Wie Lichter in der Nacht - Jürgen Grässlin - E-Book

Wie Lichter in der Nacht E-Book

Jürgen Grässlin

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Beschreibung

Jürgen Grässlin wirft ein Licht auf das, was uns in diesen düsteren Zeiten Halt gibt und den Mut, nach vorne zu schauen. Im Gespräch mit Menschen wie Margot Käßmann, Gerhard Trabert und Vandana Shiva, die sich unbeirrt für Umwelt, Frieden und Freiheit, soziale Wärme und Vielfalt einsetzen, und die damit viel bewegen, wird die Welt ein wenig heller: Inspiration für alle, die glauben, als Einzelne könnten sie nichts erreichen — die Mutlosigkeit weicht Zuversicht. All die Menschen in diesem Buch — jeden Alters, jeden Geschlechts und jede und jeder mit einem Ziel, für das zu kämpfen sich lohnt — haben eine gemeinsame Botschaft: Du bist nicht allein! Und: Es gibt immer einen Grund, mit Hoffnung nach vorne zu blicken.

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Jürgen Grässlin wirft ein Licht auf das, was uns in diesen düsteren Zeiten Halt gibt und den Mut, nach vorne zu schauen. Im Gespräch mit Menschen wie Margot Käßmann, Gerhard Trabert und Vandana Shiva, die sich unbeirrt für Umwelt, Frieden und Freiheit, soziale Wärme und Vielfalt einsetzen, und die damit viel bewegen, wird die Welt ein wenig heller: Inspiration für alle, die glauben, als Einzelne könnten sie nichts erreichen — die Mutlosigkeit weicht Zuversicht. All die Menschen in diesem Buch — jeden Alters, jeden Geschlechts und jede und jeder mit einem Ziel, für das zu kämpfen sich lohnt — haben eine gemeinsame Botschaft: Du bist nicht allein! Und: Es gibt immer einen Grund, mit Hoffnung nach vorne zu blicken.

MIT SPANNENDEN UND INSPIRIERENDEN BEITRÄGEN UNTER ANDEREM VON UND MIT

Margot Käßmann, ehem. EKD-Ratsvorsitzende: aktiv gegen die AFD 

Vandana Shiva, Globalisierungskritikerin: für natürliches Saatgut 

Gerhard Trabert, Straßen-Doc und Kandidat für das Amt des Bundespräsidenten: für die Gesundheit aller 

Franz Alt, Umweltjournalist: für Sonnenenergie statt Kriege um Öl 

Malalai Joya, ehem. Abgeordnete aus Afghanistan: für Frauen- und Mädchenrechte

Thomas Kuban, Undercoverfilmer bei Rechtsrockkonzerten und Peter Ohlendorf, Filmemacher: gegen Rechtsextremismus

Yurii Sheljazhenko, ukrainischer Kriegsdienstverweigerer: für Frieden in der Ukraine

Rotem Levin und Osama Eliwat, israelisch-palästinensische Pazifisten: gegen Gewalt

Aung Myo Min, Minister der demokratischen Untergrundregierung in Myanmar: für Menschenrechte und Demokratie

Till und Felix Neumann, Hip-Hop- Musiker: für die deutsch-französische Freundschaft

Innocent Opwonya, vom Kindersoldaten zum Friedensaktivisten: für Kinderrechte

Sebastian Sladek, Anti-Atomaktivist und Ökostromhersteller: für die Energiewende

Sarah Heiligtag, Philosophin und Biobäuerin: für Tierrechte in der Schweiz

UND WEITEREN MUTMACHENDEN MENSCHEN

Jürgen Grässlin

Wie

Lichter

in der

Nacht

Menschen, die die Welt verändern

Ein Mutmachbuch

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Originalausgabe 2024

Copyright © 2024 by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Caroline Kaum MACHTPROGRAMM

Umschlaggestaltung: wilhelm typo grafisch, Zürich

unter Verwendung eines Fotos von Shutterstock.com (katatonia82)

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN: 978-3-641-32342-4V001

www.heyne.de

Gewidmet meinem Freund und Friedensfreund Martin Hank in Tübingen, dem ich mit diesem Mutmachbuch die Kraft spenden möchte, weiterhin ein erfülltes und glückliches Leben zu führen.

Inhalt

Vorwort Warum Mut machende Menschen mit ihren Visionen so viel verändern können

Kapitel 1: Ohlendorf, Kuban und Kaseler. Mit Rückgrat gegen Rechtsextremismus, entschlossen für Toleranz

Kapitel 2: Margot Käßmann. Eine standhafte Christin zeigt klare Kante

Kapitel 3: Yurii Sheliazhenko. Widerstand ohne Waffen im Kriegsland Ukraine

Kapitel 4:Lina Johnsen. Damit diese Generation nicht zur letzten wird

Kapitel 5:Ludwig Essig und Antonia Messerschmitt. Fridays for Future überlassen das Klima nicht mehr der Politik

Kapitel 6: Franz Alt. Frieden durch Sonnenkraft statt Kriege um Öl

Kapitel 7: Sebastian Sladek. Wie die Schönauer Stromrebellen die Republik von unten verändern

Kapitel 8: Vandana Shiva. Von der Macht eines Saatkorns

Kapitel 9:Sarah Heiligtag. Tierethische Landwirtschaft, die zukunftsweisende Impulse setzt

Kapitel 10: Jürgen Neitzert. Eine Suppenküche für die Armen in einer Region der (Super)Reichen

Kapitel 11: Theresa Krämer. Volle Kraft voraus – für Inklusion und eine Gesellschaft auf Augenhöhe

Kapitel 12: Gerhard Trabert. Deutschlands erster Straßen-Doc im lebenslangen Dauereinsatz

Kapitel 13:Martin Kolek. Der unermüdliche Seenotretter in den Weiten des Mittelmeers

Kapitel 14:Innocent Opwonya. Vom Kindersoldat zum Friedensbotschafter

Kapitel 15: Aung Myo Min. Wie sich ein Minister für Menschenrechte mutig einer Militärdiktatur entgegenstellt

Kapitel 16:Christa Lörcher. Eine standhafte Sozialdemokratin widersetzt sich kraftvoll Krieg und Kanzler

Kapitel 17: Malalai Joya. Bedingungsloser Einsatz für Frauen- und Mädchenrechte in Afghanistan

Kapitel 18: Rotem Levin und Osama Eliwat. Kämpfer für Frieden zwischen Israelis und Palästinensern

Kapitel 19: Till und Felix Neumann. Wie Zweierpasch Brücken baut zwischen früheren »Erbfeinden«

Gastbeitrag von Dr. Inka Engel: Für ein grenzenloses Wir in einer grenzenlosen Welt – Ein neues Netzwerk für eine bessere Welt

Mutmach-Impulse

Nachwort Vom Mutmachbuch zur Mitmachgemeinschaft!

Wegweiser zu einer besseren Welt

Danksagung

Quellenverzeichnis

Vorwort

Warum Mut machende Menschen mit ihren Visionen so viel verändern können

Liebe Leserin, lieber Leser,

Wie Lichter in der Nacht – was für wunderbare Worte voller Poesie. Die Nacht ist gekennzeichnet von der Destruktion unserer Zeit und den drohenden Dystopien unserer Zukunft. Doch Lichter leuchten in der Nacht: Menschen, die die Welt verändern. Weil sie als Mut machende Aktivistinnen und Aktivisten so viel Positives bewirken, weil sie Gutes und Grandioses tun. Weil sie ihre Visionen definieren und diese Schritt für Schritt in die Tat umsetzen und damit anderen Menschen Hoffnung spenden.

Ein Mutmachbuch also, das belegt, wie sich einzelne Lichter zu Lichterketten vernetzen können. Wie in unserer vermeintlich aussichtslosen Lage trotz alledem Grund zur Hoffnung besteht auf eine bessere Welt. In der eine jede und ein jeder von uns ihren und seinen Teil dazu beitragen kann, sie ein bisschen gesünder, ein bisschen freundlicher zu machen. Mit den Mitteln der Gewaltfreiheit und der Liebe.

*

Was so positiv klingt und in der Sache wahrlich auch ist, steht den Ansichten der allermeisten Bürgerinnen und Bürger scheinbar diametral entgegen. Die da meinen, der Mensch sei seinem Wesen nach egoistisch, im Grunde gemein und böse. Dieser weit verbreiteten Ansicht ist Anfang der 2020er-Jahre ein niederländischer Journalist mit einer fundiert belegten Erkenntnis entgegengetreten.

Mit seinem internationalen Bestsellerbuch Im Grunde gut. Eine neue Geschichte der Menschheit ist es Rutger Bregman gelungen, eine Revolution der besonderen Art zu entfesseln. Bregmans Grundthese widerspricht der in der öffentlichen Diskussion vertretenen Meinung – der Mensch sei seinem Wesen nach schlecht – grundlegend. Vielmehr belegt der Historiker in seinen differenzierten Untersuchungen das Gegenteil.

Dabei beruft sich der Autor der Nachrichtenplattform De Correspondent unter anderem auf Tom Postmes, Professor für Sozialpsychologie in Groningen. Dessen Planetenmodell führt zu einer höchst aufschlussreichen Erkenntnis. Man stelle sich den Planeten A vor, auf dem die Bewohner einander helfen. Sogar bereit sind, ihr Leben für Fremde zu opfern. Und Planet B, auf dem jeder für sich alleine kämpft. »Auf welchem Planeten leben wir?«, so Postmes Schlüsselfrage. Seine Antwort: Ungefähr 97 Prozent tippen auf Planet B. Die Fakten aber sprächen eine ganz andere Sprache: Tatsächlich »leben wir auf Planet A«.1 Rutger Bregman verweist auf Augenzeugenberichte vom Untergang der Titanic, die die wechselseitige Hilfsbereitschaft der Menschen an Bord sichtbar werden lassen – obwohl sich dort alle in Lebensgefahr befanden. Gleiches gilt für die Katastrophe von 9/11 in jüngerer Vergangenheit.

Eine Analyse, die mich persönlich wenig überrascht, vielmehr in meiner Ansicht bestätigt. Denn als Vater und Großvater, vor allem aber als 40 Lebensjahre mit vollem Deputat tätiger Pädagoge habe ich schon immer die Meinung vertreten, dass der Mensch in seinem Wesen gut sei. Allein diese Erfahrungen wären ein weiteres Buch wert.

Erfahrungen, an denen auch die Tatsache nichts ändert, dass sich die Einflüsse der sogenannten »sozialen« Medien heutzutage auf Kinder und Jugendliche nicht immer positiv auswirken. Das Faktum als solches bleibt: Der Mensch ist im Grunde gut, wie wir alle in unzähligen Situationen in unserem Umfeld erleben durften und dürfen. Denn der Mensch will Gutes tun, will helfen, will verbessern.

Dieser Umstand hat sich auf dieses Buch und den dahinterstehenden Vernetzungsgedanken von Anfang an belebend ausgewirkt. In der Recherche- und Schreibzeit bin ich immer wieder Menschen begegnet, bekannten und bis dato unbekannten, die ihrem Wesen nach weltoffen, solidarisch, gut sind. Die auf Planet A leben und dort vorbildhaft wirken.

Aber sind sie auch in der Mehrheit? Können diese Mut machenden Menschen tatsächlich unsere Lebenswelt im 21. Jahrhundert positiv beeinflussen? Sind da nicht massive Zweifel angebracht angesichts der Gewalt der Gegenkräfte?

Planet A oder Planet B: Wo leben wir? Wo wollen wir leben?

Betrachten wir den momentanen Zustand unserer Erde, dann scheint Planet B mit seinen menschenfeindlichen Misanthropen, seinen profitgierigen Machtmenschen und den kriegstreiberischen Bellizisten immer weitere Wirkkraft zu entfalten. Entscheidend prägen die Katastrophen des 21. Jahrhunderts – der rapide voranschreitende Klimawandel, die Kriege und Bürgerkriege, globale Pandemien und vieles mehr – die öffentliche Wahrnehmung. Erst recht die Berichterstattung in den Nachrichtenportalen.

In der Sache kann man dem Ernst der Lage nicht widersprechen, allenfalls der Form der medialen Präsentation. Denn zweifelsfrei ist die Lage dramatisch, wie zwei von so vielen Beispielen nachdrücklich veranschaulichen. Zum einen mahnt UN-Generalsekretär António Guterres bei aktuellen Umweltkonferenzen vor dem Kommenden: »Wir sind auf dem Highway zur Klimahölle«. Und: »Wir kämpfen den Kampf unseres Lebens – und sind dabei ihn zu verlieren.«2 Zum anderen steht die »Doomsday Clock«, die »Weltuntergangsuhr« mittlerweile auf gerade mal noch 90 Sekunden vor zwölf Uhr, wie das Bulletin of the Atomic Scientists mitteilt. Die Frankfurter Allgemeine urteilt entsprechend: »Führende Wissenschaftler sehen eine anhaltend große Gefahr dafür, dass sich die Menschheit mit Atomwaffen oder dem Klimawandel selber auslöscht.«3

Kein Wunder also, dass sich das Denken in Negativszenarien zu Beginn des dritten Jahrtausends wie ein hochansteckender mentaler und emotionaler Virus ausbreitet – selbst im vermeintlich wohlhabenden und vergleichsweise sicheren Deutschland. Hierzulande sind die Gedanken und Gefühle der Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger in Politik, Wirtschaft und Militär von schlimmsten Angstszenarien okkupiert. Seit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine frönt eine Superkoalition von Sozialdemokraten, Grünen, Liberalen und Christdemokraten im Deutschen Bundestag einer nie gekannten militärischen »Zeitenwende«. Finanziert mit in der Geschichte der Bundesrepublik unglaublich hohen monetären Mitteln.

Um den mit dieser Destruktionspolitik einhergehenden Abbau im Sozial-, Pflege-, Bildungs- und Kulturbereich ohne wütende Widerstände in der Bevölkerung durchsetzen zu können, wird gezielt von den fatalen Folgen dieser Hunderte Milliarden Euro teuren Hochrüstungspolitik abgelenkt. Werden alte und neue Feindbilder beschworen: Von Abertausenden arbeitsunwilligen Schmarotzern im Land, die unseren Sozialstaat ruinieren würden. Über ein vermeintliches Millionenheer krimineller Flüchtlinge, die uns unseres Wohlstands berauben wollen. Bis hin zum imperialistisch agierenden Wladimir Putin, der nach der völkerrechtswidrigen Intervention in der Ukraine alsbald auch Deutschland, Europa und die ganze Welt erobern werde.

Wie ein Licht in der Nacht agiert stattdessen Heribert Prantl, sachkundiger Kolumnist der Süddeutschen Zeitung. Dessen konstruktiv-kritischer Journalismus sucht nach friedlichen Konfliktlösungen gemäß dem Motto: »Wer den Frieden will, muss den Frieden vorbereiten.« Als Buchautor postuliert er in seinem im Frühjahr 2024 publizierten Werk Den Frieden gewinnen. Die Gewalt verlernen, dass wir »eine neue Friedensbewegung, eine neue Entspannungspolitik« brauchen.

Für Prantl ist das Lebensgefühl unserer Zeit »ein Lebensunsicherheitsgefühl, und der zu ihm gehörige Begriff heißt ›Zeitenwende‹«. Selbiger tritt der gelernte Richter und Staatsanwalt kenntnisreich entgegen: »Es gab keine Zeitenwende, und es gibt sie nicht.« Dieser Begriff sei allenfalls »der Versuch, Grausamkeit zu beschreiben und dem Entsetzen darüber Ausdruck zu geben«. In diesem Sinne sei »dies das Schlüsselwort für die Rückkehr der Politik ins Militärische« – was nicht sein dürfe.

Für den Münchener Journalisten bestehe eine »echte Zeitenwende« in der Tradition von Christi Geburt, in der Verheißung des großen Friedens: »in terra pax«.4

*

Der Wunsch, dieser vom »Lebensunsicherheitsgefühl« und der negativen »Zeitenwende« beeinflussten Phase ein hoffnungsfroh stimmendes, ein zukunftsweisendes, ein Mut machendes Buch entgegenzusetzen, ist mit der Renaissance des Militärischen massiv in mir geweckt worden.

Den letzten Anstoß dazu gaben einige Freundinnen und Freunde aus meinem politischen Umfeld. Sinngemäß erzählten mir gleich mehrere von ihnen: Ich verzweifle! Nein, ich sehe keine liebens- und lebenswerte Zukunft für mich, für die Menschheit! Entsprechend deren Conclusio: Entschuldige, aber ich ziehe mich ins Privatleben zurück. Ich kümmere mich ab jetzt um mich selbst, um mein Wohlergehen. In einem Fall wurde mir gar mitgeteilt: Ich fliege erst einmal auf die Malediven, solange es die Inselgruppe noch gibt.

Dieses Lebensunsicherheitsgefühl, die abgrundtiefe Verzweiflung und der für viele prägende Pessimismus sind mir gänzlich fremd. Was ich mir durch die von Liebe und Zuwendung geprägte Erziehung im Elternhaus und meine intakte Familie mit den Kindern und Kindeskindern erkläre. Auch mit einem der schönsten Berufe weltweit: dem eines Kindern und Jugendlichen zugewandten Pädagogen. Und zu guter Letzt mit meinem Freundeskreis, der uns gerade auch in den schweren Zeiten gestützt hat. Man denke nur an die Jahre währenden gerichtlichen Auseinandersetzungen mit dem Daimler-Konzern und Heckler & Koch. Alle drei Prozesse, auch den gegen SIG Sauer, konnten final am Bundesgerichtshof gewonnen werden. Maßgeblich dank meines Friedens- und Juristenfreundes Holger Rothbauer.5

All das hat mich zu einem hoffnungsfroh gestimmten, einem optimistisch gesonnenen Philanthropen werden lassen. Der in dieser Welt – jeglicher Widerstände zum Trotz – zuallererst das Positive in seinem Gegenüber sieht. Der auf das Prinzip Hoffnung setzt, der an das Gute im Menschen glaubt, der die Wende zum Besseren anstrebt.

Menschen, die die Welt verändern!

Mit dieser Einstellung, mit diesem Lebensgefühl, mit dieser inneren Sicherheit habe ich mich auf die Suche nach Mut machenden Menschen begeben. Menschen, die in ihren jeweiligen Themenbereichen Herausragendes geleistet haben, vielfach bis heute leisten. Die mit ihrem aufrichtigen, standhaften und zukunftsgerichteten Handeln Vorbildliches schaffen. Sei es in Deutschland, in einem der Nachbarländer oder auf einem anderen Kontinent. Am Ende habe ich 24 von ihnen interviewt. Manche kannte ich durch meine Jahrzehnte währende Friedens- und Menschenrechtsarbeit, andere sind mir von Freunden oder Bekannten empfohlen worden.

Über viele Monate hinweg und teilweise seit Jahren konnte ich die Höhen und auch Tiefen dieser Aktivistinnen und Aktivisten miterleben, deren Glücksgefühle und Enttäuschungen mitempfinden. Sie alle setzen sich mehr als nur karitativ helfend ein. Sie alle engagieren sich in ihrem Bereich und ihrem Netzwerk für die Änderung unzureichender oder verfehlter gesellschaftlicher, staatlicher oder wirtschaftlicher Strukturen. Sie alle widersetzen sich der Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen. Was sie alle eint, ist ihre unbändige Hoffnung auf eine bessere Welt – allen Widerständen trotzend.

*

Kraftvoll positionieren sich Peter Ohlendorf, Thomas Kuban und Sven Kaseler gegen Rechtsextreme. Jeder auf seine Weise sind sie alle drei Mutmachmenschen, die sich den rechten Rattenfängern wachsam entgegenstellen. Peter und Sven wurden vielfach bedroht. Thomas, so sein Pseudonym, musste und muss unerkannt bleiben. Nach seinen Undercover-Filmen über Rechtsrockkonzerte fürchtet er um sein Leben, würde seine Identität auffliegen. Hier habe ich bewusst keinerlei Spuren gelegt. Und wie mutig sind Svens kreative Aktivitäten mit seinem Verein »Augen auf« gegen Neonazis. In seinem Heimatland Sachsen, einer Hochburg der »Alternative für Deutschland«, AfD, setzt er sich für Toleranz und Weltoffenheit ein – und damit auch für Geflüchtete.

Die ehemalige EKD-Vorsitzende Margot Käßmann ist mir längst eine liebe Wegbegleiterin geworden. Offiziell Rentnerin, befindet sie sich heute in einem beachtenswerten Unruhestand. Zum einen bekennt auch sie klar Farbe gegen Rechtsaußen: »Meines Erachtens kann ein Christ, kann eine Christin nicht Mitglied der AfD sein.« Zum anderen befürwortet die gläubige Christin, entgegen allen Anfeindungen, eindeutig pazifistische Konfliktlösungen. Unverrückbar, auch zur Zeit des Krieges in der Ukraine und anderswo. Mit ihrer Standhaftigkeit ist sie Abertausenden von Christinnen und Christen ein Vorbild. Auf zahlreichen Kundgebungen und Demonstrationen steht sie ihre Frau, wie ich persönlich miterleben durfte und immer wieder darf.

Seit dem russischen Angriffskrieg im Februar 2022 regiert die Gewalt auch in der Ukraine. Unterstützt von der »Unabhängigen Pazifistischen Bewegung« verweigern Yurii Sheliazhenko und seine Mitstreiter den Dienst an der Waffe. Auch in Russland und in Weißrussland wehren sich Abertausende Menschen dagegen, an der Front töten zu müssen. Sie alle stellen sich wagemutig der Maschinerie des Krieges entgegen und nehmen dafür harte Strafen in Kauf. Während Yurii eine oder mehrere Gefängnisstrafen drohen, werden Kriegsdienstverweigerer in Russland jahrelang in Lagern interniert, deren Zustände lebensbedrohlich sind.

Eine weitere, nicht minder entscheidende Konfrontation wird an der Klimafront ausgefochten. Es geht um nichts Geringeres als um die Zukunft unseres Planeten. Im Umweltbereich schaffen es die Fridays for Future, weltweit Millionen meist junger Menschen zu Kundgebungen und lautstarkem Protest zu motivieren. Antonia Messerschmitt und Ludwig Essig stehen als Basisaktivisten Pars pro Toto für Hunderttausende ihrer Mitstreiterinnen und Mitstreiter rund um den Globus. Die auf allen gesellschaftlichen Ebenen einen immensen Druck für einen wesentlich engagierteren Einsatz der Politik und Wirtschaft gegen den Klimawandel, für die Klimagerechtigkeit entwickeln. Druck, der nicht nur aufrechterhalten, sondern massiv verstärkt werden muss.

Lina Johnsen gehört zu denjenigen, die nicht nur demonstrieren und protestieren wollen. Die Pressesprecherin der Letzten Generation geht angesichts der rasant voranschreitenden Klimakatastrophe in ihren Taten wesentlich weiter. Die 25-Jährige setzt auf den jüngst erfolgten Strategiewechsel der Aktionsgruppen der Letzten Generation. Statt Klebeaktionen durchzuführen, müssten mehr und mehr Menschen gewonnen werden, die an symbolträchtigen Orten mit gewaltfreiem, zivilem Ungehorsam die Brisanz des Klimawandels mitten im Alltag der Menschen augenscheinlich werden lassen.

Der renommierte Fernsehjournalist Franz Alt und der Geschäftsführer der Energiewerke Schönau EWS, Sebastian Sladek, weisen uns den Weg in eine Zukunft ohne Atomkraft und ohne Atomwaffen. Mit seinem Sonnenwende-Projekt zeigt der vielfach preisgekrönte Baden-Badener Franz Alt, wie das Zeitalter der fossilen Brennstoffe beendet und in aller Welt Frieden durch Sonnenkraft geschaffen werden kann.

Nachdrücklich mahnt Sebastian Sladek, dass noch immer viele der klassischen Stromanbieter direkt oder indirekt in Geschäfte mit Atomstrom verwickelt sind. Die Schönauer Energiewerke sind ein Musterbeispiel, wie aus der Anti-Atom-Bewegung ein Netzwerk von Hundertausenden neuer Ökostromkunden entstanden ist. Empfohlen sei der Wechsel hin zu einem Anbieter von Ökostrom – falls nicht schon längst geschehen.

Bewundernswert Vandana Shiva, die mit ihrer erfolgreichen Kampagne für natürliches Saatgut in Indien immens viele Erfolge aufweisen kann. Ihr ist gelungen, was kaum jemand für möglich gehalten hätte. Die Umweltaktivistin hat sich mit aller Kraft dem Konzern Monsanto und dessen Mutterkonzern Bayer AG entgegengestellt. Damit konnte die massenhafte Verbreitung gentechnisch manipulierten Saatgutes in ihrem Heimatland teilweise verhindert werden, wie sie mir am Rande eines Umweltkongresses in der Schweiz verraten hat. Hundertausende von Bäuerinnen und Bauern kehrten auf dem indischen Subkontinent zum natürlichen Saatgut zurück.

Sarah Heiligtag stellt mit ihrem Lebenshof-Konzept althergebrachte Prämissen der strukturkonservativen Schweizer Landwirtschaft in Frage – und immer mehr auf den Kopf. Sie zeigt, wie eine tierethische Landwirtschaft im Praxismodell funktionieren kann. Schon jetzt konnte Sarah mehr als 150 Bäuerinnen und Bauern in der Schweiz überzeugen, auf das naturnahe Konzept der Lebenshöfe umzustellen. Und das ist nur der Anfang. Denn mit ihrer Tierethik will sie auch mit Berufskollegen in Nachbarländern kooperieren, so auch in Österreich und in Deutschland.

Helfen ist auch ein Lebensmotto des Franziskanerbruders Jürgen Neitzert. Völlig uneigennützig unterstützt der Franziskaner mit seinen Brüdern Bedürftige in der Suppenküche von Düsseldorf – der Stadt so vieler Multimillionäre. An kaum einem anderen Ort prallen Armut und Reichtum derart hart aufeinander. Arme wertzuschätzen, statt sie auszugrenzen. So Bruder Jürgens Einstellung, der selbst besitzlos nach dem Vorbild des Franz von Assisi lebt.

In Wien unterstützt derweil Theresa Krämer inklusive Lebens- und Betreuungsformen. Im Kern geht es der Heilerziehungspflegerin bei ihren beruflichen Aktivitäten um die Frage einer gelingenden Inklusion. Um die Wertschätzung für alle Mitmenschen, ob mit oder ohne Behinderung. Eine Wertschätzung, die sie als Grundhaltung für die gesamte Gesellschaft anstrebt.

Obdachlose benötigen humanitäre Hilfe, auch medizinische Betreuung. Mein Freund und RIB-Büroleiter Stephan Möhrle und ich haben den bundesweit bekannten Straßen-Doc Gerhard Trabert in Mainz besucht. Haben uns davon überzeugen lassen, wie dringend notwendig die Strukturen im Gesundheitsbereich geändert werden müssen. Damit die Ärmsten der Armen nicht länger durch das soziale Netz fallen. Dr. Traberts Geheimnis, das er aus Indien mitgebracht hat: Die Ärztin, der Arzt geht zum Patienten, damit allen Notleidenden geholfen werden kann.

Seenotretter Martin Kolek kennt die andere Seite des Mittelmeers. Jede freie Woche nutzt er, um in See zu stechen, um Menschen auf der Flucht vor dem Ertrinken zu retten. Kommen er und sein Team zu spät, holen sie notgedrungen die Leichen an Bord. Das Wort »aufgeben« aber kennt der Paderborner Psychotherapeut nicht. Dass er mit anderen Aktivistinnen und Aktivisten zusammen ein Denkmal und einen Friedhof in Kalabrien errichtet hat, ehrt ihn. Noch mehr, dass er so einigen der Ertrunkenen ihre Identität wiedergegeben hat. Ein Zeichen des Lichts in tiefdunkler Nacht.

Was ich kaum zu hoffen wagte: Das Interview mit Aung Myo Min, dem amtierenden Menschenrechtsminister der demokratischen Gegenregierung in Myanmar, konnte dank der Vermittlung von »Terre des Hommes Deutschland« stattfinden. Hier gilt völlige Vertraulichkeit zu Ort und Zeitpunkt. Minister Myo Min muss – wie auch seine Regierungskollegen – im Untergrund agieren. Das Ziel ist der Aufbau einer demokratischen Gesellschaftsordnung für die Zeit nach dem Sturz der Militärregierung. Seine Vision ist ein Land, in dem nach der Militärherrschaft die Freiheit einzieht. Das Besondere: Myo Min gehört der Bewegung der LGBTQIA+ an. Damit ist er der erste bekennende schwule Minister in der Historie des südostasiatischen Landes.

Viele Schritte auf seinem Weg ist Innocent Opwonya gegangen, den ich bereits mehrfach getroffen habe. Dem früheren zwangsrekrutierten Kindersoldaten der Rebellengruppe »Lord Resistance Army« ist nach einem schweren Schicksal die Flucht aus Uganda nach Deutschland gelungen. Er hat hier eine Ausbildung absolviert, ist längst ein glücklicher Vater. Seine bessere Welt setzt voraus, dass kein Kind mehr zum Dienst an der Waffe gezwungen werden darf – nicht in Uganda, nirgendwo sonst. Und dass Kriege ein für alle Mal überwunden werden.

Ein Ziel, das Christa Lörcher von ganzem Herzen teilt. Die frühere Bundestagsabgeordnete aus dem badischen Villingen hat – als Einzige in ihrer Regierungsfraktion – dem Druck von Bundeskanzler Gerhard Schröder widerstanden und gegen den Militäreinsatz der Bundeswehr in Afghanistan votiert. Aufrecht hat sie die SPD-Fraktion verlassen und setzt sich mit all ihrer Kraft weiterhin für Frieden und Gerechtigkeit für Geflüchtete ein.

Malalai Joya lebte in dem Land, in das Lörcher keine Soldaten schicken wollte. Mit ihrem unglaublich mutigen Einsatz hat sie als Abgeordnete in der Wolesi Dschirga, dem Parlament in Kabul, die Rechte afghanischer Mädchen und Frauen gestärkt und damit national wie international für immenses Aufsehen gesorgt. Mehrere Attentate hat sie überlebt, ist gerade noch rechtzeitig geflüchtet. Wir haben uns in Spanien getroffen. Vertraulich, damit sie vor der Gewalt der Taliban sicher ist.

Wie mutig ist auch der Weg, den der Palästinenser Osama Eliwat und der Jude Rotem Levin im Nahen Osten gewählt haben. Beide haben sie einst in einem Gewaltapparat gedient – der eine in der PLO, der andere bei den Israeli Defence Forces. Der Krieg hat beide zu friedliebenden Menschen werden lassen. Während im Gaza-Streifen ein Krieg mit Zehntausenden Toten und Verletzten wütet, umarmen sie sich verständnisvoll bei unserem Interview. Ihre bessere Welt soll in ihrer Heimat erblühen, in der Juden und Palästinenser zukünftig in Freundschaft zusammenleben.

Dass die Vision der Freundschaft unter Todfeinden Wirklichkeit werden kann, erzählen uns Till und Felix Neumann von der Hip-Hop-Band Zweierpasch. Sie besingen in deutsch-französischen Liedern die Völkerverständigung zwischen zwei Nationen, die sich über Jahrhunderte hinweg als Erbfeinde unerbittlich beschossen, bekämpft und bekriegt haben. Behaupte niemand, Grenzen seien für die Ewigkeit gemacht, Visionen und Utopien seien unerreichbar. Das Gegenteil kann der Fall sein, und zwar viel schneller als gedacht.

Und last but not least: Das Portrait des Mutmachmenschen Franz Alt ist gleich von doppelter Impulskraft. Neben dem zukunftsweisenden Plädoyer für erneuerbare Ressourcen weist es auch den Weg von der visionären Bergpredigt Jesu hin zu realer Weltpolitik. Eindrücklich erzählte Franz mir bei unserem Treffen, wie der damalige Generalsekretär des russischen Zentralkomitees, Michail Gorbatschow, Alts Buch über die Bergpredigt gelesen habe. Tief beeindruckt ließ er ihm daraufhin ausrichten: »Wir werden im Geiste Jesu mit dem Wettrüsten aufhören, egal was der Westen tut.« Ein Politikwechsel, der schlussendlich die Blockkonfrontation mit beendet hat. Und so ist eine weitere wichtige Botschaft in diesem Mutmachbuch: Der einzige sinnvolle Weg zu einer friedlicheren Welt ist ein gewaltfreier. Pure Utopie, halten uns die Militaristen entgegen. Längst Realität geworden, halten wir ihnen entgegen. Und denken besonders in unserem Land an den gewaltfreien Fall der Berliner Mauer.

Was bleibt für mich nach all diesen Gesprächen, nach dem Schreiben dieses Buches? Auch wenn es pathetisch klingen mag: Ich habe das Feuer in den Augen der engagierten Menschen gesehen, die es porträtiert. Ich konnte fühlen, wie sie für die Ziele ihrer Arbeit und ihrer Projekte brennen. Wie sie sich nicht im Mindesten mit den sozialen, ökologischen, politischen oder wirtschaftlichen Fehlsteuerungen abfinden wollen. Wie sie mit aller Kraft verkrustete Strukturen aufbrechen, wie sie sich mutig den Repressionen von Regierenden, Militärs und Konzernchefs entgegenstellen.

Die Kraft, die von ihnen ausgeht für uns alle, ist immens. Denn die 24 Mutmachmenschen in diesem Buch stehen exemplarisch für so viele Menschen, die sich für ihre Vision einer intakten und gesunden, einer demokratischen und gerechten, friedlichen und solidarischen Welt stark machen. Die ihren Weg dorthin Schritt für Schritt beschreiten und dabei den Wandel von unten erfolgreich meistern. Die die Welt verändern mit ihrer Kompetenz und ihrem Können, mit ihrem Optimismus und ihrer Euphorie, mit ihrer Lebenslust und ihrem Lachen.

Ja, sie sind wie Lichter in der Nacht, die unsere Welt erhellen.

***

Kapitel 1

Ohlendorf, Kuban und Kaseler. Mit Rückgrat gegen Rechtsextremismus, entschlossen für Toleranz

Eigentlich möchte man meinen: Diesen Mann bringt nichts, aber auch gar nichts aus der Fassung. Über 2000 Filmvorführungen, unzählige Podiumsdiskussionen, immens viele Schulbesuche, um über die Problematik des Rechtsextremismus aufzuklären. Das alles müsste ihn längst abgehärtet haben. Und doch treiben ihm die steigende Anzahl an Vorfällen von Rechtsaußen und die wachsenden Wahlergebnisse der Partei »Alternative für Deutschland« die Zornesröte ins Gesicht.

Was ihn so wütend macht: Manche Menschen wollten den voranschreitenden Rechtsrutsch lange Zeit nicht wahrhaben. »Jetzt lass das Thema doch endlich mal ruhen«, musste sich der Regisseur und Filmemacher Peter Ohlendorf anhören. »Dabei war mir mit jedem Tag klarer: Wegschauen, schweigen, die Klappe halten, das ist nicht richtig.« Ihm sei es ein Herzensanliegen, »mit aller Kraft gegen die rechte Radikalisierung vorzugehen. Das muss sein, wenn wir die Braunen noch stoppen wollen!«

Heute stünden wir in Deutschland an einem Punkt, den man – in Anlehnung an den dramatisch voranschreitenden Klimawandel – »als rechtsradikalen Kipp-Punkt bezeichnen müsse. Falls wir nicht doch noch die Umkehr packen. Ansonsten wird uns der Strudel in die Tiefe ziehen.«

Undercover die Rechtsrockszene entlarvt

Peter Ohlendorf ist schon vor Jahren aktiv geworden. Hat den im Geheimen agierenden Journalisten Thomas Kuban – so dessen Pseudonym – filmisch portraitiert. Herausgekommen ist 2012 Ohlendorfs megabrisanter Dokumentarfilm Blut muss fließen – Undercover unter Nazis, der den Protagonisten in einer Doppelrolle zeigt:

Zum einen als vermeintlichen Neonazi und Rechtsrockfan, der sich getarnt mit Sonnenbrille und Wollmütze Zugang zu Musikevents der ultrarechten Szene verschaffte. Zu geheimen Konzerten in Hinterhöfen, Scheunen, Festzelten, in Nebensälen von Gaststätten. Wohlgemerkt ausgerüstet mit einer schier unsichtbaren Kamera, deren Objektiv gerade einmal die Größe eines Stecknadelkopfes hat.

Zum anderen macht der Film deutlich, wie der Investigativjournalist Kuban die deutsche Regierungspolitik in Berlin und München mit den Fakten über die widerrechtlich agierende Rechtsrockszene in Kenntnis setzt. Und dabei an erschreckend desinteressierten und hochgradig ignoranten Politikern – vom damaligen Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble, CDU, bis hin zum Bayerischen Ministerpräsidenten Günther Beckstein, CSU – schier verzweifelte.

Um bei seinen öffentlichen Auftritten unerkannt zu bleiben, muss sich Kuban auch bei TV-Interviews oder Pressekonferenzen tarnen. Schließlich hat er neun Jahre lang unter beträchtlichem persönlichem Risiko gewagt, die rechtsextreme Rockszene live zu filmen. Rund 50 Undercover-Aufnahmen sind so entstanden – in Deutschland, Frankreich, Österreich, der Schweiz, Italien, Ungarn, Polen, Belgien und England.

Rocker und Skinheads nahmen und nehmen ihm dieses Aufdecken der teilweise kriminellen Machenschaften schwerst übel. Würde er auffliegen, wäre sein Leben bedroht. Aus diesem Grund hat Thomas Kuban auch sein gleichnamiges Buch Blut muss fließen, das damals im gleichen Jahr wie der Film publiziert wurde, unter seinem Decknamen veröffentlicht.

Buch- und Filmtitel verweisen auf eine langwährende Liedtradition. Sie gehen auf ein Zitat aus dem »Heckerlied« zurück, dem Revolutionslied der Badischen Revolution von 1848 und 1849. In dem es heißt: »Fürstenblut muß fließen knüppelhageldick.«

Nach dem Ersten Weltkrieg wurde es zum Schlachtlied der SA-Truppen der NSDAP umgedichtet. Die Mannheimer Skinhead-Gruppe »Tonstörung« vertonte es in den 90ern des letzten Jahrhunderts. Kaum ein Konzert, auf dem es nicht aus den Kehlen aufgepeitschter Rechtsrockfans heißt: »Blut muss fließen knüppelhageldick, wir scheißen auf die Freiheit dieser Judenrepublik.«

Thomas Kuban versteht sein Buch als einen »Abschlussbericht einer rund 15-jährigen Recherche in der Neonazi-Szene«. Abschlussbericht deshalb, weil die Ergebnisse seiner aufschlussreichen Recherchen auf »mangelndes Medieninteresse« gestoßen sind. Was ihn finanziell fast in den Ruin getrieben hätte.

Kaum zu glauben, aber Kuban scheiterte oft mit seinen Bemühungen, seine Konzertmitschnitte im öffentlich-rechtlichen Fernsehen unterzubringen. Stellvertretend sei hier eine einzige Reaktion genannt: »Wir erhalten von unseren Zuschauern täglich sehr viele Themenvorschläge«, so die Antwort einer Chefin vom Dienst eines ARD-Politikmagazins auf sein Angebot, undercover bei einem neuerlichen Neonazi-Konzert zu filmen. »Wir bitten um Verständnis, dass wir das von Ihnen vorgeschlagene Thema leider nicht realisieren können.«

Letztlich hat ihn auch die breite Ablehnung bei ARD und ZDF dazu veranlasst, »aus finanziellen Gründen aufzuhören«. Genauso erschreckend wie dieses Desinteresse der bürgerlichen Medien ist auch eine zweite Tatsache: Die Thematik der bis heute andauernden Rechtsrockkonzerte wurde und wird in unserer Gesellschaft zuweilen schlichtweg ignoriert.6

Was mich völlig überrascht. Schließlich hat sich Kuban mit seiner getarnten Bodycam direkt in die Höhle des Löwen begeben: an zahlreiche düstere Orte, an denen sich Nationalisten und Rassisten des Black-Metal-, Rocker- und Hooliganmilieus tummeln. Orte, an denen Musikbands lautstark rechtsradikale Lieder spielten, es bis heute tun. Kubans Aufnahmen zeigen, wie Hunderte von Konzertbesuchern, die allermeisten von ihnen Männer jüngeren und mittleren Alters, zur Musik rechter Szenebands tanzen und grölen, wie sie immer wieder ihre Arme zum Hitlergruß in die Höhe recken. Wie sie nicht nur »Blut muss fließen knüppelhageldick« singen, sondern hammerhart weitere verbotene Nazilieder. Lieder, die juristisch gesehen den Tatbestand der Volksverhetzung erfüllen.

Das Skinhead-Konzert in Hinsbourg in den nördlichen Vogesen ging noch weiter: Während die Band »Race War« judenfeindliche Lieder skandierte, erfreuten sich 800 Ultrarechte der Tatsache, dass am 11. September 2001 die Twin Towers des World Trade Centers in New York von islamistischen Kriegern zum Einsturz gebracht wurden. »Bumsfallera, das World Trade Center ist nicht mehr da«, war da zu hören. Und bezogen auf Israel intonierten sie stimmgewaltig die antisemitische Parole: »Ach, bombt doch all die Scheiße weg.« Für Kuban keine Überraschung, der in seinem Buch Blut muss fließen auf eine explizite Terrorankündigung von »Race War« verweist: »The 4th Reich is what we are fighting for. Our terrorist attacks will change the world.«

Als Zuschauerin, als Zuschauer des Ohlendorf-Films findet man sich ungefiltert inmitten solcher Konzertauftritte wieder. Erlebt Skinheads, Rechtsradikale, Faschisten, die teilweise mit bloßen Oberkörpern mit Nazi-Tattoos darauf aggressiv Pogo tanzen. Dabei kann und muss es einem eiskalt den Rücken herunterlaufen, wenn man sich vorstellt, dass die noch halbwegs kanalisierte Gewalt im Rahmen eines Musikkonzerts an anderer Stelle unkontrolliert und ungezügelt gegen Migrantinnen und Migranten, gegen Antifaschistinnen und Antifaschisten oder gegen Punks auf die Straßen kommt, wie in den vergangenen Jahren realiter oft passiert.

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»Wenn bei den Rechtsrockkonzerten derart offen verbotene Naziparolen geschrien werden – was man in deinem Film ja mehrfach hautnah als Teilnehmer miterlebt –, warum greifen dann die staatlichen Sicherheitskräfte nicht ein?«, werfe ich eine Frage auf, die mich beschäftigt. »Schwer in Kürze zu sagen. Auf jeden Fall hat die Polizei über lange Strecken einfach weggeschaut, was mir völlig unerklärlich ist«, antwortet Peter Ohlendorf. Schließlich seien Polizisten oft direkt vor Ort gewesen, was Kuban selbstverständlich bezeugen könne. »Thomas hat es gesehen, manchmal waren sie sogar drin im Konzertsaal. Dann haben sie doch all die faschistischen Lieder mit eigenen Ohren gehört.« Dass es auch anders geht, hat die Berliner Polizei bewiesen, die schon früh konsequent gegen Rechtsrock-Konzerte vorgegangen ist und ihre Praxis im Film anschaulich darlegt.

Immerhin entschied ein Staatsanwalt bei einem Rechtsaußenkonzert in Bayern, gegen die Veranstalter vorzugehen. Was jedoch an den Polizeibeamten im Zelt scheiterte, die behaupteten, sie seien nicht in der Lage gewesen, die Bedeutung der Texte zu erkennen. »Da sieht man, welche Ungeheuerlichkeiten mittlerweile um sich gegriffen haben. Was mich wirklich sprachlos macht. Weil diese Texte so klar und unmissverständlich rechtsextrem sind. Davon abgesehen gab es immer wieder verbotene Hitlergrüße«, kommentiert der Filmemacher.

FilmFaktum macht, was klassische Medien schmählich vermeiden

Im Februar 2012 wurde Ohlendorfs Film Blut muss fließen auf der Berlinale präsentiert, noch im gleichen Jahr erschien auch Kubans Buch. Aber auch der Filmemacher Ohlendorf biss sich – wie Kuban häufig zuvor – an den bürgerlichen Sendern die Zähne aus. Bis zum heutigen Tag ist der Film nicht ein einziges Mal im öffentlich-rechtlichen Fernsehen gesendet worden. Zumeist signalisierte man Desinteresse, bei den Ablehnungen flüchteten sich TV-Sender in hanebüchene Floskeln.

Ohlendorf ließ sich nicht abschrecken, nahm seinen Mut zusammen, ging dauerhaft auf Tour – national wie international. Organisiert über seine Netzplattform »FilmFaktum« lief der Dokufilm bei immens vielen Veranstaltungen, in Kooperationen mit allen möglichen Organisationen, Verbänden und Gruppierungen aus dem kirchlichen, dem gewerkschaftlichen, dem zivilgesellschaftlichen Bereich. Zuweilen zeigten und zeigen auch Landtagsfraktionen und zivilcouragierte Orts- oder Kreisverbände den Film. »Bemerkenswert ist dabei, dass CDU, CSU und FDP so gut wie nie die Initiative für Filmvorführungen ergriffen.« Ohlendorf ist die Enttäuschung darüber anzumerken.

»Warum ziehst du mit deinem Werk seit weit mehr als zehn Jahren durch den deutschen Sprachraum?«, frage ich den Filmemacher, der in Freiburg zu Hause ist. »Mit FilmFaktum nutze ich die Methode des alten Wanderkinos mit moderner Technik. Wir gehen direkt zu den Menschen hin«, erklärt Ohlendorf. Ein ganz zentrales Anliegen ist ihm dabei das Gespräch nach dem Film. »Das ist immer obligatorisch und heute ganz besonders wichtig. Denn Neonazi-Musik bekommt jenseits der Konzerte breiteres Interesse und mehr Akzeptanz, besonders bei Jugendlichen, zum Beispiel über Social-Media-Kanäle.«

Ohlendorf sieht den anhaltenden Erfolg seines Vorgehens, selbst wenn oder gerade weil es sich jenseits der klassischen Vermittlungswege bewegt. »Ja, FilmFaktum macht etwas, was für viele Filmschaffende eine Ermutigung sein sollte«, zeigt er sich zufrieden. »Wir haben uns von den Strukturen im öffentlich-rechtlichen Fernsehen, im Privatfernsehen und bei den Filmförderungen gelöst.« Seither gelte es, »den eigenen Weg zu gehen, die Freiheit zu nutzen«. Und er schiebt hinterher: »Reich wird man mit diesem autonomen System auch nicht werden«, wenigstens nicht im monetären Sinne. »Aber richtig reich bin ich geworden durch die Fülle an persönlichen Begegnungen. Reich in meiner Freiheit, in meinen Schaffensmöglichkeiten, in meiner Unabhängigkeit.« Schließlich sei die Filmförderung zuweilen »sehr restriktiv«. Ohne sie besitze er »ein Bündel schöner Möglichkeiten«. Er könne alle Kolleginnen und Kollegen in diesem Sinne »nur ermutigen«.

»Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage«: Die Jugend muss mit im Boot sein

Mittlerweile hätten unzählige Zuschauerinnen und Zuschauer Blut muss fließen gesehen, was zu den zahlreichen erfreulichen Erfahrungen der Filmtouren zähle. Erfreulich sei auch, »dass ich so viele Menschen kennenlernen konnte, die sich für ein demokratisches, weltoffenes und ökologisch orientiertes Deutschland engagieren«, erklärt Ohlendorf. Gepaart mit der abendlichen Präsentation der 87-minütigen Langfassung seien oftmals auch morgendliche Schulvorführungen gewünscht. Mit einer auf 65 Minuten gekürzten Version, bei einer Altersfreigabe ab 12 Jahren. So bleiben bei einer Doppelstunde noch knapp 30 Minuten für ein Gespräch nach dem Film.

Bei seinen Schulbesuchen lernt der Filmemacher immer wieder »wunderbare Schülerinnen und Schüler mit ihren nicht minder wunderbaren Lehrerinnen und Lehrern kennen«. So könne es wieder und wieder gelingen, »zumindest punktuell positive Impulse zu setzen«.

Beispiel 1. Der Vorführung an der Humpis-Schule in Ravensburg gingen intensive Vorbereitungen voraus. Mit Erfolg: Als Ohlendorf seinen Film zeigte, »war da schon ein wirklicher Wissenskorridor, der sich geöffnet hat«. So sei es für ihn »eine Freude gewesen, mit den Jugendlichen zu diskutieren«.

Was dem Filmemacher wichtig ist: »Das Thema muss längerfristig an der Schule behandelt werden. Denn an allen Schulen ist rechtsextremes Gedankengut mal mehr, mal weniger vorhanden.« Sei es »durch Hakenkreuze, Hitlergrüße, Nazimusik – die Insignien rechten Gedankentums sind weit verbreitet«. Dringend erforderlich sei Nachhaltigkeit – wie in der Ökologie so auch beim Antifaschismus.

Beispiel 2: Am Ottheinrich-Gymnasium im baden-württembergischen Wiesloch hätten Schülerinnen und Schüler ein tolles Projekt gegen Rechtsextremismus an ihrer Schule auf die Beine gestellt. »Der Schülersprecher Henrik Wieditz und seine Mitstreiter*innen besitzen eine Energie und eine Zielstrebigkeit, die ich sehr bewundere.« Sie hätten sich auch für Fridays for Future stark engagiert, deshalb seien sie »richtige Helden«. Peter freut sich über alle Maßen, wenn er aktiven Schülerinnen und Schülern wie ihnen begegnet.

Beispiel 3: Da es keine Schule ohne rassistische Vorfälle gebe, freue er sich über jeden, der sich bemühe, »diesen Rassismus zu bändigen, der in den Menschen wohnt«. Sofort kommt ihm Axel Loyens, Lehrer am Emmy-Noether-Gymnasium Erlangen, in den Sinn – »auch so ein Held!«. Als junger Mann sei er in der subkulturellen Szene unterwegs gewesen, heute unterrichte er katholische Religion, Geschichte, Politik und Gesellschaft sowie Deutsch. »Der ist authentisch, kennt sich aus in Jugendkultur, weiß, um was es geht, ist ein toller Ansprechpartner für die Schüler*innen.« Er habe das bundesweite Projekt »Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage«, kurz SOR-SMC, vor Ort gestartet. »So intensiv, wie ich es nirgendwo anders in Deutschland bis jetzt gesehen habe. Unglaublich! In der SOR-SMC-Arbeitsgruppe waren zeitweise bis zu 25 Schülerinnen und Schüler aktiv, zusammen haben sie richtig kreative Aktionen organisiert.«

Peter lässt das Thema nicht mehr los. Er zeigt sich schwer beeindruckt, seitdem er bei seinen Filmtouren »dieses Wollen verspürt, dieses nicht Aufgeben-Wollen, diesen unbändigen Optimismus, diese wirklich positive Energie, die in jungen Menschen wohnt«. Und das bei diesem wahrlich harten Thema. Für ihn selbst seien Schulbesuche mit Filmvorführungen und anschließenden Diskussionsrunden oft eine tiefgehende Erfahrung, ein echter emotionaler Mehrwert. »Wie das Aufladen an einer E-Tankstelle.«

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2024 geht der Freiburger Filmemacher mit Blut muss fließen verstärkt in den neuen Bundesländern auf Tour, so auch in sächsischen Städten und Gemeinden. »Mich zieht es bewusst dorthin, wo manche Menschen anfangen, sich wegzuducken. Wo viele überhaupt nicht mehr bereit sind, äußere Haltung zu zeigen.« Was früher reine Bequemlichkeit gewesen sein mochte, »ist heute vielfach Angst. Die Angst, offen für demokratische Werte einzustehen, Position zu beziehen«. Denn wer ganz im Osten Deutschlands Farbe für Toleranz und Weltoffenheit bekenne, der bekomme die Folgen zu spüren. Der fühle sich bedroht, der werde direkt angegangen.

»Als wir den Film in Bautzen in der Lausitz gezeigt haben, musste ein massives Polizeiaufgebot die Veranstaltung absichern.« Das gebe ihm eine intensivere Ahnung, »wie es Menschen ergeht, die sich politisch im Sinne demokratischer Freiheiten und damit gegen faschistische Tendenzen positionieren«.

Bereits bei der Bundestagswahl 2021 rückte die AfD sowohl bei den Erst- als auch bei den Zweitstimmen im Bundesland Sachsen als stärkste Partei auf Platz 1, noch vor der CDU oder der SPD. »Wie erklärst du dir diese erdrutschartigen Verschiebungen nach ganz rechts außen?«, frage ich meinen Freund. »Bei meiner zwölfjährigen Filmtour konnte ich erkennen, wohin sich die gesamtgesellschaftliche Strömung entwickelt.« Immer mehr seien die Menschen dort »mit dem Gedankengut von Rechtsaußen in Verbindung gekommen«.

Das beginne bereits im Jugendalter. Die Jugendlichen seien durch Musik ansprechbar. »Abgestumpft durch Rapper, auch durch den Gangsterrap mit Sexismus und Rassismus und zum Teil auch Nationalismus«. Hier herrsche die berühmte Grauzone, und dann sei der Weg zur richtigen Nazimusik nicht mehr weit. »Das ist krass, was da abgeht. Mordaufrufe gegen Minderheiten gehören dazu.«

In den sozialen Medien verstärkt sich dieser Trend, hier sind radikale rechte Strömungen besonders präsent, nicht aber die demokratischen Parteien. Die hätten sich auch physisch aus manchen Regionen in den neuen Bundesländern zurückgezogen, weil sie hier sowieso schon schlecht aufgestellt waren. So wurde der Raum für rechtspopulistische und rechtsextreme Einstellungen geöffnet und so konnte sich dieses Gedankengut gut weiterverbreiten. Orchestriert durch die AfD seien viele junge Leute auf einem Trip, der immer weiter nach Rechtsaußen führe.

»Wen habe ich über all die Jahre nicht erreicht?«, fragt sich der Filmemacher selbstreflektierend. »Das ist das nationalkonservative Spektrum, das mir wirklich Sorgen bereitet. Keine Vorführung bei einer freiwilligen Feuerwehr, bei einem Trachtenverein, bei einem Schützenverein. Nicht einmal bei einem Gesangsverein.« Und das trotz teilweise intensiver Bemühungen über alle möglichen Kanäle, von Institutionen vor Ort bis hin zu persönlichen Kontakten.

»Wenn wir auch in Zukunft nicht reinkommen in diese nationalkonservative Blase, dann wird es richtig gefährlich. In Deutschland existieren viele solcher Blasen, keinesfalls im Osten allein.« Die Wahlergebnisse pro AfD sprächen für sich. »Unsere Aufgabe muss jetzt erst recht heißen: Ran an diese Personengruppen, mit ihnen ins Gespräch kommen.« Dabei gelte es klarzumachen, »was das für Folgen hat, wenn sie sich in einen nationalkonservativen Nukleus zurückziehen«.

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Um mir über die Situation in den neuen Bundesländern, vor allem aber über die in Sachsen, aus erster Hand berichten zu lassen, ziehe ich meinen Freund zu Rate. »Du hast Erfahrung – mit wem soll ich mich persönlich treffen, um hautnah zu erfahren, was in Teilen Ostdeutschlands wirklich abgeht? Und um mir erzählen zu lassen, wie sich die dortigen Aktivistinnen und Aktivisten zur Wehr setzen, wofür sie sich engagieren?«, frage ich Peter.

»Da gibt es nahe der polnisch-tschechischen Grenze eine kleine Gruppe nimmermüder Antifaschisten, die kenne ich.« Diese würden »mit viel Einfallsreichtum und vor allem mit unglaublichem Mut all denen entgegentreten, die sich offen als Nazis outen oder eng mit ihnen kooperieren«. Der Dokumentarfilmer weiß, wovon er spricht – er war selbst wiederholt vor Ort und hat sein Werk über die Rechtsrockkonzerte der Neonazis dort präsentiert.

Nur wenige Wochen danach sitze ich einem Mann mittleren Alters gegenüber, dessen Glatze auf den ersten Blick falsche Assoziationen wecken könnte. »Hallo, ich bin der Sven«, sagt er mit einem Lächeln auf den Lippen. »Keine Angst, wir machen die Augen auf!«

Augen auf und Hands on für die Demokratie in Sachsen

»Ja, ich möchte die Menschen dazu bewegen, genau hinzuschauen. Nachzudenken und mitzufühlen«, sagt der Sachse Sven Kaseler, dem das Thema Empathie »sehr wichtig ist«. Der 52-Jährige hat den brennenden Wunsch, »dass das Zusammenleben auf unserer Erde anders funktioniert als im Moment«. Im Großen wie im Kleinen bestünden immens viele Probleme. »Aber es gibt auch Millionen Menschen auf dieser Welt, die ganz viel Mut aufbringen.« Von daher sei diese Kraft schon da, er wolle sie »mit seinem Handeln einfach nur bestärken«.

Was so selbstverständlich klingt, bekommt in einer Region wie der Oberlausitz einen besonderen Stellenwert. Denn hier drohen viele Menschen ihren Mut zu verlieren, ihre Hoffnung aufzugeben. Manche würden sogar abwandern, sagt Sven. Natürlich gebe es in seiner Heimat »auch viele Bürger, die aktiv für die Demokratie, für die Vielfalt einstehen«. Aber gerade hier im östlichen Teil Sachsens werde versucht, genau gegen diese Menschen vorzugehen, die sich in der Öffentlichkeit für Toleranz und Weltoffenheit einsetzen. »Die Feinde der Demokratie bedrängen sie oft auf der persönlichen Schiene, um sie massiv einzuschüchtern.«

Kaseler beobachtete diese Entwicklung bereits vor mehr als 20 Jahren und beschloss, sich mit Gleichgesinnten zu verbünden. So gehört er zu den Gründungsmitgliedern des Vereins »Augen auf e. V.« mit Sitz in Zittau, einer Stadt mit rund 25000 Einwohnern, direkt im Dreiländereck, Deutschland, Polen, Tschechien.

»Wir sind über Sachsen hinaus bekannt als eine eher unkonventionelle Organisation, die sich nicht trocken theoretisch, sondern charmant provokant mit gesellschaftlichen Zuständen und der Kritik daran auseinandersetzt.« Ihr Ziel: Toleranz und Zivilcourage in Ostdeutschland zu fördern. Der Verein möchte sowohl das Demokratiebewusstsein als auch den europäischen Gedanken stärken. Und zugleich »Entwicklungen hin zum Chauvinismus und Rechtsextremismus entgegenwirken«.

Dazu gehöre die Stärkung der Bürgerbeteiligung sowie des Ehrenamtes. Und zwar »in der Bekämpfung von Vorurteilen, im Ausbau sozialer Netzwerkarbeit und in der Durchführung von Jugend- und Kulturprojekten mit bildungspolitischem Anspruch«. Gegründet wurde der Verein im November 2000, weil die Zeit gekommen war, »aufzustehen für Artikel 1 des Grundgesetzes: ›Die Würde des Menschen ist unantastbar‹«.

Die Aktivistinnen und Aktivisten von »Augen auf« suchen dabei die Zusammenarbeit mit den verschiedenen Vereinen und Organisationen. »Wir wollen unsere Augen nicht verschließen vor Diskriminierung, Alltagsrassismus und Menschenverachtung«, heißt es auf der vereinseigenen Website.

Ein Engagement dieser Art, das in weiten Teilen Deutschlands als rundum positiv angesehen wird, kann im Osten Sachsens zu heftigen Gegenreaktionen führen. Sven spricht aus Erfahrung. »Was würdest du fühlen, wenn Fotos von dir veröffentlicht werden, wie es uns passiert ist, wie du in deinem privaten Garten zu sehen bist? Oder wenn deine Privatadresse in einschlägigen Foren der rechten Szene auftaucht? Wie würde es dir gehen, wenn du auf Listen stehst, die erklärtermaßen angelegt werden für die Zeit nach der ›Machtergreifung‹?« – gemeint durch die Rechtsextremen. Man werde auch direkt angesprochen, »dass man bald ins Lager kommt, dass man dran glauben muss«. Solche Methoden der Verunsicherung würden bewusst eingesetzt. Sie seien keine unbedarfte Dummheit, sondern gezielte Strategie.

»Wer kann helfen, wer kann euch schützen?«, hake ich nach. »Wenn wir Anzeigen bei der Polizei erstatten, was ja der rechtlich richtige Weg ist, dann werden diese meist eingestellt.« Die Begründung: Die Anzeige werde als Nichtigkeit eingestuft, deshalb werde in der Regel nicht einmal ermittelt. Sven Kaselers Stirn liegt in Falten. »Dabei sind die Täter bekannt, sie sind vor Ort und sie werden hier freundlich behandelt.« Demokratieaktivisten werde dagegen »durchaus abweisend begegnet«. Das alles seien Vorgänge, die sie schon mitgemacht hätten. Natürlich gebe es »ein strukturelles Problem bei der Polizei«. Aber man dürfe niemals pauschalisieren. »Je nachdem erleben wir bei der Polizei auch positive Beispiele konstruktiver Zusammenarbeit.«

»Wie kommt es, dass die Rechtsradikalen bei euch in Sachsen so aggressiv gegen dich und deine Mitstreiter vorgehen?«, frage ich Sven. Der mir erklärt, was sie in den letzten Jahren bereits alles auf die Beine gestellt hätten: Diskussionen und Workshops, Festivals und Musikevents, Ausstellungen und Vorlesungen, Sportveranstaltungen und Theatervorstellungen und vieles weitere mehr.

»Wir wollen mit den Menschen hier eine Ebene des kommunikativen Miteinanders herstellen.« Denn der weitverbreitete Begriff des Alltagsrassismus zeige nicht nur im Osten Deutschlands, aber gerade hier immer hemmungsloser sein Gesicht. Das Gegenmodell von »Augen auf«: Wir wollen gemeinsam mit vielen anderen Menschen »Alternativen für ein friedliches Nebeneinander verschiedener Kulturen« leben.7

Das Besondere daran sei ihr Credo: »Das Engagement muss auch Spaß machen. Das«, bilanziert ein durchaus zufriedener Sven Kaseler, »haben wir jahrelang vielen Menschen vermitteln können.« Und auf diesem Weg sei es ihnen gelungen, bei vergleichsweise trockenen politischen Themen einfach Freude reinzubringen. Einen besonders erfolgreichen Ansatz dazu böten Sportveranstaltungen.

Zum Beispiel ein Fußballturnier der besonderen Art: »Fußball grenzenlos«. Die Initialzündung sei ihnen bei der Antirassistischen Weltmeisterschaft 2003 in Italien gekommen. Wo sich ausgewiesene linke Teams spaßeshalber gegenüberstanden. »Daraus entwickelte sich für viele Jahre die größte antirassistische Veranstaltung in Ostsachsen mit bis zu 400 Leuten das ganze Wochenende über.«

Durchgeführt unter Beteiligung von Bekannten aus Tschechien und Polen, Spätaussiedlern aus Russland und Migranten verschiedenster Herkunftsländer. »Und das in einer Region, wo es eine starke rechte Kameradschaft gibt«, weist Sven Kaseler nachdrücklich auf die besondere politische Konstellation in der Oberlausitz hin. »Ja, dieses Turnier war sehr schön. Das bedeutete unseren Leuten hier sehr viel.«

Intensiv sei auch die Zusammenarbeit beim Grenzgang-Festival 2009 in Neugersdorf an der deutsch-tschechischen Grenze gewesen, das unter der Schirmherrschaft von Vaclav Havel stattfand, dem früheren Staatspräsidenten Tschechiens. »Das war ein großer Erfolg in einer Zeit, wo wir uns weniger mit Rechtsextremismus, dafür mit dem zunehmenden Nationalismus beschäftigen mussten«, meint Sven, dem die intensive Zusammenarbeit der drei Grenzstaaten in bester Erinnerung ist. »So haben wir einen vormaligen Ort der Trennung zu einem Ort der Begegnung umgewandelt.« Die teilnehmenden Bands »waren bunt gemischt, das war einfach wunderschön. Bei solchen Festen treffen Menschen aus verschiedenen Ländern zusammen, man bekommt ganz andere Sichtweisen mitgeteilt«, sagt der Vorstand von »Augen auf«.

Ein herausragendes Ereignis sei auch das Friedensfest im sächsischen Ostritz, ursprünglich ins Leben gerufen als Gegenveranstaltung zu einem Rechtsaußen-Konzert. Dabei zeigen die Stadt und die Region, dass sie für »Weltoffenheit und Toleranz« stehen, so das Selbstverständnis aller Beteiligten. Im September 2023 konnte die Veranstaltung ihr zehnjähriges Jubiläum begehen. Immer mit dabei: »Augen auf« und seine Aktivistinnen und Aktivisten. Sven bringt es noch einmal auf den Punkt: »Dabei wollen wir zeigen, dass wir keinen Unterschied machen zwischen verschiedenen Menschen.« Geflüchtete, die oft auch Opfer seien von menschenfeindlichen Einstellungen und Diskriminierungen, »sollen sich bei uns sicher fühlen. Wir haben keinen Platz für Täter oder deren Sympathisanten«.

Und er erzählt mir noch von weiteren sportlichen, kulturellen und politischen Veranstaltungen, die sich gegen den Rassismus der NPD (seit 2023 der »Heimat«), gegen den der AfD sowie anderer Organisationen jenseits dieser Parteien richten. Längst ist mir klar, warum er und seine Freunde auf den Listen der Rechtsradikalen ganz weit oben stehen. Denn ihre Erfolge sind beachtlich, ihr Wirken ist unübersehbar. 

Im Einsatz gegen die Verfassungsfeinde Sachsens

»Als wir uns vor fast einem Vierteljahrhundert gegründet hatten, lebten wir in einer Region, die als ›national befreite Zone‹ galt«, ein Kampfbegriff der Rechtsextremen für Gebiete oder Milieus, in denen sie das Alltagsleben und Straßenbild prägen. Seither hätte »Augen auf« bei jeder sich bietenden Gelegenheit versucht, die »Gegenkultur zu stärken und den Menschen Energie und Mut und Hoffnung gegeben«.

Sven fällt es nicht leicht, so kritisch über seine Heimat zu sprechen, mit der ihn so viel verbindet. Geboren Anfang der 70er-Jahre in Löbau, hatte er unbekümmerte Jahre seiner Kindheit und Schulzeit hier im Osten der Lausitz verbracht. Er erzählt von der Gaststätte seiner Oma, den vielen Urlaubsreisen mit den Eltern, der Schulzeit als wissensdurstiger Junge in der DDR. Nach dem zehnjährigen Besuch der Polytechnischen Oberschule konnte er ohne Abitur ein Sonderstudium zum Techniker absolvieren. Seine Heimat verließ er lediglich für die Arbeit bei der Deutschen Bahn in München und Berlin. »Ich bin immer noch bei der Deutschen Bahn, mittlerweile als Produktmanager. Aber ich lebe ganz bewusst wieder in der Lausitz.« Auch aus familiären Gründen. Denn was folgte, war und ist eine privat erfreuliche Zeit seit der Geburt der beiden Töchter. Um die er sich damals wie heute sehr intensiv kümmert. »Wir haben einfach ein schönes Miteinander. Wir erleben viel. Wir gehen gerne gemeinsam in Urlaub.« Ihre Offenheit sei ihm wichtig, ihre Zukunft liege ihm am Herzen.

Alles wäre bestens geregelt, wäre da nicht dieses gesellschaftliche Umfeld. »Ja, das ist ein Fiasko. Heute bestätigt sich vieles, was wir vor Jahrzehnten schon vorausgesagt haben«. Frühzeitig hätten sie vor einem strukturellen Rassismus gewarnt. Und dass dieser stärker werden würde ohne eine harte Gegenpositionierung, ohne ein bewusstes Zurückdrängen des Rechtsextremismus, auch der betreffenden Parteien.

Ein Ergebnis der Entwicklung in Svens Heimatland präsentierte Dirk-Martin Christian, Präsident des Landesamtes für Verfassungsschutz, im Dezember 2023 der Öffentlichkeit: »An der rechtsextremistischen Ausrichtung der AfD Sachsen bestehen keine Zweifel mehr.« Der hiesige Landesverband verfolge »verfassungsfeindliche Ziele«.8

Mit Blick auf diesen Bericht »erklärt sich vieles in dieser Gesellschaft«, so Kaseler. Unter anderem, dass die AfD staatliche Gelder empfange, die ihr nicht zustünden. Für den gebürtigen Sachsen stellt sich die Sachlage so dar: »Der Extremismus der Rechten ist bei uns kein Phänomen, sondern eine lange vorhersehbare Entwicklung.« Jahrelang hätten sie in seinem Bundesland den Kampf gegen die NPD, heute »Die Heimat«, geführt, seien gegen Wände angerannt. »Jetzt müssen die Leute erkennen, dass die Hälfte der früheren NPD-Leute im Dunstkreis der AfD drinsteckt.« Einer immer stärker werdenden AfD, einer deren Köpfe genau von hier kommt.

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Bekanntester AfD-Repräsentant des hiesigen Bundestagswahlkreises Görlitz, nördlich von Zittau gelegen, ist Tino Chrupalla. Geboren in Weißwasser, führte ihn seine Karriere über die Junge Union der CDU in die AfD. Wo er heute Vorsitzender der Bundestagsfraktion und zugleich Bundessprecher ist. Damit formal der mächtigste Mann in der Rechtsaußenpartei.

Bei der Bundestagswahl 2021 errang Chrupalla im Wahlkreis Görlitz mehr als 35 Prozent der Stimmen. Deutlich mehr als sein Konkurrent aus den Reihen der Christdemokraten. Das Bundesamt für Verfassungsschutz führte ihn namentlich in seinem Gutachten auf, welches die AfD als Prüffall begründete. Zusammen mit Alice Weidel zählt er zu den Repräsentanten des rechtsextremen Flügels in der Partei. DerSpiegel analysierte, er spreche »wie ein Reichsbürger«.9

Sven Kaselers Kritik kann Chrupallas Aktivitäten als MdB nichts abgewinnen. »Für uns in der Region bringt er nichts wirklich fertig.« Stattdessen sei er bundesweit in seiner Funktion »als Parteipolitiker unterwegs«. Das lachende Auge dabei: In der Sache sei das »kein Verlust«. Bedenklich findet der Zittauer vor allem auch Chrupallas Position beim Thema Russland und der Intervention in der Ukraine. »Der kuschelt mit Putin, das geht gar nicht.«

Mit Mut für Zivilcourage, für Demokratie, für Toleranz

Kaseler hält viel von gemeinsamen Schulbesuchen, wie denen mit Peter Ohlendorf. Auch wenn es in einem Fall richtig danebengegangen sei. Eine Erfahrung bei einer Filmvorführung, die ihm am liebsten erspart geblieben wäre – und das auch noch in Chrupallas Geburtsstadt. In der Turnhalle einer Schule in Weißwasser sei die Diskussion mit Schülern »ganz gruselig« verlaufen. Hier hätten ultrarechts gesinnte Jugendliche »so eine Art Führerschaft übernommen«.

Klassisches Stilmittel der Rechtsextremen sei »die bewusste Provokation, die willentliche Grenzüberschreitung«. Den Störern sei es darum gegangen, die Aufklärungsveranstaltung zu torpedieren. Sven führt die krassen Meinungen gegen Geflüchtete und Minderheiten auf ihre Sozialisation in rechtsoffenen Jugendgruppen hin. Aber auch auf den elterlichen Abendbrottisch in der Familie. »Bei uns in der Region sind wir mittlerweile bei Generation 2 des Neofaschismus angelangt. Generation 1 waren die der 90er, jetzt sind die Kinder dieser Leute so weit.« 

Kaseler und Ohlendorf lassen sich dennoch nicht von ihrem Kurs abbringen. Einzelner Misserfolge zum Trotz seien öffentliche Veranstaltungen, Infoabende und gemeinsame Filmvorführungen extrem wichtig. Jahrelang hätten sie intensiv zusammengearbeitet. Kaseler weiß warum: »›Blut muss fließen‹ passiert ja auch bei uns in der Nähe. In Bautzen gibt es eine Szene für Nazikonzerte.«

Erfreulicherweise erleben die beiden immer wieder gelungene Aktivitäten. Beispielsweise an freien Schulen im Dreiländereck. »Wir haben ein Diskussionskonzept bei uns in der Region, das wir mit Tschechien und Polen zusammen machen. Da erleben wir immer eine sehr offene Gesprächskultur mit sehr interessierten Schülerinnen und Schülern.« Die im Übrigen oft ein richtig gutes Vorwissen einbringen würden.

Auch kann Kaseler dem bundesweiten Projekt »Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage« einiges abgewinnen. »Mit der Zertifizierung hast du den Stempel der Mitgliedschaft.« Dann könne die jeweilige Schule loslegen mit einem Antirassismus-Projekt ihrer Wahl. Wichtig allerdings sei, »dass man tatsächlich immer wieder am Thema dranbleibt«. Im Großen und Ganzen sei das »eine tolle Sache mit engagierten Jugendlichen«, was ihm Mut mache.

Selbst in der Politik sieht Kaseler Mut machende Lichtpersonen. In Sachsen gebe es Landräte und Bürgermeister, »die sich mit Rückgrat für Pluralismus und Toleranz und damit gegen die AfD positionieren«. Beispielsweise Thomas Zenker, Oberbürgermeister der Großen Kreisstadt Zittau mit seinem Motto »Zittau kann mehr«. Oder Dirk Neubauer, Landrat des Kreises Mittelsachsen. Der parteilose Neubauer allerdings kündigte im Juli 2024 wegen Bedrohungen seinen vorzeitigen Rücktritt an. Seine Begründung: »Wir leben in Zeiten, wo Mandatsträger quasi zum Freiwild erklärt worden sind.«10

Summa summarum gibt es – bei all diesen dramatischen Fehlentwicklungen – auch etwas Positives in der Oberlausitz zu bilanzieren. »Über die Zeit haben wir es geschafft, kontinuierlich am Thema zu arbeiten.« Zu den größten Erfolgen gehöre, »dass so viele Leute so lange bei uns dabei sind. Dass wir kontinuierlich aktiv sind und intensiv zusammenarbeiten.« Das schaffe Referenzen, das schaffe Vertrauen.

Eines der vielversprechenden Projekte sei das arabische Kaffeezelt von »Augen auf e. V.«, das durch Sachsen tourt. Die zumeist deutschen Gäste sind eingeladen, Platz zu nehmen, sie bekommen arabischen Kaffee in kleinen Mokkatässchen serviert und können mit den Gastgebern aus anderen Ländern ins Gespräch eintauchen, freut sich Kaseler über das gelungene Angebot. Nicht umsonst ist das Zeltprojekt 2022 mit dem Sächsischen Integrationspreis gewürdigt worden.

Die Begründung der Jury: Es führe »Menschen zusammen. Menschen mit Migrationshintergrund planen und betreuen das Zelt. Sie sind nicht mehr Objekte der Integration, sondern wechseln in die Rolle der Gastgeber.« Integration sei keine Einbahnstraße. »Augen auf e. V.« leiste »seit mehreren Jahren wertvolle und kontinuierliche Arbeit«.11 Eines von so vielen zukunftsweisenden Projekten der Aktivistinnen und Aktivisten aus Zittau, Löbau und weiteren Städten – die alle weitermachen wollen.

Umso wichtiger, als die politisch-gesellschaftliche Situation kritisch ist. Das beweist nicht zuletzt auch das Attentat auf den SPD-Europaabgeordneten Matthias Ecke in der sächsischen Landeshauptstadt Dresden. Er wurde am 3. Mai 2024 schwer verletzt, als er beim Aufhängen von Wahlplakaten mithalf. Ein 17-Jähriger stellte sich der Polizei.12

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Weitermachen will auch Peter Ohlendorf. Anerkennung und auch Rückenwind erhält er dabei nicht zuletzt durch Preise und Auszeichnungen für sein unermüdliches Medienschaffen. So wurde der Freiburger mit dem Integrationspreis der Europäischen Gesellschaft Diaphania e. V., dem Alternativen Medienpreis, dem Georg-Elser-Preis, dem Helga-und-Werner-Sprenger-Friedenspreis geehrt. »Peter Ohlendorf geht es um eine demokratische weltoffene Kultur, und er richtet seinen Blick auf Themen, die nicht im Fokus der konventionellen Berichterstattung liegen«, würdigte die Jury des Sprenger-Preises sein Engagement.13

Peter bedauert, dass Thomas Kuban bei all den Preisverleihungen aus Sicherheitsgründen nicht dabei sein kann. »Diese Preise gelten Thomas ganz genauso, wenn nicht noch mehr. Schließlich hat er, unbeeindruckt von zahlreichen Morddrohungen, mit seiner Undercover-Recherche die Grundlage für den Dokumentarfilm und die Tour gelegt«. Ohlendorf will weiterhin die Chance nutzen, mit diesem Film Aufklärungsarbeit zu leisten über die Gefahren des fortschreitenden Rechtsrutsches. »Wer daran Interesse hat, muss mich nur anmailen.«

Wie vielseitig der Freiburger ist, zeigt sich in seinem letzten Werk »Utopisches vom Himmelreich? Inklusion im irdischen Arbeitsleben«, das er zusammen mit Stefan Ganter und dessen Filmstudio realisiert hat. Neun jüngere Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen sollten an der Akademie Himmelreich mit angeschlossenem Hotel und Gastronomie für ihre spätere Tätigkeit im regulären Arbeitsmarkt vorbereitet werden. »Hier arbeiten schon länger Menschen mit Downsyndrom und bekommen einzelne Arbeitsbereiche zugewiesen.« Eine Dekade nach dem Start der Akademie Himmelreich wollten Ohlendorf und Ganter wissen: »Kann dieses Experiment über das Gasthaus Himmelreich hinaus bestehen?«

Der Zusammenhang zu Rechtsaußen, zur AfD? »Diese Partei will keine Inklusion. Sie will diese Menschen wegsperren aus dem öffentlichen Leben.« Ganz bewusst plant Ohlendorf, diesen Film auch im Thüringer Landtag zu zeigen – aufgrund der dortigen Stärke der AfD-Fraktion.14

Zweifelsfrei werden Kaseler, Kuban und Ohlendorf weiterhin mutig und standhaft für mehr Zivilcourage, für mehr Demokratie, für mehr Toleranz eintreten, jeder auf seine Weise. Ein Engagement, das nicht nur in der Lausitz dringend der Unterstützung bedarf.

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Weitere Informationen:

FilmFaktum, Website von Peter Ohlendorf, mit Informationen zu Begleitmaterial für Aktionstage, Links zu anderen wichtigen Websites gegen Rechtsextremismus, weiteren Filmen von Peter Ohlendorf und aktuellen Terminen, siehe www.filmfaktum.de»Er ist wieder da!«, Neues zu Thomas Kuban und dem Film Blut muss fließen, siehe www.filmfaktum.de/projekte/zur-rechten-zeit-er-ist-wieder-daAugen auf, Zivilcourage zeigen, siehe www.augenauf.netSchule ohne Rassismus – Schule mit Courage, Bundeskoordination, siehe www.schule-ohne-rassismus.org

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Kapitel 2

Margot Käßmann. Eine standhafte Christin zeigt klare Kante

In ihrer Wohnung in Hannover sticht der Kunstdruck vom »Blumenwerfer« des britischen Streetart-Künstlers Banksy ins Auge. Das Werk gilt gemeinhin als beeindruckendes Zeugnis für gewaltlosen Widerstand. Schleudert der vermummte Demonstrant doch statt eines möglichen Molotowcocktails besagten Strauß an Blumen kraftvoll und dynamisch in Richtung seines unsichtbaren Gegners.