Wie ich verschwand - Laura Jungk - E-Book

Wie ich verschwand E-Book

Laura Jungk

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Beschreibung

39 Kilo bei einer Körpergröße von 1,75 Metern: Laura wird mit 16 Jahren wegen Magersucht in eine Klinik eingewiesen. Aus der harmlosen Diät des Teenagers ist eine lebensbedrohliche Krankheit geworden - inklusive Depressionen, Panikattacken, Selbstverletzung und Lähmungserscheinungen. In ihrem ehrlichen, packenden Bericht schildert Laura den Weg in die Magersucht und wie sie wieder hinausfand. Feinfühlig und authentisch erzählt sie von typischen Mechanismen bei Essgestörten, ihrer psychischen Verfassung und der Belastung ihrer Familie. Die drastische Wahrheit über Anorexia nervosa - und ein Kompass für Betroffene und Angehörige, damit sie die Kraft finden, die lebensrettenden Schritte zu gehen.

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Wie ich verschwand

Die Autorin

LAURA JUNGK, geboren 2000, spielte Fußball und Theater und hatte eine Band, bevor sie im Alter von 14 Jahren an Anorexia nervosa erkrankte. Sie schrieb schon als Grundschülerin Geschichten und im Sommer 2017 einen großen Artikel über ihre Magersucht für die FAZ, der die Keimzelle dieses Buches war. Laura legte 2019 ihr Abitur ab, lernte 2020 Spanisch in Kolumbien und will ein Studium aufnehmen.

Das Buch

Viele Mädchen wollen abnehmen, so wie Laura. Nach dem Umzug in eine neue Stadt will sie ein paar Kilo verlieren, um einen guten Start in der neuen Schule zu haben und schnell Freunde zu finden. Doch statt Anerkennung und Beliebtheit zu erreichen, gerät sie immer tiefer in eine Spirale aus Abnehmwahn, Selbsthass und Bewegungszwang: Essen nie vor 12 Uhr, maximal 600 Kalorien am Tag, Sport bis zur Erschöpfung. Das Abnehmen wird ihr zum einzigen Lebensinhalt. Als sie bis auf 39 Kilo abgemagert ist, ambulante Therapiegespräche nicht fruchten und sie einen Puls von 30 hat, willigt sie schließlich ein, sich in einer Klinik helfen zu lassen. Ihre Lage stabilisiert sich, doch nach der Entlassung erkennt Laura, dass nur ein Ja zum Leben aus eigener Kraft sie wird retten können. Ein schonungsloser, berührender und ehrlicher Bericht über das Leben mit Magersucht und die Abläufe in der Klinik – mit Handreichung für Angehörige und Freunde.

Laura Jungk

Wie ich verschwand

Mein Weg aus der Magersucht

Ullstein

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Originalausgabe im Ullstein Taschenbuch1. Auflage September 2020© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2020Umschlaggestaltung: zero-media.net, München Titelabbildung: © Daniel JungkE-Book Konvertierung powered by Pepyrus.comISBN 978-3-8437-2301-5

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Inhalt

Die Autorin / Das Buch

Titelseite

Impressum

0.Mein Weg

1.Erste Schatten

2.Im Zwielicht

3.Ein Licht in der Dunkelheit

4.Finsternis

5. Hoffnung auf Dämmerung

6.Leere

7.Morgengrauen

8.Lichtblicke

ANHANGRat für Angehörige und Betroffene

DANKE

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

0.Mein Weg

Widmung

Für die Person, die schon mein ganzes Leben, was auch komme, hinter mir steht und mir den Rücken stärkt.

Für Mama. Du verdienst die Welt.

1.Erste Schatten

Juli 2013 bis Mai 2014

Depression is the most unpleasant thing I have ever experienced.It is the absence of being able to envisage that you will ever be cheerful again.The absence of hope.

Joanne K. Rowling

Ich hatte entschieden, dass sich etwas ändern musste. Nein, nicht etwas.

Ich musste mich ändern.

Ich war 13 Jahre alt, als ich endgültig zu dem Schluss gelangte, nicht gut genug zu sein.

Mit entschlossenen Schritten und einem Gefühl grimmiger Befriedigung verließ ich das Kreuzfahrtschiff, auf dem wir, meine Familie und ich, unseren Sommerurlaub verbracht hatten. Während der letzten Wochen hatte ich den Vorsatz gefasst, dass ich endlich zu der Person werden würde, die ich immer hatte sein wollen.

Ich würde endlich gut werden. Endlich genug sein. Endlich perfekt werden.

Ich mochte mich nicht. Ich wollte anders sein, und seit einem halben Jahr versuchte ich, abzunehmen und mehr Sport zu treiben. Denn nur so, dachte ich, könnte ich besser werden, schöner und beliebter. Allerdings kamen mir meine bisherigen Bemühungen plötzlich halbherzig und scheinheilig vor.

Das Gefühl, nicht einfach nur ein bisschen zu viel auf die Waage zu bringen, sondern grundsätzlich nicht richtig zu sein, war nicht über Nacht gekommen, sondern langsam gewachsen. Mobbing in der Schule und hohe Leistungsansprüche meines Vaters befeuerten schon lange meine ständigen Selbstzweifel, sodass ich schließlich die – in meinen Augen – einzig logische Schlussfolgerung zog: Ich war falsch. Und es war an der Zeit, endlich richtig zu werden.

Hatte es in den letzten Wochen einen konkreten Auslöser gegeben, der mir die Erkenntnis brachte, dass es so nicht weitergehen konnte mit mir? Der anstehende Umzug nach Braunschweig? Die zunehmenden Streitereien mit meinem Vater? Oder war es nur das Gefühl, dass ich so, wie ich war, nicht sein durfte? Ich weiß es nicht mehr; aber ich erinnere mich an diesen Moment auf dem breiten Steg, einige Meter über dem Wasser, in dem ich eine Entschlossenheit spürte, die stärker war als all meine Vorsätze bisher.

Auf dem Heimweg nach Braunschweig, wo wir seit Kurzem lebten, legten wir einen Zwischenstopp bei meinen Großeltern ein, die auf halber Strecke wohnten. Es war mitten in der Nacht, als wir ihr Haus betraten. Kaum war ich über die Schwelle getreten, zog ich mir die Schuhe aus und huschte ins Badezimmer, schlüpfte aus meinen Klamotten und stellte mich, nachdem ich eine Woche ohne hatte aushalten müssen, mit einem Gefühl der Erleichterung auf die Waage.

Endlich, endlich, endlich, jubelte es in meinem Kopf, während ich auf die drei Nullen starrte, die erst erzitterten, um dann eine Zahl zu bilden, die meine Aufregung sofort vertrieb: 62,7 Kilogramm.

Ich spürte, wie Panik und ein beißendes Schuldgefühl in mir hochstiegen. Ich war soverfressen. Tränen traten mir in die Augen. Ich stellte mich ein zweites Mal auf die Waage, ein drittes, ein viertes Mal. Doch die Zahl blieb unverändert.

„Scheiße, Scheiße, Scheiße“, fluchte ich leise.

Es klopfte an die Tür.

„Laura. Beeil dich bitte mal. Wir wollen alle ins Bett“, rief meine Mutter. Sie schwieg kurz und fragte dann leicht besorgt: „Laura? Du stellst dich jetzt aber nicht auf die Waage, oder?“

Sie wusste von meinen Gewichtssorgen und meinem Wunsch abzunehmen. Allerdings sind die meisten Jugendlichen über kurz oder lang unzufrieden mit sich und ihrem Körper, wollen abnehmen oder sich auf andere Art verändern, weshalb meine Mutter davon ausging, dass ich einfach eine Phase durchmachte. Ich hatte immer viel und gern gegessen und war die letzte Person, bei der man vermutet hätte, dass sie an einer Essstörung erkranken könnte. Niemand glaubte ernsthaft daran, dass ich meine Diätpläne allzu lange verfolgen würde. Also musste man sich darüber keine Sorgen machen, auch wenn ich mehrmals am Tag auf die Waage stieg.

Ich öffnete die Tür. „Nein, Quatsch.“ Ich sah meiner Mutter nicht in die Augen. „Ich geh schlafen.“

Aber ich schlief nicht. Stattdessen lag ich über zwei Stunden lang wach, starrte in die schwarze Dunkelheit, und in meinem Kopf spielte sich jene Gedankenschleife ab, die mich im Laufe der nächsten Jahre komplett in ihren Bann ziehen würde.

Du bist fett! Ein fettes, verfressenes, kleines Etwas. Kein Wunder, dass dich niemand mag. Du bist eine Schande. Du isst viel zu viel. Du bist zu viel. Schäm dich!

Während ich auf den Teil von mir lauschte, der es sich zur Aufgabe gemacht hatte, mein Selbstwertgefühl langsam und stetig in kleine Teile zu zerlegen, fasste ich einen Entschluss.

57 Kilo.

Das war eine gute Zahl. Eine perfekte Zahl. Mit 57 Kilo, da war ich mir plötzlich sicher, würde ich endlich so sein, wie ich gern wäre. Ich würde gut sein. Ich würde hübsch sein. Ich würde beliebt sein. Ich würde anders sein. Ruhig, ausgeglichen, schlau, lustig, selbstbewusst, schön. Ich würde perfekt sein.

„Du hast ja abgenommen. Und wow, kann es sein, dass du mehr Sport machst? Sieht richtig gut aus“, würden sie sagen, und ich würde lächeln. Weil dann endlich alles gut wäre.

Dieser Gedanke beruhigte mich, hielt mich und lullte mich ein, sodass ich schließlich in einen unruhigen Schlaf fiel, aus dem ich am nächsten Morgen mit dem eisernen Entschluss erwachte, meine 57-Kilo-Mission durchzuziehen.

Wir blieben für einige Tage bei meinen Großeltern, bevor meine Eltern, mein Bruder Daniel und ich zurück nach Braunschweig fuhren. Wir waren erst zu Beginn der Sommerferien, unter großen Protesten meinerseits, in die neue Stadt gezogen. Während ich in meinem neuen Zimmer die letzten Kartons auspackte, drehte sich in meinem Kopf alles um den einen Gedanken – abnehmen –, und ich nervte meine Familie mit meiner zunehmenden Obsession, Kalorien und Nahrungsmittel betreffend. Zuerst waren es kleine Dinge: Aus zwei Brötchen beim Frühstück wurde eins und schließlich nur noch ein halbes. Aus Frischkäse wurde Magerquark. Aus Saft schwarzer Kaffee.

„Ach, lass sie doch. Das hält sie eh nicht lange durch“, hatte mein Vater gesagt, als sich meine Mutter besorgt über meine neuen Angewohnheiten äußerte. Nicht zuletzt solche Kommentare meines Vaters hatten dazu beigetragen, dass ich mir ein festes Vorhaben setzte: Bis zum 8. August – dem ersten Schultag an meiner neuen Schule – würde ich auf 57 Kilo abgenommen haben. Damit meine neuen Mitschüler gar nicht erst bemerkten, dass ich schlecht war.

Mir blieben etwa drei Wochen Zeit, um fünf Kilo abzunehmen, und mir war nicht klar, dass dieses Ziel viel zu hoch gegriffen war. In so kurzer Zeit so viel abzunehmen ist ungesund, auch wenn uns Klatschmagazine und Diätvorschläge in Zeitschriften etwas anderes vorgaukeln. Dass ich mit meinem Gewicht bei einer Körpergröße von 1,75 Metern auf einem gesunden Level lag, weswegen eine Diät nicht notwendig gewesen wäre, sah ich nicht. Stattdessen besorgte ich mir ein kleines rotes Buch, in das ich jeden Tag akribisch eintrug, wie viel ich aß. Morgens joggte ich erst zwanzig Minuten, später vierzig durch die fremden Straßen, anschließend machte ich eine Stunde Bauch-Beine-Po-Übungen und rechnete aus, wie viele Kalorien ich damit ungefähr verbrannte.

In der vorletzten Ferienwoche kam meine Cousine zu Besuch, die mich von meinem Wahn ein wenig ablenkte, indem sie mich mit auf Shoppingtour ins Einkaufszentrum nahm. Wir probierten Klamotten an, deckten uns mit kostenlosen Kosmetikpröbchen ein und hatten eine gute Zeit. Bis wir uns bei Starbucks zu unseren wartenden Eltern gesellten. Meine Tante, meine Mutter und mein Bruder saßen an einem Tisch in der Ecke und tranken Kaffee, Frappuccino und unterhielten sich.

„Komm, hol dir was zum Mittagessen“, forderte meine Mutter mich auf, als wir uns zu ihnen setzten.

„Nein.“ Ich hatte nicht gefrühstückt, und mein Magen knurrte unüberhörbar.

„Komm schon.“ Meine Cousine, der mein „Abnehmfimmel“ auf den Geist ging, verdrehte die Augen und zog mich vom Stuhl.

Ich seufzte ergeben. „Mama? Teilen wir uns was?“

Meine Mutter stimmte zu, und ich besorgte die kleinste Box Sushi, die ich finden konnte, aß drei Gurken-Makis und überließ ihr den Rest.

Ein paar Tage später brachte mir meine Mutter aus einem Café meinen Lieblingsfrappuccino mit, den ich nach einem Schluck an meinen Bruder weitergab, sodass ich anschließend vor Stolz fast platzte, weil ich mich endlich im Griff und der Verführung nicht nachgegeben hatte.

Dieses Erfolgserlebnis spornte mich an, und ich ließ immer mehr Nahrungsmittel weg. Je weniger ich jedoch aß, desto schlechter wurde meine Laune. Immer wieder gerieten mein Vater und ich aneinander. Ich gab ihm die Schuld für den Umzug, er empfand mein abweisendes Verhalten unserem neuen Wohnort und ihm gegenüber als übertrieben und unfair.

„Du gibst der Stadt gar keine Chance“, warf er mir vor. Und hatte recht damit.

In mir brodelte eine unbeschreibliche Wut, mit der ich nicht umzugehen wusste. Ich war wütend auf ihn, weil wir seinetwegen umgezogen waren, damit er nach mehr als fünf Jahren Pendelei nicht länger zwischen Berlin und Braunschweig hin- und herfahren musste. Durch den Umzug, behauptete er, hätte er Zeit für sich und seine Familie gewonnen, doch nach wie vor war er kaum zu Hause. Ich hatte währenddessen das Gefühl, dass ich gezwungen worden war, alles, was mir wichtig war, hinter mir zu lassen. Also war ich wütend auf ihn, wütend auf diese Stadt, wütend auf meine Mutter, weil sie in den Umzug eingewilligt hatte. Ich war wütend auf alles und ließ diese Wut die Macht über mich gewinnen und richtete sie gegen mich selbst.

Dass so viel mehr dahintersteckte als nur der Umzug, begriff ich erst später. Hier und jetzt fühlte ich mich wie das fünfte Rad am Wagen, geriet zunehmend auch mit meiner Mutter und Daniel in Streitereien und ärgerte mich über ihr pausenloses Gerede bezüglich irgendwelcher tollen Pläne, die sie in der neuen Stadt hatten, und darüber, wie froh sie waren, dass wir endlich alle zusammenlebten. Ja, es war toll, dass mein Vater wieder Teil unseres Alltags war, aber irgendwann konnte ich einfach nicht mehr hören, dass jeder von mir erwartete, glücklich über die neue Situation zu sein, und vergrub mich in meinem neuen Zimmer, schrieb mit meinen alten Freunden aus Berlin und giftete jeden an, der mit mir sprechen wollte, bis ich schließlich in Ruhe gelassen wurde. Wenn meine Wut zu groß wurde, verließ ich das Haus, lief in unserem neuen Wohnviertel herum, die Kopfhörer in den Ohren, und hörte meinen Lieblingsrockbands zu, die mir wütende Texte in die Ohren schrien.

Ich blieb bis spät in die Nacht wach und wünschte mir den Mut, einfach meine Tasche zu packen, mein gespartes Geld zusammenzukratzen und mich in irgendeinen Zug irgendwohin zu setzen. Nur weg von hier, weg aus dieser Stadt.

Nachdem meine Tante und meine Cousine abgereist waren, gab es in meiner kleinen verzweifelten Welt bald nur noch einen einzigen Lichtblick: das kurze Glücksgefühl, wenn ich mich auf die Waage stellte und sie weniger anzeigte als vor ein paar Stunden. Die Erleichterung, die ich verspürte, wenn ich mich um eine Mahlzeit herumgeschummelt hatte. Die bald zur Besessenheit werdende Beschäftigung mit Essen, Kalorien, Gewichtszu- und -abnahme. Essen, oder besser gesagt Nicht-Essen, wurde meine Selbstbestätigung und begann, meinem Leben den Sinn zu geben, nach dem ich suchte.

Schließlich kam der 8. August 2013. Erster Schultag, Tag der Wahrheit.

Lange vor dem Klingeln des Weckers waren meine Gedanken bereits die gleichen, die sie den ganzen Tag über bleiben sollten: Gewicht, Kalorien, Bewegung. Nervös knetete ich meine Hände. Ich wusste, dass ich mein Ziel nicht erreicht hatte. Gestern hatte die Waage noch über 58 Kilo angezeigt, und obwohl ich mich deswegen bemüht hatte, besonders wenig zu essen, war es unwahrscheinlich, dass ich über Nacht mehr als ein Kilo abgenommen hatte. Mittlerweile stellte ich mich um die zwanzigmal pro Tag auf die Waage. Nur um sicherzugehen.

Mein Vater klopfte an der Tür.

„Komm, Laura! Aufstehen! Ich fahr euch zur Schule!“

Er klang unerträglich gut gelaunt. Ich antwortete nicht.

„Komm schon!“

Wütend starrte ich an die Zimmerwand, während mir Tränen in die Augen stiegen und mein Magen sich angstvoll zusammenzog.

Ich will dort nicht hin. Die sehen doch sofort, wie fett ich bin. Sie werden alle denken, dass ich disziplinlos und falsch bin. Und sie haben ja recht. Gehässige Kommentare meiner Mitschüler waren nichts Neues für mich; in den vergangenen Jahren hatte ich immer wieder welche zu hören bekommen. Weil ich oft aufgedreht war, weil ich mich anders anzog als die meisten, andere Musik hörte, andere Interessen hatte … Weil vielleicht jede Gruppe jemanden braucht, auf den sie hinunterschauen kann, um den eigenen Frust zu vergessen. Und natürlich, weil ich fett war. Trotzdem – in Berlin hatte ich wenigstens ein paar Freunde gehabt. Hier in Braunschweig hatte ich keine Menschenseele, und alle würden mich komisch, nervig und unausstehlich finden.

„Ich warte in der Küche auf dich.“ Ich hörte, wie die Schritte meines Vaters sich langsam entfernten.

Schwerfällig kämpfte ich mich aus dem Bett und suchte ein paar Klamotten zusammen, öffnete die Tür und lief ins Bad, verschloss die Tür und stellte mich auf die Waage.

„Bitte!“, flehte ich, doch meine Gebete wurden nicht erhört: 58,2 Kilogramm. Ich fluchte leise vor mich hin.

Fett, fett, fett.

Meine ohnehin bereits schlechte Laune erreichte einen Tiefpunkt, am liebsten wäre ich einfach zurück ins Bett gekrochen, um es nie wieder zu verlassen.

Ich hatte die 57 Kilo unbedingt erreichen wollen und es nicht geschafft. Ich hatte versagt.

Wie immer, kicherte die Stimme in meinem Kopf, deswegen brauchst du mich. Weil du alleine gar nichts schaffst!

Die vertraute Wut kochte in mir hoch. Wut auf mich selbst, Wut auf die neuen Umstände, Wut auf meine Unbeherrschtheit und meine Maßlosigkeit.

Ich starrte in den Spiegel und begegnete meinem eigenen abwertenden Blick.

„Ich hasse dich!“, schleuderte ich meinem Ebenbild entgegen und begutachtete zufrieden meine schuldbewusste Miene.

Als ich kurze Zeit später in die Küche trat, hatte meine Mutter mir bereits eine Müslischale hingestellt. Daneben stand meine Brotbox.

„Ich hab keinen Hunger“, sagte ich zur Begrüßung, ließ mich auf die Küchenbank fallen und warf meinen drei Familienmitgliedern genervte Blicke zu.

„Es wird gefrühstückt!“ Mein Vater klang bestimmt, jedoch immer noch unerhört gut gelaunt.

„Ich will aber nicht.“ Ich warf meiner Mutter einen flehenden Blick zu, doch auch sie schüttelte den Kopf.

Mein Vater verdrehte die Augen. „Jetzt mach schon! Es wird etwas gegessen, bevor man aus dem Haus geht. Du willst heute doch nicht zu spät kommen, oder?“

Ich beäugte die viel zu große Müslischale vor mir und die Cornflakes, die in der Mitte des Tisches standen. Die Kalorienangaben auf der Rückseite stachen mir ins Auge, und ich schluckte.

„Okay“, grummelte ich und stand auf, „aber ich hol mir was anderes.“

Ich stellte die große Müslischale in den Schrank zurück und tauschte sie gegen eine winzige Schüssel aus, die mein Bruder und ich als kleine Kinder benutzt hatten. Noch beobachtete mich niemand dabei, wie ich mir ein paar Tomaten, Gurke und einen Viertelapfel in winzige Stücke zerteilte, sie in die kleine Kinderschüssel warf und zuletzt einen halben Esslöffel Haferflocken und 50 Milliliter ungesüßte Mandelmilch hinzufügte. Ich setzte mich zurück an den Tisch und begann, die durchaus widerliche Zusammenstellung langsam auszulöffeln.

Meine Mutter warf mir einen angeekelten Blick zu. „Was ist das denn?“

Ich zwang mich zu lächeln. „Das ist voll lecker. Richtig gut. Willst du probieren?“ Ich hielt ihr einen Gemüse-Obst-Haferflocken-Löffel hin, und sie schüttelte den Kopf.

„Nein danke.“

Ich beendete mein karges Frühstück schweigend und stellte mich, bevor wir das Haus verließen, noch zweimal auf die Waage, um sicherzugehen, dass mir mein Minifrühstück nicht einige Kilos mehr auf den Rippen beschert hatte. Ich wog mich mittlerweile vor dem Essen, nach dem Essen, wenn es mir unauffällig gelang, währenddessen, vor jedem Toilettengang und danach. Vor dem Sport, nach dem Sport. Dass das eigene Körpergewicht über den Tag ansteigt, weil man isst und trinkt, war mir rational durchaus bewusst, trotzdem bekam ich bei jedem Gramm mehr auf der Waage Panik, die sich nur beherrschen ließ, indem ich mein Gewicht akribisch kontrollierte.

Heute hatte ich Glück, die Waage zeigte 58,2 Kilogramm wie vor dem Frühstück. Mit einem kurzen Gefühl der Zufriedenheit ging ich nach unten, um mir die Schuhe anzuziehen, rannte noch einmal nach oben zur Waage, angeblich weil ich etwas vergessen hatte, und stieg schließlich zu meinem Vater und meinem Bruder ins Auto.

Daniel war aufgeregt, ich täuschte Gleichgültigkeit vor, starrte aus dem Fenster und ignorierte meinen Vater, der fröhlich auf mich einredete und wohl hoffte, so irgendwie eine Konversation zu starten. Er sei davon überzeugt, dass die neue Schule super werden und wir uns pudelwohl fühlen würden. Und überhaupt würden wir uns bestimmt sehr schnell einleben.

Das Gefühl der Zufriedenheit war dahin. Ich schnaubte unwillig. Das glaubte er ja wohl selbst nicht. An der Schule riss ich die Tür auf und verließ grußlos den Wagen.

„Hab einen schönen Tag und viel Spaß!“, rief mein Vater mir hinterher.

„Bestimmt nicht.“

Im Schulgebäude machte ich mich auf die Suche nach Raum 111, dem Klassenraum meiner neuen Klasse. Es dauerte nicht lange, bis ich ihn gefunden hatte.

Vor der Tür lungerten einige Schüler herum, die meisten ignorierten mich, als ich mich dazugesellte. Ich zog mein Handy heraus und begann, darauf herumzutippen. Ich schrieb einen ewigen Text an Jonas, meinen besten Freund aus Berlin, der prompt antwortete.

Du schaffst das. Klar ist das alles blöd. Aber wir kriegen das hin. Vermisse Dich.

Wir?, dachte ich und seufzte. Nicht wir. Ich war ganz allein in dieser neuen Stadt, an der neuen Schule. Meine Eltern verstanden mich nicht und hörten mir nicht zu, sondern taten, als sei alles gut. Als hätte ich nichts verloren und nichts hinter mir lassen müssen. Ein Kloß wuchs in meiner Kehle. Bloß nicht heulen, schoss es mir durch den Kopf.

Ich musterte die Mädchen um mich herum, die lachten und sich unterhielten. Mir kamen sie alle hübscher und vor allem viel, viel dünner vor als ich. Mit dem Klingeln trat die Lehrerin zu uns und schloss den Raum auf. Sie war etwa vierzig Jahre alt, hatte mittellange braune Locken und war relativ klein und schmal. Ich folgte ihr und meinen etwa zwei Dutzend neuen Mitschülern in die Klasse und ließ mich auf dem letzten freien Stuhl nieder. Ich fühlte mich unwohl in dieser Schule, in dieser Klasse, in meiner eigenen Haut. Außerdem war ich schon wieder wütend.

Die acht Stunden des ersten Schultages vergingen. Obwohl ich mir alle Mühe gab, abweisend zu wirken, setzte sich in der Pause ein blondes Mädchen namens Hanna zu mir und stellte mich ihren Freundinnen vor. Ich aß einen Apfel und eines meiner beiden Pausenbrote, nicht ohne vorher die Butter herunterzukratzen.

Nach dem Unterricht traf ich mich mit Daniel. Auf dem Nachhauseweg erzählte er mir begeistert, wie toll seine neue Klasse war, seine Lehrer und die Schule überhaupt. Ich hörte ihm zu und sagte nicht viel.

Zu Hause verbarrikadierte ich mich für ein paar Stunden in meinem Zimmer. Ich drehte Linkin Park voll auf und brüllte die Worte mit, die Chester Bennington ins Mikro sang. Irgendwann rief meine Mutter mich zum Abendessen. Ich sagte, dass ich keinen Hunger hätte, zog mir meine Sportsachen an und ging joggen. Nach einer Weile ließ ich mich auf die Schaukel eines Spielplatzes fallen, an dem ich vorbeigekommen war. Ich wollte nicht zurück. Nicht in dieses neue Zuhause, zu meinen Eltern, die den ganzen Tag scheinheilig lächelten und so taten, als sei alles in Ordnung. Ich fühlte mich komplett allein auf der Welt und war so einsam, wie ich es noch nie zuvor gewesen war.

Ein paar Tage später hatte ich es endlich geschafft: 57 Kilo.

Ich stellte mich gleich viermal hintereinander auf die Waage, denn ich konnte mein Glück kaum fassen. Als die Zahl jedoch beständig blieb, quietschte ich vor Freude und tanzte durch das Badezimmer. 57 Kilo!!! Ich hatte es endlich geschafft. Vor dem Spiegel blieb ich stehen und betrachtete mich. Meine Beine, meinen Bauch, meine Arme.

Mein Hochgefühl verschwand so plötzlich, wie es gekommen war. Ich war immer noch zu fett. Meine Beine immer noch zu dick, meine Hüften zu breit, mein Bauch zu weich. Laut Body-Mass-Index (BMI) lag ich nun haargenau zwischen Unter- und Normalgewicht, doch was ich da im Spiegel sah, stimmte mit dieser Tatsache einfach nicht überein. Ich legte den Kopf schief und begutachtete mich erneut. Nein, irgendwas stimmte mit diesem Körper nicht. Während andere Jugendliche mit meinem BMI wohl dünn wären, war ich nach wie vor viel zu schwabbelig, zu voluminös. Ich beschloss, weitere drei Kilo abzunehmen. 54 Kilo klangen ziemlich gut, fand ich.

Die Schule war für mich zu einem Albtraum geworden. Es war ein Monat vergangen, und ich fürchtete jeden Morgen, an dem ich aufstehen und dorthin gehen musste. Außer zu Hanna hatte ich mit niemandem Kontakt, und die meisten meiner Klassenkameraden versuchten gar nicht erst zu verstecken, dass sie mich nicht leiden konnten. Ich wurde nicht gemobbt, sondern einfach ignoriert.

Meine Mutter versuchte, mir die Situation schönzureden. Das würde schon werden, ich müsse mir keine Sorgen machen. Dass mir durchaus bewusst war, dass meine zur Schau gestellte schlechte Laune und Abneigung der offensichtliche Grund waren, warum ich keinen Anschluss fand, verschwieg ich ihr.

Meinen Vater, der sich vorgestellt hatte, dass alles gut werden würde, wenn wir erst mal in Braunschweig wohnten, brachte meine negative Einstellung zur Weißglut. Er hatte nie gefragt, wie es uns mit dem Umzug ging oder damit, dass wir all unsere Freunde hinter uns lassen mussten. Über Gefühle oder Ängste hatten mein Vater und ich uns nie viel ausgetauscht, und das sollte sich auch erst sehr viel später ändern. Zwar gab er sich Mühe, mein Verhalten und meine anhaltende Negativität zu verstehen, letztendlich wusste er jedoch nicht damit umzugehen.

Anfang Oktober fuhr ich für drei Tage nach Berlin, um Jonas zu besuchen, und mir ging es an diesen Tagen so gut wie schon lange nicht mehr. Ich blendete aus, dass sich unterdessen nichts ändern würde und ich nach dem Wochenende natürlich zurück nach Braunschweig musste, und genoss, dass endlich alles war wie früher. Ich aß sogar wie früher.

Seit wir uns kannten, hatten Jonas und ich uns nie so lange nicht gesehen, und wir fielen uns in die Arme, kaum dass ich aus dem Zug gestiegen war.

„Endlich!“, ich machte mich von ihm los. „Ich hab dich so vermisst. Braunschweig ist furchtbar.“

„Hier ist es auch nicht grad toll ohne dich“, antwortete er und nahm mir eine meiner Taschen ab. Wir setzten uns zu Subway, holten uns ein Sandwich, Kekse und Softdrinks, und das erste Mal seit Monaten dachte ich nicht ununterbrochen an Kalorien und Gewicht. Während ich Jonas davon erzählte, wie unwohl ich mich in Braunschweig fühlte, in der Schule, bei meinen Eltern, genoss ich es, zum ersten Mal seit Monaten wieder all die verschiedenen Aromen des Essens zu schmecken. Es war himmlisch – als hätte ich vergessen, wie lecker und vielfältig Essen sein konnte.

„Du hast abgenommen“, bemerkte Jonas später, als wir auf dem Weg zu ihm nach Hause waren.

„Ja, super, oder?“ Ich grinste ihn freudig an, glücklich, dass er es bemerkt hatte.

„Nein, ich finde, dass du vorher besser ausgesehen hast.“ Er zuckte mit den Achseln. „Du musst echt ein bisschen mehr essen.“

„Ich esse doch.“ Ich lachte und fügte in überzeugtem Tonfall hinzu: „Ich esse voll viel.“

„So siehst du aber halt nicht aus.“ Jonas musterte mich von oben bis unten. „Hör mal, lass den ganzen Scheiß mit Diät und abnehmen, okay? Das hast du echt nicht nötig. Ich hab keine Lust, dass du irgendwann magersüchtig wirst. Das wäre total bescheuert.“

Er sah ehrlich besorgt aus, und das rührte mich. Vielleicht hatte er ja recht, vielleicht sollte ich mehr essen … Allerdings hatte ich überhaupt nicht das Gefühl, zu wenig zu essen, und dünn fand ich mich erst recht nicht.

„Keine Angst. Du kennst mich doch, für eine Magersucht esse ich viel zu gern.“ Ich umarmte ihn. „Mann, ich bin so froh, dass ich hier bin.“

Jonas nickte. „Ja, ich bin auch froh, dass du hier bist!“

Endlich war alles, wie es sein sollte. Wir saßen in Jonas’ Zimmer, er spielte Gitarre, und ich sang dazu. Wir hörten Lieder von Green Day, 30 Seconds To Mars und Linkin Park, spielten draußen Fußball. Die Nächte verbrachten wir damit, zum hundertsten Mal die Harry-Potter-Filme anzusehen, und redeten die ganze Zeit. Wir gingen ins Kino und ins Einkaufszentrum, und als ich am Sonntagmorgen neben Jonas auf dem Bahnsteig stand, hatte ich nur einen einzigen Wunsch: von hier nicht wieder wegzumüssen.

Ich wollte in Berlin bleiben, wollte nicht, dass dieses Wochenende vorbei war, nicht in diesen blöden Zug steigen, der mich zurück nach Braunschweig bringen würde.

Kaum saß ich auf meinem Platz, verpuffte meine Hochstimmung der letzten Tage. Stattdessen brachen all die alten Gedanken über mich herein und mit voller Wucht das schlechte Gewissen: Ich hatte viel zu viel gegessen. Zu meinen Selbstvorwürfen gesellten sich Angst und Panik. Was, wenn ich zugenommen hatte? Viel zugenommen hatte?

Mit vor Schweiß kalter Stirn und zitternden Fingern kramte ich ein Blatt Papier und einen Stift aus meinem Rucksack und begann, hektisch zu notieren, was ich in den letzten Tagen gegessen hatte. Ich googelte die Nährwerte und begann beinahe zu weinen, als ich die Ergebnisse zusammengerechnet hatte. Viel zu viel. Wie konnte ich nur so maßlos gewesen sein? Wie konnte ich mich nur so überfressen haben?

Ein verbreitetes Vorurteil, Magersüchtige betreffend, ist, dass sie einfach aufhören zu essen. In manchen Fällen ist das so, jedoch keinesfalls in allen. Die meisten Magersüchtigen essen sehr wohl, nur eben sehr, sehr wenig. Außerdem neigen sie dazu, das Essen zu zelebrieren. Betont langsames Essen, ungewöhnliche Kombinationen von Nahrungsmitteln, Essen nach selbst erzwungenen Ritualen und starke Gewürze sind charakteristisch für die Essgewohnheiten vieler restriktiv Essgestörter.

Als ich mit dem Abnehmen begann, war es mir vor allem wichtig, dass niemand mitbekam, dass ich zu wenig aß, denn ich hatte Angst davor, dass man mir diese neugefundene Kontrolle wieder wegnahm. Zu hungern schützte mich in einer Weise, die ich erst später durchschaute, und ich wollte nicht, dass man mich dazu brachte zu essen, wollte nicht, dass die Leute sahen, wie ich mich in die Krankheit fallen ließ und sie mit offenen Armen begrüßte. Ich merkte, wie sich mein Denken veränderte, und einem unterbewussten Teil von mir war wahrscheinlich klar, dass die in mir vorgehende Veränderung nicht gesund war.

So muss es sich anfühlen, eine Essstörung zu haben, dachte ich einmal, als ich angewidert den Käse von meinem Pausenbrot nahm und ihn in Gedanken zu meiner Liste verbotener Lebensmittel hinzufügte. Doch schnell schob ich den Einfall beiseite. Quatsch, Essstörungen hatten nur irgendwelche oberflächlichen Zicken, wohingegen ich einfach nur endlich die Kontrolle übernommen hatte. Und ich wollte nicht, dass mir irgendjemand dieses Gefühl nahm.

Und so aß ich, wenn wir abends zum Italiener gingen, die ganze Pizza, die ich sonst auch immer gegessen hatte. Neu war jedoch, dass ich an den Tagen davor und danach noch mehr Sport zu machen begann als sonst. Außerdem brauchte ich mit der Zeit immer länger, um meinen Teller zu leeren, krümelte auffällig viel und würzte jedes Essen mit unappetitlich viel Gewürzen (meist Chili) nach. Außerdem brauchte ich eine gewisse Zeit, um mich auf die Pizza „vorzubereiten“: Ich aß an dem vorangegangenen und darauffolgenden Tag kaum etwas und am Tag des Restaurantbesuchs so gut wie gar nichts, damit ich mir die Pizza „erlauben“ konnte. Und dennoch kämpfte ich anschließend mit einem schlechten Gewissen, das mich nachts wach hielt und tags meine Laune noch unerträglicher für alle machte.

Einem Teil von mir war schon recht bald klar, dass es nicht normal sein konnte, an den meisten Tagen höchstens 700 bis 800 Kalorien zu sich zu nehmen. Der andere Teil war stolz, dass mir das gelang, während um mich herum alle Welt jammerte, schon wieder zu viele Süßigkeiten gegessen zu haben, einfach nicht auf Schokolade verzichten zu können oder den Kaffee nicht ohne Zucker runterzukriegen. Der Lebensmittelmarkt mit seinen fetten und süßen Verführungen, gepaart mit dem überall propagierten schlanken Schönheitsideal, macht es einer Essgestörten sehr einfach, ein triumphierendes Gefühl zu empfinden, wenn ihr gelingt, worin alle anderen zu versagen scheinen: Verzicht. Und in meiner Wut war dieser Triumph das einzig Positive, das zu empfinden ich noch in der Lage war. Die Freude darüber, dass ich endlich etwas schaffte, woran viele verzweifeln. Das erleichternde Gefühl, dass es nun endlich etwas gab, das ich konnte, etwas, worin ich offenbar so gut war, dass selbst mein Vater mir nur schwer Vorschläge machen konnte, wie ich noch besser hätte abnehmen können.

Um dem Hungergefühl entgegenzuwirken, suchte ich eine Ersatzbefriedigung, die an die Stelle der Nahrungsaufnahme treten konnte. Zu essen ist ein natürliches Bedürfnis des Körpers, und entzieht man es ihm, beginnt man, nur noch an Essen zu denken und über kaum etwas anderes zu reden. Ich ging ständig in den Supermarkt und kaufte stapelweise Lebensmittel, die ich nicht essen würde, jedoch in meinem Zimmer bunkerte, damit, falls ich wider Erwarten doch mal etwas zu mir nehmen wollen würde, dann genau das da war, worauf ich Lust hatte. Obendrein war es ein tägliches Hochgefühl, Kekse, Gummibärchen, Schokolade, Chips um mich zu haben, aber nicht zu verzehren, was mir mit Leichtigkeit gelang. Anstatt zu essen, blätterte ich stundenlang in Kochbüchern, betrachtete Bilder von Kuchen, Pizza und Pasta und redete mir mit der Zeit erfolgreich ein, mehr bräuchte ich nicht, um satt zu werden.

Ich merkte, dass ich mich immer mehr veränderte, schwächer wurde und an nichts mehr Spaß hatte, mich weiter vor Gleichaltrigen zurückzog, meine Hobbys vernachlässigte und mich ausschließlich mit Essen beschäftigte. Trotz dieser Beobachtung gelang es mir nicht, zu einem normalen Umgang mit Essen zurückzukehren. Meine Gefühle, mein schlechtes Gewissen und meine Angst vor dem Essen und dem Zunehmen und vor all dem, was dann mit mir passieren würde, obwohl ich nicht hätte sagen können, was dies sein sollte, gaben mir die feste Überzeugung, dass es besser war, wenn ich nicht aß.

So war es auch diesmal. Als ich aus dem Zug stieg, wartete meine Mutter auf mich. Wir fuhren nach Hause, und schon im Auto begannen wir, uns zu streiten. Sie erzählte mir, dass mein Vater im Fitnessstudio war.

„Wann kommt er wieder?“ Ich starrte missgelaunt aus dem Fenster. Es regnete. Passt zu meiner Stimmung, dachte ich.

„Weiß ich nicht. Irgendwann gegen Abend, denke ich. Er will noch in die Sauna.“

„Ah“, machte ich und fügte nach einer kurzen Pause hinzu: „Wir sehen ihn keinen Deut öfter als in Berlin. Da hätten wir genauso gut einfach dableiben können. Er ist eh nur am Arbeiten, und wenn er nicht arbeitet, geht er laufen oder ins Fitnessstudio. Aber uns hierherholen!“

Meine Mutter seufzte. „In Berlin hatten wir gar kein richtiges Familienleben mehr. Jetzt schon. Wir sehen ihn morgens und abends und …“

„Wo er sich an den Schreibtisch setzt und weiterarbeitet wegen seinem Ach-so-wichtigen-Job“, unterbrach ich sie. „Hier ist es beschissen. Ich will zurück nach Berlin.“

Meine Mutter schüttelte den Kopf. „Laura, es reicht allmählich. Wir haben darüber schon hundertmal geredet. Du versuchst ja nicht einmal, dich hier einzuleben.“

„Da hast du recht, das will ich nämlich gar nicht. Weil ich es hier hasse! Ich hasse es! Und ich möchte weg!“

Wir bogen in unsere Straße ein. Obwohl ich spürte, wie meine Mutter wütend wurde, ließ ich nicht locker. „Und alles nur wegen Papa und seinem beschissenen Job, der ihm wichtiger ist als alles andere. Wir sind ihm voll egal.“

Meine Mutter parkte ein und wandte sich dann zu mir um. „Jetzt reiß dich mal zusammen, und hör auf, deinem Vater so etwas zu unterstellen. Du weißt ganz genau, dass das nicht stimmt.“

Ihre Stimme bebte vor Zorn.

„Du denkst immer nur an dich. Dass wir alle froh sind, wieder zusammen zu sein, ist dir total egal. Hauptsache, du bekommst deinen Willen.“ Sie holte tief Luft. „Ich wollte hierherziehen, Daniel auch. Wir wollten alle endlich wieder eine richtige Familie sein. Nur du nicht. Wenn du das alles nicht brauchst, gut und schön, aber wir sind nun mal zu viert. Außerdem habe ich genauso wie Papa beschlossen, dass wir umziehen.“

„Schön“, fauchte ich, „dann bist du eben auch schuld! Und Daniel sagt nur, dass es ihm hier gefällt, weil ihr das hören wollt! Er sagt immer, was ihr hören wollt …“

Ich redete mich in Rage. Ich wusste, dass ich unfair zu meiner Mutter war, die sich mit dem Umzug bestimmt nicht leichtgetan hatte, aber das war mir egal.

„Laura, ich warne dich …“

„Mir doch egal.“ Ich stieß die Autotür auf. „Mir ist alles egal!“

Kaum hatte ich unsere Wohnung betreten, stürmte ich ins Badezimmer.

„Was ist denn mit dir los?“, hörte ich meinen Bruder fragen, der aus seinem Zimmer in den Flur gekommen war, um mich zu begrüßen.

Ich warf ihm die Tür vor der Nase zu, schloss ab und stellte mich auf die Waage. Als ich die Zahl aufflimmern sah, schluchzte ich laut auf. 57,8 Kilogramm. Fast 58 Kilogramm. Das hatte ich davon. Ich hatte mich die letzten Tage gehen lassen, nicht aufgepasst, war maßlos gewesen.

Hatte ich mir eingeredet, dass wegen zwei schöner Tage alles wieder gut würde? Ha! Ich dumme Kuh, wo ich doch wusste, dass jeder Genuss bezahlt werden musste. Dumm. Dumm. Dumm. Dumm und fett. Fett und dumm.

Ich schlüpfte zurück in meine Klamotten, riss die Tür auf und stürmte, ohne auf meine Mutter und meinen Bruder zu achten, in mein Zimmer. Dort warf ich mich aufs Bett und weinte stundenlang. Vor dem Fenster brach die Dämmerung herein und tauchte mein Zimmer in Dunkelheit, doch ich blieb liegen und achtete nicht auf die Schwärze, die in den Raum kroch und meine Gedanken verfinsterte, lauschte dem konstanten Pochen jener quälenden Frage: Wie hast du dich nur so gehen lassen können?Wie hast du dich nur so gehen lassen können? Ich vergrub mein Gesicht in meinem Kopfkissen, während ich auf die kleine, fiese Stimme in meinem Kopf lauschte. Du bistekelhaft. Wie konntest du dich nur so gehen lassen?Schämst du dich nicht?

Ich hatte jegliches Zeitgefühl verloren, als es schließlich an meine Zimmertür klopfte.

„Laura?“ Meine Mutter trat herein und blieb stehen. „Du liegst ja im Dunkeln.“ Sie schaltete das Licht ein, trat ans Bett und setzte sich zu mir. Ich ignorierte sie.

„Warum weinst du denn?“ Sie seufzte und fuhr mir mit den Fingern durchs Haar. Ich stieß sie weg.

„Weil mein Leben den Bach runtergeht.“

„Dein Leben geht nicht den Bach runter. Du hast dich hier einfach noch nicht eingelebt. Erinnere dich daran, wie lange du dafür gebraucht hast, als wir nach Berlin gezogen sind. Das kommt alles noch. Man braucht seine Zeit, um an einem neuen Ort anzukommen.“

Ich schnaubte. „Hier werde ich mich nie einleben. Ich hasse es hier und werde es immer hassen. Ich hab euch von Anfang an gesagt, dass ich nicht nach Braunschweig möchte.“ Ich wischte mir die Tränen von der Wange und vermied es, meine Mutter anzusehen. Ich wollte mich nicht beruhigen. Ich wollte wütend sein.

„Mit der Einstellung wird das nie etwas.“ Meine Mutter stand auf. „Ich gehe morgen früh einkaufen. Soll ich dir etwas Bestimmtes mitbringen? Für die Fahrt zu Oma und Opa? Schokolade? Ein Sandwich?“

Richtig. Das Wochenende in Berlin war der wunderbare Auftakt zu den Herbstferien gewesen, und nun standen noch ein paar Tage bei meinen Großeltern auf dem Programm. Früher hätte ich mich darauf gefreut, nun stellte ich fest, dass es mir gleichgültig war. Alles war mir gleichgültig.

„Ich brauche nichts.“

„Frühstückst du zu Hause?“

„Nein, ich esse nichts vor zwölf.“

„Dann nimmst du etwas mit. Ich kann dir unterwegs ein belegtes Brötchen kaufen, oder so was. Daniel und ich holen uns auch eins, dann muss ich auch gar nicht mehr einkaufen.“

„Ich esse kein belegtes Brötchen. Weißt du, wie viele Kalorien das hat?“

„Laura, du isst etwas. Keine Diskussion.“

„Das ist meine Sache.“

„Nein, ist es nicht. Bitte iss etwas.“

Genervt vergrub ich meinen Kopf wieder im Kissen. „Ich bin fett genug. Warum willst du, dass ich noch fetter werde?“

„Du weißt, dass das Quatsch ist? Du hast doch schon abgenommen – schau mal in den Spiegel. Weißt du, man kann es auch übertreiben mit einer Diät.“ Meine Mutter klang nun besorgt. „Wie viel hast du eigentlich abgenommen?“

Ich seufzte. „Nicht viel, Mama. Ich hab sogar schon wieder zugenommen. Und nein, ich übertreibe ganz bestimmt nicht. Alle sind dünner als ich!“ Ich sah auf meine Hände herab. „Aber meinetwegen, bring mir halt irgendwas mit. Hol mir getrocknete Tomaten, oder so.“

„Das ist doch nichts Anständiges!“

„Das reicht mir, okay? Einfach das oder gar nichts. Und jetzt würde ich gern schlafen! Gute Nacht.“ Aus den Augenwinkeln sah ich, wie meine Mutter den Kopf schüttelte.

„Gute Nacht“, brummte sie. „Aber zügele deinen Ton etwas. Ich bin deine Zänkereien nämlich allmählich leid.“

Ich antwortete nicht, sondern starrte gegen die Wand neben meinem Bett und wartete, bis ich die Zimmertür zufallen hörte. Dann setzte ich mir meine Kopfhörer auf und drehte die Musik auf, bis ich irgendwann einschlief.

Mitten in der Nacht wurde ich von einem beißenden Hungergefühl geweckt. Ich stierte in die Dunkelheit. Ich war so hungrig. Seit über 24 Stunden hatte ich nichts außer zwei dünnen Scheiben Brot gegessen. In mir breitete sich eine Mischung aus Stolz und grimmiger Genugtuung aus. Aber gleichzeitig biss der Hunger so heftig in meinen Magen, dass es wehtat. Ich knipste das Nachttischlicht an, stand auf und tapste durch die Dunkelheit in Richtung Küche. Es war still, und ich fühlte mich, als würde ich etwas Verbotenes tun. Ich öffnete den Kühlschrank. Schokolade, Käse, Milch, die Reste des Abendessens meiner Familie stapelten sich vor meinen Augen und ließen mir das Wasser im Mund zusammenlaufen.

Das alles könnte ich jetzt essen, schoss es mir durch den Kopf, und sofort schlug ich erschrocken die Kühlschranktür zu. Nein, das würde ich nicht tun. Ich schüttelte mich, als könnte ich den Gedanken und mein Hungergefühl auf diese Art loswerden. Langsam ging ich zurück in mein Zimmer und legte mich ins Bett. Verzweifelt versuchte ich, erneut einzuschlafen, aber es gelang mir nicht. Mein Magen knurrte, und meine Gedanken drehten sich um die Dinge, die in der Küche darauf warteten, gegessen zu werden.

Und wenn ich mir nur zwei Knäckebrote hole? Das hat doch kaum Kalorien.

Nein, ich hatte in den letzten Tagen so viel gegessen, das konnte ich mir jetzt echt nicht erlauben. Schließlich stand ich auf, lief in die Küche und trank so viel Wasser, bis sich ein unangenehmes Völlegefühl breitmachte. Dann ging ich zurück ins Bett. Mein Magen hatte aufgehört zu knurren.

Meine schlechte Laune legte sich nicht. Als ich am nächsten Morgen aufwachte, hatte ich kaum geschlafen, da ich immer wieder wach geworden war. Mein Leben fühlte sich so grau und trist an wie am Vorabend.

Eine Weile hielt ich die Augen zugepresst und redete mir ein, ich sei immer noch in Berlin. Ich läge in meinem alten Bett, in meinem alten Zimmer, und alles wäre so, wie es sein sollte. Es klopfte an der Tür.

„Laura? Bist du wach? Mama sagt, wir wollen in einer halben Stunde losfahren.“ Die Stimme meines Bruders. „Wenn sie vom Einkaufen zurückkommt, sollen wir fertig sein!“

Ich starrte missgelaunt an die Decke. Die Tür wurde aufgerissen.

„Laura? Es ist schon fast zwölf.“

„Ja! Bleib draußen, Daniel! Ich hab dich gehört. Hau ab!“

Das Grinsen meines Bruders erlosch. „Du sollst endlich aufhören, so zickig zu sein. Das nervt total.“

„Ich komme, okay? Kannst du jetzt bitte abhauen? Ich hab keinen Bock zu reden.“

Mein Bruder schüttelte den Kopf und verließ mein Zimmer. Ich stand auf und ging ins Bad, stellte mich viermal auf die Waage. 57,7 Kilogramm. Weniger als gestern Abend, aber nach wie vor zu viel, zu viel. Während ich mich fertig machte, rechnete ich durch, was ich heute essen würde, und kam zu dem Schluss, dass mehr als ein paar getrocknete Tomaten und vielleicht eine Scheibe Toast zum Abendessen nicht drin waren.

Eine halbe Stunde später saßen wir im Auto auf dem Weg zu meinen Großeltern. Ich starrte aus dem Fenster. Es war ein typischer Herbsttag, trist und grau. Mein Vater war in Braunschweig geblieben, und die Stimmung zwischen mir, meinem Bruder und meiner Mutter war angespannt. Meine Mutter hatte mehrmals versucht, ein Gespräch in Gang zu bringen, das ich mit kurzen, einsilbigen Antworten immer wieder zum Stocken brachte. Wie üblich fuhren meine Gedanken Karussell. Gewicht, Kalorien, Bewegung … Gewicht, Kalorien, Bewegung … Fünf Stunden ohne Bewegung. Das war nicht gut, und ich begann, mit dem Fuß zu wippen.Besser als gar nichts. Wenn ich nur könnte, würde ich jetzt ein leckeres belegtes Brötchen essen, mit viel Pesto, Tomate und Mozzarella. Aber natürlich werde ich das nicht tun, denn ich bin offensichtlich zu dick, um überhaupt irgendetwas essen zu dürfen.

Es war 13:30 Uhr, als ich mir schließlich gestattete, wenigstens ein paar getrocknete Tomaten zu mir zu nehmen.

„Mama?“

„Ja?“

„Wo hast du die getrockneten Tomaten?“

„Den Proviant habe ich in meine Handtasche getan, schau da mal nach. Ich glaube, da sind die auch drin.“

Ich nahm die Handtasche meiner Mutter, die zwischen meinen Füßen stand, und wühlte darin herum. Gummibärchen, Brote, Äpfel … keine Tomaten.

„Mama, die sind hier nicht drin.“ Ich spürte, wie ich panisch wurde. „Wo hast du sie hingetan? Ich brauche die jetzt.“

Im Rückspiegel sah ich, wie meine Mutter die Stirn runzelte, bevor sie einen Seufzer ausstieß. „Dann habe ich sie wohl vergessen. Du …“

„Was?“ Ich spürte, wie die Stimme in meinem Kopf wütend zu schreien begann. „Warum? Du weißt doch, dass ich nichts anderes esse.“

„Ach was, nimm dir eine Scheibe Brot oder einen Apfel, das wird dich nicht umbringen.“

„Vergiss es“, fauchte ich, „dann esse ich gar nichts. Überhaupt nichts.“

Die Stimmung im Auto sank rapide. Meine Mutter kniff die Augen zusammen. „Du isst. Und wenn wir an der nächsten Tankstelle halten und ich dir irgendeine Brezel oder ein Brötchen kaufe. Ich habe dein Theater langsam satt. Hör auf mit diesem Affentanz ums Essen.“

In meinem Kopf drehten sich die Gedanken. Hey, siehst du? Das ist Schicksal. Das Schicksal wollte, dass sie sie vergisst. Niemand will, dass du isst. Weil alle sehen, wie fett und verfressen du bist. Sogar für Tomaten bist du zu fett.

Ich starrte aus dem Fenster und sagte entschlossen: „Ich esse nichts! Keinen Bissen. Du hast die Tomaten vergessen. Das ist also dein Problem, nicht meins. Ich muss nichts essen. Ich wollte nicht mal essen. Das habe ich dir gestern gesagt, und die dummen Tomaten habe ich mir ja nur deinetwegen bestellt.“ Plötzlich fühlte ich mich wie fremdgesteuert. Wieso hörte ich eigentlich nicht komplett auf zu essen? Wieso strengte ich mich überhaupt an? Alles sinnlos.

„Pass mal auf, ich habe mich heute Morgen um alles gekümmert, das Haus aufgeräumt, das Auto gepackt, Proviant eingekauft. Und ja, ich habe dieses ekelige Tomatenzeug vergessen, tut mir leid. Das ist aber noch lange kein Grund, so einen Aufriss deswegen zu machen. Weißt du, Laura, deine Launen gehen mir mittlerweile wirklich auf den Keks. Wenn du nur noch Dinge isst, die sonst niemandem einfallen, dann musst du dich künftig eben selbst darum kümmern.“ Die Stimme meiner Mutter zitterte vor Mühe, ruhig zu bleiben.

Ich starrte weiter aus dem Fenster. „Ich denke nicht daran, Essen mitzunehmen, nur weil du das willst. Ich brauche kein Essen und will keins. Und heute esse ich auch nichts mehr. Vielleicht nehme ich dann ja endlich mal ab.“ Meine Stimme wurde immer schriller.

„Du isst doch sowieso kaum noch was.“ Meine Mutter stockte. „Und wirst von Tag zu Tag weniger. Das ist nicht mehr normal, wie du an deinem Essen rumknabberst. Was wiegst du eigentlich noch?“

„Zu viel.“

„So!“ Meine Mutter hieb mit der Hand aufs Lenkrad. „Das reicht. Ich will, dass du jetzt etwas isst. Ich fahre hier ab.“ Sie setzte den Blinker.

„Nein!“, brüllte ich, während ich panisch beobachtete, wie meine Mutter die nächste Abfahrt nahm. Mein Bruder, der bis eben geschlafen hatte, schreckte auf.

„Ich habe keine Lust mehr!“ Meine Mutter wurde mit jedem Wort lauter. „Dein Rumgezicke, dein Nicht-Essen, deine Anschuldigungen, dein ständiges Gerede über Essen und Kalorien. Anstatt immer nur davon zu reden, kannst du es einfach essen. Vom Drüberreden wird man nicht satt. Alle Menschen essen!“

„Was’n los?“, nuschelte Daniel von hinten.

„Laura und ihr Essen. Das ist los!“ Meine Mutter brachte wütend das Auto zum Stehen und sah mich finster an. „Los, aussteigen!“

Ich heulte mittlerweile. „Nein! Du kannst mich nicht dazu zwingen!“

„O doch, das kann ich. Steig jetzt aus, du kannst dir aussuchen, was immer du willst. Aber iss!“

Ich schüttelte den Kopf und stierte aus dem Fenster. Ich würde nicht aussteigen. Ich würde nichts essen.

„Laura“, mischte sich Daniel ein. „Bitte. Iss doch einfach irgendwas. Das ist doch nichts Schlimmes!“

„Ich will aber nicht fett werden!“, heulte ich.

„Bist du ja auch nicht“, entgegnete Daniel, während meine Mutter mit Tränen in den Augen vor sich hin starrte.

„Bin ich wohl! Ich kann sehen. Ihr müsst mich nicht anlügen!“

Mein Bruder resignierte. „Ja, okay, dann bist du eben fett und, bitte schön, dann iss nix! Wenn du unbedingt willst.“

Meine Mutter startete den Motor.

„Was machst du?“, fragten Daniel und ich gleichzeitig, und ich beobachtete erleichtert, wie sie den Wagen in Richtung Autobahn steuerte.

„Ich spiele dieses Theater nicht länger mit!“

Ich sah, dass sie auffällig oft blinzelte, und wandte mich ab, um das schlechte Gewissen zu ignorieren, das in mir hochkroch. Ich benahm mich wirklich wie die letzte Zicke, aber was blieb mir übrig, wenn sie nicht verstanden, dass ich nicht essen durfte?

„Ich schaue dir nicht dabei zu, wie du abmagerst.“ Der Zorn meiner Mutter schien verpufft, und sie murmelte vor sich hin wie zu sich selbst. Vielleicht hätte mich das erschrecken sollen, doch alles, was ich spürte, war die Erleichterung darüber, nicht essen zu müssen.

„Was ist denn dein Ziel?“, fuhr meine Mutter fort. „Willst du magersüchtig werden? Während wir bei Oma und Opa sind, isst du mehr, das ist deine letzte Chance – oder ich fahre, sobald wir wieder in Braunschweig sind, mit dir zum nächsten Arzt.“

Ich hielt mir die Ohren zu. Ich wollte nichts hören, nichts sehen, nichts fühlen, mit niemandem reden. Ich wollte einfach nur weg. Raus aus diesem Auto. Weg von hier. Wollte, dass alles aufhörte. Wünschte mir, einfach zu verschwinden.

2012, Biologieunterricht der siebten Klasse: Damals, noch in Berlin, standen die Themen „Ernährung“ und „Essstörungen“ auf dem Lehrplan. Wir sollten in Zweiergruppen Broschüren erstellen, die Auskunft über Magersucht, „Bulimie“ und „Binge Eating“ gaben. Ich war zwölf Jahre alt und hatte bereits das Gefühl, zu fett zu sein. Erst vor Kurzem war ich auf die weiterführende Schule gewechselt und hatte die ersten Wochen wegen einer Erkrankung verpasst, und auch in den nächsten Wochen fehlte ich regelmäßig im Unterricht, weil mein Immunsystem geschwächt war und ich ständig krank wurde. So fand ich nie wirklich in die Klassengemeinschaft hinein und blieb Außenseiterin. Ein paar Jungs aus meinem Jahrgang machten sich lustig über mich, und die Mädchen wollten in der Pause nichts mit mir zu tun haben. Sie bezeichneten mich als „Emo“, weil ich angefangen hatte, größtenteils schwarze Klamotten zu tragen, und andere Musik hörte als die meisten. Ich hatte zwar zwei oder drei Freunde in meiner Klasse, die meisten meiner Mitschüler ignorierten mich jedoch oder nahmen nur Notiz von mir, um abwertende Kommentare loszuwerden.

Meine Psychologen gehen davon aus, dass ich bereits in dieser Zeit begann, Depressionen zu entwickeln, die später in der Essstörung enden sollten. Ich litt darunter, meinen Vater nur an den Wochenenden zu sehen, genauso wie unter seinen Wutanfällen, die sich zunehmend häuften. War ich nicht krank, bekam ich Bauchschmerzen, die endlose Besuche bei verschiedenen Ärzten zur Folge hatten, jedoch nie eine Diagnose brachten. Ich war niedergeschlagen, antriebslos und wurde immer unzufriedener mit meiner Figur.

Ich war schon immer selbstkritisch gewesen, hatte stets Fehler bei mir gesucht und gefunden und wurde wütend, wenn ich etwas nicht perfekt machte. In dieser Zeit nun wuchs sich diese Strenge zu einem ausgeprägten Selbsthass aus, der in meinen Gedanken kleben blieb und sie verseuchte. Mit selbstbewusstem Auftreten und scheinbarer Gleichgültigkeit überdeckte ich den Ekel, den ich vor mir selbst empfand, aber das traurige Ergebnis war nur, dass niemand sah, wie es in mir brodelte.

Als nun das Thema „Essstörungen“ dran war, spürte ich eine seltsame Faszination. Freiwillig übernahm ich den Großteil der Arbeit, die für die Broschüre anfiel. Zu Hause klickte ich mich durch das Internet. Magersucht, Bulimie, Binge Eating … Bei Google Pictures fand ich Bilder von dünnen Mädchen, die mit trotzigen Mienen ihren Apfel verweigern, die strahlend und superschlank am Strand stehen, in den Armen irgendeines durchtrainierten Jungen und umringt von einer Schar Freunde. Es gab auch abschreckende Bilder. Traurige Mädchen, die mit leerem Blick vor einer Toilette knien. Die blendete ich größtenteils aus und konzentrierte mich auf jene Fotos, die wunderschöne beliebte Topmodels zeigten, die mir entgegenstrahlten. Ich las, dass Magersüchtige kaum etwas aßen, dass sich all ihre Gedanken ausschließlich um Gewicht und Kalorien drehten, dass sie jedes Nahrungsmittel außer Gurken und Äpfel mieden. Ich las auch, dass der Ursprung der Magersucht zumeist nicht in dem Wunsch, dünn zu sein, lag, sondern in tief liegenden psychischen Problemen.

In meinem Kopf entwickelte sich das Stereotyp einer Magersüchtigen. Ein oberflächliches Mädchen, das dünn sein möchte, nur noch zwei Scheibchen Gurke pro Tag isst und durch ihren abgemagerten Körper Bewunderung und Aufmerksamkeit sucht. Auf der einen Seite fand ich dieses Bild abschreckend, auf der anderen Seite empfand ich eine tiefe Bewunderung. Wenn ich das nur ebenfalls könnte. Einfach nichts mehr essen. Mich und meinen Körper kontrollieren. Endlich die Macht über meinen Körper haben.

Ich suchte Parallelen zu mir selbst. Definitiv war ich nicht dünn. Ich aß auch nicht zu wenig. Auf einer Internetseite stieß ich darauf, dass viele Magersüchtige Kalorien zählten und sich übertrieben häufig wogen. Ich zählte Kalorien. Ich wog mich viermal am Tag. Ich hatte gedacht, das sei normal. Die Feststellung, dass es nicht so war, beunruhigte mich jedoch nicht, sondern verschaffte mir das unpassende Gefühl von Erleichterung.

Ich las, aber ich begriff nicht. Verstand nicht, was die Diagnose Anorexia nervosa bedeutet. Ich hatte nie Berührung mit psychischen Erkrankungen gehabt und keine Vorstellung davon, was es hieß, darunter zu leiden. Das lächelnde Mädchen am Strand, die wunderschönen Topmodels – sie vermitteln ein falsches Bild der Krankheit und vor allem die gefährliche Illusion, sie sei erstrebenswert und verspreche Erfolg. Es besticht uns mit dem Schönheitsideal einer kranken Gesellschaft. Doch in der Magersucht findet man sich nicht, man verliert sich. Man wird verrückt.

Letztendlich geht es nicht darum, dünn zu sein, denn das Abmagern ist nur ein Symptom der eigentlichen Krankheit, die sich im Kopf abspielt, und der Bedürfnisse und Ängste, die die Betroffenen zu verdrängen versuchen. Es geht um den Wunsch, Kontrolle und Sicherheit zu erlangen, perfekt zu werden, da wir uns versprechen, die Essstörung gäbe uns dies. Doch sie gibt uns gar nichts, und letztlich bleibt der Wunsch, gar nichts zu sein, einfach zu verschwinden.

Viele Mädchen und Jungen, die in die Krankheit abrutschen oder schon erkrankt sind, spüren eine Bewunderung und Ehrfurcht gegenüber dem Hungern und dem Magersein. Was andere Leute als Schwäche und als Krankheit erkennen, empfinden Essgestörte als Stärke.

Dementsprechend war nichts zu essen für mich Selbstbestätigung, ich fühlte mich für einen Moment lang stark und selbstbewusst. Denn nicht essen und abnehmen war etwas, das ich konnte.

Ich perfektionierte diese Fähigkeit, machte sie zu meinem einzigen Hobby und füllte mein Leben mit dieser verheißenden und gleichzeitig beängstigenden und vernichtenden Leere, die mich wie eine Droge berauschte. Ich verließ mich vollständig darauf. Hungerte und zählte Kalorien. Analysierte Lebensmittel, Makronährstoffe, Verträglichkeit und Ballaststoffgehalt, schrieb bis spät in die Nacht Kalorientabellen und suchte im Internet nach Bildern von Gerichten, die ich niemals essen würde. Ich tauschte alle Träume, Hoffnungen und Leidenschaften gegen eine Essstörung, die mir versprach, mir alles zu geben, mir letztendlich jedoch alles nahm.

All das verstand ich nicht, während ich meine Hausarbeit anfertigte. Ich saß da und fühlte eine erschreckende Faszination, die ich vor mir selbst leugnete. Noch am selben Nachmittag verbannte ich die Schokolade aus meinem Zimmer und ersetzte sie durch eine Packung Salzstangen. Statt süßer Cornflakes zum Frühstück aß ich ab sofort Vollkornbrot. Mit einer Freundin begann ich eine Diät. Wir wollten beide vier Kilo abnehmen.

Vielleicht hätte die Magersucht hier schon die Oberhand gewonnen, hätte es nicht plötzlich eine Kehrtwende gegeben. Die Schule, in der ich mich bis dahin ausgeschlossen und allein gefühlt hatte, wurde erträglicher. Ich war zwar immer noch nicht sonderlich beliebt, hatte aber im Großen und Ganzen das Gefühl, angekommen zu sein. Gemeine Kommentare und Beschimpfungen reduzierten sich auf ein Minimum, und das Allerwichtigste: Ich fand endlich eine Clique. Eine Gruppe aus sechs Mädchen, mit denen ich die Pausen verbrachte und die füreinander einstanden. Ich wollte zwar weiterhin abnehmen, aber es war nicht mehr meine oberste Priorität. Ich vergaß das selbst auferlegte Süßigkeitenverbot und aß wieder Schokoriegel und Pizza.

Im Februar 2013 wurde ich 13 Jahre alt und malte mir das Leben als Teenager in den buntesten Farben aus. Ich verliebte mich in einen Jungen aus meinem Jahrgang, legte mich mit den Lehrern an und gründete zusammen mit Jonas eine Band, mit der wir uns dreimal pro Woche zur Probe trafen. Ich war überzeugt: Von nun würde es bergauf gehen.

Bis zu einem Sonntagabend Mitte März.

Wir saßen beim Abendessen, als meine Eltern das Gespräch zwischen meinem Bruder und mir durch einen Blickwechsel unterbrachen. Mein Vater räusperte sich. „Wir müssen euch etwas sagen.“

Ich wandte den Blick vom Gesicht meines Bruders ab und legte den Kopf schief. „Ist irgendetwas passiert?“

„Nein, nein. Alles gut.“ Meine Mutter lächelte. „Wir haben nur etwas entschieden.“

Daniel sah neugierig von einem zum anderen. „Was denn?“

„Haben wir im Lotto gewonnen?“ Ich riss dramatisch die Augen auf, und Daniel kicherte. Mit der Antwort, die folgte, rechnete ich kein bisschen.

„Quatsch.“

Mein Vater schüttelte den Kopf und grinste.

„Nein, wir haben entschieden, dass wir nicht länger hier wohnen bleiben. Ich lebe schon viel zu lange mehr oder weniger auf der Autobahn. – Wir werden nach Braunschweig ziehen.“

Noch bevor die Worte in mein Bewusstsein drangen, hatte ich das Gefühl, dass in meinem Inneren etwas zu fallen begann. Ich schnappte nach Luft, während meine Gedanken im Kreis wirbelten. Ich starrte auf die lächelnden Gesichter meiner Eltern und hörte die Stimme meines Bruders wie durch einen dicken Nebel zu mir herüberwabern.

„Ja! Das ist okay! Wir sind dann ja alle immer noch zusammen, oder? Und wir sehen Papa dann öfter. Finde ich gut.“

Meine Eltern lächelten noch breiter, und mein Vater wuschelte Daniel durchs Haar. Dann sahen sie mich an. Ich ließ meine Gabel fallen.

„Ist das euer Ernst? Einfach so? Beschlossene Sache? Ohne das mit uns abzuklären?“

Ihr Lächeln erlosch, als hätte ich eine Kerze ausgeblasen.

„Wir klären es doch gerade mit euch ab“, sagte mein Vater mit gerunzelter Stirn. „Wir haben es euch mitgeteilt. Ihr macht das Schuljahr hier noch zu Ende, und im Sommer ziehen wir um. Wir halten das für den richtigen Schritt. Ich möchte nicht länger pendeln, sondern euch jeden Tag bei mir haben.“

Meine Mutter bekräftigte seine Worte durch ein zustimmendes Nicken.

Ich verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte mich auf meinem Stuhl zurück. Ich war so wütend, dass es mir schwerfiel, ruhig zu bleiben, als ich entgegnete: „Und ich möchte nicht umziehen. Wenn ihr es uns mitteilt, habt ihr es ohne uns beschlossen. Ihr könnt das nicht einfach so bestimmen. Ich komme nicht mit.“

Mein Vater funkelte mich an. Die Temperatur am Tisch sank um einige Grade. „Doch, wir können.“ Auch er bemühte sich sichtlich, ruhig zu bleiben. „Und du kommst mit, ob du willst oder nicht.“

„Nein.“ Ich starrte von ihm zu meiner Mutter. „Ich komme nichtmit!“

Mein Vater war schon immer schnell laut geworden, doch in den Jahren, in denen er zwischen Berlin und Braunschweig gependelt war, hatte sich diese Eigenschaft verschärft. Zweimal Widerworte geben war eindeutig zweimal zu viel. Er funkelte mich wütend an.

„Und ob du das tun wirst!“

Daniel zuckte neben mir zusammen, und meine Mutter zischte:

„Nicht so schreien!“

Mein Vater atmete tief ein und drosselte sein Brüllen zu einem Knurren. „Du wirst deinen Egoismus beiseiteschieben und ausnahmsweise mal an andere denken. Es dreht sich nicht die ganze Welt um dich! Du ruinierst uns den ganzen Abend!“

„Ihr habt mir auch den Abend versaut!“

„Geh auf dein Zimmer. Dein Rumgezicke brauchen wir hier nicht.“

Ich blieb sitzen, erwiderte seinen wütenden Blick.

„Geh. Auf. Dein. Zimmer.“ Er wurde wieder lauter.

Wortlos stieß ich den Stuhl zurück, rauschte aus der Küche und stampfte die Treppen hoch.

„Wehe, du knallst die Tür!“, brüllte mein Vater von unten.

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0.Mein Weg

Im Alter von dreizehn Jahren erkrankte ich an Anorexia nervosa, üblicherweise Magersucht genannt. Seither kämpfe ich mit meinen Dämonen, die mich einfach nicht loslassen wollen, oder besser gesagt, die ich nicht loslassen kann.

Meine Freunde gingen auf Partys, während ich, eingehüllt in vier Decken, zu Hause an der Heizung saß, fror und auf die kleine, fiese Stimme in meinem Kopf lauschte, die mir einredete, ungenügend, schlecht, wertlos, zu viel zu sein. Die mich stundenlang durch die Stadt scheuchte, mich nachts wach hielt und dazu brachte, nicht mehr zu essen, nicht mehr zu trinken, nicht mehr zu lieben, nicht mehr zu genießen. Mir mein Lachen, meine Hobbys, meine Träume und meine Freunde nahm und mein Leben für fünf Jahre in eine Art Winterschlaf versetzte.