier abgewischt?

Die Nachbarn redeten schon über euch und eure Männer. Vielleicht taugen sie ja doch nichts, die Israeliten von jenseits des Jordans, die dem Baal kein Opfer bringen und an der Vorhaut beschnitten sind …

Aber da war immer noch Hoffnung, denn jede Nacht kam Kiljon zu dir, und du nahmst ihn freundlich auf. Bis das Furchtbare geschah.

Noomis Schrei drang am Morgen durch die offenen Fensterhöhlen der Hütten, und die Nachbarn fuhren aus dem Schlaf.

Kiljon und Machlon, die Brüder, waren vom Feld nicht heimgekehrt. Bei Sonnenaufgang brachte ein Hirtenjunge Nachricht: Eine Löwin hatte auf dem Land gewütet. Blutige Spuren zogen sich über Elimelechs Acker. Und das Hemd, das Noomi genäht hatte, lag rot und zerrissen unter dem Baum, unter dem die Brüder zu rasten pflegten. Fast bewusstlos vor Schmerz umarmten die drei Frauen einander. Die Klageweiber standen um die Hütte und schrien bis zum Sonnenuntergang. In der Nacht hörte man fern das Brüllen der Löwen.

Noomi verweigerte von dieser Stunde an Speise und Trank. Sie beschloss zu sterben. Es war genug. Vor der Feuerstelle in ihrer alten Hütte saß sie in der Asche und starrte in die dunkelste Ecke: Stunden, Tage, Wochen.

Orpa und Rut kamen und gingen, brachten Brotfladen und füllten den Krug mit Wein. Aber Noomi stand nicht auf, redete nicht.

»Sie wird auch bald sterben«, seufzte Orpa.

Rut nickte. Sie dachte an das reiche Haus ihres Vaters, in dem die Kinder der Brüder spielten, und das Herz schlug ihr schwer in der Brust.

Abends, wenn Orpa zu den Nachbarinnen oder ihren Schwestern ging, setzte sich Rut neben Noomi, wie sie es aus früheren Tagen gewohnt war.

»Erzähl mir«, bat Rut.

Aber Noomi schüttelte den Kopf. Da begann Rut zu wiederholen, was sie von Noomi gehört hatte: »Noomi, erzähl mir! Nicht Baal, der Schreckliche, sondern der Gott Israels hat die Welt geschaffen, ist es nicht so? Er hat die Pflanzen gemacht, die Steine, sogar den Mond und die Sonne. Baal musste kämpfen, um die Welt dem Ungeheuer des Meeres abzuringen – aber euer Gott pflanzte einen Garten, und niemand hinderte ihn daran. Stimmt es, Noomi?«

Die alte Frau nickte.

»Er pflanzte den Garten in Eden, gegen Osten. Wo ist Eden, Noomi, erzähl mir von dem Garten! Hast du ihn schon einmal gesehen?«

Noomi schüttelte traurig den Kopf.

»Nein, meine Tochter, niemand hat ihn je gesehen. Ein Engel, ein furchtbarer Engel, mit einem Schwert aus zuckenden Flammen steht vor dem Tor des Gartens.«

»Aber warum, Noomi, warum?«

Noomi stöhnte auf. »Sie haben von der verbotenen Frucht gegessen.«

Dann erzählte Noomi Rut die Geschichte vom Garten Eden. In der Nacht ohne Licht und Wärme saß Rut und lauschte. Und sie hörte das Zischen der Schlange in der Finsternis der Hütte, und sie fühlte Evas Sehnsucht, zu wissen, was gut ist und böse. Sie hörte die Schritte des Herrn, der abends durch den Garten ging und Adam rief. Aber Adam hatte sich versteckt. Und nun war der Garten verschlossen. Die Menschen lebten jenseits von Eden, und der Boden war hart und steinig. Und grausam war der Tod.

Als der Morgen dämmerte, erwachte Rut zu Noomis Füßen. Die Alte hatte ihr Kleid über sie gedeckt. Orpa trat in die Hütte und holte den Krug. Rut stand auf. Sie folgte der Schwägerin zum Brunnen.

Noomi blieb allein in der Hütte und wartete auf den Tod.

Aber der Tod kam nicht. Stattdessen setzte der Regen ein. Nachts erwachten die Frauen von dem gleichmäßigen Plätschern. Auf den Feldern begann es zu grünen. Durch den steinharten Boden bohrten sich winzige Triebe. Die Arbeit begann.

Eines Morgens stand Noomi doch wieder auf und trat vor die Hütte. Da sah sie zu ihren Füßen einen Grashalm, der mit seiner Kraft, so gering sie auch war, die Erde durchbrochen hatte. Sie hob den Kopf und schaute zum Himmel.

An diesem Abend kamen Rut und Orpa erschöpft und verstört von der Feldarbeit nach Hause. Ein Vetter Orpas hatte ihnen die Hälfte des Feldes genommen.

»Ihr schafft die Arbeit ja doch nicht«, war seine Begründung gewesen. »Von hier ab, das gehört jetzt mir.«

Die Dorfbewohner stimmten zu. Sie verachteten die kinderlosen Frauen.

»Sucht euch neue Männer, ehe ihr alt werdet!«, riet die wohlmeinende Nachbarin.

»Und was soll aus Noomi werden?«, fragte Rut. Aber die anderen zuckten nur die Achseln.

Bei der Heimkehr fanden sie Noomi zu ihrem Erstaunen vor der Hütte. Sie hielt die Hand über die Augen und sah nach Westen. Da kam einer. In der Weite des kahlen Landes war er ein winziger Punkt, aber er bewegte sich schnell und sicher. Wahrscheinlich hatte er das Dorf gesehen und hoffte auf ein Quartier für die Nacht. Noomi wartete, bis er auf ihre Hütte zutrat.

Der Fremde verneigte sich in gebührendem Abstand. Die Frauen winkten ihn heran. Orpa erhob sich, um einen neuen Fladen ins Feuer zu legen. Auch Rut vergaß Sorge und Arbeit des Tages und blickte dem Fremden neugierig ins Gesicht.

»Woher kommst du?«, fragte Noomi.

»Aus Israel.«

»Bist du hungrig?«

Er nickte und setzte sich mit den Frauen an das Feuer. Rut holte den Krug mit Wasser und reichte ihn dem Fremden. Noomi schien tief in Gedanken versunken.

»Gibt es Brot in Israel?«

Der Fremde zog aus seinem Beutel ein Stück trocken gewordenes Fladenbrot und hielt es in den Schein des Feuers.

»Der Herr sei gelobt. Es gibt Brot in Israel.«

Nachbarn drängten sich in die Hütte, begrüßten den Fremden. Sie fragten nach dem Woher und Wohin. Der Fremde erzählte: Sein Bruder diene im Heer des Moabiterkönigs. Nun sei der Vater gestorben. Er sei auf dem Weg, den Bruder nach Hause zu holen. Die alte Mutter verlange, ihn zu sehen.

Noomi seufzte laut.

In einer Nachbarhütte legte sich der Fremde zu den anderen auf den Boden. Bevor er am nächsten Morgen weiterzog, trat Noomi noch einmal auf ihn zu.

»Es gibt wirklich Brot in Israel?«

»Ja, es gibt Brot in Israel«, sagte der Fremde und warf ihr das Stück Brot, das er gezeigt hatte, in die offene Hand. Noomi umschloss es mit ihren mageren Fingern und stand still, bis der Fremde sich weit entfernt hatte.

Am nächsten Abend, ehe das Feuer erlosch, sagte sie zu Orpa: »Ich gehe zurück nach Bethlehem.«

Bald darauf hörte Rut die Alte tief atmen. Rut flüsterte Orpa zu: »Sie wird es nicht schaffen.«

Und Orpa seufzte und flüsterte zurück: »Also müssen wir mitgehen.«

Schon nach wenigen Tagen waren die Frauen reisefertig. Jede trug ein Bündel. Orpa hatte einige Fladenbrote in ein Tuch geschlagen, und Rut, die jüngste, trug den Krug mit Wasser. Die Dorfbewohner gaben ihnen ein Stück weit das Geleit. Einige Nachbarinnen weinten. Orpas Vater weinte, und Ruts Schwestern weinten. Rut sah die Kinder ihrer Schwestern am Wegrand entlangspringen. Schwerer als der Krug auf ihrem Kopf drückte die Traurigkeit auf ihr Herz. Aber sie weinte nicht.

Nach und nach blieben Angehörige und Freunde zurück. Als die Sonne hoch stand und über dem Land glühte, gingen die drei Frauen allein weiter. Der Weg war steinig. Noomi blieb stehen.

»Es ist Zeit«, sagte sie. Orpa nahm ein Fladenbrot, brach ein Stück ab und gab es der alten Frau.

»Es ist Zeit, meine Töchter. Ihr müsst umkehren.«

Rut wandte sich ab. Im gleißenden Licht lag hinter ihnen im Osten das Dorf, das bis heute ihre Heimat gewesen war. Sie sah aus der Ferne die Hütten, die sich an den Berghang klammerten, und meinte sogar, die Pinie zu erkennen, neben der das Haus ihres Vaters stand. Einen Augenblick kam es ihr vor, als hörte sie Lachen und Stimmen bis hierher in die Einsamkeit. Aber es war wohl nur der Wind, der durch das vertrocknete Laub der Büsche strich.

Noomi setzte sich auf einen Stein am Rand des schmalen Fußweges, der ins Tal hinabführte. Rut stellte den Krug neben ihr ab und sah nach Westen.

Tief unten, zwischen den kahlen Felsvorsprüngen, schimmerte die unbewegte Wasserfläche des salzigen Meeres. Noomi hatte ihr erzählt, wie Sodom und Gomorra, die Städte des Schreckens, im Feuer untergegangen waren. Und sie hatte ihr auch erzählt: Kein Fisch und kein Vogel lebten mehr in dem Pfuhl des Todes. Weit und blau liege Wasser wie ein Leichentuch über den Verdammten.

Dort entlang führte der Weg nach Bethlehem. Der Weg nach Bethlehem führte ganz nach unten. Es war ein gefährlicher Weg. Orpa legte seufzend die Fladenbrote auf den Boden. Sie trank einen Schluck und sah Rut fragend an.

»Kehrt heim, meine Töchter«, wiederholte Noomi und wies mit der Hand nach Osten. »Ihr wart gut zu den Toten. Meine Söhne hatten gute Frauen. Ich hatte gute Töchter. Aber ihr seid jung, und ich bin alt. Noomi nennen sie mich, die ›Liebliche‹. Was ist noch lieblich an mir? Ja, als ich jung war wie ihr, da habe ich den Reigen getanzt und das Tambourin geschlagen. Aber nun … Nein, meine Töchter, kehrt um! Ihr werdet Männer finden in eurem Dorf, denn jeder weiß, dass ihr achtbare Frauen seid. Jeder kennt euch. Eure Väter und Brüder werden euch in ihren Schutz nehmen. Was aber kann ich alte Frau für euch tun?«

Rut nahm den Schleier ab und setzte sich zu Noomis Füßen auf den Boden. Orpa blickte ratlos in das Gesicht der Schwägerin.

»Nein, Noomi«, widersprach Rut, »wir gehören zu dir. Unsere Väter und Brüder haben uns fortgegeben. Das ganze Dorf hat die Hochzeit gefeiert. Nun sind wir deine Töchter. Wir lassen dich nicht allein gehen.«

Orpa seufzte und nickte. »Wir sind deine Töchter«, wiederholte sie, »und wir werden dich nicht verlassen.«

Schweigend teilten sie ein Brot und tranken. Dann begann Noomi von Neuem: »Ja, ihr seid meine Töchter, weil ihr meine Söhne geheiratet habt. Aber wo sind meine Söhne? Zerrissen, grausam zerrissen. Hätte ich noch mehr Söhne, dann hättet ihr auch Männer. Aber mein Schoß ist leer. Wie also soll ich euch die Söhne ersetzen? Ihr seid noch jung und schön, und euer Schoß wird fruchtbar sein, wenn ihr Männer nehmt, die leben. Ach, Kiljon! Ach, Machlon!«

Heißer Wind aus der leblosen Tiefe streicht um drei dunkel gekleidete Gestalten im gnadenlosen Licht des Mittags. Kein Schatten und kein Trost. Weit, weit entfernt liegt der Garten, den Gott einst dem Menschen pflanzte. Und ein Engel mit flammendem Schwert, gleißend wie die Sonne am südlichen Himmel, bewacht das Tor.

Die Frauen, schwarz verschleiert, setzen sich wieder in Bewegung. Zwei gehen nach Westen. Langsam. Eine wendet sich nach Osten. Sie geht schneller, befreit von ihrer Last. Einmal noch dreht Orpa sich nach den anderen um. Aber die bleiben nicht mehr stehen und schauen nicht zurück. Sie gehen weiter, barfuß, den Blick fest auf den Boden gerichtet. Und der Weg ist steinig und führt ins Tal.

Verzeih mir, Rut, ich habe deine großen Worte ausgelassen. Wer weiß, ob du sie überhaupt gesprochen hast?

»Wo du hingehst, da will ich auch hingehen …«(Rut, Kap. 1, Vers 16)

Es ist nicht wichtig, was du sagtest, Rut. Denn jeder Schritt auf diesem Weg war mehr als ein Versprechen. Und wenn Noomi hinter sich das Rascheln deines Kleides hörte, dann war es mehr als Gesang.

»Und wo du bleibst, da bleibe ich auch.

Dein Volk ist mein Volk, und dein Gott ist mein Gott.

Wo du stirbst, da sterbe ich auch, da will ich auch begraben werden.«(Rut, Kap. 1, Vers 16f.)

Wer auch immer sie aufgeschrieben haben mag, deine Worte – er hat sie verstanden, auch ohne, dass er sie hörte. Du hast sie gelebt, auch ohne, dass du sie zu sprechen brauchtest.

 

»So gingen die beiden miteinander, bis sie nach Bethlehem kamen …«(Rut, Kap. 1, Vers 19)

Wie einfach ist das – für uns! Fünfzig Kilometer, hundert Kilometer, zweihundert Kilometer … Wüste, Sand, Steine, Hitze. Und in der Nacht: Vielleicht ein Unterschlupf unter einem überhängenden Felsen? Ein Feuer? Löwen in der Ferne und die Angst: So war es auch bei Machlon und Kiljon …? Vielleicht eine Höhle bei Qumran? Freundliche Hirten, die euch Milch geben? Sie ziehen weiter. Ein alter Baum. Die glühende Hitze am Tag. Die Kälte nachts. Salz, das an den Füßen brennt. Mal ein Händler mit seinem Esel.

Ihr kommt durch Dörfer, kauft Brot. Rut darf nur Wasser schöpfen, wenn alle anderen fertig sind. Sie muss warten, und ihr seid doch so durstig. Erst trinken die Hirten und machen grobe Späße. Doch die Frauen ziehen stolz an den Fremden vorüber. Und dann vielleicht tritt Rut an den Brunnen und zieht und füllt den Krug – wenn nicht noch einer mit seinem Esel kommt, sie beiseitestößt.

Rut nimmt den vollen Krug, ohne zu trinken, und bringt ihn Noomi. Die alte Frau sitzt auf einem Stein, ringt die Hände ineinander.

»Trink, meine Tochter, trink!«

»Nein, du, Mutter!«

Noomi trinkt. Das Wasser kühlt die brennenden Lippen, macht den Mund frisch.

»Danke, Rut, nun trink du …«

»Ja, Mutter, ich trinke.«

Dann wird es wieder kalt. Rut zieht das Kleid fest um den Körper. »Ach, könnte ich dich wärmen«, sagt Noomi, »aber ich bin alt …«

Bis sie nach Bethlehem kamen …

Sie müssen wieder aufsteigen aus der Tiefe, lassen das Salzmeer und den Tod hinter sich. Auf schmalen Pfaden, die Füße blutig gestoßen, erreichen sie irgendwann eine Höhe, von der aus man hinüberschauen kann – nach Bethlehem.

»Da!«, ruft Noomi, und Rut hebt den müden Kopf, versucht, etwas zu erkennen:

An den Hängen grünen Felder. Oben auf dem Bergrücken liegt eine Stadt mit Hütten und Feldsteinmauern, mit kleinen wehrhaften Türmen. Noomi wankt. Noch einmal geht die Sonne unter, noch einmal schlafen sie im Freien, im Schutz einer niedrigen Hecke. Dann erreichen sie das östliche Tor.

»Noomi, die Frau Elimelechs?«

»Unmöglich!«

Es ist Markt, und am Stand der Zippora laufen die Frauen zusammen. Eine bringt die Nachricht vom Tor: »Sie hat gesagt, sie sei Noomi, die Frau Elimelechs.«

»Und wo sind ihre Söhne, Kiljon und Machlon?«

»Warum kommt sie allein?«

Eine schweigende Gasse bildet sich mitten im Lärm des Marktes. Noomi kommt. Sie hat den Schleier vom Gesicht gezogen. Sie geht ganz langsam und ganz aufrecht. Zippora, die alte Nachbarin, tritt ihr entgegen.

»Noomi!«

Rut hält sich dicht hinter der Schwiegermutter. Ihr Gesicht ist verhüllt. Sie sieht die fragenden Blicke, hört das Getuschel. Aber sie kann die Worte nicht verstehen, die Noomi redet.

»Ja, Zippora, ich bin’s! Noomi, nein, Mara bin ich, die ›Bittere‹! Elimelech ist tot. Kiljon ist tot. Machlon ist tot. Der Herr hat mich geschlagen. Ich habe nichts mehr. Ich bin leer. Ich bin tot. Geht und betrauert mich.«

Schweigend bleiben die anderen zurück, Noomi stützt sich auf Ruts Arm. Die Frauen gehen eine lange Straße entlang. In den Türen der Häuser laufen die Kinder zusammen.

»Wer ist das?«

»Noomi.«

»Was will sie hier?«

»Sie gehört zu uns.«

»Ich habe sie noch nie gesehen.«

Am Ende der Straße steht noch die Hütte, aus der Elimelech mit seiner Familie einst aufbrach. Noomi tritt hinein und sieht sich um. Eine Wand ist fast zur Hälfte eingebrochen. Aber das Dach scheint zu halten. Rut bindet aus Zweigen, die in der Ecke liegen, einen Besen und kehrt den losen Sand zusammen. Noomi kniet an der Feuerstelle. Da ist noch Asche …

In der Tür erscheint Zippora. Sie hat den Marktstand ihrer Schwester überlassen und ist nach Hause gelaufen. Jetzt bringt sie Brot. Rut sitzt in der Ecke und hört Noomi mit Zippora leise sprechen. Sie fühlt die Müdigkeit in ihren Gliedern und in ihrem Herzen. Über dem Reden der Frauen, das sie nicht versteht, schläft sie ein.

*

Langsam verheilen die Wunden an den Füßen. Zippora bringt Mehl. Ein paar andere Nachbarn geben ihnen Wein und Früchte; Rut versucht, das Haus bewohnbar zu machen. Noomi kniet an der Feuerstelle.

Hin und wieder bemüht sich Rut, ein paar Worte in der fremden Sprache zu sprechen.

»Du wirst es lernen«, sagen die anderen.

Nur wenige Tage später beginnt die Gerstenernte.

Morgens sieht Rut die Schnitter aufs Feld ziehen. Noomi sitzt vor der Hütte in der frühen Sonne und wärmt ihre schmerzenden Glieder.

»Wir brauchen Getreide.«

»Ja«, sagt Noomi, »aber wir haben kein Geld.«

»Ich gehe mit den Schnittern. Vielleicht finde ich ein paar Ähren, die sie übersehen haben. Was soll ich hier herumsitzen?« Ungeduldig streckt Rut ihre Arme.

»Geh, meine Tochter«, seufzt Noomi, »ich kann nicht mitgehen. Meine Beine sind schwach geworden. Geh du nur – Gott schütze dich!«

Rut bindet den Rock fester. Der Gesang der Schnitter verklingt schon am Ende der Stadt. Sie greift den Korb und läuft ihnen nach. Die Nachbarinnen stecken die Köpfe zusammen. »So jung noch, so jung …«

»Doch kräftige Arme hat sie.«

»Aber was soll sie hier?«

»Noomi wäre ganz allein.«

»Soll sie ihr Leben lang nur die Schwiegermutter versorgen? Eine so schöne Frau?«

»Sie ist dunkel. Ihre Augen sind ganz schwarz. Das gefällt keinem Israeliten.«

»Kiljon hat es wohl gefallen …«

Rut läuft den Berg hinab hinter den Schnittern her. Es tut gut, zu laufen, die Beine wieder zu spüren. Sie schwenkt die Arme. Über ihr ist der Himmel. Auch in der Heimat reift jetzt das Korn.

Einige Schnitter bleiben an einem kleinen Acker stehen und beginnen ihre Arbeit. Rut folgt dem größeren Trupp, der bis ins Tal hinunter zu einem ausgedehnten Feld geht und erst dort zu arbeiten beginnt. Sie nähert sich dem Knecht an der Spitze der ersten Reihe und zeigt den leeren Korb.

»Bitte, lass mich nachlesen!«

Die Umstehenden lachen über ihre drollige Aussprache. Sie senkt beschämt den Kopf. Der Knecht scheucht die anderen mit einer Handbewegung zur Arbeit.

»In Ordnung! Lies auf, was wir liegenlassen.«

Am Wegrand wirft Rut den Schleier ins Gras. Sie bindet den Rock hoch und wartet, bis sich die lange Reihe der Knechte und Mägde vor ihr ein Stück entfernt hat.

Schon jetzt beginnt die Sonne zu stechen. Der gebeugte Rücken schmerzt. Aber Rut achtet nicht darauf. Dort ein Halm und hier einer. Reifes Korn. Dort drüben. Wie zu Hause. Noomi wird sich freuen. Noomi isst so wenig. Der Korb füllt sich. Nun brauchen sie nicht länger Zipporas Mildtätigkeit. Hat Rut nicht starke Arme? Ist sie nicht jung? Hier ein Halm. Dort liegen zwei. Und die Sonne steigt zum Mittag.

Unterdessen ist der Herr des Feldes aus dem Schatten der Bäume auf den Weg getreten. Er sieht die Sicheln blitzen, sieht über die gebeugten Rücken der Knechte und Mägde hinweg, und sein Herz klopft freudig erregt. Das wird eine Ernte!

Boas beginnt das große Dankgebet seines Volkes zu sprechen; laut, so dass es auch die Knechte und Mägde hören:

»Mein Vater war ein Aramäer, dem Umkommen nahe, und zog hinab nach Ägypten und war dort ein Fremdling mit wenig Leuten und wurde dort ein großes, starkes und zahlreiches Volk.

Aber die Ägypter behandelten uns schlecht und bedrückten uns und legten uns einen harten Dienst auf. Da schrien wir zu dem Herrn, dem Gott unserer Väter.

Und der Herr erhörte unser Schreien und sah unser Elend, unsere Angst und Not und führte uns aus Ägypten mit mächtiger Hand … und brachte uns an diese Stätte und gab uns dies Land, darin Milch und Honig fließt.

Nun bringe ich …«(5. Mose, Kap. 26, Verse 5-10)

Er stockt: Hinter der letzten Reihe der Schnitter taucht eine einsame Gestalt auf. Sie geht langsam, die Augen auf den Boden gerichtet, hin und her, bückt sich, liest hier einen Halm auf und dort einen.

Pinhas, der Vorarbeiter, ruft die anderen zur Pause. Sie lagern sich lachend im Schatten und lassen den Krug von Mund zu Mund gehen. Boas schaut immer noch auf das Feld. Er sieht die fremde Frau auf und ab wandern, sich bücken, sich aufrichten, unermüdlich und ohne Zögern.

»Wer ist die Frau?«, fragt Boas.

»Die Fremde aus Moab, die mit Noomi kam«, sagt Pinhas und wischt sich den Schweiß von der Stirn. »Sie bat darum, nachlesen zu dürfen. Ich habe es ihr erlaubt, Herr. Und sie war fleißig. Ich wünschte, unsere Mägde wären auch so fleißig.« Boas kümmert sich nicht um die kichernden Mädchen im Schatten. Er sieht, wie Rut näherkommt. Ihr Korb scheint fast gefüllt, aber sie sucht immer noch weiter.

»Ich hab aus meinem Hause gebracht, was geheiligt ist, und hab’s gegeben den Leviten, den Fremdlingen, den Waisen und den Witwen ganz nach deinem Gebot, das du mir geboten hast.«

(5. Mose, Kap. 26, Vers 13)

»Was sagst du, Herr?« Pinhas hat sich schon abgewandt, um sich auch im Schatten ein wenig auszuruhen.

»Nichts, Pinhas, nichts! Oder doch: Lass das Mädchen weitersammeln. Du kennst das Gebot Gottes, unseres Herrn. Und pass auf, dass niemand sie belästigt!«

Rut richtet sich auf. Sie muss sich den Schweiß aus den Augen wischen, sie kann nur verschwommen sehen. Das Mittagslicht blendet, die Luft flimmert über dem Feld.

Da kommt einer auf sie zu. Ist es der Knecht? Wird er sie fortjagen? Hat sie zu viel gesammelt?

»Bitte, lass mir den Korb!«

Wo ist ihr Schleier? Halbnackt steht sie unter der Sonne, und der Mann ist schon vor ihr. Sie hört eine angenehme Stimme.

»Also du bist Rut, die Moabiterin. Ich habe von dir gehört. Verstehst du mich?«

Rut nickt und hält den Kopf gesenkt. Wer mag er sein, dieser Fremde? Er spricht wie ein Herr.

»Ich bin Boas aus Bethlehem, und ich will, dass du weiter auf meinem Feld sammelst, was du brauchst. Du sollst auf keinen anderen Acker gehen. Bleib in der Nähe meiner Mägde. Sie werden dir nichts tun. Ich bin der Herr des Feldes, und ich habe es befohlen.«

Rut zittert. »… der Herr des Feldes …«

Sie schlägt die nackten braunen Arme vor der Brust zusammen.

»Ich bin eine Fremde, aber du bist gut zu mir.«

Schon im Gehen wendet sich Boas noch einmal um.

»Du hast Noomi beigestanden nach dem Tod ihrer Söhne. Unser Gott, dessen Name unaussprechlich ist, vergilt das Gute ebenso wie das Böse.«