Wie ich den Frieden fand - Hans-Arthur Marsiske - E-Book

Wie ich den Frieden fand E-Book

Hans-Arthur Marsiske

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Beschreibung

Ein Leben in Frieden -- das ist eine ganz neue Erfahrung für den jungen Caspar, den es auf der Flucht vor Kriegsgräueln und Hexenjägern nach Nordamerika verschlagen hat. In dem Medizinmann Hokahey hat der alchemistisch gebildete Waisenjunge zudem einen Seelenverwandten und guten Freund gefunden. Doch die Idylle ist nicht von Dauer: Als die Zerstörungswut des Dreißigjährige Krieges auch den amerikanischen Kontinent erreicht, beschließen die beiden, ihr Wissen aus zwei Welten zu vereinen, um den Vormarsch der Europäer zu stoppen...

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Hans-Arthur Marsiske ist Journalist und Autor von Sachbüchern und Romanen. 1989 wurde er am Institut für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Universität Hamburg zum Dr. phil. promoviert und hat seitdem als freier Autor vornehmlich für die Ressorts Kultur, Wissenschaft und Technik gearbeitet. Sein Science-Fiction-Roman Die letzte Crew des Wandersterns erschien 2019 im Hinstorff-Verlag. Wie ich den Frieden fand ist sein erster historischer Roman.

Inhaltsverzeichnis

Editorische Vorbemerkung

Hochverehrter Leser!

Anhang

Editorische Vorbemerkung

Das nachfolgende Dokument ist nach dem nuklearen Selbstmordanschlag vom 18. Juni 2037 in den französischen Nationalarchiven gefunden worden. Es war dort offenbar vor etwa 400 Jahren gezielt falsch abgelegt worden und konnte nur mithilfe der Signatur aufgespürt werden – die den Organisatoren der Verzweiflungstat offenbar als Passwort diente.

Der auf Birkenrinde verfasste Text enthält sprachliche Unklarheiten, unleserliche Stellen sowie historische Verweise, die Gegenstand noch andauernder Untersuchungen sind. An der Authentizität des auf Frühneuhochdeutsch abgefassten Dokuments selbst bestehen jedoch keinerlei Zweifel. Auch die generelle Aussage scheint klar und dürfte durch Korrekturen im Detail kaum wesentlich geändert werden. Wir haben uns daher entschlossen, diese sprachlich modernisierte Fassung, die in den Kreisen der Ermittler kursiert und uns von dort zugespielt wurde, zu veröffentlichen. Die Aufzeichnungen des Alchemisten Caspar verleihen der Verzweiflungstat von Hongkong eine ungeahnte historische Dimension, deren Geheimhaltung nicht länger zu rechtfertigen ist.

Kein Frieden ohne Freiheit, keine Freiheit ohne Frieden!

Kim Susan Rhasārtreh

Präsident*in der Assange-Snowden Foundation

Im Mai 2040

Hochverehrter Leser!

Ist das die richtige, Euch angemessene Anrede? Verzeiht mir bitte, wenn meine Worte Euch roh und ungeschliffen erscheinen mögen. Ich bin nur ein einfacher Mann und mit den Feinheiten des Umgangs unter Menschen von Bildung und hohem Stand nicht vertraut. Und ich habe diese Schrift zuerst ja auch gar nicht an Euch oder sonst irgend jemanden richten wollen, sondern sie für mich selbst begonnen.

Die Geschehnisse, von denen ich hier berichten will, hatten mich zuletzt so aufgewühlt, dass ich mir sehnlichst jemand wünschte, mit dem ich in meiner Sprache über den Wirrwarr an Gedanken und Gefühlen in mir hätte sprechen können. Da schlug Hokahey vor, mir selbst einen Gesprächspartner zu schaffen. Ich könne die Worte von meiner Zunge lösen und ihnen ein eigenes, unabhängiges Dasein verschaffen, meinte er. Wäre das nicht ganz so, als würden sie mir gegenübertreten, wie von einem anderen gesprochen?

Werter Leser, Ihr sollt sogleich erfahren, wer sich hinter dem seltsam klingenden Namen verbirgt, könnt aber an diesem Ratschlag schon erkennen, wie klug Hokahey ist. Obwohl er selbst nicht lesen und schreiben kann, hat er die Macht der Schriftzeichen genau verstanden: Schon bald, nachdem ich die ersten Worte aufgeschrieben hatte und sie deutlich lesbar vor mir auf dem Blatt standen, lichtete sich auch der Nebel in meinem Kopf und mir wurde rasch klar, was zu tun war.

Dazu gehört, dass ich meine Gedanken nicht für mich behalten darf, sondern Euch, werter Leser, mit einbeziehen muss. Denn wenn im kommenden Frühjahr alles geschehen sein wird, werde ich nicht mehr da sein, um es Euch zu erklären. So will ich also den Winter nutzen, um aufzuschreiben, wie es dazu gekommen ist.

Ich will nicht verschweigen, dass ich mich ein wenig davor fürchte. Ich fürchte mich vor hässlichen Dingen, die mir gegenübertreten könnten, wenn ich sie aus meinem Geist hervor hole und in geschriebene Worte verwandle. Und noch mehr fürchte ich mich davor, was mit den Worten geschehen mag, wenn sie einmal von mir getrennt sind und ihr eigenes Leben führen. Ist es nicht eine Quelle des Übels, dass wir Weißen, die wir über den gewaltigen Ozean hierher gekommen sind, so viel von unserem Körper abtrennen, die Sprache ebenso wie die Kraft, mit der wir Berge aushöhlen und unsere Feinde bekämpfen? Vielleicht steckt das Böse in den Buchstaben selbst, sodass wir es weiter tragen, ohne es zu wollen, wenn wir sie benutzen?

Hokahey glaubt nicht, dass die Zeichen selbst böse sind. Erst wenn sie zusammenkommen, sich miteinander verbinden, erwachse daraus Böses oder Gutes, Lustiges oder Trauriges, Klarheit oder Verwirrung, sagt er. Es sei wie mit Worten, Klängen oder Bildern. Sie können uns erschrecken, erfreuen, Wut entfachen oder besänftigen, je nachdem wie sie zusammengefügt werden. Für die Wirkung seien nicht die Zeichen verantwortlich, sondern der Erzähler, der sie benutzt. Sicher verleihe es den weißen Männern große Macht, ihre Worte dauerhaft festhalten zu können. Doch diese Macht könne ebenso Gutes bewirken wie Schlechtes.

Ich hoffe, dass er recht hat und meine Schrift ebenso wie die Taten, von denen sie erzählt, am Ende Gutes bewirken – oder doch zumindest mehr Gutes als Schlechtes.

Nun wäre es wohl schicklich, an dieser Stelle mitzuteilen, wann und wo all dies aufgeschrieben wurde. Allein, da ist immer noch so viel Verwirrung wegen der zehn Tage, um die sich die Kirchenleute schon so lange streiten. Daher weiß ich nur so viel: Es ist ein warmer Herbsttag, vielleicht der letzte in diesem Jahr, an dem ich diese ersten Worte auf Birkenrinde festhalte. Für die kaisertreuen Katholischen mag es schon November sein, für die Reformierten vielleicht noch Oktober. Selbst beim Jahr bin ich mir nicht sicher. Schreiben wir noch 1639 oder schon 1640? Oder womöglich schon 1641? Ihr mögt Euch vielleicht wundern, verehrter Leser, aber hier im Dorfe Kachnawage am Ufer des Flusses Teionontatátie, den die Niederländer Maquaas Kill nennen, haben diese Zahlen keine Bedeutung. Und seit ich hier lebe, habe daher auch ich aufgehört, die Jahre zu zählen.

Das Jahr, in dem ich in der Neuen Welt ankam und Hokahey zum ersten Mal begegnete, weiß ich aber noch. Es war an einem sonnigen Tag im Spätfrühling des Jahres 1635, als unser Schiff De Vliegende Vis Fort Oranje erreichte. Der niederländische Handelsposten liegt nicht weit von hier nahe der Mündung des Teionontatátie in den mächtigen Strom des Skahnéhtati, der bei den Niederländern Grote Rivier heißt.

Ich sehnte mich danach, nach der langen Zeit auf dem engen, ständig schwankenden Schiff endlich festen Boden zu betreten. Dann sah ich, wie winzig die Siedlung war. Eine Handvoll Leute lebte dort in einfachen Hütten, geschützt durch eine starke, hohe Palisade aus angespitzten Baumstämmen. Als ich das Schiff verließ und durch das Tor schritt, hatte ich das Gefühl, von einem Kerker in den anderen zu wechseln.

Gut, das neue Gefängnis war immerhin trocken und schaukelte nicht. Aber ich konnte um mich herum keine Wände mehr ertragen. Ich wollte kräftig ausschreiten, statt ständig nur wenige Schritte hin und her laufen zu können. Ich wollte den Hügel besteigen, den ich bei der Anfahrt gesehen hatte, und von dort aus die Umgebung betrachten, wollte endlich wieder Wälder und Wiesen sehen statt immer nur Wasser und Wellen.

So lief ich also, kaum dass ich das Fort durch das flusswärts gelegene Tor betreten hatte, schnurstracks durch das gegenüber liegende Tor wieder hinaus. Auch die eindringlichen Warnungen, bloß nicht die schützende Umzäunung zu verlassen, konnten mich nicht davon abhalten.

Geht nicht allein in den Wald, so hatte es schon während der Überfahrt immer wieder geheißen, wenn mit ängstlich flüsternden Stimmen von den Wilden erzählt wurde, die dort lauerten, den Grausamsten der Grausamen. Bevor Ihr ihnen in die Hände fallt, tötet Euch lieber selbst mit eurer letzten Kugel oder, wenn es nicht anders geht, schlitzt Euch selbst die Kehle auf. Das ist immer noch besser, als ihr Gefangener zu werden. Denn dann wird Euer Sterben lange dauern. Tagelang werden sie Euch martern, Ihr werdet das Ende herbei sehnen, aber sie werden Euch nicht gehen lassen, sondern gerade genug Leben in Euch lassen, dass Ihr leiden könnt. Ihr werdet darum flehen, in die Hölle eingelassen zu werden, nur um diesen Qualen zu entkommen.

So ungefähr redeten jetzt auch die Bewohner von Fort Oranje auf mich ein, als sie mich zielstrebig auf das Tor zuschreiten sahen, und heute weiß ich, dass ihre Geschichten kaum übertrieben waren. Aber Ihr müsst wissen, geschätzter Leser, ich bin aus dem Böhmischen. Ich bin im Wald groß geworden und habe dort schon als kleines Kind viel Schlimmes gesehen. Es war damals so viel Mord und Meuchel in unserem Land, dass ich es mir bis heute nicht schlimmer vorstellen kann. Und so habe ich früh gelernt, mich zwischen Bäumen, Gras und Sträuchern unsichtbar zu machen und den gewalttätigen Horden, die allenthalben durch die Gegend zogen, aus dem Wege zu gehen. So gedachte ich es auch in den Wäldern der Neuen Welt zu halten.

Denn auch das wurde erzählt: Es sollten dort die merkwürdigsten Pflanzen und Pilze wachsen, manche mit magischen Kräften. Die wollte ich finden, wollte die Stimmen der Vögel und anderer Tiere hören, ihre Witterung aufnehmen. Doch was ich fand, war Hokahey. Oder, nein – eigentlich fand er mich.

Er stellte sich nicht gleich mit seinem Namen vor, sondern war auf einmal einfach da. Von einem Augenblick auf den anderen. Stand da, mitten auf einer Lichtung, rührte sich nicht, schaute mich nur an.

Ich hätte wohl erschrecken sollen. Sein Anblick hätte durchaus Anlass dafür geboten. Dunkle Streifen auf seinem Gesicht gaben ihm das Aussehen einer Raubkatze. Sein Kopf war kahl bis auf ein Büschel schwarzer Haare, die, zu einem Zopf geflochten, den Hinterkopf wie ein Pferdeschweif schmückten. Er trug keine Kleidung außer einer Art Gürtel, an dem verschiedene Beutel hingen wie auch ein kleines Ledertuch, das sein Gemächt verdeckte. In der rechten Hand hielt er einen Speer, der ihn um eine Kopflänge überragte. Quer über die Brust trug er einen Bogen, auf dem Rücken einen Köcher mit Pfeilen. Stolz und kräftig stand er da, ein Krieger.

Seine Erscheinung ängstigte mich jedoch nicht, sondern weckte vielmehr meine Neugier. Ich fragte mich, wo er so plötzlich herkam. Wie hatte er das gemacht? Da war kein Gebüsch in der Nähe, in dem er sich vorher versteckt haben konnte, das Gras war viel zu flach, um Deckung zu bieten. Und ich hatte meine Umgebung ständig im Auge gehabt. Es konnte nur ein winzig kleiner Moment gewesen sein, den ich nicht hingesehen hatte, viel zu kurz, um sich unbemerkt auf diesen moosbewachsenen Felsen zu stellen. War das Zauberei? Auf dem Schiff hatte ich viele Geschichten gehört, die von den geheimnisvollen Zauberkräften der Wilden erzählten, hatte ihnen aber bisher wenig Glauben geschenkt.

Ich überlegte. Wohin hatte ich geschaut, bevor ich ihn entdeckte? Ich hatte mir eine Kletterpflanze angesehen, die sich in mehreren Windungen um einen hohen, schlanken Baum rankte. Sie strahlte Kraft aus mit ihrem dicken und doch geschmeidigen, biegsamen Stengel und den saftigen, länglichen Blättern, zwischen denen zarte, weiße Blüten hervor sprossen. Ein feiner Duft ging von ihnen aus, schwer zu fassen, betörend…

Hokahey hatte wahrhaftig gezaubert. Aber diese Art Zauberkräfte war mir vertraut.

Ich deutete mit dem Kopf zu dem Baum mit der Ranke, wedelte mir den Duft der Blüten zu. Dann blickte ich wieder zu ihm und verdeckte meine Augen mit den Händen.

Er nickte langsam und schien zu lächeln, aber die Bemalung machte es schwer, seine Gesichtszüge zu deuten. Dann deutete er mit zwei Fingern auf seine Augen, danach auf mich. Er hatte mich beobachtet, wohl schon eine Weile.

Er schaute nach links und nach rechts, erst mit den Augen, dann auch mit dem Kopf, drehte ihn immer weiter, dann auch nach oben und unten. Ja, so war ich wohl durch den Wald gelaufen. Wo immer ich hinschaute, entdeckte ich etwas Neues. Hier wuchsen Pflanzen, die ich noch nie gesehen hatte, in direkter Nachbarschaft mit vertrauten Gewächsen, die ich auf einem solchen Boden nicht erwartet hätte. Dieses Getümmel an Formen, Farben, Geräuschen und Gerüchen hatte meine Sinne überfordert und meine Wachsamkeit geschwächt. Ich hatte unterschätzt, wie neu diese Welt wirklich war.

Jetzt beugte er sich herunter, legte den Speer zur Seite und wandte sich einem Strauch in seiner Nähe zu, als würde er mit ihm reden. Er bewegte die Lippen, formte mit den Händen so etwas wie die Münder oder Schnäbel zweier weiterer Pflanzen, die sich an dem Gespräch beteiligten. Er zeigte auf mich, ließ den Blick um mich herum wandern, während seine Hände weiter zu sprechen schienen, dann zeigte er auf sich selbst und wiederholte die Geste.

Er war wie ich. Einer, der sich darauf verstand, mit den Geistern in den Pflanzen, Tieren und sogar in den Steinen um uns herum zu sprechen. Bei seinem Volk wurde er wahrscheinlich geehrt wie bei uns ein Medicus oder Alchemist, die Kirchenleute jedoch hätten ihn zweifellos der Hexerei bezichtigt.

Die Anmut und Klarheit seiner Gesten, durch die er lautlos mit mir sprach, beeindruckten mich, schüchterten mich aber auch ein. Ich fürchtete, eine unbedachte Bewegung von mir könnte womöglich eine mir unbekannte Bedeutung haben, und stand völlig reglos da.

Hokahey lachte, nahm seinen Speer und schleuderte ihn wenige Schritte neben sich in die Erde. Dort legte er auch den Bogen und seine Köcher ab. Die Geste war einfach und unmissverständlich, sie sagte: Lass uns hier zusammen lagern.

Das löste meinen Bann. Ich legte meine Ausrüstung ebenfalls ab und kniete neben ihm nieder. Gemeinsam huben wir eine Grube fürs Feuer aus, ich benutzte dafür mein eisernes Messer, er hantierte überaus geschickt mit einem Beil aus einem scharf geschliffenen Stein.

Es wird dunkel. Ich muss morgen früher mit dem Schreiben beginnen.

Werter Leser, lasst mich noch ein wenig bei dieser Begegnung verweilen. Es tut so gut, sich an diesen Moment zu erinnern. Es war der friedlichste, den ich bis dahin erlebt hatte. Heute kann ich sagen: den ich je erlebt habe.

Habt Ihr Euch beim Lesen gerade darüber gewundert, dass wir unsere Werkzeuge nicht als tödliche Waffen eingesetzt haben? Gewiss, das hätten wir wohl tun können. Und Ihr mögt es mir glauben oder nicht, meine Klinge war damals schon reichlich in Blut gehärtet worden. Ich wäre nicht hier, um all dies aufzuschreiben, wenn ich jemals auch nur einen Augenblick gezaudert hätte, damit zuzustechen.

Doch auch dies müsst Ihr mir glauben: Dass ich in jenem Moment kein einziges Mal an Derartiges gedacht habe. Dieses Todeswerkzeug, das ich einst in den Trümmern der Schmiede meines Vaters fand und das mich seitdem ungezählte Male vor anderen Klingen und Knüppeln geschützt hat, war für mich jetzt nichts weiter als ein Spaten.

Ist nicht allein das schon ein Wunder? Wo ich herkomme, gibt es so etwas nicht. Da bedeutet ein Fremder im Wald stets Gefahr. Da hebt man als Erstes die Waffe und senkt sie erst wieder, wenn man sich gegenseitig überzeugt hat, nichts Böses im Sinn zu haben. Danach behält man sie in der Hand. Oder man sticht gleich zu. Oder schießt.

Ich habe es als Kind aus meinen Verstecken in Gebüschen und Bäumen oft gesehen. Und gehört. Wie plötzlich ein lautes Krachen den Wald erschüttert und eine dichte Rauchwolke über dem Arm eines der Männer aufsteigt, die gerade am Rande einer Lichtung auftauchen. Wie auf der anderen Seite ein Mann von der Kugel zu Boden geschleudert wird. Wie vorne und hinten Blut aus ihm herausspritzt. Wie die anderen dem Schützen gratulieren. Glänzender Schuss, schnell pariert, gut gezielt.

Ich habe seit jenem Tag meiner Ankunft in der Neuen Welt immer wieder darüber nachgedacht, warum all das auf einmal nicht mehr zählte. Von Hokahey kannte ich in jenem Moment noch nicht einmal den Namen und dachte dennoch nicht einen Augenblick lang daran, zur Pistole zu greifen oder das Messer zu zücken. Ich dachte überhaupt nicht ans Kämpfen, sondern freute mich, so fern von meiner Heimat jemanden getroffen zu haben, der mir so ähnlich war. Ich glaube, es lag vor allem daran, dass nie zuvor jemand so sanft, so behutsam und so freundlich in mein Leben getreten ist.

Natürlich war auch Magie im Spiel. Es war die Zauberkraft der Rankpflanze, die es Hokahey ermöglichte, sich mir so zu zeigen, dass ich es auf keinen Fall als eine Bedrohung auffassen konnte, sondern sogleich als Einladung verstand. Er übermittelte sie mit seinem Blick und seiner ganzen Haltung: Ich mag dich. Ich will mehr von dir erfahren. Lass uns Zeit miteinander verbringen.

Das fiel uns nicht schwer. Nachdem wir die Grube fürs Feuer tief genug gegraben hatten, suchten wir in der Nähe nach kleineren Hölzern, um damit das Feuer zu starten. Wenn ich eins fand, warf ich es geradewegs in die Grube. Das wurde immer schwieriger, je weiter wir uns entfernten. Rasch wurde ein Spiel daraus, bei dem wir versuchten, uns gegenseitig zu übertreffen, indem wir von immer weiter weg Hölzer auf die Grube warfen. Gerade aus großer Entfernung traf er weit besser als ich. Wir spielten wie die Kinder und lachten viel.

Als genug Brennholz zusammen war, kehrten wir zur Feuerstelle zurück. Hokahey machte sich sogleich daran, kleinere Stücke so aufzuschichten, dass sie leicht Feuer fangen konnten.

Wie würde er das Feuer wohl entfachen? Kurz überlegte ich, Schlageisen, Feuerstein und Zunder hervorzuholen, doch ich war neugierig, welcher Methode er sich wohl bedienen würde. Ohnehin schien Hokahey meiner Unterstützung nicht zu bedürfen und sie auch nicht zu erwarten.

Werter Leser, Ihr mögt vielleicht von den Wilden gehört haben, dass sie primitiv seien, geistig weit unter uns stünden, nur über sehr einfache Werkzeuge und keinerlei Wissenschaft verfügten und dergleichen mehr. Aber ich muss Euch sagen: Nie zuvor habe ich gesehen, dass ein Feuer so schnell entflammte. Es ist ja schon mit Feuerstein und Schlageisen nicht immer einfach, die Funken so zu lenken, dass sie gut auf den Zunder treffen. Meist braucht es mehrere Schläge, bis er ausreichend glimmt. Selten genug gelingt es mit einem Schlag und ist dann zumeist auch ein Anlass zur Verwunderung. Aber diesmal hatte ich noch gar nicht richtig hingesehen – ich rechnete wohl nicht damit, dass es so rasch gehen würde – da brannte das Feuer schon.

Mir war zuvor nicht aufgefallen, dass Hokahey in einem der schmalen Körbe, die er auf dem Rücken trug, glimmende Glut mit sich führte. Ich hatte weder Rauch gesehen, noch hatte ich etwas gerochen. Und glaubt mir, ich hatte bis dahin noch jede glühende Lunte auf dreißig Schritt gerochen. Man lernte das damals in den Wäldern Böhmens und Frankens, sonst überlebte man dort nicht lange.

Ich bat ihn, mir die Glut näher zu zeigen. Es war ein weißer, leicht gelblicher Stoff, der von einem Pilz stammen mochte. Aber selbst aus der Nähe war ich mir nicht sicher, ob da wirklich sehr feiner Rauch aufstieg oder ob ich mir nur wünschte, Rauch zu sehen. Ich wedelte mir etwas Luft zu, nahm aber keinen besonderen Geruch wahr.

Meinen fragenden Blick beantwortete Hokahey, indem er einen Finger unter der Nase entlangzog.

Nicht minder beeindruckend war der Zunder, den er mit der Glut entfacht hatte. Es war ein graues Pulver, das mit einem Fauchen entflammt war, ähnlich unserem Schießpulver, aber ohne die rote Flamme und mit weniger Rauch. Ich vermutete damals, dass es aus Birkenrinde gefertigt sein könnte, was sich später bestätigte. Tatsächlich wächst die Birke auch auf dieser Seite des Ozeans. Was mir aber vor allem auffiel, war die Körnung des Pulvers. Feines Mehl war mit gröberen Stücken gemischt, ganz wie bei gutem Schießpulver.

Hokahey legte Glut und Zunder wieder in den Korb und holte eine Pfeife hervor. Sie war aus Holz, fast so lang wie mein Unterarm, mit vielen Schnitzereien und farbigen Ornamenten verziert und einem steinernen, ebenfalls sorgfältig geschliffenen Pfeifenkopf. Er hob sie feierlich mit beiden Händen und zeigte sie mir.

Ich wusste damals noch nicht, dass all diese Muster auf den Werkzeugen und der Kleidung der Amerikaner Bedeutungen haben und Geschichten über ihre Besitzer und deren Familien erzählen. Aber selbst ohne dieses Wissen spürte ich die Kraft, die ihnen innewohnte. Ich neigte anerkennend den Kopf.

Er nahm die Pfeife wieder an sich und begann, sie mit einem grünlichen Kraut zu füllen, das er in einem Lederbeutel bei sich trug. Er tat das mit geübten Händen und mit großem Ernst. Auch als er das Kraut mit einem flammenden Stöckchen aus dem Feuer entzündete, hatten seine Bewegungen etwas Feierliches.

Dann erhob er sich. Ich wollte es ihm gleich tun, aber er bedeutete mir sitzen zu bleiben. Er blickte in Richtung der sich allmählich senkenden Sonne, führte die Pfeife mit beiden Händen zum Mund und nahm einen tiefen Zug. Einen Moment behielt er den Rauch in der Lunge, bevor er ihn wieder hinausblies. Das wiederholte er noch dreimal und drehte sich dabei im Kreis rechts herum einmal um seine eigene Achse. Dann kniete er sich vor mir hin, hielt die Pfeife mit beiden Händen vor sich, beugte die Arme ein wenig zur Brust und sagte seinen Namen: „Hokahey.“ Schließlich reichte er mir die Pfeife, in den Augen die naheliegende Frage.

Ich nahm die Pfeife an mich, sagte „Caspar.“ Um es zu bestärken, streckte ich die Arme noch einmal in seine Richtung, nannte dabei seinen Namen und wiederholte meinen, indem ich die Pfeife wieder auf mich richtete. Dann stand ich auf.

Nun müsst Ihr wissen, werter Leser, mit der neuen Mode, Rauch einzuatmen, habe ich nie etwas anfangen können. Ich hatte es wohl einmal ausprobiert, als ich damals mit Theobaldus, dem Pfeifenmacher, unterwegs war, fand es aber nur unangenehm. Am Lagerfeuer meidet man ja auch den Platz, wo der Rauch hinweht, nicht wahr?

Aber wie hätte ich das meinem amerikanischen Freund – ja, ich glaube, ich betrachtete ihn tatsächlich schon jetzt als Freund – wie also hätte ich ihm das erklären können? Ich wollte ihn auf keinen Fall enttäuschen und ebenfalls vier Züge aus der Pfeife nehmen, versagte aber schon beim ersten kläglich. Der Rauch kratzte heftig in meiner Kehle, viel stärker als der Tabak, mit dem Theobaldus seine Pfeifen füllte, sodass ich ihn mit einem lauten Husten sogleich wieder hinausbeförderte.

Ich schaute wohl etwas verlegen zu Hokahey. Doch der lächelte nur und bedeutete mir, beim Ziehen an der Pfeife die Mundwinkel etwas zu öffnen und mit der zusätzlichen Luft den Rauch zu verdünnen und auch etwas abzukühlen. Ich folgte seinem Rat, und tatsächlich gelang es mir nach wenigen Versuchen, den Rauch ohne Husten einzuatmen. Erst jetzt, da ich glaubte, den Umgang mit der Pfeife angemessen zu beherrschen, wiederholte ich die Zeremonie, wie Hokahey sie mir vorgemacht hatte. Ich wandte mich zuerst zur Sonne, blies ihr den Rauch entgegen und drehte mich dann rechts herum, also in ihrer Bewegungsrichtung, einmal um meine eigene Achse, und verteilte dabei Rauch in alle vier Himmelsrichtungen. Ich musste mich anstrengen, um nicht erneut zu husten, doch es gelang mir.

Nach dem letzten Zug aus der Pfeife blieb ich noch einen Moment nachdenklich stehen. Vier, dachte ich. Die Bewohner dieser entlegenen Region der Welt kannten vier Himmelsrichtungen, genau wie wir. Diese Zahl hatte also offenbar auch hier eine besondere Bedeutung.

Ich muss einräumen, dass die Welt der Zahlen mir nach wie vor ein Rätsel ist. Oh, ich weiß wohl zu zählen und große von kleinen Zahlen zu unterscheiden, das hat mich Meister Albert neben dem Lesen und Schreiben durchaus auch gelehrt. Aber ganz ähnlich wie mit Pulvern und Ölen konnte er auch diese Zahlen miteinander mischen, sodass sie auf einander einwirkten und etwas Neues entstand. Wie er das machte, habe ich nie verstanden. Hätten wir mehr Zeit gehabt, hätte ich es vielleicht noch gelernt.

Aber selbst wenn ich mit Zahlen nicht so leicht hantieren kann, wie ich es mit den Elementen tue, kann ich doch die Schönheit und die Kraft einer Zahl erkennen und würdigen. So denke ich bei der Vier an Klarheit, Festigkeit, Vollständigkeit. Morgen, Mittag, Abend und Nacht bilden einen Tag. Frühling, Sommer, Herbst und Winter bilden ein Jahr. Erde, Wasser, Luft und Feuer bilden die Welt.

So ähnlich dachte ich wohl auch, als ich mit der Pfeife in der Hand an unserem Lagerfeuer stand und dem Rauch nachblickte. Seht Ihr, man kann sich in diesen Gedankenspielen leicht verlieren, und so ist es wohl auch mit mir geschehen. Es war ganz ähnlich wie in jenem Moment, als ich an den Blüten der Rankpflanze geschnuppert hatte: Auf einmal wurde mir gewahr, wie ich da stand, und ich hätte nicht sagen können, wie lange schon. Als wäre ich bei einer verbotenen Tat ertappt worden, schaute ich zu Hokahey hinunter, der seinerseits zu mir hinaufsah. Wir verharrten so für vielleicht einen Herzschlag, dann platzte zur gleichen Zeit aus uns beiden ein so frohes Lachen heraus, wie ich mich nicht erinnern kann, jemals so gelacht zu haben.

Und während wir beide so aus Leibeskräften lachten, dachte ich, dass wir doch eigentlich gar keinen Grund dazu hatten. Aber dieser Gedanke brachte mich nur noch mehr zum Lachen. Hokahey, dessen Bewegungen bisher alle so bedacht und kontrolliert erfolgt waren, hielt sich den Bauch und ließ sich mit quietschendem Jauchzen auf den Rücken fallen, wo er sich kichernd hin und her warf.

Was für eine seltsame Situation. Da trafen sich zwei, die einander so fremd waren, wie es nur ging, die bisher weit voneinander entfernt gelebt hatten, die sich gegenseitig fürchten, die misstrauisch und vorsichtig hätten sein sollen – und lachten aus Leibeskräften, dass ihnen die Tränen aus den Augen spritzten und sie kaum atmen konnten. Wer uns beobachtet hätte, hätte uns wohl für vollkommen verrückt gehalten, zwei harmlose Dorftrottel, die sich in ihrer eigenen Welt bewegten, zu der niemand sonst Zugang hatte.

Und so war es ja auch. Wir waren in diesem Moment in unserer eigenen Welt, entrückt von der Wirklichkeit, wie sie alle anderen kannten. Das Kraut musste das bewirkt haben, das Hokahey in die Pfeife gestopft hatte, das wurde mir bald klar. Ich verstand zwar nicht, was es mit mir gemacht hatte. Irgend etwas in meinem Kopf kam mir leicht verschoben vor, nur ein klein wenig, aber die Folgen waren gewaltig. Was mir bisher vertraut und selbstverständlich erschienen war, wirkte auf einmal komisch und befremdlich, und ich wunderte mich, warum mir das noch nie aufgefallen war. Es war alles verrückt, einfach zum Lachen. Und es tat so gut.

~

Werter Leser, als ich gestern schrieb, dass ich nie zuvor so ausgelassen gelacht hätte wie mit Hokahey, war das einerseits richtig, weil diese Begegnung mit ihm wirklich einzigartig war. Andererseits dürft Ihr aber natürlich nicht denken, dass ich ansonsten nie gelacht hätte. Mit den Schweden etwa ging es oft sehr lustig zu. Gerade in schweren Zeiten, so scheint mir, sehnen sich Menschen nach ein wenig Heiterkeit und der Unbeschwertheit, die sie mit sich bringt, und sei es auch nur für einen flüchtigen Moment.

Selbst mit dem sonst stets so nüchternen Meister Albert habe ich einen solchen Moment erlebt. Das war, als wir die rätselhafte Notiz im Feuerwerk-Buch endlich verstanden hatten und es uns zum ersten Mal gelungen war, das Knallwasser herzustellen. Nie wieder habe ich Meister Albert so fröhlich jauchzen gesehen, wie an jenem Tag, als die Retorte mit einem gewaltigen Knall in tausend Stücke zerplatzte. Eines davon hatte ihn an der Stirn getroffen und eine blutende Wunde hinterlassen, doch seine Augen strahlten nur so vor Freude.

Und natürlich habe ich mit Apollonia viel gelacht. Wenn ich jetzt an sie denke, so fällt mir auf, dass sie einst ganz ähnlich in mein Leben getreten ist wie Hokahey: im Dickicht des Waldes, ebenso unvermittelt, behutsam und mit großer Bestimmtheit. Allerdings sah ich sie nicht gleich, sondern hörte sie nur. Es war ein Flüstern, das auf einmal hinter mir erklang:

„Kleiner Mann, du solltest jetzt den Kopf einziehen, wenn du ihn noch eine Weile behalten willst!“

Ich erschrak. Die Stimme war ganz nah, dabei hatte ich mich völlig allein und unbeobachtet gefühlt. Dann begriff ich, was sie gesagt hatte, und duckte mich.

„Jetzt rückwärts. Is nich weit.“

Ich kroch zurück. Tatsächlich, unmittelbar hinter mir boten dicht gewachsene Fichtenzweige ein viel besseres Versteck. Ich wunderte mich ein wenig, es nicht selbst entdeckt zu haben.

Ihr müsst wissen, werter Leser, ich war noch ein kleines Kind damals und hatte mich noch nie so weit in den Wald vorgewagt. Im Dorf wusste ich, mich unsichtbar zu machen. Ich war das jüngste Kind im Haus von Johannes dem Schmied und aus seiner Sicht eigentlich überflüssig – was er mich spüren ließ, wann immer ich ihm in die Quere kam. Meine Mutter mag mich anfangs, als ich noch völlig schutzlos war, vor seinem schlimmsten Zorn behütet haben. Doch dann war sie irgendwann auf einmal nicht mehr da. Ich musste mich fortan selber schützen und lernte rasch, dass ich am besten zurechtkam, indem ich möglichst unauffällig blieb.

Zu Hause gelang mir das recht gut, im Wald dagegen hatte ich mich noch nie versteckt. Das war eine Welt, die ich fürchtete, auf die ich aber auch ein wenig neugierig war. Bis zu jenem Tag hatte die Furcht stets die Oberhand behalten. Doch dann hatte mich zuerst eine große Staubwolke angelockt, dann ein seltsames Glitzern in der Ferne immer weiter hinein gezogen. Nun stand ich am Rande eines breiten Weges, schaute wie gebannt auf dieses Lichterspiel, das die Sonne auf den Waffen und Rüstungen eines Söldnerheeres hervorrief, und mein kurzes Leben wäre vielleicht wirklich gleich darauf zu Ende gewesen, wenn Apollonia mich nicht gewarnt hätte.

Nachdem ich hinter die Fichtenzweige gekrochen war, schaute ich mich um. Ich befand mich in einem erstaunlich geräumigen Gewölbe, umgeben von Zweigen und Büschen, das von außen kaum zu ahnen war. Aber ich war allein. Außer mir sah ich niemand. Hatte ich mir das alles nur eingebildet? Das Rascheln von Laub für eine menschliche Stimme gehalten? Oder hatte sich der Flüsterer gleich darauf lautlos davon geschlichen?

„Hier bin ich.“

Ein Buschzweig winkte mir zu. Dann endlich sah ich zwischen all den Blättern auch die Augen. Sie waren auf mich gerichtet, schwenkten kurz zur Seite, dann wieder zu mir. Gleich darauf bewegten sich dicht darunter dunkle Lippen, die ich eigentlich nur deswegen erkennen konnte, weil beim Reden ab und zu helle Zähne dazwischen aufblitzten.

„Du musst dein Gesicht schwärzen.“

Ich rührte mich nicht. Was sollte das heißen? Wer sprach da mit mir?

„Komm her!“

Jetzt war etwas mehr Klang in der Stimme und verriet mir, dass sich eine Frau dort im Gebüsch versteckte. Als sie sich bewegte, konnte ich ihren Körper zumindest erahnen, den Kopf, die Arme. Ich näherte mich vorsichtig, schaute ihr dabei in die Augen.

Die Ohrfeige traf mich völlig unvorbereitet. Ich zuckte wohl ein wenig zurück, als ich ihre feuchte Hand im Gesicht spürte. Aber im gleichen Moment merkte ich auch, dass es gar keine richtige Ohrfeige war. Sie schlug mich nicht, sondern rieb mir etwas ins Gesicht. Erde, wie ich an ihren Fingern sah.

„So ist es schon besser“, sagte sie, während sie mich musterte. „Jetzt hock dich zu mir. Und bleib ganz still.“

Das tat ich. Regungslos schaute ich zu, wie sich langsam ein unendlicher Strom von Menschen näherte und schließlich nur wenige Schritte entfernt an uns vorbeizog. So viele hatte ich noch nie auf einmal gesehen! Es waren wunderliche Gestalten darunter, einige in kunterbunt geflickten Mänteln, andere in prächtigen Rüstungen, viele mit wilden, furchterregenden Bärten. Messer, Schwerter und Pistolen steckten in ihren Gürteln. In den Händen trugen sie lange Spieße, dann wieder schwere Musketen, manche auch gewaltige Streitäxte. Sie riefen sich Worte zu, die ich nicht verstand. Wenn sie lachten, klang es nicht fröhlich, sondern höhnisch, voller Verachtung. Sie machten mir Angst. Das Funkeln ihrer Ausrüstung, das mich aus der Ferne magisch angezogen hatte, war verschwunden. Aus der Nähe sprangen andere Dinge ins Auge, hässliche Dinge wie Narben in Gesichtern oder Blutspuren auf Schwertern, Äxten und Lanzen. Viele der metallenen Harnische waren zerbeult, zerkratzt und voller Flecken. Die Männer wirkten erschöpft. Erschöpft, aber voller Wut und Hass. Hass auf jeden, der sich ihnen in den Weg stellte. Kein Zweifel, sie hätten auch einem kleinen Jungen wie mir ohne zu zögern mit einem Schwertstreich den Kopf abgeschlagen, wenn ich ihnen im Weg gestanden hätte.

Den Waffenträgern folgte eine ebenso endlos wirkende Reihe von Wagen, gezogen von Ochsen, Eseln, aber teilweise auch von Pferden. Manche Wagen waren überdacht, auf anderen konnte ich Fässer, Stangen, Stoffballen und allerlei anderes Zeug erkennen. Viele Tiere zogen Kanonen hinter sich her. Dann kam ein bunteres Volk, bei dem ich auch viele Frauen und sogar Kinder entdeckte.

Später lernte ich, dass ein solcher Tross aus Marketenderinnen, Handwerkern, Huren und allerlei anderem Gesindel jedes größere Heer begleitet und dort sein Auskommen sucht. Damals sah ich jedoch nur eine riesige Menschenschlange, die alles zu zermalmen schien, was ihr unter die Räder und Füße kam. Sie machte mir Angst. Auf ihrem Weg hinterließ sie nur Dreck und Staub. Und sie kroch in die Richtung, aus der ich gekommen war.

Waren die Landsknechte und ihr Tross auf dem Weg in mein Heimatdorf? Nachdem die letzten von ihnen an uns vorbei waren, wollte ich ihnen folgen, um es herauszufinden. Doch Apollonia hielt mich zurück. Mit einem leisen Zischen mahnte sie mich zur Stille. „Das waren noch nicht alle“, flüsterte sie.

Wahrhaftig, es dauerte nicht lange und da tauchten zwischen den Bäumen und Büschen schattenhafte Gestalten auf. Sie verhielten sich ganz anders als die, die gerade so lautstark an uns vorbeimarschiert waren. Nahezu geräuschlos schlichen sie durch den Wald, mit größeren Abständen voneinander als ihre Kameraden auf der Straße, aber immer noch nahe genug, um sich etwas zuzurufen und gegenseitig zu Hilfe eilen zu können.

Einer kam direkt auf uns zu.

Ich spürte Apollonias Hand auf meinem Rücken. Ihre Ruhe übertrug sich auf mich, ich blieb völlig still und rührte mich nicht. Dabei hätte ich am liebsten laut schreien und weglaufen wollen.

Er war noch weit entfernt, sodass ich sein Gesicht im Halbdunkel des Waldes nicht erkennen konnte. Aber ich sah, dass er in der rechten Hand ein Schwert trug, so lang wie sein Arm, vielleicht sogar länger. Damit schlug er links und rechts immer wieder ins Gestrüpp, stach auch manchmal in einen Busch. Ständig drehte er den Kopf von einer Seite zur anderen, schaute auch immer wieder nach oben. Ich warf einen raschen Blick zu seinen Gefährten. Sie machten es genauso. Sie wussten, wo man sich im Wald verstecken konnte. Sie suchten uns.

Habe ich vor Angst gezittert? Vielleicht. Jedenfalls strich mir Apollonia sanft über den Rücken, wohl um mich zu beruhigen. Was ihr auch gelang. Ich gab weiterhin keinen Laut von mir, selbst als der Mann so nahe war, dass ich ihm in die Augen sehen konnte. Sie stachen hervor zwischen struppigen, schwarzen Haaren, die seinen Kopf und sein Gesicht fast völlig verdeckten. Ich glaubte, seinen Blick auf meinem Körper zu spüren. Wie der Stich einer Nadel drang er in mich. Oder wie ein Schwert?

Jetzt stand er unmittelbar vor unserem Versteck, musterte es aufmerksam. Schaute mir direkt in die Augen. Hatte er mich gesehen? Er musste mich gesehen haben, so lange, wie er in meine Richtung geblickt hatte. Ich war starr vor Schreck.

Apollonias Hand auf meinem Rücken.

Dann eine Stimme von weiter weg. Jemand rief dem Mann etwas zu, was ich nicht verstand. Seine Kameraden waren ihm ein gutes Stück voraus, offenbar sollte er zu ihnen aufschließen. Ich hörte eine andere Stimme, dann ein kurzes Lachen.

Den Soldaten schien es nicht zu kümmern. Er stand weiter stumm vor uns, misstrauisch. Auf einmal riss er das Schwert unfassbar schnell durch das hoch gewachsene Gras und die Farne vor uns. Ritschratsch, einmal hin und her.

Fünf Finger auf meinem Rücken halfen mir, ruhig zu bleiben.

Die Halme und Blätter sanken zu Boden. Noch immer schützten uns die tief herab hängenden Zweige. Doch jetzt trat der Mann einen Schritt vor und hob das Schwert, um einen Schlag von oben nach unten zu führen.

Apollonias Hand war fort.

Ich war allein. Niemand hielt seine schützende Hand über mich, sagte oder zeigte mir, was zu tun war. Ich hätte zur Seite springen müssen, um dem Hieb auszuweichen. Es wäre vielleicht gelungen und ich hätte womöglich entkommen können. Aber ich war wie gelähmt.

Der Soldat stand mit erhobenem Schwert da, völlig regungslos. Dann ließ er es plötzlich nach hinten fallen, griff mit beiden Händen an seinen Hals. Jetzt erst sah ich den Holzstab, der in seiner Kehle steckte. Dessen Spitze ragte aus dem Nacken heraus, dunkelrotes Blut lief daran herunter. Ein dicker Tropfen löste sich träge und fiel herab.

Mit einem kräftigen Ruck riss Apollonia den Spieß aus dem Hals des Mannes. Jetzt schoss das Blut in einem kräftigen Strahl aus der Wunde. Ein seltsamer Laut war zu hören, als würde jemand versuchen, unter Wasser zu sprechen. Vielleicht versuchte der Mann, noch etwas zu sagen, wollte seine Kameraden warnen. Oder war es nur das Geräusch des Blutes, das aus seinem Körper heraus floss wie plätscherndes Wasser?

Ich schaute wie gebannt auf den Mann, immer noch konnte ich mich nicht vom Fleck rühren. Zuerst dachte ich, der Soldat würde nach hinten umkippen, doch jetzt, als der Spieß rausgezogen war, drohte er, direkt auf uns zu stürzen. Es war wohl immer noch etwas Leben in ihm, in seinen Augen sah ich Verwunderung, Unglauben, den Versuch zu begreifen, was geschehen war. Doch dafür reichte seine Zeit nicht mehr. Er sank auf die Knie. Als sein Oberkörper sich nach vorn neigte, stützte Apollonia ihn ab, sodass er fast geräuschlos zwischen uns zu Boden sank.

Sie hatte sich wieder hingeduckt und schaute zu seinen Kameraden. Die hatten sich inzwischen noch weiter entfernt, waren zwischen den Bäumen nur noch vereinzelt zu sehen und hatten von dem Kampf anscheinend nichts bemerkt. Dann deutete sie mit dem Kopf in die Richtung, in die wir fliehen mussten, und sprang auf. Ich folgte ihr kreuz und quer durch den Wald. Schon bald konnten wir die Soldaten nicht mehr sehen oder hören.

Ist das nicht seltsam, werter Leser? Da will ich Euch Apollonia vorstellen, weil ich mit ihr so lachen konnte wie mit Hokahey – und dann erzähle ich Euch so eine Geschichte, die wahrlich nichts Heiteres an sich hat. Aber so war nun einmal unsere erste Begegnung. Und damit muss ich doch beginnen, nicht wahr?

Indes, wenn ich es recht bedenke, so ganz ohne heitere Gefühle war die Begebenheit dann auch wieder nicht. Wir hatten überlebt, waren entkommen. Während wir noch durch den dämmrigen Wald hasteten, auf Pfaden, die Apollonia offenbar sehr gut kannte, dachte ich jedoch noch nicht daran. Erst als sie am Rande einer Anhöhe stehenblieb und sich lächelnd zu mir drehte, löste sich etwas in mir. Ich strahlte sie an, stieß einen Jubelschrei aus und umarmte sie, so gut ich konnte. Ich reichte ihr damals gerade mal bis zum Bauch.

„Schschhh, kleiner Mann“, sagte sie und strich mir über den Rücken. „Ist ja gut. Wir müssen immer noch vorsichtig sein. Aber erst einmal haben wir es geschafft.“

Eine Weile standen wir so da. Dann ging sie in die Hocke, sodass wir einander in die Augen sehen konnten. Erst jetzt konnte ich in Ruhe ihr Gesicht betrachten. Es war immer noch mit Erde verschmiert, doch die konnte die Ebenmäßigkeit ihrer Züge nicht verdecken. Haselnussbraune Augen schauten mich aufmerksam an, vereinzelt blitzte unter der Erde helle, reine Haut auf. Ich sah dunkelrote, volle Lippen. Obwohl Apollonia gegenüber dem Soldaten gerade so eine erschreckende Härte gezeigt hatte, war da jetzt eine große Sanftheit. Sie musterte mich aufmerksam. Ihr Blick drückte Besorgtheit aus, aber auch Neugier, und war voller Wohlwollen.

Während ich dies aufschreibe, fällt mir auf, dass auch Hokaheys Gesicht bei unserer ersten Begegnung mit dunklen Streifen geschmückt war. Bei Apollonia war es natürlich kein Schmuck, doch in diesem Moment fand ich sie einfach nur wunderschön.

„Wie ist dein Name, kleiner Mann?“, fragte sie. „Mich nennt man Apollonia.“

Ich nannte ihr meinen Namen. Ihre nächste Frage war schwieriger. Woher ich kam? Aus dem Dorf halt, ich kannte nur das eine. Wie es hieß, wusste ich nicht, und weiß es bis heute nicht. Doch den Namen meines Vaters konnte ich Apollonia nennen.

„Johannes der Schmied“, wiederholte sie nachdenklich und nickte. „Den kenne ich. Dann wollen wir ihn mal besuchen.“

Die gewaltige Staubwolke und die glitzernden Waffen und Rüstungen hatten mich an jenem Tag tiefer in den Wald gelockt als je zuvor. Bis dahin war ich stets in der Nähe des Dorfes geblieben, sodass ich es noch sehen konnte. Bis zum Zusammentreffen mit Apollonia hatte ich sorgfältig auf meinen Weg geachtet und hätte wahrscheinlich auch sicher zurückgefunden, der Weg war breit und deutlich zu erkennen. Nach der Flucht mit Apollonia über schmale Pfade und quer durchs Unterholz hatte ich aber jede Orientierung verloren.

An ihrer Seite näherte ich mich dem Dorf nun aus einer anderen, mir unbekannten Richtung. Wir hatten offenbar einen großen Bogen eingeschlagen, wobei Apollonia mich ermahnte, mich so nahe wie möglich an Büschen und Bäumen entlang zu bewegen und freie Flächen zu meiden. Schließlich erreichten wir eine von hohem Gras bewachsene Anhöhe. Das letzte Stück krochen wir gebückt hinauf.

Auf den Anblick, der sich uns bot, war ich nicht vorbereitet. Von hier oben hatte ich das Dorf noch nie gesehen und erkannte es daher nicht gleich wieder, doch daran lag es nicht. Es hätte jedes beliebige Dorf sein können. Das Geschehen dort unten war es, was mich wohl hätte aufschreien lassen, hätte ich im Rücken nicht wieder Apollonias warme Hand gespürt.

Wahrscheinlich hätte mich im Dorf ohnehin niemand gehört. Die Menschen liefen selbst laut schreiend durcheinander. Verzweifelt versuchten sie, den Soldaten zu entkommen und sich vor deren Schwertern und Lanzen zu schützen. Es war vergeblich. Wer glücklich genug war, einem Hieb auszuweichen, stolperte gleich darauf einem anderen Landsknecht vor die Füße, der ihm den Todesstoß gab. Viele lagen bereits regungslos am Boden, umgeben von roten Pfützen. Es waren Kinder dabei, große und kleine, Frauen, Männer – die Soldaten machten keinen Unterschied. Und sie lachten dabei. Das war vielleicht das Furchtbarste. Sie vergnügten sich, indem sie anderen nacheinander Arme und Beine abschlugen, gratulierten sich gegenseitig, wenn es mit einem Schlag gelang, und lachten. Aber es klang nicht fröhlich, es klang dreckig.