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Matt Haig

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Beschreibung

Wenn Liebe die Zeit besiegt Seit kurzem lebt Tom Hazard wieder in London, wo er die faszinierende Camille kennenlernt. Auf Anhieb fühlt er sich zu ihr hingezogen. Doch er trägt ein Geheimnis in sich, von dem niemand etwas wissen darf: Tom sieht aus wie 40, in Wirklichkeit aber ist er schon über 400 Jahre alt. Er hat die Elisabethanische Ära in England, die Expeditionen von Captain Cook in der Südsee, das Paris der 20er-Jahre erlebt und regelmäßig eine neue Identität angenommen. Eins war er dabei über die Jahrhunderte hinweg immer: einsam. Während er Camille nun näherkommt, verändert sich für ihn alles.  

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Matt Haig

Wie man die Zeit anhält

Roman

Deutsch von Sophie Zeitz

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Für Andrea

Ich denke oft daran, was Hendrich damals zu mir sagte, vor über hundert Jahren in seinem Apartment in New York.

»Die erste Regel lautet, du darfst nicht lieben«, sagte er. »Es gibt noch andere Regeln, aber das ist die wichtigste. Du darfst dich niemals verlieben. Niemals lieben. Niemals von der Liebe träumen. – Solange Sie sich daran halten, kommen Sie durch.«

Ich sah durch die verschlungenen Rauchschwaden seiner Zigarre hinaus auf den Central Park, wo ein Hurrikan unzählige Bäume entwurzelt hatte.

»Ich glaube nicht, dass ich je wieder lieben kann«, antwortete ich.

Hendrich lächelte auf seine diabolische Art. »Umso besser. Natürlich dürfen Sie gutes Essen lieben und Musik und Champagner und sonnige Nachmittage im Oktober. Sie dürfen den Anblick von Wasserfällen lieben und den Geruch von alten Büchern. Aber die Liebe zu Menschen ist tabu. Verstehen Sie mich? Gehen Sie keine Bindung zu anderen Menschen ein und empfinden Sie so wenig wie möglich für die, die Ihnen begegnen. Denn sonst werden Sie langsam, aber sicher den Verstand verlieren …«

ERSTER TEIL

Leben unter den Eintagsfliegen

Ich bin alt.

Das ist das Wichtigste, was es über mich zu sagen gibt. Und das, was am schwersten zu glauben ist. Könntest du mich sehen, würdest du mich für etwa vierzig halten, aber damit lägst du weit daneben.

Ich bin richtig alt – alt wie ein Baum, wie eine Islandmuschel, wie ein Renaissancegemälde.

Um dir eine Vorstellung zu geben: Ich wurde am 3. März 1581 geboren, vor über vierhundert Jahren, im elterlichen Schlafzimmer, das sich im oberen Stock eines kleinen französischen Châteaus befand. Es muss für die Jahreszeit warm gewesen sein, denn die Hebamme hatte alle Fenster geöffnet.

»Gott hat auf dich herabgelächelt«, sagte meine Mutter immer. Auch wenn sich hinzufügen ließe, dass sich Sein Lächeln – falls Er existiert – seitdem verfinstert hat.

Meine Mutter starb vor sehr langer Zeit. Ich hingegen lebe immer noch.

Wie sich gezeigt hat, habe ich eine besondere Veranlagung. Ich habe sie lange für eine Krankheit gehalten, aber Krankheit ist nicht das richtige Wort. Krankheit impliziert Gebrechen, Siechtum. In meinem Fall trifft es Veranlagung besser. Sie ist selten, wenn auch nicht einmalig. Niemand kennt sie, es sei denn, er hat sie selbst.

Denn sie findet sich in keinem medizinischen Lehrbuch und hat auch keinen offiziellen Namen. Als sich in den 1890er Jahren zum ersten Mal ein seriöser Arzt mit ihr beschäftigte, nannte er sie Anagerie, doch aus Gründen, die ich später ausführe, erlangte der Name keine größere Bekanntheit.

 

Die Veranlagung tritt ungefähr in der Pubertät zutage. Was dann passiert, ist – nicht viel. Anfangs bemerkt der Betroffene nichts von seinem »Leiden«. Wir alle sehen im Spiegel mehr oder weniger dasselbe Gesicht wie am vorigen Tag. Der Mensch verändert sich nicht von Tag zu Tag oder von Woche zu Woche, ja, kaum von Monat zu Monat.

Erst im Laufe der Zeit, an Geburtstagen und anderen regelmäßig wiederkehrenden Ereignissen, fällt den Leuten auf, dass der Betroffene nicht älter wird.

Er hat natürlich nicht wirklich zu altern aufgehört. Wir altern wie alle anderen auch. Nur eben viel langsamer. Wie langsam, unterscheidet sich von Fall zu Fall, aber im Durchschnitt können wir von einem Verhältnis von 1:15 sprechen. Bei manchen Menschen vergehen dreizehn bis vierzehn Jahre, bis sie ein Jahr älter aussehen, bei mir eher fünfzehn.

Wir sind also keineswegs unsterblich. Auch wir sind geistigen und körperlichen Veränderungen unterworfen. Es ist nur so, dass, laut dem neuesten, sich ständig rasant ändernden Forschungsstand, verschiedene Aspekte des natürlichen Alterungsprozesses – die molekulare Degeneration, die Zellvernetzung im Gewebe, Mutationen auf Zell- und Molekularebene (vor allem der DNA des Zellkerns) – bei uns in einem anderen Zeitrahmen ablaufen.

Auch ich werde graue Haare bekommen. Vielleicht werde ich kahl. Arthrose und Schwerhörigkeit sind wahrscheinlich. Irgendwann brauche ich vermutlich eine Lesebrille, und langfristig werde ich Muskelmasse und Beweglichkeit einbüßen. Nur eben viel später.

Ein Vorteil der Anagerie ist in der Regel ein besonders effektives Immunsystem, das vor vielen (aber nicht allen) viralen und bakteriellen Infektionen schützt, wobei auch dieser Schutz mit der Zeit nachlässt. Ich will nicht mit medizinischen Details langweilen, aber anscheinend produziert unser Knochenmark in jungen Jahren mehr Blutstammzellen – die für die Blutneubildung zuständig sind – als üblich. Es sollte aber erwähnt werden, dass wir vor Verletzungen oder Mangelernährung nicht gefeit sind.

Ich bin also beileibe kein sexy Vampir, der sich bis in alle Ewigkeit strotzender Männlichkeit erfreut. Auch wenn es sich schon wie eine Ewigkeit anfühlen kann, wenn dem eigenen Aussehen zufolge zwischen Napoleons Tod und dem ersten Mann auf dem Mond gerade mal zehn Jahre vergangen sind.

Einer der Gründe, warum niemand etwas von uns weiß, ist, dass die meisten Leute es einfach nicht glauben würden.

Die Menschen akzeptieren keine Dinge, die ihrer Weltsicht zuwiderlaufen. Man kann zwar ohne weiteres sagen: »Ich bin 439 Jahre alt«, aber die Antwort darauf wäre meistens: »Bist du verrückt?« Oder der Tod.

Ein weiterer Grund, warum niemand von uns weiß, ist, dass wir einen besonderen Schutz genießen. Es gibt da eine Organisation. Wer unser Geheimnis aufdeckt – und daran glaubt –, wird möglicherweise sehr bald feststellen, dass sein eigenes ohnehin kurzes Leben plötzlich noch kürzer geworden ist. Gefahr droht also nicht nur von gewöhnlichen Menschen.

Sie kommt auch von innen.

Sri Lanka vor drei Wochen

Chandrika Seneviratne lag im Schatten unter einem Baum, etwa hundert Meter hinter dem Tempel. Über ihr faltiges Gesicht liefen Ameisen. Ihre Augen waren geschlossen. Im Baum raschelte es, und als ich hinaufsah, starrte vorwurfsvoll ein Affe zu mir herunter.

Ich hatte den Tuktukfahrer gebeten, mich zu dem Affentempel zu bringen. Er hatte mir erklärt, dass der rotbraune Makake mit dem fast nackten Gesicht ein Rilawa war.

»Sehr bedroht«, hatte der Fahrer gesagt. »Es gibt nicht mehr viele. Das ist ihre Heimat.«

Der Affe turnte davon. Verschwand zwischen den Blättern.

Ich berührte die Hand der Frau. Sie war kalt. Es sah aus, als hätte die Frau seit etwa einem Tag unbemerkt hier gelegen. Ich ließ ihre Hand nicht los, und plötzlich merkte ich, dass ich weinte. Meine Gefühle waren schwer zu bestimmen – eine Welle von Bedauern, Erleichterung, Kummer und Angst. Ich war traurig, dass Chandrika nicht mehr hier war, um meine Fragen zu beantworten. Und ich war erleichtert, dass ich sie nicht töten musste. Denn sterben musste sie, das wusste ich.

Dann wich die Erleichterung einem anderen Gefühl. Vielleicht war es die Sonne oder der Stress, oder vielleicht hatte ich einfach zu viele Eierpfannkuchen gefrühstückt, auf jeden Fall musste ich mich übergeben. Und in diesem Moment war es mir klar.

Ich kann das nichtmehr.

 

Am Tempel hatte ich keinen Handyempfang. Also kehrte ich in mein Hotelzimmer in der alten Festungsstadt Galle zurück, wo ich mich nassgeschwitzt unter das Moskitonetz legte und den unsinnig langsamen Deckenventilator anstarrte, bevor ich Hendrich anrief.

»Hast du getan, was nötig war?«, fragte er.

»Ja«, antwortete ich, immerhin die halbe Wahrheit. Das Ergebnis war das verlangte. »Sie ist tot.« Dann fragte ich, was ich immer fragte. »Habt ihr sie gefunden?«

»Nein«, antwortete er, wie immer. »Noch nicht.«

Noch nicht. Dieses kleine Wörtchen konnte einen jahrzehntelang bei der Stange halten. Aber auf einmal hatte ich neues Selbstvertrauen.

»Hendrich, es reicht. Ich will ein normales Leben. Ich will das nicht mehr tun.«

Er seufzte müde. »Wir müssen uns sehen. Es ist zu lange her.«

Los Angeles vor zwei Wochen

Hendrich war wieder in Los Angeles. Er hatte zuletzt in den 1920er Jahren dort gelebt und ging davon aus, dass er sich sicher fühlen konnte, weil niemand mehr da war, der sich an ihn erinnert hätte. Er bewohnte ein großes Anwesen in Brentwood, das zugleich der Albatros-Gesellschaft als Hauptquartier diente. Brentwood war genau der richtige Ort für ihn. Eine nach Geranien duftende Idylle mit großen Villen hinter hohen Zäunen, Mauern und Hecken, wo es keine Fußgänger gab und alles, selbst die Bäume, von solcher Perfektion war, dass es fast steril wirkte.

Ich erschrak, als ich Hendrich sah, der auf einer Sonnenliege an einem großen Pool lag, seinen Laptop auf dem Schoß. Seit ich ihn kannte, hatte Hendrich mehr oder weniger gleich ausgesehen, aber diesmal war die Veränderung drastisch. Er wirkte jünger. Immer noch alt und verknöchert, aber irgendwie glatter als seit hundert Jahren.

»Hallo, Hendrich«, begrüßte ich ihn. »Du siehst gut aus.«

Er nickte, als wäre ihm die Information nicht neu. »Botox. Und ein Stirnlifting.«

Er machte keine Witze. In seinem jetzigen Leben war er Schönheitschirurg im Ruhestand, aus Miami nach Los Angeles übergesiedelt, als er sich zur Ruhe gesetzt hatte. Was erklärte, warum er keine früheren Patienten vor Ort hatte. Hier hieß er Harry Silverman. (»Silverman. Guter Name, nicht? Wie ein alternder Superheld. Sehr passend.«)

Ich setzte mich auf die Liege neben seiner. Eine Hausangestellte namens Rosella brachte uns zwei Smoothies in der Farbe des Sonnenuntergangs. Ich musterte seine Hände. Sie wirkten alt. Leberflecken und schlaffe Haut und dunkelblaue Adern. Gesichter konnten besser lügen als Hände.

»Sanddorn. Der letzte Schrei. Schmeckt zum Reihern. Probier mal.«

Das Beeindruckende an Hendrich war, dass er immer vollkommen im Zeitgeist aufging. Ich glaube, das tat er seit jeher. Auf jeden Fall seit den 1890ern. Und wahrscheinlich auch schon vor Jahrhunderten, als er in Tulpenzwiebeln investierte. Es war seltsam. Er war älter als wir alle, und doch hatte er immer den Finger am Puls der jeweiligen Zeit.

»Die Sache ist die«, erklärte er, »um in Kalifornien auszusehen, als würdest du altern, musst du aussehen, als würdest du immer jünger werden. Wenn du jenseits der vierzig noch die Augenbrauen bewegen kannst, werden die Leute misstrauisch.«

Er erzählte, er habe ein paar Jahre in Santa Barbara gewohnt, aber dort sei ihm langweilig geworden. »Santa Barbara ist nett. Das Paradies auf Erden, nur mit mehr Verkehr. Aber im Paradies ist nichts los. Ich hatte ein Haus in den Hügeln. Habe jeden Abend Wein aus der Region getrunken. Und drehte langsam durch. Kriegte Panikattacken. Ich bin seit über siebenhundert Jahren auf der Welt und hatte noch nie eine Panikattacke gehabt. Ich habe Kriege und Revolutionen erlebt. Nie Probleme gekriegt. Aber kaum bin ich in Santa Barbara, wache ich nachts in meiner Luxusvilla mit Herzrasen auf und habe das Gefühl, ich bin in mir selbst gefangen. Los Angeles ist was ganz anderes. Im Ernst, in Los Angeles bin ich sofort zur Ruhe gekommen …«

»Zur Ruhe kommen. Das muss schön sein.«

Er betrachtete mich eine Weile wie ein Kunstwerk, dessen Bedeutung sich ihm nicht gleich erschloss. »Was ist los, Tom? Hast du mich vermisst?«

»So was in der Art.«

»Was ist? War es so schrecklich in Island?«

Vor meinem kurzen Einsatz in Sri Lanka hatte ich acht Jahre in Island gelebt.

»Es war einsam.«

»Ich dachte, nach Toronto wolltest du Einsamkeit. Du hast gesagt, die schlimmste Einsamkeit sei die, bei der man von Menschen umgeben ist. Außerdem ist das unser Los, Tom. Wir sind einsame Wölfe.«

Bevor ich den nächsten Satz sagte, holte ich tief Luft, als müsste ich darunter durchtauchen. »Ich will nicht mehr. Ich will raus.«

Hendrich zeigte keine Reaktion. Er blinzelte nicht einmal. Ich starrte auf seine knotigen Hände, die geschwollenen Knöchel.

»Es gibt kein Raus, Tom. Das weißt du doch. Du bist ein Albatros. Keine Eintagsfliege. Du bist ein Albatros.«

Der Gedanke hinter den Namen war simpel: Der Albatros galt einst als besonders langlebig, obwohl er, wie man heute weiß, kaum älter als sechzig wird; was kein hohes Alter ist im Vergleich zum Grönlandhai zum Beispiel, der vierhundert Jahre alt werden kann, oder die von Biologen »Ming« getaufte Islandmuschel, die seit der Zeit der Ming-Dynastie lebt, also seit über fünfhundert Jahren. Wie auch immer, wir waren die Albatrosse, oder kurz: Albas, und alle anderen Menschen auf der Welt bloß Eintagsfliegen, nach den Insekten, die ihren ganzen Lebenszyklus in einem Tag, oder, im Fall einer Subspezies namens Rheinmücke, in wenigen Minuten hinter sich bringen.

Wenn Hendrich von gewöhnlichen Menschen sprach, benutzte er nie ein anderes Wort, und die Terminologie kam mir, auch wenn sie mir seit über hundert Jahren eingetrichtert wurde, zunehmend lächerlich vor.

Albatrosse. Eintagsfliegen. Albern.

Trotz seines Alters und seiner Intelligenz war Hendrich im Grunde vollkommen unreif. Er war ein Kind. Ein uraltes Kind.

Das war das Deprimierende, wenn man anderen Albas begegnete. Wir waren nichts Besonderes. Wir waren keine Superhelden. Wir waren einfach nur alt. Und in Fällen wie Hendrichs spielte es keine Rolle, wie viele Jahre oder Jahrzehnte oder Jahrhunderte vergangen waren, denn man lebt immer innerhalb der Parameter des eigenen Charakters. Keine noch so lange Zeit, kein noch so entfernter Ort kann etwas daran ändern. Uns selbst entkommen wir nie.

»Ehrlich gesagt finde ich das respektlos«, erklärte er. »Nach allem, was ich für dich getan habe.«

»Ich weiß zu schätzen, was du für mich getan hast …« Ich zögerte. Was hatte er eigentlich für mich getan? Das Versprechen, das er mir gegeben hatte, hatte er immer noch nicht eingelöst.

»Dir ist doch klar, wie die moderne Welt funktioniert, oder, Tom? Es ist nicht mehr so wie früher. Du kannst nicht einfach woanders hinziehen und dich ins nächste Kirchenbuch eintragen. Weißt du, was es mich kostet, dass du und die anderen Mitglieder in Sicherheit seid?«

»Dann könnte ich dir ja einen Haufen Geld sparen.«

»Ich habe es immer ganz deutlich gesagt: Die Gesellschaft ist eine Einbahnstraße …«

»Eine Einbahnstraße, in die ich nie gehen wollte.«

Er sog an seinem Strohhalm und verzog das Gesicht wegen des Geschmacks. »So ist das Leben, was? Hör zu, mein Junge …«

»Ich bin kein Junge mehr.«

»Du hast eine Entscheidung gefällt. Als du dich entschlossen hast, Dr. Hutchinson zu konsultieren …«

»Das hätte ich nie getan, hätte ich gewusst, welche Folgen es für ihn haben würde.«

Mit einem Seufzer stellte er sein Glas auf das Tischchen neben sich, um sein Glucosamin-Präparat gegen die Arthrose zu nehmen.

»Sonst hätte ich dich töten müssen.« Er lachte krächzend, um anzudeuten, dass es sich um einen Witz handelte. Aber es war kein Witz. Natürlich nicht. »Ich schlage dir einen Deal vor, einen Kompromiss. Ich gebe dir das Leben, das du dir wünschst – egal was –, aber du bekommst weiterhin alle acht Jahre einen Anruf von mir, und bevor du dir deine nächste Identität aussuchst, erledigst du einen Auftrag für mich.«

Ich kannte den Deal natürlich längst. Auch wenn »jedes Leben, das du dir wünschst« nie ganz stimmte. Hendrich machte ein paar Vorschläge, und ich suchte mir einen aus. Aber auch meine Antwort musste mehr als vertraut in seinen Ohren klingen.

»Gibt es Neuigkeiten von ihr?« Ich hatte diese Frage schon hundertmal gestellt, aber nie hatte sie sich so jämmerlich, so hoffnungslos angehört wie heute.

Er starrte sein Glas an. »Nein.«

Ich hatte das Gefühl, die Antwort kam diesmal ein bisschen schneller als sonst.

»Hendrich?«

»Nein. Nein, ich habe nichts gehört. Aber hör zu, wir finden im Moment unglaublich viele Neue. Über siebzig allein im letzten Jahr. Weißt du noch, als wir angefangen haben? In einem guten Jahr waren es fünf. Wenn du sie immer noch finden willst, wärst du verrückt, ausgerechnet jetzt hinzuschmeißen.«

Aus dem Pool kam ein leises Plätschern. Als ich aufstand und nachsah, entdeckte ich eine kleine Maus, die verzweifelt vor dem Wasserfilter paddelte. Ich kniete mich hin und hob das Tierchen heraus. Hastig huschte es über den perfekten Rasen davon.

Hendrich hatte mich am Haken, und das wusste er. Lebend kam ich hier nicht raus. Und selbst wenn, Bleiben war einfacher. Es war auch irgendwie beruhigend – wie eine Versicherung.

»Jedes Leben, das ich will?«

»Jedes Leben, das du willst.«

Wahrscheinlich erwartete Hendrich, weil er Hendrich war, dass ich mir ein teures, extravagantes Leben wünschte. Eine Yacht vor der Amalfi-Küste oder ein Penthouse in Dubai. Aber ich hatte darüber nachgedacht, und ich wusste genau, was ich sagen würde. »Ich möchte wieder nach London.«

»Nach London? Du weißt, dass sie wahrscheinlich nicht dort ist.«

»Ja. Aber ich will zurück. Ich will wieder nach Hause. Und ich wäre gern Lehrer. Für Geschichte.«

Er lachte. »Geschichtslehrer. An der Highschool?«

»In England sagt man Secondary School dazu. Ja, Geschichtslehrer. Ich glaube, das wäre ein guter Beruf.«

Und Hendrich lächelte und sah mich mit milder Verwunderung an, als hätte ich statt des Hummers Fischstäbchen bestellt. »Na schön. Gut. Wir müssen nur ein paar Vorbereitungen treffen, und …«

Während Hendrich weitersprach, sah ich der Maus hinterher, die unter die Hecke schlüpfte und im dunklen Schatten der Freiheit verschwand.

London heute

London. Die erste Woche meines neuen Lebens.

Ich befinde mich im Büro der Direktorin der Oakfield School und versuche, normal zu wirken. Es ist eine wachsende Herausforderung. Die Vergangenheit brodelt dicht unter der Oberfläche und kann jeden Moment hervorbrechen.

Nein.

Die Vergangenheit ist schon da. Die Vergangenheit ist immer da. Es riecht nach Pulverkaffee, Desinfektionsmittel und Kunstfaserteppich, aber an der Wand hängt ein Shakespeare-Poster.

Es ist das übliche Bild von ihm. Hoher Haaransatz, bleiche Haut, der leere Blick eines Kiffers. Ein Porträt, das ihm nicht mal ähnlich sieht.

Ich konzentriere mich wieder auf Daphne Bello, die Schulleiterin. Sie trägt orange Kreolen-Ohrringe. Ihr schwarzes Haar ist von feinen weißen Fäden durchzogen. Sie lächelt mich an. Ein melancholisches Lächeln. Die Art von Lächeln, zu dem niemand unter vierzig imstande ist. Wehmut und Trotz und Belustigung in einem.

»Ich bin schon sehr lange hier.«

»Wirklich?«, frage ich.

In der Ferne verhallt eine Polizeisirene.

»Zeit«, sagt sie, »ein seltsames Phänomen, nicht wahr?«

Behutsam stellt sie ihren Pappkaffeebecher neben dem Computer ab.

»Höchst seltsam«, stimme ich zu.

Daphne gefällt mir. Das ganze Vorstellungsgespräch gefällt mir. Ich bin froh, wieder in London, wieder in Tower Hamlets zu sein. Und mich für einen ganz gewöhnlichen Job zu bewerben. Es tut so gut, mich ausnahmsweise, nun ja, eben gewöhnlich zu fühlen.

»Ich bin seit dreißig Jahren Lehrerin. Seit zwanzig Jahren an dieser Schule. Jahrzehnte. Was für ein deprimierender Gedanke. Ich bin uralt.« Sie seufzt, während sie lächelt.

Es amüsiert mich immer, wenn Leute das sagen.

»Das sieht man Ihnen nicht an«, ist die einzige passende Antwort. Also sage ich es.

»Schmeichler. Pluspunkt für Sie!« Ihr Lachen klettert zwei Oktaven nach oben.

Ich stelle mir vor, ihr Lachen wäre ein unsichtbarer Vogel, ein exotischer Vogel aus St. Lucia (wo ihr Vater herkam), der aus dem Fenster in den grauen Himmel fliegt.

»Ach, noch einmal so jung zu sein wie Sie«, lacht sie.

»Einundvierzig ist auch nicht mehr ganz jung.« Ich spreche die absurde Zahl mit Nachdruck aus. Einundvierzig. Ich bin einundvierzig.

»Aber Sie sehen topfit aus.«

»Ich war gerade in Urlaub. Vielleicht deswegen.«

»An einem schönen Ort?«

»Sri Lanka. Ja. Es war schön. Ich habe im Meer Schildkröten gefüttert …«

»Schildkröten?«

»Ja.«

Ich schaue aus dem Fenster und mein Blick bleibt an einer Frau hängen, die mit einer Gruppe von Kindern in Schuluniform zu den Sportplätzen geht. Dann bleibt sie stehen und dreht sich um. Ich sehe ihr Gesicht. Sie sagt etwas, das ich nicht hören kann. Sie trägt eine Brille, Jeans und eine lange Strickjacke, die im Wind flattert, und sie streicht sich das Haar hinters Ohr. Jetzt lacht sie über etwas, das einer der Schüler sagt. Das Lachen lässt ihr Gesicht erstrahlen, und einen Augenblick lang bin ich wie hypnotisiert.

»Ah«, sagt Daphne, die zu meiner Verlegenheit meinen Blick bemerkt hat. »Das ist Camille, unsere Französischlehrerin. Sie ist einmalig. Die Kinder lieben sie. Sie geht immer mit ihnen raus … Französisch al fresco. So eine Schule ist das hier.«

»Ich habe gehört, Sie haben hier viel geleistet«, sage ich, um das Gespräch zurückzulenken.

»Ich tue mein Bestes. Wir tun hier alle unser Bestes. Aber manchmal ist es ein aussichtsloser Kampf. Das sind meine einzigen Bedenken hinsichtlich Ihrer Bewerbung. Ihre Referenzen sind großartig. Ich habe sie alle überprüft …«

Ich bin erleichtert. Nicht weil sie die Referenzen überprüft hat, sondern dass jemand da war, der den Hörer abgenommen oder ihre E-Mails beantwortet hat.

»… aber Oakfield ist keine beschauliche Gesamtschule in Suffolk. Wir sind hier in London. In Tower Hamlets, nicht in Notting Hill.«

»Kinder sind Kinder.«

»Und es sind tolle Kinder. Aber es ist eben ein anderes Umfeld. Hier haben die Kinder nicht die gleichen Privilegien. Ich habe die Sorge, dass Sie bisher eher ein behütetes Leben kannten.«

»Sie wären überrascht.«

»Viele unserer Schüler haben schon mit der Gegenwart zu kämpfen, von Geschichte ganz zu schweigen. Für sie zählt nur die Welt, in der sie leben. Entscheidend ist, ihr Interesse zu wecken. Wie würden Sie versuchen, Geschichte lebendig zu machen?«

Nichts leichter als das. »Ich muss Geschichte nicht lebendig machen. Geschichte ist lebendig. Wir sind Geschichte. Geschichte, das sind nicht tote Politiker, Könige und Königinnen. Jeder und alles ist Geschichte. Ihr Kaffee zum Beispiel. Am Beispiel Ihres Kaffees könnte ich die ganze Geschichte des Kapitalismus, des Britischen Empire und der Sklaverei erzählen. Wie viel Blut und Elend es gekostet hat, damit wir heute hier sitzen und aus Pappbechern Kaffee nippen können.«

»Da vergeht mir ja gleich die Lust auf Kaffee.«

»Oh, tut mir leid. Aber was ich meine, ist: Geschichte ist überall. Man muss nur hinsehen. Geschichte hilft, die eigene Umwelt zu verstehen.«

»Aha.«

»Geschichte – das sind die Menschen. Jeder liebt Geschichte.«

Daphne sieht mich zweifelnd an, und ihre Brauen wandern zum Haaransatz hoch. »Sind Sie sicher?«

Ich nicke kurz. »Es geht darum, den Leuten klarzumachen, dass alles, was sie sagen oder tun oder sehen, damit zu tun hat, was vorher war. Mit Shakespeare. Mit jedem Menschen, der je gelebt hat.«

Ich sehe aus dem Fenster. Wir sind im dritten Stock und haben eine ziemlich gute Aussicht, trotz des grauen Londoner Nieselwetters. Mein Blick fällt auf ein Haus aus dem achtzehnten Jahrhundert, an dem ich viele Male vorbeigegangen bin.

»Das Gebäude dort. Das mit den vielen Schornsteinen. Das war früher eine Irrenanstalt. Und das da drüben«– ich zeige auf einen niedrigen Backsteinbau – »war das alte Schlachthaus. Die Knochen wurden zur Porzellanherstellung verwendet. Wenn wir vor zweihundert Jahren dort vorbeigegangen wären, hätten wir auf der einen Seite die Schreie der von der Gesellschaft für verrückt erklärten Menschen gehört und auf der anderen Seite die Schreie des Schlachtviehs …«

Wenn, wenn, wenn.

Ich zeige auf die Schieferdächer der Reihenhäuser im Osten.

»Und da drüben in der Bow Road haben sich Sylvia Pankhurst und die East-Londoner Suffragetten immer in einer früheren Bäckerei getroffen. Sie hatten mit goldenen Buchstaben WAHLRECHTFÜRFRAUEN über die Tür geschrieben, unübersehbar. Nicht weit von der alten Zündholzfabrik.«

Daphne notiert sich etwas. »Wie ich sehe, machen Sie auch Musik. Gitarre, Klavier und Geige.«

Und Laute. Aber das sage ich nicht. Und Mandoline. Und Zither. Und Flöte.

»Ja.«

»Sie stellen Martin ganz in den Schatten.«

»Martin?«

»Unser Musiklehrer. Hoffnungslos. Ein hoffnungsloser Fall. Kann kaum Triangel spielen. Aber er hält sich für einen Rockstar. Der arme Martin.«

»Na ja, ich liebe Musik. Ich liebe es, Musik zu machen. Aber ich könnte Musik nicht unterrichten. Ich finde es schwierig, über Musik zu sprechen.«

»Im Gegensatz zu Geschichte?«

»Im Gegensatz zu Geschichte.«

»Und Sie sind auf dem Laufenden, was den Lehrplan angeht.«

»Ja«, lüge ich mühelos. »Vollkommen.«

»Und Sie gehören zur jüngeren Generation.«

Ich zucke die Schultern und mache das Gesicht, das in einer solchen Situation wohl erwartet wird.

»Ich bin sechsundfünfzig«, sagt sie. »Einundvierzig ist jung, glauben Sie mir.«

Sechsundfünfzig ist jung.

Achtundachtzig ist jung.

Einhundertdreißig ist jung.

»Nun ja, ich bin eher ein alter Einundvierzigjähriger.«

Sie lächelt. Drückt mit einem Klicken auf ihren Kuli. Klickt noch einmal. Lauter einzelne Momente. Das Klicken. Die Pause. Das nächste Klicken. Je länger man lebt, desto schwerer wird es. Sie festzuhalten. Jeden Moment aufzufangen, wenn er kommt. In etwas anderem zu leben als in der Vergangenheit oder der Zukunft. Im Hier und Jetzt zu sein.

Für immer, sagt Emily Dickinson, besteht aus vielen »Jetzts«. Aber wie bleibt man im Jetzt, in dem man ist? Wie wehrt man die Geister aller anderen Jetzts ab? Kurz gesagt, wie lebt man?

Meine Gedanken schweifen ab.

Das passiert mir in letzter Zeit immer häufiger. Ich habe von diesem Phänomen gehört. Andere Albas haben davon berichtet. Wenn wir die Hälfte unseres Lebens erreicht haben, wird das Gewicht der Gedanken zu viel. Die Erinnerungen schwellen an. Die Kopfschmerzen werden stärker. Heute ist der Kopfschmerz erträglich, aber er ist immer da.

Ich versuche mich zu konzentrieren. Ich versuche mich an dem letzten »Jetzt« festzuhalten, als mir das Gespräch Spaß gemacht hat, vor wenigen Sekunden. Als ich das angenehme Gefühl hatte, gewöhnlich zu sein. Oder die Illusion.

Gewöhnlichkeit gibt es nicht.

Nicht für mich.

Ich versuche mich zu konzentrieren. Ich sehe Daphne an, die den Kopf schüttelt und leise lacht, worüber, verrät sie nicht. Etwas Trauriges, ahne ich, als ihr Blick plötzlich trüb wird. »Nun, Tom, ich bin ziemlich beeindruckt von Ihnen und Ihrer Bewerbung, das muss ich sagen.«

Tom.

Tom Hazard.

Mein Name – mein ursprünglicher Name – war Estienne Thomas Ambroise Christophe Hazard. So fing alles an. Seitdem hatte ich viele, viele Namen und viele, viele Rollen. Doch schon bei meiner ersten Ankunft in England legte ich die Schnörkel ab und wurde einfach Tom Hazard.

Den Namen jetzt wieder zu benutzen ist beinahe wie eine Heimkehr. Er hallt in meinem Kopf wider. Tom. Tom. Tom. Tom.

»Sie erfüllen wirklich alle Anforderungen. Aber selbst wenn nicht, würden Sie den Job bekommen.«

»Wirklich? Wieso?«

Sie zieht die Augenbrauen hoch. »Weil es keinen anderen Bewerber gibt!«

Wir lachen beide ein bisschen.

Aber das Lachen stirbt schneller als eine Eintagsfliege.

Weil sie dann sagt: »Ich wohne in der Chapel Street. Kennen Sie sich dort auch so gut aus?«

Und natürlich kenne ich mich in der Chapel Street aus. Die Frage schüttelt mich wach wie ein kalter Wind. Der Kopfschmerz pocht stärker. Vor meinem inneren Auge entsteht das Bild, wie ein Apfel im Ofen platzt. Ich hätte nicht zurückkommen dürfen. Ich hätte Hendrich niemals darum bitten dürfen. Ich denke an Rose, das letzte Mal, als ich sie sah, an ihre großen, verzweifelten Augen.

»Chapel Street. Nein, die kenne ich nicht. Nein. Tut mir leid.«

»Macht nichts.« Sie nippt an ihrem Kaffee.

Ich starre das Shakespeare-Poster an. Er scheint mich anzusehen wie ein alter Freund. Unter dem Bild steht ein Zitat.

Wir wissen wohl, was wir sind, aber nicht, was wir werden könnten.

»Ich habe ein gutes Gefühl bei Ihnen, Tom. Und man sollte auf sein Gefühl vertrauen, nicht wahr?«

»Ich glaube schon«, sage ich, auch wenn ich Gefühlen immer am wenigsten vertraut habe.

Sie lächelt.

Ich lächele.

Ich stehe auf und gehe zur Tür. »Dann sehen wir uns im September.«

»Ha! September. September. Die Zeit fliegt. Zeit, wissen Sie, das ist noch so eine Sache, wenn man älter wird. Die Zeit vergeht so schnell.«

»Schön wär’s«, flüstere ich.

Aber sie hört mich nicht, weil sie sagt: »Und Kinder.«

»Bitte?«

»Kinder sind auch so eine Sache, die die Zeit beschleunigt. Ich habe drei. Meine Älteste ist zweiundzwanzig. Sie hat letztes Jahr Examen gemacht. Gestern hat sie noch mit Lego gespielt, und heute holt sie den Schlüssel ihrer neuen Wohnung ab. Zweiundzwanzig Jahre, die vergangen sind wie ein Augenblick. Haben Sie welche?«

Ich halte mich an der Türklinke fest. Auch das ist ein Moment. In dem tausend andere Momente schmerzhaft zum Leben erwachen.

»Nein«, sage ich, weil es leichter ist als die Wahrheit. »Ich habe keine Kinder.«

Einen Augenblick wirkt sie leicht verlegen. Ich glaube, ihr liegt ein Kommentar auf der Zunge, aber dann sagt sie nur: »Bis bald, Mr Hazard.«

Ich trete auf den Flur, wo es nach demselben Desinfektionsmittel riecht. An der Wand stehen zwei Teenager und starren in ihre Smartphones wie fromme Priester ins Gebetbuch. Ich blicke zu Daphne zurück, die auf ihren Computerbildschirm schaut.

»Ja. Bis bald.«

 

Als ich Daphne Bellos Büro und die Schule verlasse, bin ich im einundzwanzigsten Jahrhundert und gleichzeitig im siebzehnten.

Wie in Trance lege ich die knapp zwei Kilometer zur Chapel Street zurück – Wettbüros, Bürgersteige, Bushaltestellen, Laternenpfosten, halbherzige Graffiti. Die Straßen fühlen sich zu breit an. Als ich in der Chapel Street ankomme, sehe ich mit eigenen Augen, was ich schon weiß: Die Häuser, die hier einst gestanden haben, gibt es längst nicht mehr, sie wurden durch Häuser aus dem späten neunzehnten Jahrhundert ersetzt, hohe rote Backsteingebäude, die Architektur so streng wie die Epoche.

An der Ecke, wo in meiner Erinnerung eine kleine verlassene Kirche stand, und der Nachtwächter, ist jetzt eine KFC-Filiale. Die rote Plastikfassade wirkt wie eine blutige Wunde. Ich gehe mit geschlossenen Augen weiter, versuche die Stelle zu erspüren, an der das Haus war, und bleibe nach etwa zwanzig Schritten stehen. Als ich die Augen öffne, sehe ich ein Doppelhaus, das keinerlei Ähnlichkeit mit dem Haus hat, wo ich vor all den Jahrhunderten klopfte. Die Tür ist modern. Blau und unmarkiert. Hinter dem Wohnzimmerfenster flimmert ein Fernseher. Jemand spielt ein Videospiel. Ein Alien explodiert auf der Mattscheibe.

Ich habe hämmernde Kopfschmerzen. Schwäche überkommt mich und ich taumele einen Schritt rückwärts, als wäre die Vergangenheit etwas, das die Luft dünner macht oder die Gesetze der Schwerkraft beeinflusst. Ich lehne mich gegen ein Auto, nur ganz leicht, aber es reicht, um die Alarmanlage auszulösen.

Und der Alarm ist so laut wie ein Schmerzensgeheul, das aus dem Jahr 1623 herüberschallt, und ich stürze davon, weg von dem Haus, weg aus der Straße, und wünschte, ich könnte auch die Vergangenheit hinter mir lassen.

London 1623

Ich habe nur einmal im Leben wirklich geliebt. Ich schätze, das macht mich irgendwie zum Romantiker. Die Vorstellung von der einen wahren Liebe, die für immer unerreicht bleibt, wenn die Geliebte nicht mehr da ist. Eine schöne Idee, aber die Realität ist grauenvoll. All die einsamen Jahre danach. Weiter zu existieren, wenn der Sinn deiner Existenz verschwunden ist.

Und der Sinn meines Lebens war, eine Zeit lang, Rose.

Als sie nicht mehr da war, wurden alle schönen Erinnerungen von der letzten getrübt. Von dem Ende, das gleichzeitig ein schrecklicher Anfang war. Der Tag, als wir das letzte Mal zusammen waren. Denn dieser Tag – der Tag, als ich zu ihr in die Chapel Street kam – sollte in den kommenden Jahrhunderten so viele andere definieren.

Ich stand vor der Tür.

Ich hatte geklopft und wartete und klopfte wieder.

Der Nachtwächter, der an der Ecke gestanden hatte, näherte sich. »Das ist ein markiertes Haus, Junge.«

»Ja. Ich weiß.«

»Du darfst da nicht hinein … Es ist gefährlich.«

Ich hob warnend die Hand. »Bleibt zurück. Auch ich bin damit geschlagen. Kommt nicht näher.«

Was natürlich eine Lüge war, aber eine wirksame. Mit beträchtlicher Hast zog sich der Nachtwächter zurück.

»Rose«, rief ich durch die Tür. »Ich bin es, Tom. Ich habe Grace getroffen. Am Fluss. Sie erzählte mir, dass du …«

Es dauerte eine Weile, aber dann hörte ich ihre Stimme. »Tom?«

Ich hatte ihre Stimme seit Jahren nicht gehört.

»Oh, Rose, mach mir auf. Ich muss dich sehen.«

»Ich kann nicht, Tom. Ich bin krank.«

»Ich weiß. Aber ich stecke mich nicht an. Ich war in den letzten Monaten mit vielen Pestkranken zusammen und habe nicht mal einen Schnupfen bekommen. Bitte, Rose, mach die Tür auf.«

Schließlich tat sie es. Und da stand sie, eine Frau. Wir waren fast gleich alt, aber sie sah wie fast fünfzig aus und ich immer noch wie ein Halbwüchsiger.

Ihre Haut war grau. Ihr Gesicht war von Schrunden bedeckt, die aussahen wie Länder auf einer Landkarte. Sie konnte sich kaum auf den Beinen halten. Sie redete, halb zusammenhängende Sätze, während ich ihr wieder ins Bett half.

»Du siehst so jung aus … Du bist immer noch ein Knabe … fast ein Kind.«

»Ich habe eine Falte auf der Stirn. Schau.«

Ich hielt ihre Hand. Sie konnte die Falte nicht sehen.

»Es tut mir leid«, sagte sie. »Es tut mir so leid, dass ich dich weggeschickt habe.«

»Es war die richtige Entscheidung. Meine Nähe hat euch in Gefahr gebracht.«

Ich erkläre an dieser Stelle, falls es gesagt werden muss: Ich weiß nicht, ob die Worte, die ich hier niederschreibe, genau so gesprochen wurden. Wahrscheinlich nicht. Aber so habe ich sie in Erinnerung, und wir können uns immer nur an unsere Erinnerung der Wirklichkeit halten, nicht an die Wirklichkeit selbst, zwei Dinge, die verwandt, aber nicht dasselbe sind.

Doch ich bin mir absolut sicher, dass sie wortwörtlich sagte: »Da ist eine Dunkelheit, die alles säumt … ein grauenhaftes Entzücken.« Und ich spürte das Grauen ihres Grauens. Das ist der Preis, den wir für die Liebe zahlen: Wir empfinden den Schmerz des anderen wie unseren eigenen.

Sie sank in Fieberträume.

Die Krankheit ergriff fast minütlich immer stärker von ihr Besitz. Rose war nunmehr das Gegenteil von mir. Während mein Leben sich vor mir fast bis in die Unendlichkeit erstreckte, näherte sich für Rose das Ende in rasendem Galopp.

Es war dunkel im Zimmer. Die Fenster waren mit Brettern vernagelt. Doch als sie in ihrem feuchten Nachthemd da auf dem Bett lag, schimmerte ihr Gesicht wie blasser Marmor, die roten und grauen Flecken blühende Kolonien auf ihrer Haut. An ihrem Hals wölbten sich hühnereigroße Beulen. Die Verwandlung war schrecklich, eine Schändung.

»Alles ist gut, Rose. Alles ist gut.«

Ihre Augen waren angstgeweitet, als wäre da etwas in ihrem Schädel, das nach außen drängte.

»Ruhig, ganz ruhig … Alles wird gut …«

Welcher Hohn. Nichts konnte je wieder gut werden.

Sie stöhnte leise. Ihr Körper wand sich vor Schmerz.

»Du musst gehen.« Ihre Stimme war trocken.

Ich beugte mich zu ihr und küsste sie auf die Stirn.

»Vorsicht«, sagte sie.

»Ich bin gefeit.« Ich wusste nicht, ob das wirklich stimmte. Ich glaubte es, aber wissen konnte ich es nicht, denn ich lebte erst seit zweiundvierzig Jahren auf dieser Erde (und sah kaum älter aus als der Sechzehnjährige, für den mich Rose am Anfang gehalten hatte). Aber es war mir egal. In den Jahren fern von ihr hatte das Leben seinen Wert verloren.

Auch wenn ich Rose seit dem Jahr 1603 nicht gesehen hatte, war die Liebe noch da, genauso stark, und jetzt tat sie weh. Mehr als körperlicher Schmerz.

»Wir waren glücklich, Tom, nicht wahr?« Das leiseste Echo eines Lächelns auf ihrem Gesicht. Ich dachte daran, wie wir unsere schweren Wassereimer an den Ställen vorbeitrugen, glücklich ins Gespräch vertieft, an einem ganz gewöhnlichen Dienstagmorgen vor langer Zeit. Ich dachte an die Freude, sie lächeln zu sehen und ihren Körper zu spüren, wenn sie sich vor Lust, nicht vor Schmerzen wand, und wie wir versuchten, leise zu sein, um ihre Schwester nicht zu wecken. Ich dachte an den langen Heimweg von Bankside, wenn streunende Hunde nach meinen Waden schnappten und ich im Matsch ausrutschte, in der alles aufwiegenden Gewissheit, dass sie zu Hause auf mich wartete und allem Sinn gab.

All die Augenblicke, all die Gespräche, alles, zusammengefasst in der einfachsten, grundsätzlichsten Wahrheit.

»Ja, wir waren glücklich … Ich liebe dich, Rose. Ich liebe dich.«

Ich wollte sie halten, sie mit Kirschen und Pastete füttern, sie heilen. Ich sah, wie sehr sie litt und dass sie nur noch sterben wollte, aber ich wusste nicht, was das bedeutete. Ich wusste nicht, was die Welt dann noch zusammenhalten sollte.

Da war noch etwas. Eine Antwort, von der ich innig hoffte, sie könnte sie mir geben.

»Liebste, wo ist Marion?«

Sie sah mich lange an. Ich machte mich auf die schrecklichste Nachricht gefasst.

»Sie ist geflohen …«

»Was?«

»Sie war wie du.«

Ich brauchte einen Moment, bis ich begriff.

»Sie ist nicht älter geworden?«

Rose sprach langsam, unterbrochen von leisem Stöhnen, Husten, Wimmern. Ich versicherte ihr, sie müsse nichts mehr sagen, mir nichts erklären, aber sie tat es dennoch. »Ja. Die Leute fingen zu reden an, als die Jahre ohne Spur an unserem Kind vorbeigingen. Ich sagte Marion, dass wir fortgehen müssten, und das machte ihr das Herz schwer, und dann stand Manning vor der Tür …«

»Manning?«

»In jener Nacht lief sie davon, Tom. Ich rannte ihr nach, aber sie war fort. Sie ist nie zurückgekommen. Ich weiß nicht, wohin sie gegangen ist und ob es ihr gut geht. Du musst sie finden, Tom. Du musst dich um sie kümmern … Bitte, Tom, sei jetzt stark. Finde sie. Und ich … ich werde zu meinen Brüdern gehen …«

Nie hatte ich mich schwächer, ohnmächtiger gefühlt, aber ich wollte Rose alles geben, selbst eine Illusion meiner Stärke und einer glücklichen Zukunft.

»Ich werde stark sein, meine Rose.«

Ihr Atem war nur noch ein schwacher Hauch. »Das wirst du.«

»Oh, Rose.«

Ich musste immer wieder ihren Namen sagen, wollte, dass sie ihn immer wieder hörte. Ich wollte, dass sie lebendige Wirklichkeit blieb.

Die Zeit befiehlt’s, ihr sind wir untertan …

Sie bat mich, für sie zu singen. »Was immer du im Herzen hast.«

»Mein Herz ist traurig.«

»Dann sing etwas Trauriges.«

Ich griff nach der Laute, doch Rose wollte nur meine Stimme hören. Ich war nicht stolz auf meine Stimme, nicht einmal vor Rose, aber ich sang für sie.

Zart schöne Frau,

gedenk und schau,

wie mich dein Lieb mit steter Üb

herzlichen sehr tut kränken …

Sie lächelte, ein sanftes, bekümmertes Lächeln, und ich spürte, wie die ganze Welt erlosch, und ich wollte mitgehen, wohin auch immer sie verschwand. Ich wusste nicht, wie ich ohne sie ich selbst sein sollte, mein seltsames und ungewöhnliches Ich. Ich hatte es versucht, natürlich. Hatte Jahre ohne sie existiert, aber mehr war es nicht gewesen, bloßes Existieren. Ein Buch ohne Worte.

»Ich werde Marion suchen.«

Sie schloss die Augen, als habe sie die letzten Worte gehört, die sie auf Erden hören wollte.

Jetzt war sie so grau wie der Januarhimmel.

»Ich liebe dich, Rose.«

Und ich suchte auf ihrem Mund, auf der Linie zwischen ihren blassen, blasigen Lippen, nach dem kleinsten Lächeln, der winzigsten Reaktion, aber sie regte sich nicht mehr. Die Stille war entsetzlich. Staubkörnchen waren das Einzige, was sich noch bewegte.

Ich flehte Gott an, bat, bettelte, feilschte, doch Gott ließ nicht mit sich feilschen. Gott war stur und taub und ungerührt. Und sie starb und ich lebte, und ein Abgrund tat sich vor mir auf, dunkel und bodenlos, und ich fiel hinein und fiel und fiel, jahrhundertelang.

London heute

Ich fühle mich immer noch schwach. Mein Schädel dröhnt. Ich gehe weiter und immer weiter, in der Hoffnung, so die Erinnerung an die Chapel Street zu lindern. Mein Ziel ist das Gegenmittel: Hackney. Well Lane. Die heute Well Street heißt. Wo Rose und ich zum ersten Mal zusammenlebten, vor den Jahren des Elends, der Trennung und der Pest.

Die Häuschen und Ställe und Scheunen, der Teich und die Obstgärten sind längst verschwunden. Ich weiß, es ist nicht gut, in fremd gewordenen Straßen nach Erinnerungen zu suchen, die längst zugepflastert sind, aber ich muss es sehen.

Ich gehe weiter. Die Well Street muss die verkehrsreichste Straße in ganz Hackney sein. Busse, Autos, Passanten drängen sich vorbei. Ich sehe einen Telefonladen, eine Pfandleihe, einen Imbiss. Und da ist sie, auf der anderen Straßenseite – die Stelle, wo wir einst wohnten.

Jetzt steht dort ein fensterloser roter Backsteinklotz mit einem blau-weißen Schild: TIERSCHUTZVEREINHACKNEY. Es ist ein deprimierendes Gefühl, zu sehen, dass alle Spuren deines Lebens ausgelöscht wurden. So deprimierend, dass du Halt brauchst und dich an eine Mauer lehnst, auch wenn neben dir ein alter Mann am Geldautomaten steht, der seine PIN-Nummer vor dir abschirmt und dich misstrauisch anstarrt, obwohl du dich entschuldigst und erklärst, dass du ihn nicht ausrauben willst.

Auf der anderen Straßenseite kommt ein Mann mit einem Staffordshire-Terrier aus dem Backsteingebäude. Plötzlich weiß ich, wie ich mit der Vergangenheit ein wenig Frieden schließen kann.

Ich überquere die Straße und gehe hinein.

 

Die meisten Hunde in den Zwingern bellen wie verrückt. Aber dieser liegt einfach nur da, in seinem zu kleinen Korb. Er ist ein seltsames graues Tier mit saphirblauen Augen. Er wirkt wie ein aus der Zeit gefallener Wolf, als wäre der hektische Irrsinn der Moderne unter seiner Würde. Sofort fühle ich mich ihm verbunden.

Er hat das Gummispielzeug nicht angerührt, das neben ihm liegt, einen knallgelben Plastikknochen.

»Was ist das für ein Hund?«, frage ich die Tierpflegerin (auf ihrem Namensschild steht »Lou«). Sie kratzt an einem Ekzem an ihrem Arm.

»Ein Akita«, sagt sie. »Japanisch. Ziemlich selten. Sieht ein bisschen wie ein Husky aus, nicht?«

»Ja.«

Ich glaube, ich bin an der richtigen Stelle.

Wo der Zwinger dieses schönen, traurig blickenden Hundes ist, war unser Zimmer. Das Zimmer, in dem unser Bett stand.

»Wie alt ist er?«, frage ich Lou.

»Schon ziemlich alt. Elf. Das ist einer der Gründe, warum er so schwer zu vermitteln ist.«

»Und warum ist er hier?«

»Er wurde gerettet. Sein letzter Besitzer hatte ihn auf dem Balkon seiner Wohnung gehalten. Angekettet. Er war in einem schrecklichen Zustand. Sehen Sie.« Sie zeigt auf eine rotbraune Narbe an seinem Bein, wo kein Fell mehr wächst. »Von einer Zigarette.«

»Er sieht so traurig aus.«

»Ja.«

»Wie heißt er?«

»Seinen ursprünglichen Namen wissen wir nicht. Wir nennen ihn Abraham.«

»Warum?«

»Das Hochhaus, wo wir ihn gefunden haben, heißt Lincoln Tower.«

»Aha«, sagte ich. »Abraham. Das passt zu ihm.«

Abraham steht auf. Er kommt zu mir und sieht mich mit seinen hellblauen Augen an, als wollte er etwas sagen. Ich hatte nicht geplant, mir einen Hund zuzulegen. Das stand für heute nicht auf meiner Liste. Aber jetzt stehe ich hier und sage: »Der ist es. Ich würde ihn gern mit nach Hause nehmen.«

Lou sieht mich überrascht an. »Wollen Sie sich nicht die anderen ansehen?«

»Nein.«

Mein Blick fällt auf den Fleck auf Lous Arm – dunkelrot und wund –, und plötzlich bin ich wieder in Dr. Hutchinsons Wartezimmer, an jenem kalten Wintertag, und warte zwischen den anderen Patienten nervös auf eine Diagnose.

London 1860

Es tobte ein Schneesturm. Nach ein paar vergleichsweise milden, ereignislosen Wochen war die Temperatur in den vorangegangenen Tagen dramatisch gefallen. Es war Januar und so kalt in London, wie ich es seit 1814 nicht mehr erlebt hatte, dem Winter der Napoleon-Witze, des großen Börsenbetrugs und des letzten Frostjahrmarkts auf der zugefrorenen Themse.

Wie damals erstarrte einem, sobald man ins Freie trat, das Gesicht. Man spürte fast, wie das Blut in den Adern stockte. Halb blind marschierte ich die zwei Meilen in die Blackfriars Road und ließ mich dabei von den eleganten gusseisernen Straßenlaternen leiten, die der Inbegriff des Fortschritts waren. In der Blackfriars Road befand sich Dr. Hutchinsons damalige Wirkungsstätte – das »Londoner Dermatologische Institut zur Behandlung und Heilung nicht ansteckender Krankheiten der Haut«. Ein recht knackiger Name für viktorianische Verhältnisse.

Ich hatte natürlich keine Krankheit der Haut. Meine Haut wies keinerlei Irritationen auf, weder Ausschläge noch sonstige Anomalien, bis auf die Tatsache, dass sie zu jenem Zeitpunkt 279 Jahre alt war und um Jahrhunderte jünger wirkte; aber das galt für meinen ganzen Körper. Hätte sich doch auch mein Geist wie dreißig angefühlt.

Der Grund, warum ich Dr. Hutchinson aufsuchte, war seine Entdeckung und Erforschung einer ähnlichen, wenn auch gegensätzlich gelagerten Krankheit namens Progerie.

Die Bezeichnung setzt sich aus den griechischen Wörtern »pro«, was nicht nur vor, sondern auch vorzeitig heißt, und »geras«, hohes Alter, zusammen. Vorzeitige Alterung. Ein Kind kommt zur Welt, und bereits im Kleinkindalter treten erste seltsame Symptome auf, die mit zunehmendem Alter immer erschreckender werden.

Die Symptome sind die, die wir sonst mit der Alterung assoziieren: Haarausfall, Falten, schwache Knochen, hervortretende Adern, steife Gelenke, Nierenversagen und häufig Verlust der Sehkraft. Die Patienten sterben früh.

Solche unglücklichen Kinder hatte es schon immer gegeben, doch ihr Schicksal fand erst medizinische Anerkennung, als Dr. Hutchinson die Krankheit erstmals am Beispiel eines sechsjährigen Jungen, der an Haarverlust und Schwund des Unterhautfettgewebes litt, beschrieb.

Ich war also vorsichtig optimistisch, als ich mich auf den Weg zu ihm machte. Wenn mir jemand helfen konnte, dann er. Ich muss dazu sagen, dass es mir in letzter Zeit nicht sehr gut gegangen war. Die vergangenen zweihundert Jahre hatte ich überwiegend damit verbracht, London und den Rest des Landes nach Marion abzusuchen, und mich hin und wieder zum Narren gemacht, wenn ich dachte, ich hätte jemanden entdeckt, der ihr ähnlich sah. Gut in Erinnerung blieb mir die Tracht Prügel, die mir ein betrunkener Schuster in den Yorker Shambles erteilte, weil er dachte, ich hätte seiner Frau, die ich nach ihrem Geburtsjahr gefragt hatte, einen unsittlichen Antrag gemacht. Ich verdiente mein Geld mit Musik, und sobald jemand argwöhnisch wurde, zog ich weiter und wechselte meine Identität. Ich häufte keine Reichtümer an. Ich lebte von der Hand in den Mund; was ich verdiente, ging für Ale und Miete drauf.

Oft verlor ich bei meiner Suche alle Hoffnung. Ich suchte nicht nur nach einem vermissten Menschen, sondern auch nach dem anderen, das mir abhandengekommen war – Sinn. Bedeutung. Mir kam der Gedanke, dass die Menschen deswegen nicht älter als hundert wurden, weil sie es einfach nicht länger aushielten. Seelisch, meine ich. Irgendwann ging einem schlicht die Puste aus. Da war nicht genug Ich, um weiterzumachen. Die eigenen Gedanken liefen sich tot. Das Leben, das sich stets wiederholte, wurde öde. Irgendwann kam kein Lächeln mehr, keine Geste, die man noch nicht gesehen hatte. Keine Veränderung in der Weltordnung, die nicht das Echo einer anderen Veränderung war. Es gab keine Neuigkeiten, die neu waren. Schon das Wort »neu« war blanke Ironie. Alles drehte sich im Kreis. In einer langsamen Abwärtsspirale. Und die Toleranz für die Menschen, die immer und immer und immer wieder die gleichen Fehler machten, schwand mit der Zeit. Es war wie ein nervtötender Ohrwurm, ein Lied, dessen Refrain man einst gemocht hatte, doch jetzt würde man sich am liebsten die Ohren abreißen, um es nicht mehr hören zu müssen.

Oft genug wollte ich allem ein Ende machen. Manchmal dachte ich über die konkrete Umsetzung dieser Absicht nach. Nach Roses Tod ertappte ich mich häufig dabei, dass ich in einer Apotheke stand und den Kauf von Gift erwog. Und nun war ich seit kurzem wieder in dieser Verfassung. Stand auf Brücken und träumte vom Nichtsein.

Und ich hätte es möglicherweise auch getan, hätte ich nicht Rose und meiner Mutter ein Versprechen gegeben.

Ich verabscheute meine Veranlagung.

Sie machte mich einsam. Einsam auf eine Art, die durch die Seele heulte wie ein Wüstenwind. Mir fehlten nicht nur die Menschen, die ich gekannt hatte, sondern auch mein eigenes Ich. Der Mensch, der ich gewesen war, wenn ich mit ihnen zusammen war.

Weißt du, es gab nur drei Menschen in meinem Leben, die ich wirklich geliebt hatte: meine Mutter, Rose und Marion. Von diesen waren zwei gestorben, und eine lebte nur als Möglichkeit. Und ohne die Liebe als Anker trieb ich immer weiter ab. Ich war zur See gefahren, zweimal um die halbe Welt, hatte versucht, mich im Alkohol zu ertränken, wurde am Leben erhalten einzig von der Entschlossenheit, Marion zu finden, und dabei hoffentlich auch mich selbst.

Ich stapfte durch den Schneesturm. Mein Schädel brummte. Ich bekam nicht leicht einen Kater, aber ich gab mir immer wieder redlich Mühe. Im Schneegestöber schien die Stadt nur halb da zu sein, als würde ich durch eins der verschwommenen London-Bilder gehen, die Monet bald malen würde. Es war niemand unterwegs bis auf die Männer, die in schäbigen, schlechtsitzenden Anzügen und flachen Kappen vor der Essensausgabe der christlichen Mission anstanden. Sie waren so still, so leise, so niedergeschlagen und steif gefroren.

Es war gut möglich, dachte ich, dass ich den Weg umsonst auf mich nahm. Doch was blieb mir übrig? Ich musste Dr. Hutchinson sehen, denn ich war überzeugt, wenn mir irgendjemand auf der Welt mehr über meinen Zustand sagen konnte, dann er.

Dabei wusste ich nicht einmal, ob er bei diesem Wetter überhaupt in seiner Praxis war.

Als ich endlich ankam, versicherte mir Miss Forster, seine Krankenschwester, dass Dr. Hutchinson immer da sei.

»Ich wage zu behaupten, er hat in seinem ganzen Leben noch keinen Tag nicht gearbeitet«, erklärte Miss Forster, wie sie es gewiss schon viele Male getan hatte. Sie wirkte so frisch und weiß in ihrer makellosen Haube und Schürze, als hätte der Schneesturm sie hereingeweht. »Sie haben Glück«, fuhr sie fort. »Sonst sitzt immer ganz London in seinem Wartezimmer.« Sie musterte mich, als versuchte sie zu ergründen, welche Art von Hautkrankheit mich hergeführt hatte.

Ich folgte ihr drei Treppen hoch und wurde gebeten, in einem eleganten Zimmer zu warten, das mit Brokattapete, rotsamten gepolsterten Stühlen und einer prächtigen Wanduhr ausgestattet war. »Er spricht gerade mit einem Patienten«, flüsterte sie andächtig. »Vielleicht werden Sie eine Weile warten müssen, Mr Cribbs.«

(Ich hieß Edward Cribbs in Anlehnung an einen früheren Saufkumpan aus Plymouth.)

»Warten ist meine Spezialität.«

»Das ist gut, Sir«, sagte sie ernst, dann verließ sie mich. Ich kann mich noch gut erinnern, wie ich in diesem Wartezimmer saß, mit Menschen, die von schlimmen Schrunden und Ekzemen entstellt waren.

»Scheußliches Wetter, nicht wahr?«, sagte ich zu einer Frau, deren Gesicht mit dunkelviolettem Ausschlag überzogen war.

(Etwas, das sich über vier Jahrhunderte nicht verändert hat, ist das tiefverwurzelte Bedürfnis der Briten, in jeder Situation über das Wetter zu reden; wann immer ich auf der Insel lebte, stellte auch ich keine Ausnahme von dieser Regel dar.)

»Furchtbar, Sir«, pflichtete sie mir bei, ohne ins Detail zu gehen.

Irgendwann ging die Tür auf, neben der ich saß, und ein Mann trat heraus. Er war elegant gekleidet, ein Dandy, doch sein Gesicht war eine Gebirgslandschaft voller rauer Pusteln.

»Guten Tag«, grüßte er mich und strahlte so breit, wie seine Hautkrankheit es zuließ. Offensichtlich hatte er soeben ein Wunder erlebt (oder das Versprechen eines solchen erhalten).

Dann herrschte wieder die typische Wartezimmer-Apathie; nur die Uhr zertickte die Stille, bis schließlich ich an der Reihe war.

Dr. Jonathan Hutchinson war ein beeindruckender Mann. Selbst in dieser für ihre beeindruckenden Gentlemen berühmten Epoche war er eine herausragende Erscheinung. Er war hochgewachsen und elegant und trug einen langen Bart. Insbesondere der Bart verdiente Bewunderung. Im Stil weder griechischer Philosoph noch zottiger Schiffbrüchiger, war dieser Bart wohlersonnen und sorgfältig frisiert, wie er nach unten schmaler und fedriger wurde, bis er in einer weißen Franse auslief und schließlich, unmerklich, im Nichts endete. Vielleicht war es die Atmosphäre dieses Vormittags, die mich in Dr. Hutchinsons Bart eine Metapher alles Sterblichen erkennen ließ.

»Vielen Dank, dass Sie sich die Zeit für mich nehmen«, sagte ich und bereute es sofort. Ich wollte nicht verzweifelt klingen.

Dr. Hutchinson warf einen Blick auf seine Taschenuhr. Während der Konsultation würde er die Geste mehrmals wiederholen. Wahrscheinlich war es keine Ungeduld, sondern eine Marotte, so wie der Blick aufs Smartphone in der heutigen Zeit.

Dann sah er mich an. Er nahm ein Blatt Papier vom Schreibtisch, den Brief, den ich ihm geschrieben hatte, und las Auszüge daraus vor.

»Werter Herr Dr. Hutchinson«, – seine Stimme war zugleich samtig und trocken, wie Portwein –, »ich bin ein großer Bewunderer Ihrer Arbeit. Vor kurzem stieß ich auf Ihren Artikel über die von Ihnen entdeckte Krankheit, die den Körper vorzeitig altern lässt … Ich selbst leide an einer seltsamen Veranlagung, deren Wesen ähnlich gelagert ist, wenn auch – falls das möglich ist – noch unergründlicher … Ich habe das Gefühl, Sie sind der einzige Mensch im Abendland, der vielleicht in der Lage sein könnte, mir eine Erklärung zu geben und das Rätsel eines ganzen Lebens zu lösen …«

Sorgfältig faltete er den Brief zusammen und legte ihn weg. Er musterte mich eingehend.

»Ihre Haut strahlt vor Gesundheit. Sie haben die Haut eines gesunden Menschen.«