Einschüchtern zwecklos - Jürgen Grässlin - E-Book

Einschüchtern zwecklos E-Book

Jürgen Grässlin

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Beschreibung

Wie kann man erreichen, dass sich Politik, Wirtschaft und Gesellschaft zum Besseren ändern? Was tut man, wenn man ein wichtiges Anliegen hat? Man wird aktiv – mit unbeirrbarer Entschlossenheit, allen Widerständen zum Trotz. Jürgen Grässlin ist Aktivist, Friedenskämpfer, Optimist – vor allem aber ein hartnäckiger Stachel im Fleisch der Rüstungsindustrie. Seit Jahrzehnten setzt er sich erfolgreich gegen den weltweiten Waffenhandel ein. Er begibt sich auf die Spur deutscher Rüstungsexporte in Krisen- und Kriegsgebieten, spricht mit Opfern, Tätern und politisch Verantwortlichen. Seine Mittel sind entlarvende Recherchen, gezielte Kampagnen, Demonstrationen und Gerichtsprozesse. Sein Lebenswerk und seine Erfolge sind Inspiration für alle, die etwas bewirken wollen, sei es für Menschenrechte, Gerechtigkeit, Umweltschutz oder den Frieden.

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Seitenzahl: 430

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JÜRGEN GRÄSSLIN

EINSCHÜCHTERN

ZWECKLOS

Unermüdlich gegen Krieg und Gewalt – was ein Einzelner bewegen kann

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

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Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Originalausgabe 06/2023

Copyright © 2023 by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Caroline Kaum

Bearbeitung: Anna Butterbrod

Bildredaktion: Heike Jüptner

Umschlaggestaltung: wilhelm typo grafisch

Umschlag: Autorenfoto: dpa picture alliance/Christoph Hardt/Geisler-Fotopress

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN: 978-3-641-29450-2V001

www.heyne.de

Gewidmet unseren Enkeln

Olivia, Nora, Ricco und Tino,

auf dass sie – wie alle Kinder dieser Welt –

ein gesundes und glückliches,

ein friedvolles und erfülltes

Leben führen dürfen.

Damit dies geschieht,

müssen wir

handeln.

Jetzt.

Inhaltsverzeichnis

Widmung

Vorwort. Die richtigen Antworten finden

Kapitel 1: Wie mich das Militär lebenslang prägte

Der ewige Gefreite – mein erstes Schlüsselerlebnis

Von der Verteidigungsarmee zur internationalen Eingreiftruppe

Kapitel 2: Wie wenige Aktivisten viel bewegen

Das weiche Wasser wider den atomaren Overkill

Fern vom Krieg – mein zweites Schlüsselerlebnis

Das Schwarzwälder Friedensforum im Visier

Warum Heckler & Koch und RIO die Schließung drohte

Wie Rottweiler Richter Recht sprachen

Kapitel 3: Wir kaufen keinen Mercedes

Vom guten Stern zum europäischen Rüstungsriesen

Als ich meine Liebe zum Kapitalismus entdeckte

Wie mich ein Spaziergang mit Deutschlands Topmanager nach Südafrika führte

Warum Weltbankpräsident Wolfensohn keinen Biografen in mir fand

Vollmundige Versprechungen von einer Hochzeit im Himmel

Jürgen gegen Jürgen – vom verstoßenen Biografen zum Bestsellerautor

Wie wir Deutschlands Rüstungsriesen Nummer eins mit einer Aktie zur Umkehr zwangen

Kapitel 4: Basisgrüne Bomben auf Belgrad

Manöverblockade – Rien ne va plus!

Kretschmann gegen Grässlin – meine Kandidatur zur Bundestagswahl 1994

Als Pazifist abgeschlagen

Wie Fischers flammende Rede die Friedenspartei in den Krieg führte

Weshalb ich als Grüner die Grünen verlassen habe – mein drittes Schlüsselerlebnis

Kapitel 5: Auf den Spuren der G3-Gewehre

Tatort Somaliland: Wie Abdirahman ein Bein durch ein deutsches G3 verlor

Tatort Türkei: Wie Hayrettin die Gewalt der Gewehre überlebt hat

Vom Verbrechen zum Versprechen – mein viertes Schlüsselerlebnis

Kapitel 6: Sieg der Meinungsfreiheit vor Gericht

Bittere Bilanz der Scheidung auf Erden

Die BaFin jagt lieber friedliche Delfine als gefräßige Haie

Wo das Persönlichkeitsrecht über dem Grundgesetz steht

Eine Prozesskostenfinanzierung der kreativeren Art

Schrempps Niederlage vor dem Bundesgerichtshof – mein fünftes Schlüsselerlebnis

Entwaffnet Daimler!

Kapitel 7: Ein Gerichtsurteil, das viel Positives bewirkte

60 Jahre Heckler & Koch – kein Grund zum Feiern

Warum Whistleblower Wichtiges bewirken können

Tatort Mexiko: Wie meine Strafanzeige den Stein ins Rollen brachte

Rothbauers Strafanzeige gegen die Kontrollbehörden

Der Tod dankt der Staatsanwaltschaft Stuttgart …

… wir dagegen danken Daniel Harrich

Anklageerhebung ausschließlich gegen Verantwortliche eines Waffenherstellers

Wie uns ein Staatsanwalt attackierte, während wir geehrt wurden

Erstmals in der Firmengeschichte

Erfolg vor dem Bundesgerichtshof – H&K muss Millionenbetrag zahlen

Mit der Macht einer Aktie. Die tödlichste Waffenschmiede auf dem Weg des Wandels

Der Faschist im Firmennamen von Heckler & Koch

Kapitel 8: Warum wir laut aufschreien müssen!

»Aktion Aufschrei« – Wie sich viele Davids gegen den Goliath der Gewalt verbünden

»AUFSCHREI wider den Waffentod, für das Leben!« – eine meiner mir wichtigsten Reden

Frieden geht! Unser Staffellauf mobilisiert bundesweit

Kapitel 9: Beendet die Beihilfe zu Mord!

Tatort Kolumbien. Unsere Strafanzeige gegen SIGSAUER

Von der Strafanzeige zum Gerichtsurteil

Trotz Verurteilung: erneute illegale Waffendeals mit Lateinamerika

Wie wir dem deutschen Staat weitere elf Millionen Euro einbrachten

Weshalb unsere Erfolge bei Kleinwaffen so wichtig sind

Der harte Kampf ums Kontrollgesetz

Wie die Ampelkoalition die todbringende Tradition fortführt

Wege der Kritik und das Florett der Satire

Kapitel 10: Die Unkultur des Krieges überwinden

Das Knacken der Knochen – dieser ewige Krieg in mir

Zeitenwende – Wie Deutschland zur drittgrößten Militärmacht der Welt wird

Völkerrecht mit Waffengewalt herbeischießen?

Pazifistenbashing statt Fragen nach dem Frieden

Der Umwelt- und Klimakiller: Militär

Gewaltfreier Widerstand ist oft erfolgreicher – mein sechstes Schlüsselerlebnis

Was wäre wenn? Meine Vision

Nachwort. Aktiv Widerstand leisten!

Tipps zum Loslegen: im Einsatz für eine bessere Welt

Wichtige Websites für Ihr Engagement

Danksagung

Anhang

Verzeichnis der digitalen Infokästen mit Hintergrundinformationen

Abkürzungsverzeichnis

Literaturverzeichnis

Personen- und Sachregister

Bildnachweis

Bildteil 1

Bildteil 2

Bildteil 3

Vorwort. Die richtigen Antworten finden

Liebe Leserin, lieber Leser,

das Gute an einem autobiografischen Text ist, dass man sich als Verfasser endlich Zeit nimmt. Ausreichend Zeit, um über die Erlebnisse und Geschehnisse nachzudenken, die das eigene Leben nachhaltig geprägt und in andere Bahnen gelenkt haben. Zeit für Fragen, die weit über das eigene Wirken hinausgehen. Sprich: für Schlüsselfragen des eigenen Daseins und der Welt, in der wir leben.

Fragen verlangen nach Antworten. Ich hege die Hoffnung, dass meine Schlüsselfragen und deren Beantwortung auch Ihnen weiterhelfen können. Vor allem dann, wenn auch Sie zu den Menschen gehören, die etwas bewegen und viel verändern wollen. Wenn auch Sie die Welt zu einer friedlicheren und gerechteren, gesünderen und damit besseren umgestalten wollen.

Wenn dem so sein sollte, so ehrt Sie das, sehr sogar. Meine Erfahrung aber zeigt: Sobald wir Veränderungen anstreben, stoßen wir auf Widerworte, ecken an. Von bestimmten Personen werden wir als Störenfried wahrgenommen. Denn nichts fürchtet manch vermögender Mensch und manch einflussreiche Organisation mehr als die Veränderung bestehender Besitz- und Machtverhältnisse. Der Grund: Viele von ihnen profitieren von der bestehenden Ungerechtigkeit und Ungleichheit, von Ausbeutung und Krieg.

Wenn Sie aufbegehren, wird man Sie erfahrungsgemäß erst ignorieren, sich über Sie lustig machen, dann totschweigen wollen. Doch sobald Sie öffentlich Zuspruch finden, wird man Sie ernst nehmen müssen. Und dann werden Sie von der Gegenseite gewaltig unter Druck gesetzt. Von der verbalen über die juristische bis hin zur monetären Ebene.

Ich weiß, wovon ich spreche. In den vergangenen Jahrzehnten musste ich zahlreiche Unterlassungsverfügungen und Gerichtsprozesse hinnehmen, allen voran seitens der Unternehmen Heckler & Koch, Daimler und Mercedes sowie deren Topmanager. Einige dieser gerichtlichen Auseinandersetzungen währten Jahre, die mit dem langjährigen Daimler-Chef Jürgen Erich Schrempp und seinem Konzern vier Jahre und zwei Monate.

Die Niederlagen in den unteren und mittleren Gerichtsinstanzen kosteten uns, meine Frau Eva und mich, Zehntausende Euro. Dank der kompetenten Beratung und engagierten Unterstützung meines Rechtsanwalts Holger Rothbauer gewann ich jedoch die entscheidenden Prozesse final. Auch dank vieler Freundinnen und Freunde, die uns nach Kräften unterstützten.

Um die Angriffe der Gegenseite psychisch zu überstehen, musste ich mir immer wieder bewusst machen: Wofür kämpfe ich schon so lange Jahre, bis zum heutigen Tag? Wohlgemerkt mit der Waffe des Verstandes und den Mitteln der Gewaltfreiheit. Und ich musste mir Klarheit darüber verschaffen: Welche Methoden waren und sind wirksam und welche weniger?

Am Ende meines Weges, eines Jahrzehnte währenden Widerstands, behielt ich die Oberhand gegenüber den mächtigsten Männern der Wirtschaftswelt. Nein, ich habe mich nicht unterkriegen lassen. Selbst dann nicht, als die Hamburger, Berliner und Stuttgarter Justiz geradezu absurde Gerichtsurteile zu meinen Ungunsten fällten.

Mehr noch: Mit dem Sieg über Schrempp und den Daimler-Konzern vor dem Bundesgerichtshof, dem höchsten deutschen Zivilgericht, wandelte sich ab September 2009 meine Ausgangssituation von Grund auf. Ich wurde vom vermeintlichen Friedensspinner zum ernst genommenen Gegner, vom Gejagten zum Jäger.

Der US-amerikanische Gewerkschaftskollege Nicholas Klein brachte bei einer Rede, die er 1918 in Baltimore hielt, das Geschehen wie folgt auf den Punkt: »Erst ignorieren sie dich. Dann machen sie sich über dich lustig. Und dann greifen sie dich an und wollen dich verbrennen. Und dann bauen sie dir Denkmäler.« Mahatma Gandhi, eines der großen Vorbilder der Menschheitsgeschichte, hat dieses Zitat in abgewandelter Form wieder aufgegriffen.

Genauso ist es mir in den vergangenen Jahrzehnten ergangen. Der Ignoranz folgte das Verspotten. Dem Verspotten folgten die harten Attacken mit dem Versuch, mich mit juristischen Mitteln mundtot zu machen und finanziell auszubluten. Doch was vor Jahren noch undenkbar gewesen wäre, ist längst eingetreten: Denkmäler wurden mir in Form von zehn Preisen gesetzt. Eindrückliche Ehrungen für Frieden und Zivilcourage, für Menschenrechte und Medienarbeit.

Der Weg bis hierhin war wahrlich weit. Geholfen hat, dass mir in jeder Phase der Auseinandersetzungen bewusst war, für welche Ziele ich kämpfte, mit wem ich mich verbünden und auf wen ich mich verlassen konnte.

In der Aufarbeitung meines politischen Lebens, auch der vielen Erfolge, stellte ich mir mit diesem Buch folgende Fragen:

Wie können wenige Menschen so viel Positives und Gutes bewirken?Wie können wir – zum Wohle vieler – folgenschwere Fehlentscheidungen und Fehlentwicklungen aufdecken und zu deren Beseitigung beitragen?Welches Versprechen habe ich von Waffengewalt betroffenen Menschen in Afrika und Asien gegeben, was also will ich mit meinem friedenspolitischen Engagement erreichen?Wie können wir bittere Niederlagen in bleibende Erfolge verwandeln und wie juristische Auseinandersetzungen final gewinnen?Welche Netzwerke müssen wir nutzen oder schaffen, damit wir politische Entscheidungen in unserem Sinne erfolgreich beeinflussen können?Inwiefern sind nicht militärische Konfliktlösungen wesentlich erfolgreicher als militärische?Welche sechs Schlüsselerlebnisse haben meinen Lebensweg geprägt und in die richtigen Bahnen gelenkt?

Bitte begeben Sie sich mit mir auf die Suche nach den Antworten, die uns allen weiterhelfen können. Die uns den richtigen Weg zu nachhaltig friedlichen Lösungen finden lassen. Antworten, die wir geben müssen, um den Kindern der Welt trotz alledem eine lebenswerte Zukunft zu eröffnen.

Für diesen Herkulesakt wünsche ich uns allen den Willen, die Kraft und die Standhaftigkeit, die wir brauchen, um erfolgreich zu sein.

Sollten Sie Interesse an weiteren Hintergrundinformationen zu den Themen dieses Buches hegen, finden Sie auf der Website des Heyne-Verlags www.heyne.de/einschuechtern-zwecklos/ vertiefende Infokästen: zu empfehlenswerten Filmen, zu den Auseinandersetzungen mit Heckler & Koch und SIGSAUER, zur Bundeswehr und NATO und zum aktiven Handeln für Frieden, Menschenrechte und Umweltschutz.

Beim Lesen dieses Buches wünsche ich Ihnen viele gute Gedanken, hilfreiche Ideen und neue Impulse,

herzlichst

Ihr Jürgen Grässlin

KAPITEL 1: Wie mich das Militär lebenslang prägte

Der ewige Gefreite – mein erstes Schlüsselerlebnis

Unsere Familie war über Generationen in der badischen Grenzstadt Lörrach ansässig. Notgedrungen diente mein Großvater Ernst als Hauptmann bei der berittenen Infanterie in Verdun. Aufgrund seiner Traumatisierung erzählte er nach seiner Heimkehr niemals von den Gräueln des Giftgaskrieges.

Mit 15 Jahren wurde mein Vater Heinz zur Wehrmacht einberufen und in den letzten beiden Kriegsjahren zur Flugabwehr auf eine Rheininsel bei Kembs versetzt. Unter großen eigenen Verlusten schossen sie dort angreifende Flugzeuge ab. Dass er die Gefechte mit der französischen Luftwaffe überlebte, kam einem Wunder gleich. Erst viele Jahre später konnten wir, Vater und Sohn, über das Erlebte sprechen: über die Angriffskriege der Nationalsozialisten, über das Massenmorden.

33 Jahre später erhielt ich meinen Einberufungsbefehl. Wäre ich nur reifer und standhafter gewesen und hätte auf meine Verlobte gehört. Eva bezog von Anfang an klar Position: »Bundeswehr? Befehl und Gehorsam? Alles widerspruchslos hinnehmen? Gehirn ausschalten? Das passt aber auch gar nicht zu dir!« Wohlwissend redete sie auf mich ein: »Mach doch lieber Zivildienst!«

In mir wüteten die Widersprüche: Student oder Soldat? Vor allem angesichts der Tatsache, dass sich mein bester Freund Wolfgang als Zeitsoldat verpflichtet hatte und mein Vater mir mit Nachdruck riet: »Wenn du dich als Berufssoldat verpflichtest, hast du für immer ein sicheres Einkommen. Du kannst den Führerschein machen, kannst auch beim Bund studieren, die Karriereleiter erklimmen!«

Wenigstens setzte sich Eva an einem nicht unerheblichen Punkt durch: Zwar meldete ich mich zum Grundwehrdienst, doch weder als Zeit- noch als Berufssoldat. Ich verpflichtete mich als Sanitäter, wollte Gutes tun. Wer so denkt und handelt, der muss sich nicht wundern, dass er genau da landet, wohin ihn der Einberufungsbefehl verpflichtet. Kein Aprilscherz, am 1. April 1977 trat ich meinen 15-monatigen Grundwehrdienst bei der Bundeswehr an.

Gleich in den ersten Tagen bekam ich beim 5. Sanitätsbataillon 210 einen bleibenden Eindruck von dem, was mich im südbayerischen Kempten als Soldat erwarten sollte. Dabei will ich mich nicht näher über Banalitäten auslassen wie das Massenessen aus der Großküche oder mein ungemütliches Metallbett im engen Schlafraum mit mehreren Kameraden. Bedenklicher war die Tatsache, dass ich von nun an einen militärischen Haarschnitt zu tragen hatte, Modell Kurzhaardackel. Im Tagesgeschäft durfte ich zudem die Ästhetik einer uniformierten Arbeitskleidung genießen, kiloweise militärische Ausrüstung durch die Allgäuer Grundmoränenlandschaft schleppen und bei Manöverübungen hautnah durch Dreck und Schlamm robben.

Summa summarum genau das Richtige für einen freiheitsliebenden 19-jährigen Möchtegern-Akademiker, der in den Monaten zuvor das erste Semester an der Pädagogischen Hochschule (PH) Freiburg absolviert, sich lustvoll mit der Lyrik des Mittelhochdeutschen beschäftigt, die in Jamben verfassten Dramen Schillers und Goethes genossen, sich in Geologie und Glazialmorphologie fortgebildet und zudem mit Erziehungsfragen in Zeiten der Adoleszenz auseinandergesetzt hatte.

Krasser hätte der innere Konflikt in mir kaum aufbrechen können. Musste ich mir doch mit meinem Dienstantritt ganz andere Lerninhalte aneignen: Wundarten und Wundblutungen, Schädel-Hirn-Verletzungen, Schussbrüche und Lochdefekte mit Knochensplittern im Schädel, Verhalten bei Lebensgefahr und im Todesfall, Erkennen des Todes.

Die Pädagogische Hochschule hatte mir die Tür geöffnet zum sprühenden Leben, zur späteren Arbeit mit Kindern und Jugendlichen. Die Lerninhalte des Truppendaseins führten mich auf den Boden tödlicher Tatsachen zurück. Genau genommen alles nichts Sensationelles, wenn man seinen Grundwehrdienst als Sanitätssoldat einer Armee antritt. Alles vergleichsweise harmlos, wenn man bedenkt, dass unser Lernstoff auf Papier geschrieben stand, dass wir an humanoiden Plastikpuppen übten und nicht mit realen Leichen oder Leichenteilen zu tun hatten.

In den Jahrzehnten danach kämpften Bundeswehrsoldaten in Afghanistan oder in Mali. Sie schossen und töteten für Frieden und Freiheit, oder sie wurden von radikalislamistischen Terroristen erschossen oder ermordet. Das war nicht länger Theorie, die ich mir zu meinen Zeiten als Soldat aneignete, sondern die Praxis des Schlachtfeldes heutiger Kriege und Bürgerkriege mit Bundeswehrbeteiligung.

Ende der 70er- und auch noch in den 80er-Jahren herrschte die Ära des Kalten Krieges mit einem gegenseitigen Bedrohungsszenario eines irrsinnigen Arsenals an Atomwaffen. Dessen Overkill-Kapazitäten vermochten und vermögen jedes Bakterium theoretisch mehrfach zu vernichten.

Der Einsatz atomarer Vernichtungswaffen erschien damals für viele eher unwahrscheinlich. Doch sollte es, wider aller Erwartungen, zum Abschuss der russischen Atomraketen des Warschauer Paktes und der US-amerikanischen, französischen und britischen Nuklearwaffen der NATO kommen, dann wussten wir, würden uns allenfalls noch Minuten bleiben. Zum Abschiednehmen, ehe im Fall des atomaren Super-GAUs erst Mitteleuropa und dann der gesamte Globus für Jahrmillionen atomar verseucht sein würden.

Je länger wir im Gemeinschaftskundeunterricht im Rahmen der Bundeswehrausbildung diskutierten, je konsequenter ich meine missliebig beäugten Zwischenfragen stellte, desto deutlicher wurde mir: Der Kalte Krieg konnte ganz schnell ein heißer werden, ein alles vernichtender. Und noch etwas drückte mich in die Ecke des ungeliebten Besserwissers: Anders als die anderen gehörte ich nicht zu denen, die Atomwaffen des Westens als die guten, die des Ostens als die bösen betrachteten. Nein, je länger ich darüber nachdachte, desto mehr reifte in mir die Überzeugung: Es gibt nur schlechte, weil todbringende Atomwaffen.

Das Spiel mit unser aller Leben, die Dispute um die atomare Hochrüstung, der Konflikt um die bösen kommunistischen Russen – die Rote Gefahr! – und die nicht minder bösen kommunistischen Chinesen – die Gelbe Gefahr! – beschäftigte mich auch des Nachts. Zum Missmut manches diensthabenden Kameraden, den ich in seiner Nachtruhe störte.

Nur allzu gerne hätte ich die Fragen, die mich plagten, mit meinen Zimmergenossen besprochen. Die meisten aber blickten mich nur verständnislos an, scherten sich nicht im Mindesten um die Problematik der Blockkonfrontation, um den potenziellen Kriegsschauplatz eines geteilten Deutschlands. Daran, dass Westdeutschland Mitglied der NATO und Ostdeutschland des Warschauer Pakts war, ließ sich ohnehin nichts ändern. So die damals vorherrschende Meinung.

Doch genau zwischen unseren beiden deutschen Staaten, der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik, verlief die Grenzlinie der beiden bis an die Zähne hochgerüsteten Militärblöcke. Im Falle eines Atomkriegs würde unsere Heimat zuallererst zerstört werden. Was fast niemanden außer mir zu interessieren schien.

Nein, ein drohender Atomkrieg war kein Thema im Unterricht. Es war überhaupt kein Thema. Meine Kameraden schauten mich allenfalls schräg an, wenn ich schon wieder nervende Fragen stellte. Nicht selten musste ich mir anhören, dass ich ein schräger Vogel sei, ein Spinner. Bis auf eine Ausnahme: Stubenkamerad Wolfgang Braun aus Stockach, der auch sein Hirn einschaltete. Mit dem ich mich austauschen konnte, der mir zuhörte, selbst zweifelte.

Noch bevor ich den allerersten Schuss abgefeuert hatte, stellten sich all meine Nackenhaare auf. The West is the Best hatte Jim Morrison einst gesungen. Ja, 233 Kilometer Fahrstrecke entfernt lag Freiburg, weit weg im Westen.

*

Damit uns angesichts des tristen Soldatendaseins die Freude und die Lust nicht gänzlich abhandenkamen, wurden wir bestens mit »Bräuten« versorgt. Allerdings hielt sich meine Vorfreude auf einen Quickie in Grenzen. Denn ein jeder von uns erhielt von seinem Vorgesetzten seine von nun an eigene »Braut des Soldaten« ganz unromantisch in die Hand gedrückt.

Unter dieser Bezeichnung wurde uns das Sturmgewehr G3 von Heckler & Koch jedenfalls vorgestellt. Meine »Braut« hatte zwar eine personifizierte Zuteilungsnummer, besaß aber ansonsten keinerlei weibliche Merkmale und wog auch lediglich 4,3 Kilogramm, ungeladen. Immerhin sollte dieses Schnellfeuergewehr, quasi zum Ausgleich für die emotionale Enttäuschung, im Kampfeinsatz äußerst effizient sein. Vor allem wenn es um die Treffgenauigkeit mit der NATO-Munition, Kaliber 7,62 x 51 mm, ging.

Der Auftrag der tagtäglichen Vorübungen war wenig anspruchsvoll, leicht erfüllbar und erfolgte Dank des Dauertrainings alsbald wie von selbst: Zusammenbauen! Auseinanderbauen! Zusammenbauen! Auseinanderbauen! Zusammenbauen! Auseinanderbauen! Licht aus, der Feind kann uns auch nachts überfallen. Auseinanderbauen im Dunkeln! Zusammenbauen im Dunkeln! Auseinanderbauen im Dunkeln! Zusammenbauen im Dunkeln! Auseinanderbauen im Dunkeln! Zusammenbauen im Dunkeln! Das Soldatenleben kann so spannend, so abwechslungsreich sein.

Dann endlich war es so weit. Nachdem wir unsere Braut bestens erprobt und alle Schritte en detail eingeübt hatten, sollte all unser Wissen endlich ein sinnvolles Ergebnis zeitigen. Auf einem Schießplatz im Kemptener Alpenvorland würde ich meine Waffe einsetzen, meinen ersten Schuss abgeben, danach meine Schießfertigkeit optimieren. Alles sah aus, wie man es aus Lehrfilmen kennt: mehrere Schießbahnen im Freien, weit vorne die Zielscheiben.

Über das Schießen hatte ich mir zuvor keine Gedanken gemacht. Auf ein Fadenkreuz zu ballern, erschien mir banal. Das Besondere daran war, dass ich noch nie in meinem Leben einen Schuss abgegeben hatte. Bis zu diesem Tag im Frühsommer 1977 wusste ich nicht wirklich, was es bedeutete, Pazifist zu sein. Die Frage, ob ich das Schießen verweigern und die Waffe weglegen sollte, stellte sich mir nicht. Vielmehr hatte ich mich am System von Befehl und Gehorsam, von verbindlicher Anweisung und widerspruchsloser Umsetzung bei Ausschaltung aller Gehirnwindungen gestört. Nicht aber an der Tatsache, dass ich das Schießen und gegebenenfalls das Töten von Menschen trainieren sollte.

Und ich hätte alles mitgemacht, hätte mein G3-Gewehr auf das Fadenkreuz gerichtet, hätte Kimme und Korn einjustiert, hätte den Abzugshahn betätigt, hätte möglichst zielgenau geschossen. Warum auch nicht, schließlich galt es, einen bösen Feind zu stoppen, der nichts anderes im Sinne hatte, als mein Land zu überfallen, das deutsche Volk zu unterdrücken, uns alle auszurauben, meine Freundin zu vergewaltigen und meine Eltern zu ermorden.

So jedenfalls hatten uns Vorgesetzte vor der »Gelben Gefahr« gewarnt. Ein Begriff, der historisch gesehen aus der Kolonialzeit stammte. Gebraucht von Kolonialmächten der Vereinigten Staaten und Europas, um Ressentiments gegen Menschen aus China und anderen asiatischen Ländern bewusst anzuheizen.

Dann erhielt ich einen Befehl, der mich schlichtweg schockte: »Heute üben wir das Kopfschusstraining an Chinesen. Schießt in die Mitte! Stellt euch dabei vor, ihr schießt einem Chinesen genau zwischen die Augen! Heute geht es um Leben und Tod! Uns allen droht die chinesische Gefahr! Feuer frei!«

In mir regte sich Widerstand. Mein Gewehr gesenkt haltend, fragte ich spontan: Warum soll ich auf einen Chinesen schießen? Auf einen Menschen, den ich nicht einmal kenne? Einen Mann, der womöglich Frau und Kinder hat? Der in Friedenszeiten mein Freund sein könnte? Und überhaupt: Warum sollen ausgerechnet wir Kopfschüsse trainieren? Warum Menschen töten, anstatt miteinander zu sprechen?

Die Blicke, die man auf mich abfeuerte, kannte ich bereits von den nächtlichen Diskussionen über den Kalten Krieg, den drohenden Atomkrieg, Deutschland als Schlachtfeld. Wahrscheinlich hatte ich längst meinen Ruf als eine Art Friedensapostel weg. Der Offizier ging erst gar nicht auf meine Fragen ein, entwendete mir mein G3 und befahl mir, den Schießübungen der anderen zuzuschauen.

Wieder in der Kaserne angekommen, musste ich in einem nüchternen Büroraum antreten. Ein Offizier bat mich, Platz zu nehmen, setzte sich gegenüber, legte los. Einschüchtern hieß das Gebot der Stunde. Ich hätte den Befehl verweigert, hätte die Moral der Truppe unterwandert, hätte mich mehrfach geweigert zu schießen, hätte im Ernstfall mein Leben und das meiner Kameraden riskiert, hätte sie alle verraten.

Der Mann mit den reich bestückten Epauletten wurde laut, schrie mich an. Eine Kanonade von Vorwürfen und Drohungen prasselte auf mich ein. Auf Befehlsverweigerung stünden drakonische Strafen. Ich müsse harte Konsequenzen fürchten, meiner Karriere bei der Bundeswehr sei somit ein abruptes Ende gesetzt.

Der Ausweg: Ich solle mich besinnen, solle ein Einsehen haben – nur dann ließe sich vieles noch zum Guten wenden, bot er mir an.

*

Befehlsverweigerung? Eigentlich hatte ich erwartet, dass ich die kommenden Tage und Nächte in einer Einzelzelle auf einer harten Pritsche verbringen müsste, bei Wasser und Brot versteht sich. Dem war aber nicht so. Zu meiner Überraschung durfte ich in mein Zimmer zurückkehren. Dort allerdings erwartete mich eisiges Schweigen. Die meisten meiner Kameraden ignorierten mich, drehten mir den Rücken zu. Vereinzelt fielen Worte wie »Schweinehund« oder »Verräter«. Ich ging zeitig schlafen.

Zum Glück nahte das Wochenende, und ich würde nach Freiburg zurückkehren können. Zu Eva, zu meiner Familie, meinen Freunden. Ich würde ihnen meine Gedanken und Gefühle mitteilen, ihre Ansichten anhören. Üblicherweise fuhr ich am Freitagnachmittag gegen Benzinkostenbeteiligung mit einem Kameraden aus dem Badischen mit. Manchmal saßen wir sogar zu fünft im Auto, wie Sardinen in der Büchse, aber guter Dinge angesichts des anstehenden Wochenendes.

Noch aber war es nicht so weit. Erst mal stand für uns alle die Abschlusskontrolle an: Zimmer, Bett und Spind. Neben dem militärischen Drill und der von mir als Erniedrigung empfundenen zwanghaften Unterordnung wurde mir eines von Tag zu Tag verhasster: der Ordnungs- und Sauberkeitswahn meines Vorgesetzten. Die Vorgaben gipfelten in der Anforderung, die Bundeswehrhemden im eigenen Metallschrank müssten millimetergenau aufeinanderliegen. Ragte eines der Kleidungsstücke seitlich um drei Millimeter heraus, verhieß dies Ärger. Den wollte keiner von uns erregen, schon gar nicht freitags am frühen Nachmittag.

Mein Verhalten auf dem Schießplatz hatte längst die Runde gemacht, die Rache des uns kontrollierenden Unteroffiziers ließ nicht lange auf sich warten. Mein Vorgesetzter warf einen missmutigen Blick in meinen Spind. Dann zog er mit einem heftigen Ruck das unterste Hemd heraus, sodass auch alle anderen zu Boden fielen. Entsetzt schaute ich ihn an, stammelte ein paar verzweifelte Sätze.

»Zusammenlegen! Aber diesmal ordentlich!«, lautete sein Befehl.

Was das bedeutete, war klar. Selbstverständlich konnte ich nicht damit rechnen, dass die anderen auf mich warteten. Was hieß, dass ich nun ein ganzes Wochenende lang Zeit hatte, das Hemdenzusammenlegen zu üben. Ein Wochenende voll innerer Wut. Keine Heimkehr, kein Zusammensein mit meinen Lieben.

Von einer Kemptener Telefonzelle aus rief ich Eva an. Auch sie war ziemlich konsterniert, sprach mir aber Trost und Mut zu. Mehr konnte auch sie in diesem Moment nicht machen. Ich erinnerte mich an ihre frühzeitigen Warnungen gegenüber dem Dienst in der Armee. Hätte ich nur auf sie gehört. In der Not flüchtete ich mich in die Welt der Bücher. In Hermann Hesses Glasperlenspiel, in Siddharta, in den Steppenwolf, als der ich mich fühlte.

Von der Verteidigungsarmee zur internationalen Eingreiftruppe

Kempten war Vergangenheit, die Garnisonsstadt Ulm die Gegenwart. Zum 1. Juli 1977 musste ich beim 1. Nachschubbataillon 210 in der Wilhelmsburgkaserne meinen Dienst antreten. Die Wilhelmsburg war eine der fünf Bundesfestungen, bekannt als Sitz führender Militärstäbe. Hier in der Wilhelmskaserne wehte von Anfang an ein anderer Wind. Wohlgemerkt ein anderer, als ich erwartet hatte.

Nicht lange nachdem ich mein neues Zimmer bezogen hatte, fand ich mich in einem nüchternen Krankenraum wieder. Dort erwartete mich ein Truppenarzt, der sofort zur Sache kam.

»Gefreiter Grässlin, wie stellen Sie sich Ihre Zukunft vor?« – »Weiterstudieren an der Pädagogischen Hochschule Freiburg.«

»Wieso, sind Sie Student?« – »Gewesen, bis der Einberufungsbefehl eintrudelte und ich mich für den Sanitätsdienst entschied. Mein Fehler, ich hätte nicht zur Bundeswehr gehen sollen.«

»Wenn Sie so denken: Warum haben Sie den Kriegsdienst nicht verweigert?« – »Zur Zeit meines Dienstantritts war ich noch kein Pazifist.«

»Sie sind Pazifist? Was wollen Sie dann noch bei der Armee?« – »Die Bundeswehr hat aus mir einen Pazifisten gemacht. Und zwar an dem Tag, an dem wir Kopfschüsse auf Chinesen trainieren sollten. Ich weigerte mich zu schießen.«

»Verstehe ich nicht, Chinesen leben in China.« – »Stimmt. Aber es hieß, Chinesen würden uns überfallen und meine Freundin vergewaltigen und meine Eltern töten.«

»Sie leiden ganz augenscheinlich unter Halluzinationen.« – »Bitte helfen Sie mir: Ich bin tatsächlich krank. Aber ich habe keine Halluzinationen.«

»Sondern?« – »Von Kindesalter an leide ich unter Doppelbildern. Ich sehe alles doppelt, meine Kameraden, meine Vorgesetzten, auch Sie.«

»Die hindern nicht am Dienst in einer Nachschubkaserne!« – »Meine Doppelbilder verursachen starke Kopfschmerzen, häufig auch schwere Migräneattacken. Man hat versucht, mich zu behandeln. Leider erfolglos.«

»Und das soll ich Ihnen glauben?« – »Während meines Grundwehrdienstes fuhr ich mehrfach in die Augenklinik der Universität München. Aber sie konnten mir nicht helfen. Hier, meine Belegzettel über die Dienstreisen in die Uniklinik.«

Ich reichte ihm die Unterlagen über den Tisch.

Im Rahmen der Heilfürsorge, 26.4.77, 10.5.77, 12.5.77 las der Militärmediziner leise.

»Gut, reicht mir.«

Der Ulmer Bundeswehrarzt nickte, wir verabschiedeten uns. Ich habe ihn nie wieder in meinem Leben gesehen. Schade, denn im Nachhinein hätte ich mich gerne bei ihm bedankt. Von nun an galt offenbar die Devise, den verteidigungsunwilligen Verräter Grässlin loszuwerden.

Plötzlich lief alles wie am Schnürchen. Erst teilte man mir mit, ich sei außendienstuntauglich, Tage danach innendienstuntauglich, kurz darauf überhaupt untauglich. Alsbald durfte ich meine Entlassungspapiere entgegennehmen. Der Grund meiner freudig-fröhlichen Freistellung lautete in offiziellem Amtsdeutsch: »Gesundheitsstörung«.

Am 31. August 1977, exakt fünf Monate nach meinem Dienstantritt in Kempten, war ich wieder ein gut gelaunter, optimistisch gestimmter, in den Annalen der Bundeswehr allerdings gesundheitsgestörter Mensch.

*

Die Erinnerung an meine Zeit beim Bund ließ mich nie mehr wirklich los. Zur Zeit des Kalten Kriegs hatte ich mich bewusst für den Dienst als Sani gemeldet. Wie aber ergeht es Sanitätern heute bei der Bundeswehr? Viereinhalb Jahrzehnte sind seit meinem Soldatendasein vergangen, der Beruf des Sanitätssoldaten ist längst ein ganz anderer. Die Wahrscheinlichkeit, dass ich meinen Dienst an Verletzten und Verwundeten auf einem realen Schlachtfeld hätte verrichten müssen, war damals äußerst gering, dafür war die Gefahr eines alles vernichtenden Atomkriegs immens hoch.

Heute werden Sanitäterinnen und Sanitäter überall dort gebraucht, »wo sich Kameradinnen und Kameraden im Einsatz befinden«. Tagtäglich verrichten sie ihren Dienst in »unterschiedlichen Einsatzgebieten«. Denn Mitte der 90er-Jahre erhielt die Bundeswehr die Lizenz zum Töten, so der gleichnamige Titel meines Buches von 1997. Darin beschreibe und kritisiere ich die von Verteidigungsminister Volker Rühe und General Klaus Naumann massiv forcierte Umwandlung der deutschen Streitkräfte mit einem Verteidigungsauftrag – siehe Grundgesetz Artikel 87a (1) – von einer Verteidigungsarmee zu einer internationalen Eingreiftruppe.

Damals wie heute verrät man 18-Jährigen nicht wirklich, was sie erwartet, wenn sie ihren Auslandsdienst bei der Bundeswehr auf den Schlachtfeldern in Asien oder Afrika antreten. Täte man dies, so würden weitaus mehr junge Erwachsene sinnvolle zivile Berufe ergreifen, statt bei der Armee zu dienen.

*

Im Nachhinein stellte sich für mich heraus, dass Fehlentscheidungen letztlich auch hilfreich sein können. Vorausgesetzt man zieht die richtigen Schlüsse daraus. Rückblickend betrachtet hat mir die Bundeswehr die Augen geöffnet. Sie hat mich den Entschluss fassen lassen, niemals in meinem Leben eine Waffe zu gebrauchen. Mein erster Tag auf dem Schießplatz hat mich von einem passiven Mitläufer zu einem standhaften Pazifisten geformt. In diesem Sinne betrachtet, verdanke ich der Bundeswehr das erste friedenspolitische Schlüsselerlebnis meines Lebens.

Mit meinem Ausscheiden aus der Armee war klar, dass ich ewig ein Gefreiter, besser noch, ein Befreiter bleiben würde. In diesem Sinne stellte der Lebensabschnitt von Anfang April bis Ende August 1977 nicht nur eine erfahrungsreiche Zeit für mich dar. Sondern eine, die meinen weiteren Weg in eine ganz andere – für mich weitaus positivere – Richtung lenkte.

Eva, meine Eltern und Stefan freuten sich sehr, dass der vermisste Verlobte, Sohn und Bruder fortan wieder im Südbadischen weilte. Am 1. Oktober begann für meine Kommilitonen das dritte, für mich das zweite Studiensemester an der Pädagogischen Hochschule. Bis heute erinnere ich mich, wie der überraschende Rückkehrer von einigen in seiner Studentengruppe mit überschwänglicher Freude begrüßt und für seine antimilitärische Standhaftigkeit bewundert wurde.

Was konnte es für einen 20-jährigen, bundeswehrbefreiten Studenten Schöneres geben, als tagtäglich neues Wissen der Geografie, Germanistik und Erziehungswissenschaften aufzusaugen, sich ein kinderreiches Familien- und als angehender Pädagoge ein erfülltes Lehrerleben vorzustellen?

Im Dezember 1979 ereignete sich dann das glücklichste Ereignis der 70er. Fünf Jahre zuvor hatte ich meine erste feste Freundin am Kepler-Gymnasium Freiburg kennengelernt. Genauer gesagt: Sie hatte mich geangelt. Nunmehr schlossen wir den Bund fürs Leben. Wie sich zeigen sollte, im wahrsten Sinne des Wortes. Denn Eva ging durch alle stürmischen und nicht selten orkanhaften Zeiten meines Engagements als Friedensaktivist immer unbeirrt an meiner Seite.

KAPITEL 2: Wie wenige Aktivisten viel bewegen

Das weiche Wasser wider den atomaren Overkill

Die Wurzeln eines breit getragenen zivilen Widerstandes reichten bei uns im Südbadischen bis ins Jahr 1975 zurück, als Bauern und Studenten Hand in Hand gegen die geplante Errichtung eines Atomkraftwerks in Wyhl, nördlich des Kaiserstuhls, demonstrierten und das Projekt blockierten. Ihr alemannisches Motto – »Nai hämmer gsait! Nein haben wir gesagt!« – richtete sich gegen die christdemokratische Landesregierung Baden-Württembergs unter Führung des Ministerpräsidenten Hans Filbinger. Diese hatte sich doch tatsächlich zu der Behauptung verstiegen, im Ländle würden »die Lichter ausgehen«, falls das Wyhler AKW nicht gebaut werden würde. Als Student war ich einige Male vor Ort, um wenigstens meine Solidarität mit den Anti-AKW-Aktivisten zu bekunden.

Anfang der 80er ging es dann heiß her im ansonsten so friedliebenden Freiburg. Im Konflikt um das sogenannte »Dreisameck« kam es 1980 zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen zumeist jungen Wohnraumbesetzern, viele von ihnen Spontis, und martialisch vermummten und durchaus aggressiv agierenden Polizeieinheiten.

»Sanierung contra Wohnen« war der Streitpunkt an der Ecke Kaiser-Joseph-/Schreiberstraße. In der Aktionswoche beteiligte ich mich an den Großdemonstrationen durch die Innenstadt mit bis zu 10000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern, auch wenn ich zu keinem Zeitpunkt der Besetzerszene angehörte.

Unglaubliche 1200 Polizisten befanden sich im Einsatz zur Räumung der Wohnungen in der Freiburger Innenstadt. Bei einer der Kundgebungen machte ich als friedliebender Demonstrant zum ersten Mal in meinem Leben unliebsame Bekanntschaft mit einem Wasserwerfer. Die Polizei folgte uns hartnäckig durch die umliegenden Seitenstraßen. Mehrere Tage lang war die Kaiser-Joseph-Straße gesperrt. Nicht lange danach wurden alle Häuser abgerissen.

Im Vergleich dazu waren meine Erfahrungen im Rahmen der politischen Auseinandersetzungen an der PH recht harmlos. Bei einem Bildungsstreik verrammelten wir den Zugang zur Fachschaft Geografie mit Mobiliar. Mehrere Tage lang hielten wir Mahnwache und ließen weder Kommilitonen noch Professoren passieren, von denen im Übrigen manch einer seine Sympathie bekundete.

Dieser Bildungsstreik für bessere Lehrbedingungen an der PH wurde vom »Allgemeinen Studierenden Ausschuss« (ASTA) organisiert. Unterstützt von der »Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft« (GEW), in die ich 1981 eintrat und in der ich bis heute aktiv bin. Die GEW gab mir das gute Gefühl, sowohl politische als auch – bei Bedarf – juristische Rückendeckung zu erhalten.

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In den folgenden Jahren ging alles Schlag auf Schlag. Dem Ersten Staatsexamen vom November 1980 folgte ab Februar mein Referendariat. Diese in vielerlei Hinsicht extrem stressige Zeit endete im Juni 1982 mit dem Zweiten Staatsexamen.

Dank der erneut sehr erfreulichen Bewertungen konnte ich mich für den Schuldienst des Landes Baden-Württemberg bewerben. Allerdings wehte uns Junglehrern damals ein heftiger Wind entgegen. Trotz meines ansprechenden Abschlusses wurde ich erst einmal auf die landesweite Warteliste der Schulbehörden verwiesen, worüber ich noch froh sein musste. Denn von fünf Bewerbern wurde einer übernommen, kam einer auf die Warteliste und durfte hoffen. Die anderen drei mussten sich einen neuen Job suchen.

Just in diesen Tagen traf das Angebot des Freiburger Schulamtes ein, für ein halbes Jahr als sogenannter Nebenlehrer an der hiesigen Pestalozzi-Realschule tätig zu werden. So war mir der Genuss vergönnt, von Anfang bis Mitte 1983 30 meist heftigst Pubertierende in Biologie und Englisch zu beglücken – studiert hatte ich keines der Fächer. Zuweilen kam ich mir eher wie ein Zirkusdompteur vor.

Die Pestalozzi-Schule bot mir zweifellos eine Vielzahl einzigartiger Erfahrungen und war allein deshalb schon eine besondere Bereicherung meiner noch jungen Pädagogenlaufbahn. Ein William Shakespeare hätte seine große Freude daran gefunden, die kleinen und großen Tragikomödien des täglichen Daseins in die Literaturgeschichte einzubringen.

Damit meiner Frau und mir in diesen ohnehin belebten Zeiten nicht langweilig werden sollte, beglückten uns in diesen Jahren unsere beiden Kinder Sandra und Philipp mit ihren Auftritten auf der Weltbühne.

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Das Jahr 1983 war im doppelten Sinne ein gutes. Überraschend erklärte der baden-württembergische Ministerpräsident Lothar Späth, das Atomkraftwerk Wyhl werde in den kommenden zehn Jahren nicht gebaut. Schlussendlich wurde es nie gebaut. Damit war Wyhl das erste geplante AKW Deutschlands, das die noch junge Anti-AKW-Bewegung verhindern konnte.

Zudem ereilte mich zu meiner Freude die Zusage der Schulbehörden, wonach ich im September 1983 meine erste reguläre Lehrerstelle in einem Örtchen namens »Dornhan« antreten durfte. Dornhan? Als studierter Vollblutgeograf bildete ich mir ein, mich auf dem Globus halbwegs auszukennen. Wie man sich täuschen kann.

Kein Atlas half. Erst umfassendes Kartenstudium brachte die Erkenntnis: Dornhan lag im allerletzten Zipfel des Regierungspräsidiums Freiburg. Dabei handelte es sich um eine Ansammlung von Häusern und vereinzelten Geschäften mit einem durchaus ansehnlichen Schulzentrum. Aber eben gelegen am Anton der Welt. Also genau das Richtige für einen Stadtmenschen wie mich, der Kunst und Kultur, Pop- und Rockkonzerte liebte und natürlich die Spiele des Sportclubs Freiburg im heimischen Dreisamstadion.

In eben diesem Dornhan sollte ich fünf oder gar sieben Jahre Dienst ableisten, bevor ich den allerersten Antrag zur Versetzung stellen durfte. So war mir das jedenfalls von amtlicher Seite mitgeteilt worden.

Angesichts meiner prekären Lage regte sich mein badischer Revoluzzergeist, sodass ich schon nach wenigen Monaten dort meinen ersten Versetzungsantrag einreichte. Auf dem Dienstweg über die Schulleitung ans Amt, versteht sich.

Was für ein Vergehen, was für ein Frevel, was für ein Sakrileg! Die Empörung war gar groß, die Sanktionsmaßnahme hart. In den Sommerferien, nur wenige Tage vor Beginn meines zweiten Schuljahres, erhielt ich den Anruf eines gewissen Herrn Schmid, seines Zeichens Schulleiter der Realschule Sulz.

Freundlich begrüßte er mich als neuen Kollegen, womit mir zu diesem Zeitpunkt – ohne jegliches Dienstschreiben des Amtes oder weitere Aufklärung – klargemacht wurde, dass ich nicht länger Lehrer in Dornhan sei. Fortan hatte ich in der Nachbarstadt zu unterrichten: Realschule Sulz, Karl-Schöpfer-Weg 2. Die Kleinstadt am Neckar lag östlich von Dornhan, sprich in diametral entgegengesetzter Richtung zu meiner Heimatstadt Freiburg. Eindeutiger hätte das Signal der Schulbehörden kaum ausfallen können.

Die unausgesprochene Botschaft lautete: Aufmüpfige Junglehrer werden stante pede bestraft. Was jedoch selbst die Weisheit des Amtes nicht ahnen konnte: Die Realschule Sulz war pädagogisch modern ausgerichtet. Nicht nur die Lehrerschaft, sondern auch die Schulleitung verhielt sich kollegial, die Schülerinnen und Schüler waren nicht minder nett als in Dornhan.

Mehr noch, in der Neckarstadt blühte gar politisches Leben mit der Ortsgruppe der Menschenrechtsorganisation Amnesty International, einer regen Asylinitiative und dem hiesigen Friedensforum. Hier konnte ich meine Ideen, meine Schaffenskraft und meine Lebensfreude lustvoll einbringen.

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Nicht nur meine persönliche und berufliche, mehr noch die politische Ebene war in diesen Jahren unglaublichen Umbrüchen unterworfen. Die NATO, das nordatlantische Verteidigungsbündnis, hatte die Aufstellung von Marschflugkörpern und Raketen der Typen BMG-109G Gryphon und Pershing II beschlossen, in der Fachsprache MGM-31B genannt. 108 Pershing-II-Raketen nebst dazugehörigen Sprengköpfen wurden seitens der US-Army nach Deutschland verbracht. Als prominentester Fürsprecher pro atomarer Hochrüstung erwies sich hierzulande der sozialdemokratische Bundeskanzler Helmut Schmidt.

Erster Stationierungsort der Mittelstreckenraketen war Mutlangen bei Schwäbisch Gmünd. In den kommenden Jahren sollte Mutlangen bundesweit das Symbol der atomaren Auf- bzw. Nachrüstung werden.

Begründet wurde der massive Aufrüstungsschritt seitens der NATO mit der Modernisierung der veralteten sowjetischen SS-4- und SS-5-Raketen durch neue Mittelstreckenraketen des Typs SS-20 mit einer Reichweite von bis zu 5000 Kilometern. Stationiert auf mobilen Abschussrampen, konnten diese ballistischen Raketen des Warschauer Pakts bei einer Vorwarnzeit von maximal 15 Minuten Ziele in Westdeutschland und Europa erreichen.

Zwar verfügten die neuen NATO-Waffen über eine vergleichsweise geringere Sprengkraft und über eine Reichweite von nur maximal 1800 Kilometern, sie konnten aber aufgrund der Aufstellung in Westdeutschland bis auf 400 Kilometer vor Moskau heranfliegen. Aus russischer Sicht handelte es sich dabei um Angriffswaffen für einen atomaren Erstschlag, was die Bundesregierung kategorisch verneinte.

Diese furchterregende Entwicklung führte die beiden Supermächte USA und UdSSR mit ihren Verbündeten auf eine neue Eskalationsstufe der atomaren Auseinandersetzung. Fortan konnte der Kalte Krieg in wenigen Minuten zu einem alles vernichtenden heißen werden, allen voran in der atomaren Zielregion West- und Ostdeutschland. Jahrelang demonstrierten Tausende friedliebender Menschen, unter ihnen Petra Kelly, Heinrich Böll, Oskar Lafontaine und Walter Jens, gemäß dem Motto: »Unser Mut wird langen – nicht nur in Mutlangen.« Der Widerstand wurde von der Pressehütte Mutlangen organisiert, die sich bis heute standhaft für eine atomwaffenfreie Welt starkmacht.

Im Sommer 1982 nahm ich erstmals in meinem Leben an einer Großdemonstration teil. Am 10. Juni fuhren wir Friedensfreundinnen und -freunde mit mehreren Bussen in die Bundeshauptstadt. Anlässlich eines NATO-Gipfels mit US-Präsident Ronald Reagan gehörten wir zu den rund 500000 Demonstrantinnen und Demonstranten, die in den Rheinauen bei Bonn ihre Stimme erhoben: »Aufstehn! Für den Frieden!«

Was war das für ein erhebendes Gefühl in dieser Masse Gleichgesinnter, einer schier unermesslichen Zahl Protestierender mit blauen Friedensfahnen und weißen Friedenstauben, kreativen Spruchbändern, Abertausenden von Transparenten und unzähligen Luftballons, zu sein. Lautstark trommelnd, unermüdlich Widerstandslieder singend. So auch den Protestsong »Das weiche Wasser bricht den Stein« der niederländischen Band Bots. Nie zuvor hatte ich eine Protestveranstaltung dieses Ausmaßes und dieser Schubkraft erlebt.

Dabei ließ die Friedensbewegung nicht locker. Deutschlandweit wurden am 22. Oktober 1983 bei mehreren Veranstaltungen mehr als eine Million Menschen mobilisiert. Die meisten von ihnen im Bonner Hofgarten, nahe dem Regierungssitz. Zur Verhinderung der Umsetzung des NATO-Doppelbeschlusses wandte sich selbst der frühere sozialdemokratische Bundeskanzler Willy Brandt gegen die Politik seiner Nachfolger Helmut Schmidt und Helmut Kohl.

Diese dramatischen Geschehnisse gingen uns Aktivistinnen und Aktivisten in der schwäbischen Provinz unter die Haut. Gerade mal Beamter auf Probe, fand ich mich unversehens in einem voll besetzten Bus wieder, der unseren gut gelaunten Haufen zu einer Menschenkette nach Neu-Ulm beförderte.

Ideengeber war Ulli Thiel von der Deutschen Friedensgesellschaft Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen (DFG-VK) in Karlsruhe, der bis zum Zustandekommen um ihren Erfolg bangte. Musste die süddeutsche Friedensbewegung doch mehr als 100000 Mitstreiterinnen und Mitstreiter für den Kettenschluss gewinnen. So reisten selbst die Mitglieder des linkspolitischen Motorradclubs Kuhle Wampe an, um mögliche Lücken kurzfristig schließen zu können.

Dass wir am Ende rund 400000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer sein würden, die in einer Menschenkette in Serpentinen die kilometerlangen Straßen bevölkerten, sprengte unser aller Vorstellungskraft und bewies, über welches Mobilisierungspotenzial wir damals verfügten. Ein Spektakel, filmisch in Szene gesetzt im Dokumentarstreifen Die Menschenkette von Stuttgart nach Neu-Ulm 1983 von Katharina Prokopy für den Südwestrundfunk (SWR). Und treffend beschrieben in der Stuttgarter Zeitung als »eine logistische Meisterleistung«1.

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Viel zu oft vergessen wir, die Fortschritte zu feiern, warum eigentlich? Zur Zeit des Kalten Krieges unterzeichneten der US-amerikanische Präsident Ronald Reagan und der sowjetische Generalsekretär Michail Gorbatschow bei einem Gipfeltreffen in Washington den INF-Vertrag. Der Intermediate-Range Nuclear Forces Treaty bestand aus mehreren Vereinbarungen und Verträgen zur Vernichtung aller bodengestützter Flugkörper mit einer Reichweite von 500 bis 5500 Kilometern.

Was für ein Erfolg! Gorbatschow, der mit Glasnost und Perestroika das Ende des Kalten Krieges befördert hatte, erhielt für seine Verdienste 1990 den Friedensnobelpreis. Leider ist der INF-Vertrag mittlerweile wieder Geschichte. Auch wenn er für einen unbegrenzten Zeitraum geschlossen worden war, wurde er über 30 Jahre später wieder außer Kraft gesetzt.

Nach dem Widerstand gegen die Aufstellung der Pershing-II-Raketen sollte ich noch oft in meinem Leben an Demonstrationen, Kundgebungen, Ostermärschen oder gewaltfreien Aktionen bis hin zu Blockaden der Friedens- und auch der Anti-Atombewegung teilnehmen. Zumeist als Aktivist, zuweilen als Mitorganisator, in späteren Jahren vielfach als einer der Hauptredner.

Eines der intensivsten und zugleich negativsten Erlebnisse war die Reise unseres Sulzer Friedensforums in die Opferpfalz. In Wackersdorf im bayerischen Kreis Schwandorf wurde die zentrale Wiederaufbereitungsanlage (WAA) für abgebrannte Brennstäbe aus deutschen Atomkraftwerken gebaut.

Im März 1986 gehörten wir Sulzer zu den rund 100000 Atomkraftgegnern, die ihren demokratisch legitimierten Protest direkt am WAA-Gelände kundtaten. Als Pazifistinnen und Pazifisten lehnten wir jegliche Form von Gewalt ab. Was den Bundesgrenzschutz nicht daran hinderte, aus Helikoptern Kartuschen mit CS-Gas auf uns abzuwerfen. Da wir das Reizgas unumgänglich einatmeten, litten wir massiv unter Brustbeklemmung, Atemnot und tränenden Augen.

Die Problematik der nuklearen Mittelstreckenraketen und der fälschlicherweise als friedlich und ungefährlich propagierten Atomkraft führte die Bundesrepublik in den 80ern in eine Epoche breiten gesellschaftlichen Widerstands. Millionen Menschen waren nicht länger bereit, den verlogenen Versprechungen einer sogenannten »christlich-liberalen« Bundesregierung unter Führung von Bundeskanzler Helmut Kohl und Vizekanzler Hans-Dietrich Genscher Glauben zu schenken.

Nein, ich wurde nicht radikalisiert. Dafür in meiner Einstellung gefestigt, dass Atomkraft weder militärisch noch zivil einen Fortschritt darstellt, sondern, ganz im Gegenteil, eine unkontrollierbare Bedrohung. Wie Recht wir alle mit unserer Skepsis behalten sollten, zeigte sich wenige Wochen später. In der Nacht des 26. Aprils 1986 ereignete sich im ukrainischen AKW Tschernobyl ein Atomunfall der höchsten Kategorie, INES 7.

Die Zahl der Opfer ist bis heute strittig. Die international renommierte Ärzteorganisation IPPNW, International Physicians for the Prevention of Nuclear War, ermittelte in einer späteren Studie Hunderttausende von Todesfällen infolge dieser Reaktorkatastrophe.

Eva und ich reagierten konsequent. Als Bundesinnenminister Friedrich Zimmermann, CSU, am 1. Mai zu Volkswanderungen aufrief, verboten wir unseren beiden Kindern trotz strahlenden Sonnenscheins, ins Freie zu gehen. Vielmehr tauschten wir in der Furcht vor Oberflächenradioaktivität in den Tagen danach den Sand im Spielkasten aus.  

In diesen Jahren überdachte ich vieles in meinem noch jungen Leben. Längst war die Zeit der unbedarften Gutgläubigkeit und auch des stillen Mitläufertums passé. Mehr noch, ich änderte meine Lebenseinstellung, wofür zuweilen auch eher zufällige Geschehnisse eine Rolle spielten. So zeigten Nachrichtensendungen im deutschen Fernsehen 1984 und danach wiederholt bedrückende Berichte über eine riesige Hungersnot im Norden Äthiopiens. Weit mehr als eine halbe Million Menschen, unter ihnen viele Kinder, starben mangels Nahrungsmittel.

Wie es der Zufall wollte, stieß ich just in dieser Zeit in einem Lebensmittelladen auf kostengünstige Bohnen – wohlgemerkt aus Äthiopien. Ein Bekannter verriet mir, dass Bohnen auch als billiges Tierfutter in der Aufzucht verwendet würden. Nach kurzer Zeit des Nachdenkens beschloss ich für mich, fortan auf Fleisch zu verzichten und vegetarisch zu leben. Was heute so selbstverständlich klingt, war damals unüblich und führte zu manch absurd anmutender Situation, vor allem in der Gastronomie.

Meinen Beschluss, den ich bis zum heutigen Tag konsequent umsetze, habe ich nie bereut. Im Gegenteil. Mit meinem Verzicht auf Fleisch setzte ich ein persönliches Zeichen gegen die Massentierhaltung, die Tiertransporte, das Töten von Tieren. Das alles hatte ich aus ethischen Gründen zuvor schon abgelehnt. Jetzt endlich reagierte ich entsprechend.

Das nachhaltig Gute daran bis heute: Ich war und bin mit mir im Reinen, nicht nur von Tierschutz zu reden, sondern ihn seit bald vier Jahrzehnten bedeutend aufrichtiger zu praktizieren. Geholfen hat mir meine Ehefrau Eva, die selbst selten Fleisch isst und mich mit ihren vegetarischen Kochkünsten bis heute beglückt.

Meine konsequente Neuorientierung wurde begleitet von den Schriften eines Mannes aus dem nahe gelegenen Elsass. Mehr als 100 Jahre zuvor war Albert Schweitzer in Kaysersberg geboren worden. Fortan begleitete mich das Leitmotiv des Philosophen, Theologen und Arztes, das er gerade mal ein Jahr nach Ende des Ersten Weltkriegs jeglicher Gewalt entgegensetzte: Aus seiner Sicht war die Ehrfurcht vor dem Leben »das große Ereignis für die Welt«2.

Und nicht nur Schweitzer war mir ein Vorbild. In den folgenden Jahren beschäftigte ich mich intensiv mit Menschen, die in der Weltgeschichte Haltung bewiesen hatten und mutig für ihre Werte eingetreten waren: Bertha von Suttner, Martin Luther King, Mahatma Gandhi, Nelson Mandela, Rosa Luxemburg und weitere – allesamt ehrenwerte Pazifisten, Menschenrechtler, Literaten, Humanisten.

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Meine kleine Welt in Sulz am Neckar erfuhr immer wieder Lichtblicke, vor allem bei Zusammenkünften und Vorträgen des Sulzer Friedensforums und der Ortsgruppe von Amnesty International. Im Gedankenaustausch mit Lothar Ellinger, Urte Struppe, Thomas Schlachta, Gaby Brucker und vielen weiteren konnten wir unsere gemeinsamen Konzepte weiterentwickeln. Belebend war auch die Gründung des Arbeitskreises für Flüchtlinge – und die durchaus aufreibende Arbeit, die damit verbunden war. Wie auch mein Engagement als Stadtrat einer offenen grünen Liste.

Was für eine Fügung also, dass mich meine beiden ersten Dienstorte als Junglehrer nicht in irgendeinen friedenspolitisch unbedeutenden Winkel Württembergs verschlagen hatten. Sondern für ein Jährchen nach Dornhan und für sieben Jahre nach Sulz, in direkter Nachbarschaft zu Oberndorf gelegen. Erst dieser Zufall sollte es mir ermöglichen, dass ich mich nach der Bundeswehrzeit zum zweiten Mal in meinem Leben intensiv mit dem G3-Gewehr beschäftigte.

Und dass ich einen Mann traf, der unglaublich viel Mut aufbrachte.

Fern vom Krieg – mein zweites Schlüsselerlebnis

Eigentlich hätte es hier, auf der Ostseite des Schwarzwaldes, in einer weitgehend landwirtschaftlich geprägten Gegend, beschaulich zugehen können. Aber nur eigentlich. Denn brisant wurde es immer dann, wenn die konträren Ansichten einer eher konservativ geprägten Gesellschaft mit denen einer aufstrebenden, kritischen sozialen Bewegung konfrontativ aufeinanderprallten.

Sei es bei Podiumsdiskussionen und Demonstrationen gegen den NATO-Doppelbeschluss zur atomaren Nachrüstung. Mehr noch aufgrund unserer Aktivitäten gegen die Rüstungsproduktion und -exporte aus Deutschlands Waffenstadt Nr. 1: Oberndorf am Neckar, mit den beiden Waffenschmieden Heckler & Koch (H&K) und Mauser. Unser Wohnort Sulz war gerade mal 13 Fahrkilometer entfernt. Was die enge Kooperation der Sulzer mit der Oberndorfer Friedensinitiative erklärte.

Uns allen war bewusst, dass aufgrund der Kriegswaffenexporte von H&K – allen voran dem Sturmgewehr G3 – tagtäglich auf den Schlachtfeldern in Afrika, Asien und Lateinamerika geschossen und gemordet wurde. Bisher stammten unsere Informationen maßgeblich aus Zeitungsartikeln, Nachrichtensendungen oder Berichten der Rückkehrer aus Krisen- und Kriegsgebieten. In Oberndorf aber regierte eine ganz andere Macht: die des Verdrängens, die des Totschweigens.

Mitte der 80er bot sich erstmals die Chance, das massenhafte Morden mit Heckler-Waffen mittels eines Films eindrücklich sichtbar zu machen. Und das in Oberndorf selbst, dem Ausgangspunkt allen Übels. Dort, wo mit der Fertigung und dem Export Abertausender G3-Gewehre lukrative Summen verdient und Tausende Arbeitsplätze gesichert wurden.

Dank der Vorgespräche mit den Freundinnen und Freunden der jungen NaturFreunde und der Friedensinitiative Oberndorf wussten auch wir in Sulz: Der Filmemacher Wolfgang Landgraeber, Redakteur beim WDR-Politikmagazin Monitor, würde persönlich nach Oberndorf kommen, seinen neuen Film Fern vom Krieg über die Waffenstadt präsentieren und versuchen, mit den Beschäftigten zu diskutieren.

Pulverdampf lag in der Luft, die Arena bot das KKK-Kino in Oberndorf. Was dort geschah, sollte einen derart bleibenden Eindruck in mir hinterlassen, dass ich mich bis heute selbst an Details erinnern kann.

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Freitag, der 19. Oktober 1984. Wir Mitglieder der Sulzer Friedensinitiative reisten mit mehreren voll besetzten Autos an, um der Filmvorführung beizuwohnen. Auch wenn es sich nicht um die Uraufführung handelte – diese hatte bereits wenige Wochen zuvor im Rahmen der Mannheimer Filmwoche stattgefunden –, so war es eben doch die Premiere in Deutschlands führender Waffenstadt.

Mit rund 300 Besucherinnen und Besuchern war der Kinosaal der Kleinstadt bis auf den letzten Platz ausverkauft. Gefühlt die Hälfte der Menschen im Raum entstammte der Friedensbewegung – Menschen aus Oberndorf und mehr noch aus der Umgebung. Sogar zwei ehemalige Zwangsarbeiter aus Holland waren angereist. Die andere Hälfte der Besucher waren Beschäftigte oder zumindest Sympathisanten von Heckler & Koch und Mauser. Einige trugen Mützen oder Jacken mit dem H&K-Firmenlogo, bekannten sich stolz zu ihrem Arbeitgeber.

Zum ersten Mal in meinem Leben befand ich mich mit so vielen Rüstungsarbeitern dieser beiden Waffenschmieden in einem Saal. Die Stimmung war unglaublich aufgeladen. Bereits im Vorfeld der Veranstaltung waren bei der Kinobesitzerin Drohanrufe eingegangen, die in dieser Form leider durchaus ernst genommen werden mussten.

Fern vom Krieg führte uns Betrachter in beeindruckenden und zuweilen bedrückenden Bildern in die vermeintlich ruhige Neckarstadt. Schonungslos beleuchtete der Film die unselige Firmenhistorie der Mauser-Werke mit millionenfachen Waffenlieferungen an das Osmanische Reich, das Deutsche Reich und die Nationalsozialisten. Schonungslos kam selbst die Geschichte der Zwangsarbeiter in der Neckarstadt zur Sprache. Landgraeber interviewte Bram Slaager, der unter menschenunwürdigen Bedingungen als einer von rund 5000 Zwangsarbeitern Waffenteile bei Mauser fertigen musste. Slaager war sich bewusst, dass die Pistolen und Gewehre, an denen er mitwirkte, gegen seine eigenen Landsleute in den Niederlanden zum Einsatz kommen konnten.

Im Film wurde Slaager von Friedensfreunden auf den Oberndorfer Friedhof begleitet. Über alle anderen Gräber hinaus ragte das Monument der Mauser-Gruft. Dort stand geschrieben: »ESISTVOLLBRACHT.« Slaager wurde wütend: »Es ist vollbracht dahinten, wo 300 meiner Kameraden beerdigt worden sind.«

Der vormalige H&K-Lehrling Konrad Ott ging mit den früheren Zwangsarbeitern durch das Oberndorfer Heimat- und Waffenmuseum. Der friedenspolitisch äußerst engagierte Gewerkschafter sprach über die Gründung von Heckler & Koch im Dezember 1949 durch den vormaligen Oberingenieur Edmund Heckler des Rüstungsproduzenten HASAG. Und seitens der beiden Ex-Mauser-Mitarbeiter Theodor Koch und Alex Seidel.

Die folgenden Filmsequenzen führten uns Kinobesuchern in eindrücklichen Bildern den weltweiten Einsatz des H&K-Sturmgewehrs G3 vor Augen. Ungeschönt zeigte die Doku das Schicksal von Opfern in Krisen- und Kriegsgebieten auf – und deren unendliches Leid. Wir wurden Zeugen, wie Menschen mit G3-Gewehren beschossen wurden. Wie sie bluteten und unter Schmerzen verendeten. Bram Slaager kommentierte treffend: »Wenn man Hundefutter verkaufen wolle, müsse man erst Hunde haben. Wenn man Gewehre verkauft, muss man Kriege haben.«

Schnitt. Schauplatz El Salvador. Eine Leiche wurde durch das Bild gezogen. Ein westlicher Soldat machte eine lobende Bemerkung: Seiner Einschätzung nach gehörten »die Waffen von Heckler & Koch zu den besten der Welt«. Spätestens jetzt wurde uns allen die Dimension des Filmtitels offenbar.

Wir saßen hier im scheinbar beschaulichen Oberndorf. Dem Ort, in dessen Stadtteil Lindenhof – der früheren Adolf-Hitler-Siedlung – Jahr für Jahr fern vom Krieg Sturmgewehre en masse gefertigt wurden, um dann auf den Exekutionsplätzen und Schlachtfeldern in aller Welt eingesetzt zu werden.

Die eigentliche Leistung dieses Oberndorfer Premierenabends bestand darin, dass wir Zuschauer direkt mit dem Verletzen und Verstümmeln, dem Massakrieren und Morden konfrontiert wurden. Wohlgemerkt, gezeigt in der Höhle des Löwen.

Wer diese Tatsache kritisierte, musste als Mitarbeiter mit seiner Entlassung rechnen. Der IG-Metaller Konny Ott hatte es gewagt, die unbequeme Wahrheit auszusprechen: »Wo immer auf dieser Welt Menschen von ihren Regierungen gequält, gefoltert und ermordet werden, dort hat das ehrbare Unternehmen vom Neckarstrand seinen Gewinn.« H&K kündigte Ott, der Betriebsrat stimmte zu, obwohl Ott selbst Mitglied im Betriebsrat war.

Wie würden die so zahlreich anwesenden Rüstungsarbeiter auf das Filmerlebnis reagieren? Würden sie ihren Arbeitsplatz, ihr Schaffen in der Waffenstadt kritisch reflektieren?

Ich hätte mir für diesen Abend offene Worte gewünscht, den Einstieg in eine von Respekt getragene Diskussion über die meines Erachtens zwingend notwendige Rüstungskonversion, den Umbau von der militärischen zur zivilen Fertigung. So viel zur Theorie.

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Nach der knapp eineinhalbstündigen Filmvorführung, die die Erschießungen und Exekutionen direkt nach Oberndorf brachte, herrschte betretenes Schweigen im Kinosaal. Vereinzelt klatschten Zuschauer, andere erhoben sich und begaben sich mit versteinerter Miene zum Ausgang.

Anschließend stand Wolfgang Landgraeber Rede und Antwort. Nach und nach entwickelte sich ein rüdes Wortgefecht, das in einer Abrechnung mit dem Filmemacher und seinem Werk gipfelte. Wiederholt wurde Landgraeber vorgeworfen, er habe Oberndorfer pauschal an den Pranger gestellt, gar als Deppen diffamiert.

Zu meiner Enttäuschung nahm ich keinerlei selbstkritische Reflexion aus der Arbeitnehmerschaft wahr. Anders als erhofft, verschanzten sich die anwesenden Waffenentwickler, Waffenbauer und Waffenverkäufer hinter ihrer altbekannten Rechtfertigungsrhetorik.

Man stehe zur 200-jährigen Waffentradition der Stadt. Für die Kriege in aller Welt könne man keinesfalls als Oberndorfer zur Rechenschaft gezogen werden. Verantwortlich für die Genehmigung von Rüstungstransfers sei die Bundesregierung in der Bundeshauptstadt Bonn. Und für die Zwangsarbeiter trüge allenfalls das frühere NS-Regime die Verantwortung, keinesfalls die Mauser-Werke.

Die immer gleichen Floskeln wirkten provokativ, sie reizten in den Reihen der Friedensbewegten zu Widerworten. Ob man Arbeitsplätze gegen die Toten aufwiegen könne. Ob sie hier in Oberndorf womöglich auch stolz auf die Toten seien, schließlich sei man ja auf die Arbeitsplätze stolz. Auch die beiden vormaligen Zwangsarbeiter waren aufgebracht. Wütend wetterten sie, ihr schreckliches Schicksal werde von Beschäftigen der Rüstungsindustrie verhöhnt.

Wie befürchtet fokussierten sich die Verbalattacken der Waffenbefürworter auf die Person des Filmemachers. Er, Landgraeber, habe sich bei ihnen eingeschlichen, habe die am Ort angesehenen Interviewpartner über seine wahren Absichten getäuscht.