Wiener Melange für zwei - Nadine Fauland - E-Book

Wiener Melange für zwei E-Book

Nadine Fauland

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Beschreibung

Ein Gaumenschmaus, der berührt und inspiriert


Inmitten Wiens betreibt Lissy einen Lieferservice der besonderen Art. Sie kocht nicht nur für das leibliche Wohl, sondern auch für Herz und Seele ihrer Kunden. Sehnsucht nach Liebe oder fernen Ländern, Einsamkeit, Trübsinn oder ein gebrochenes Herz - Lissy findet für jeden das passende Gericht. Bis Matthias bei ihr bestellt und Lissy zum ersten Mal richtig danebenliegt. Völlig verstimmt hinterlässt er eine schlechte Bewertung im Internet. Lissy kann und will das nicht hinnehmen und denkt sich etwas ganz Besonderes aus, um den schwierigen Kunden doch noch zu überzeugen. Womit sie nicht gerechnet hat: dass Matthias ihr so unter die Haut geht, obwohl sie nur seine Stimme hört ...


Erleben Sie Liebe und Genuss in einer der schönsten Städte Europas: Wien


Eine frische junge Stimme aus Österreich mit einem besonderen Erzählton



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Inhalt

Cover

Inhalt

Über das Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

Widmung

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Epilog

Nachbemerkung & Dank

Über das Buch

Ein Gaumenschmaus, der berührt und inspiriert

Inmitten Wiens betreibt Lissy einen Lieferservice der besonderen Art. Sie kocht nicht nur für das leibliche Wohl, sondern auch für Herz und Seele ihrer Kunden. Sehnsucht nach Liebe oder fernen Ländern, Einsamkeit, Trübsinn oder ein gebrochenes Herz – Lissy findet für jeden das passende Gericht. Bis Matthias bei ihr bestellt und Lissy zum ersten Mal richtig danebenliegt. Völlig verstimmt hinterlässt er eine schlechte Bewertung im Internet. Lissy kann und will das nicht hinnehmen und denkt sich etwas ganz Besonderes aus, um den schwierigen Kunden doch noch zu überzeugen. Womit sie nicht gerechnet hat: dass Matthias ihr so unter die Haut geht, obwohl sie nur seine Stimme hört …

Erleben Sie Liebe und Genuss in einer der schönsten Städte Europas: Wien

Eine frische junge Stimme aus Österreich mit einem besonderen Erzählton

Über die Autorin

Nadine Fauland ist eine österreichische Autorin. Sie wurde 1983 geboren und studierte Tourismusmanagement. Obwohl es sie immer in die weite Welt hinauszog, ist sie schnell dem Wiener Charme erlegen und der Liebe wegen in der Hauptstadt geblieben. Zu einer feinen Melange kann sie genauso wenig Nein sagen wie zu einer ausgiebigen Joggingrunde im Augarten. Unter Pseudonym hat sie bereits mehrere Bücher erfolgreich veröffentlicht.

NADINE FAULAND

ROMAN

Vollständige E-Book-Ausgabedes in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Originalausgabe

Dieses Werk wurde vermittelt durch die litmedia. agency, Germany. Copyright © 2023 by Bastei Lübbe AG, Köln Lektorat: Dr. Stefanie Heinen Textredaktion: Dr. Ulrike Strerath-Bolz, Friedberg Umschlaggestaltung: U1berlin / Patrizia Di Stefano unter Verwendung einer Illustration von © Patrizia Di Stefano E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-7517-4231-3

Sie finden uns im Internet unter luebbe.deBitte beachten Sie auch: lesejury.de

Für Lara und Bernhard, in Liebe

Kapitel 1

Ich brauche Liebe, fühle mich so unterkühlt! Himmel! Richtig viel Liebe bitte … Mit einem schweißtreibenden Höhepunkt, dem gestern Nacht meine Nachbarin mit einem herrlich lauten Stöhnen erlegen ist. Himmel … die Wände sind einfach zu dünn, um mich vor Neid zu schützen!

Die Mail ist von Lady Mon Chéri, die nie einen Genierer hat, dem Pizzakummerkasten genau mitzuteilen, was sie will. Lady Mon Chéri heißt im wirklichen Leben Gertrude Kobald. Lehrerin für Angewandte Kunst bei unter Achtzehnjährigen. Erotische Kunst bei etwas älteren Schülern, meist sind es Erwachsene, die sie in ihrem Atelier aufsuchen und lernen wollen, wie man Sinnlichkeit zu Papier bringt. Mittlerweile kennt Lissy ihren vollen Namen und ihre Lebensgeschichte. Kein Wunder, denn Lady Mon Chéri bestellt schon seit mehreren Monaten treu bei ihr. Vielleicht, weil Lissy zaubern kann. Vielleicht, weil sie den Kochlöffel wie ein Zepter schwingt und damit ein ganzes Schlaraffenland beherrscht. So oder so ähnlich muss es wohl sein, sonst hätte der Pizzakummerkasten nicht mehrere Erwähnungen in den bekanntesten Zeitungen der Stadt bekommen. Als »Küche für Herz und Seele« betitelte sie ein Boulevardblatt, das in einer Überzahl in den U-Bahn-Stationen ausliegt und immer für ein kurzes, abgelenktes Durchblättern gut ist.

Andere mussten in den Lockdownphasen der Pandemie ihre Lokalitäten schließen, Lissy konnte sich vor Bestellungen kaum retten. Vielleicht, weil sich so viele Menschen etwas von der Seele schreiben wollten und einen kurzen, bedeutenden Moment des Genusses suchten, um ihrem grauen Alltag eine kräftige Farbe zu verleihen. Ein sattes Pink, das auf einer ausgefallenen zitronengelben Torte tanzt und nach Amalfiküste an einem heißen, schwülen Augustnachmittag duftet. Nach einem kleinen Abenteuer, einer kleinen Reise. Nach Jetlag. Einer Achterbahn an Gefühlen. Einem Vollrausch. Nach einem stinknormalen Leben mit täglichen Experimenten, auch wenn das ein Widerspruch in sich ist. Nachdem sie jemand im ersten Lockdown auf TripAdvisor »Die Seelsorgerin für Gaumen und Herz« genannt hat, musste Lissy sogar weiteres Personal einstellen.

All die guten Bewertungen ihrer Kunden geben ihr recht, und sie hätte schon längst ihren Lieferservice ausbauen und expandieren können. Doch für Lissy ist Essen wie Poesie. Der, der sie schreibt, ist einmalig, den kann man nicht doubeln oder franchisen. Um zu zaubern und etwas zu bewirken, ist es notwendig, dass man sich in seine Kundschaft hineinversetzt, damit das Gericht am Ende das bewirkt, was es bewerkstelligen soll. Beim Verzehren muss etwas ins Schwingen geraten, vor allem beim ersten Bissen. Das ist der alles entscheidende Moment. Der erste Bissen. Für Lissy ist Essen die wahre Medizin. Die beste, die es für Körper, Geist und Seele gibt.

Hey, Pizzakummerkasten, ich fühle mich heute wie brauner Schneematsch, der von Kinderfüßen in den Gully getreten wurde. Was empfehlen Sie mir?, ploppt als nächste Bestellung in ihrem Posteingang auf.

Nachdenklich starrt Lissy den Bildschirm an, da sie den Absender nicht kennt. Es ist kurz nach zwölf Uhr. Die Trüffelravioli brutzeln in der Gusspfanne in brauner Butter vor sich hin und verklären die Luft mit ihrer moschusartigen Note. Lissys Magen lässt ein sehnsüchtiges Grummeln hören. Seit dem frühen Morgen steht sie in der Küche, kocht und bäckt, um vorbereitet für das Mittagsgeschäft zu sein, das heute ungewöhnlich hektisch ist. Ihre Kreativität gerät ein wenig ins Schwitzen – wie der frisch geriebene Bergkäse, der in einer kleinen Metallschale neben dem Herd steht und darauf wartet, mit seinen Aromen in Kürze die Trüffelravioli zu veredeln. Letzte Woche hat sie den Käse unter größter Sorgfalt in ihrem wendigen Stadtflitzer aus Vorarlberg nach Wien eskortiert, kühl gelagert neben anderen Köstlichkeiten, die sie auf ihrem kulinarischen Streifzug durch Westösterreich entdeckt hat. Lissy hofft darauf, dass die Grenzen bald wieder geöffnet sind, damit sie nicht mehr darauf angewiesen ist, ihre internationalen Schätze online zu bestellen und sich dabei auf vielversprechende Werbetexte oder Werbebilder zu verlassen, die ohnehin nie halten, was sie versprechen.

Lissy, die offiziell Lieselotte heißt, hat schon von klein auf ein gutes Gespür dafür gehabt, was andere wollen. Als Kind posaunte sie es lautstark hinaus, und irgendwie stimmte ihre Deutung immer, die in manchen Fällen erschreckend genau und unbarmherzig ehrlich ausfallen konnte. Es war wie ein perfekt platzierter Dartschuss mitten in die routinierten Lügenfassaden einiger Gesichter, der manchmal deutlich sichtbare Löcher hinterließ. Heute ist Lissy vorsichtiger damit geworden und skizziert ihre Treffsicherheit nur noch mittels Oregano, Basilikum und Co. auf diversen Gerichten, die sie ihren Kunden auch erst nach Aufforderung offeriert.

In ihrem Herzen geht sie das Empfinden ihres neuen Patienten durch. Er hat sich das erste Mal bei ihr gemeldet. Matthias. Nachname unbekannt. Dafür hat sie eine Adresse. Wenn alles gut geht, würde er sich mehrere Male im Monat bei ihr melden. Nein, sie ist keine Psychiaterin, keine Psychologin oder Therapeutin. Oh Gott … auch keine Prostituierte. Und nur in Ausnahmefällen, wenn das Herz schwer vor Einsamkeit wird, eine Grenzgängerin auf Dating-Apps. Gut, ein paar Mal war sie vor der Pandemie auf Tinder unterwegs, aber irgendwie hat das nie so richtig klappen wollen mit den Männern. Vielleicht haben die netten Typen das mit dem Wischen nach links oder rechts nicht so recht verstanden …

In ihrem Kopf geht Lissy ihre Empfehlung durch. Etwas Süßes vielleicht? Nein, etwas Süßes als Hauptgang funktioniert nur in Ausnahmefällen. Bei Lady Mon Chéri zum Beispiel, die das regelmäßig zu Mittag von ihr kredenzt bekommt – meist einen warmen Kaiserschmarrn, weil es die Leibspeise ihrer treuen Kundin und eines von Lissys Lieblingsrezepten ist, für das sie weit über die Bezirksgrenzen hinaus bekannt ist. Manchmal kombiniert sie den Kaiserschmarrn mit einem selbst gemachten lauwarmen Apfel-Zimt-Kompott oder einem traditionellen Zwetschgenröster, wenn Lady Mon Chéri mal wieder ordentlich Schwung braucht. Geht es hart auf hart, darf auch ein Berg Puderzucker den Kaiserschmarrn unter sich begraben und ihrer Kundin den Mund verkleben.

Lissy gibt ihren Patienten Namen. Außergewöhnliche Namenskreationen, die ihren einfallsreichen Gerichten in nichts nachstehen. Diese Ansprüche stellt sie an sich selbst. Im Grunde genommen ist Lieselotte eine Therapeutin, denn Köche sind, richtig verstanden, nichts anderes als Seelsorger. Sie sorgen für das leibliche Wohl, das letztlich in einem Seelenwohl endet. Das kann jeder bestätigen, der in einem Frustrationshöhenflug einer leckeren Sahnetorte oder einer doppelten Portion Eiscreme erlegen ist und sich danach um Welten besser gefühlt hat.

Aber was ist mit diesem Matthias los? Was braucht er?

Vorsichtig öffnet sie den Kühlschrank und sieht nach, ob für Lady Mon Chéri noch genügend Rhabarberkompott da ist. Kaiserschmarrn mit Kompott? Zu einfallslos. Vielleicht eine Kombination mit Erdbeereis? Erdbeeren und Kaiserschmarrn? … Das ist wie Schlittenfahren auf einer Geraden. Heute wird sie ihr eine wahre Überraschung, ein wenig Aufregung kredenzen, so, wie sie es bestellt hat.

»Pierre, haben wir noch Quitten lagernd?«, fragt sie ihren Sous-Chef, der damit beschäftigt ist, ein Grapefruit-Parfait für den stets frustrierten Radicchio-Boy zuzubereiten. Sie beide wissen: Verbittert bekämpft man am besten mit Bitter. Das ist wie in der Homöopathie.

»Oui, oui, ma petite Chefiiiin. Alles noch da!«, antwortet Pierre, der eine Rezeptdatenbank in seinem Kopf gespeichert hat, vor der Lissy einst ehrfürchtig kniete. Tagelang ließ Pierre sie zittern, wie eine Diva ließ er sich mehrmals um einen Tanz bitten, ehe er mit einem leisen Oui, oui, wahrscheinlisch will isch, isch weiß nur nisch, für wie lange als neuer Sous-Chef im kleinen Pizzakummerkasten zu arbeiten begann. Seither stehen sie Seite an Seite. Schwitzen und tüfteln gemeinsam an ausgefallenen Kochrezepten und schwingen die Kochlöffel, als kämpften sie gegen fleischgewordene Knödelkreaturen. Sie bewerfen sich übersprudelnd mit französischen und deutschen Schimpfwörtern, die Pierre leidenschaftlich und Lissy verhalten über die Lippen kommen, sodass es nicht nur in den Töpfen raucht.

Wieder einmal gleiten Lissys Hände zur Rührschüssel, und sie beginnt zu zaubern. Mehl, Eier, Milch, Butter, Zucker, ein, zwei Körnchen Salz … den Teig vermischen, alles wie gewohnt. Dazu eine Prise Rosmarin und frisch geschnittene Quitten anstelle der üblichen Rosinen, vorsichtig dem Teig in einem unachtsamen Moment untergejubelt, sodass er für den kreativen Fauxpas nicht ins Meckern gerät. Dann goldbraun ausbacken, zur Krönung ein paar Flocken des Schokoladen-Chili-Pulvers drauf und zum Warmhalten in den Ofen gestellt. Et voilà … In wenigen Minuten wird der Süßtraum mit anderen Gerichten in bester Verfassung und perfekt temperiert ihr Lokal im Zweiten verlassen und mit dem Fahrrad im Eiltempo und vor allem klimaneutral zu ihren Kunden kutschiert werden. Der Kaiserschmarrn wird ihrer Lady Mon Chéri nach den zähen Unterrichtsstunden ordentlich einheizen und einen Höhepunkt verursachen, mit dem sie ihre Nachbarin eifersüchtig machen könnte.

Lissys Pizzakummerkasten hat keine Sitzplätze. Es gibt nur diese feine Küche, in der die fantastischsten und gefühlvollsten Menüs der Stadt gekocht werden. Nur in absoluten Ausnahmefällen kredenzt sie allerdings Pizza. Die bekommen nur die ganz harten Fälle von ihr geliefert. Ein schlauer Businessberater wetterte seinerzeit vor der Gründung, dass ihre Idee mit dieser Namensgebung zum Scheitern verurteilt sei, denn wo Pizza draufstehe, müsse auch Pizza drinnen sein. Lissy zuckte nur mit den Schultern. Warum sie ihren Lieferservice so genannt hat, weiß sie selbst nicht mehr so genau. Der Name wurde aus einer betrunkenen Laune heraus am Donaukanal erfunden, wo sie mit ihrer besten Freundin eine neapolitanische Pizza teilte, zwei Flaschen Veltliner-Frizzante trank und sich wegen der akuten Schlechtwetterphase in ihrem Leben ausheulte. Unter vielen Tränen und noch mehr Promille wurde der Pizzakummerkasten geboren.

Abermals ertönt der leise Glockenton.

Liebes Fräulein Lieselotte, wie geht es Ihnen heute an diesem verregneten Apriltag? Ärgern Sie sich auch so über das Wetter? Ich muss unbedingt wieder verreisen. Ich würde gerne die Meeresluft in meiner Nase spüren, die Zypressen im Wind wiegen hören und meinen Enkelkindern am goldenen Sandstrand dabei zusehen, wie sie Sandburgen bauen und heiter lachen … Dazu süße kleine Spuren im Sand hinterlassen, die so winzig sind, dass nicht mal mein Zeigefinger der Länge nach hineinpasst. Können Sie das bewerkstelligen und mich kulinarisch in eine andere Welt entsenden? Es grüßt Sie Frau Siebenstern.

Freitag. Natürlich. Zeit, in weite Fernen zu schweifen. Zumindest kulinarisch. Mrs. Sunshine-Reggae, so nennt sie Frau Siebenstern, obwohl diese lieber Walzer als Reggae und derzeit mehr im Regen als im Sonnenschein tanzt. Freitags hebt sie gerne ab. Nur kulinarisch, denn reisen tut sie schon lange nicht mehr, was sie früher mit ihrem Mann leidenschaftlich gerne tat. Im Frühjahr ging es nach Frankreich in die Provence, im Sommer in das kaiserliche Bad Ischl, im Herbst in eine herrschaftliche Finca nach Mallorca und im Winter zum Schifahren nach Lech, wobei beide, anstatt Schi zu fahren, lieber vor dem Kaminofen in der Lobby saßen und Rotwein tranken oder ihre Zeit schwitzend in der Hotelsauna verbrachten. Seit Anbeginn des Pizzakummerkastens ist Mrs. Sunshine-Reggae eine Bestands- und Lieblingskundin von Lissy, denn die Frau trägt ihre Sehnsucht auf der Zunge. Früher hielten nicht mal eine gekühlte Flasche Dom Pérignon und ihre Lieblingssendung Sturm der Liebe die Grande Dame Siebenstern zu Hause, obwohl ihr Zuhause eine noble Villa in Döbling ist. Frau Siebenstern trank ihr tägliches Glas Champagner im mondänen Gastgarten des Kamels, im ersten Wiener Gemeindebezirk, und genoss ihren eigenen Sturm der Liebe, da sie es nie so genau mit der Treue hielt. Früher war halt alles leichter. Früher war alles lustiger. Bevor die Hüftprobleme kamen, bevor ihr Mann verstarb. Früher eben.

Lissy guckt in den Kühlschrank. Kein frischer Fisch mehr vorrätig. Kurzerhand schickt sie ihren Lehrjungen Max zum Vorgartenmarkt und beauftragt ihn, einen frischen Fisch zu fangen. Sie beschreibt genau, was sie will: Salzwasserfisch. Im Ganzen. Dreihundertfünfzig Gramm schwer, wegen der Abfälle. Zartes Filet. Fischmann Adal wird schon wissen, was sie haben will, denn die besten Fische gibt es beim Neunzehner-Stand an Adals Tisch, vor dem sich meist eine lange Warteschlange von Gourmets und Hipstern bildet. Täglich schwärmt Max auf seinem Elektroroller quer durch Wien aus, da die Chefin nie alle Zutaten auf Lager hat, die sie für ihre Rezepte braucht. Das wäre auch unmöglich. Oft variiert und veredelt sie Grundrezepte, die sie am Vormittag vorbereitet hat, und passt sie an die Gefühle und Bedürfnisse ihrer Patienten an. Sie hat auch keine Speisekarte. So etwas existiert im Pizzakummerkasten nicht. Man bestellt mit seinen Empfindungen. Diese auszudrücken fällt aber nicht allen leicht.

Fühle mich Scheiße. Bitte um prompte Beseitigung!MFGMag. Gerhard Waller, ploppt plötzlich auf ihrem Bildschirm mit dem bekannten leisen Glockenton auf. Der zarte Eingangston passt nie zu den Bestellungen, die der Bitter-Lemon-Mann ihr beinahe täglich schickt. Er bräuchte so eine Rocky-Balboa-Melodie oder irgendetwas Hartes von Metallica oder HammerFall. Gerhard Waller ist immer gestresst, kurz vor dem Kollaps, selbstbehauptend am Puls der Zeit und stets überarbeitet. Er macht irgendetwas mit Finanzen, jongliert mit Zahlen und Depots herum, als würde er eben mal ein paar Brötchen beim Bäcker kaufen. Einmal versuchte er, Lissy seine Geschäftsagenda zu erklären. Da stieg sie aus, denn sie ist froh, wenn sie versteht, was ein Effektivzinssatz für die Tilgung ihrer Kreditrate bedeutet.

Mr. Crunch! So nennt sie diesen Matthias ab sofort. Und mit dem Namen hat sie auch schon das perfekte Gericht für ihn im Kopf. Oder war es andersrum?

Himmel, die Knödel!

»Pierre, kannst du dich um Robinson Crusoe kümmern?«

Den hätte sie bei den vielen Bestellungen beinahe vergessen. Dr. Robinson Crusoe bestellt erst seit Kurzem bei ihr, dafür regelmäßig. Er ist ein emeritierter Geschichtsprofessor, der kaum einen Fuß vor die Tür setzt, aber immer hungrig nach einem Abenteuer ist. Also versteckt ihm Lissy seine Abenteuer in Knödeln. Jeden einzelnen bereitet sie mit einer individuellen, überraschenden Fülle vor. Mal süß, mal herzig, sodass Dr. Crusoe immer wieder gespannt den nächsten Bissen nimmt. Ein Blick in den Kühlschrank verrät ihr, dass sie nur noch tiefgekühlte Garnelen vorrätig hat. Kurzerhand ruft sie Max an und beauftragt ihn, ein paar frische vom Markt mitzubringen, ansonsten würde Mr. Crunch nach zwei Stunden den Hungertod erleiden. »Wieder diese ur-teuren?«, will Max wissen, der gerade ungeduldig in der Warteschlange für den Fisch steht.

»Ja, genau die, die du mir letztes Mal gebracht hast. Die waren gut. Zweihundert Gramm.«

»Geht klar, Boss«, sagt er cool und macht dabei eine lässige Handbewegung, als müsse er etwas am Schwarzmarkt für seine Chefin besorgen. Lissy mag es nicht so recht, wenn er sie so nennt. Aber »Boss« klingt für Max richtig, denn dann kommt er sich wie auf einer wichtigen Geheimmission vor und fühlt sich wie eine jugendliche Version von James Bond.

Wirklich rentabel ist Lissys Geschäft nicht, da sie mit ihrem Konzept keine Massen abfertigen kann und stets viel Zeit benötigt, um sich das passende Gericht auszudenken. Das verlangt auch ihren Kunden einiges an Geduld ab, was nicht jedem liegt. Wer wartet heute noch gerne auf etwas? Manche haben aus diesem Grund nur ein einziges Mal beim Pizzakummerkasten bestellt. Und immer wieder gab es kritische Bewertungen auf diversen Portalen, die die langen Wartezeiten rügten. Wer hat heute noch Zeit für Überraschungen? Doch gut Ding braucht nun mal Weile. Vor allem beim Essen. Geduld und Genuss gehen hier Hand in Hand. Lissy bereitet die Cornflakes-Panade für die Garnelen zu, wäscht den Feldsalat und schneidet eine Mango klein. Im Anschluss kreiert sie ein ausgefallenes Dressing aus Koriander, Mango- und Zitronensaft, das ihr für Mr. Crunch in den Sinn gekommen ist. Der knusprige Garnelensalat, serviert mit dem krossen hausgemachten Weißbrot, das Pierre täglich morgens bäckt, wird in Windeseile den Matsch in Matthias’ Leben beseitigen.

~

Am Nachmittag fährt Lissy mit der U-Bahn an die Alte Donau, um es sich für ein paar Stunden auf einer Decke im grünen Gras gemütlich zu machen, ehe das Abendgeschäft losgeht. Direkt am Wasser breitet sie ihre Picknickdecke aus, nimmt ein Sandwich und ein wenig Obst aus der Tupperdose und setzt sich. Entspannt lehnt sie sich mit ihrem Oberkörper an den Rucksack und sieht den Enten dabei zu, wie sie seelenruhig ihre Runden im Wasser drehen, während sie ihr Sandwich verdrückt. Als sie mit dem Essen fertig ist und die Tupperdose in ihren Händen gegen ein Buch tauschen will, trudelt eine neue Nachricht in ihrem Restaurant-Chatprogramm ein. Hat sie etwa vergessen, das Ordersystem aus- und die Notiz zu den Öffnungszeiten einzuschalten? Sie nimmt ihr Handy zur Hand.

Hallo … was kostet denn eigentlich ein Apfelstrudel mit Vanilleeis? … Ach so, und mit Schlag. Kann man Schlag überhaupt transportieren?

Lissy zuckt mit den Schultern und legt ihr Buch beiseite. Natürlich ist Schlagsahne transportierbar, aber einen Apfelstrudel hat sie gerade nicht vorrätig. Strudelteig ist auch nicht mehr im Haus. Also kann sie gleich zurückschreiben.

Leider kann ich Ihnen heute keinen anbieten. Apfelstrudel ist aus, und wir haben derzeit geschlossen. Ab achtzehn Uhr sind wir wieder für Sie da. Da helfen wir Ihnen gerne mit einer passenden Alternative weiter.

Kulinarische Grüße, Ihr Pizzakummerkasten

Oh … schade. Ich suche nämlich nach einer schönen Erinnerung, und Sie sind ja der Kummerkasten. Also der Pizzakummerkasten. Und da dachte ich, Sie können mir weiterhelfen. Oder gibt es da bei Ihnen nur Pizza?

Wie sieht denn die Erinnerung aus?, schreibt Lissy zurück, denn die Nachricht hat sie neugierig gemacht, versucht sie doch selbst ständig, sich an schönen Erinnerungen aus der Vergangenheit festzuhalten.

Lange kommt nichts zurück, sodass sich Lissy in ihr Buch vertieft und die spärlichen Sonnenstrahlen genießt, die dieser wolkenverhangene Nachmittag freigibt.

Ein leiser Glockenton erklingt.

Sie hat warme Hände. So ganz zarte warme Hände, von denen man gerne umarmt wird. Von denen jeder gerne umarmt wird. Da bin ich mir sicher. Hundertpro. Aber eigentlich weiß ich gar nicht mehr, wie sich diese Hände angefühlt haben. Also, eigentlich hab ich’s vergessen.

Lissy scrollt neugierig zur E-Mail-Adresse des Absenders. JenXo. Trauriges kleines Herz, denkt sie. Eine neue Patientin. Ein weiterer Glockenton ertönt.

Und mit diesen Händen hat sie für mich immer Apfelstrudel gemacht. So einen richtig, richtig leckeren, müssen Sie wissen. Davon hab ich Unmengen gegessen, bis mir der Bauch nach vorne gestanden ist und Papa gesagt hat, dass ich einen echten Ranzen hab.

Lissy lächelt sanft vor sich hin. Eine Kindheitserinnerung kommt ihr in den Sinn. Goldene Weizenfelder, Marillenbäume, ein kleiner Bach, der sich leise durch die Landschaft schiebt. Träges Sonnenlicht, das vom Himmel gleitet, als wäre es von den schwülen Julitagen müde geworden. Ihre beste Freundin Jelenka, die nach ihrer Hand greift. Mit der sie kichernd über den Holzsteg läuft und mit einer in unzähligen Springstunden perfektionierten und synchronisierten Arschbombe im lauwarmen Badeteich landet. Eine alte, robuste Dame mit ländlichem Kopftuch, die irgendwann am späten Nachmittag mit ihrem schwarzen Waffenfahrrad angerollt kam. Die immer zur selben Uhrzeit am späten Nachmittag zum Teich radelte, und mit ihren Rufen und dem kargen, schroff klingenden Deutsch die untergetauchten Köpfe aus dem Wasser lockte. Dafür brauchte es nur einen einzigen Satz, und beide sprangen wie junge Hunde in Erwartung eines köstlichen Leckerlis aus den Fluten.

»Jelenka, Lissy, gute Štrukli. Ihr kommen raus essen. Jetzt noch warm!«

Und dann das aufgeregte Kribbeln im Bauch, wenn man aus dem Wasser hastete und zur Decke rannte, um als Erste dort zu sein. Doch nie wollte es gelingen. Jelenka war immer schneller als Lissy. Vielleicht, weil sie das Laufen kannte. Immerhin ist sie einst mit ihrer Großmutter vor Bomben weggelaufen.

Dann das aufgeregte Verfolgen mit Blicken, wenn die Bäckermeisterin mit kritischen Zügen ihr Meisterstück, eingewickelt in Pergamentpapier, aus dem Flechtkorb zog. Zwei Teller hervorholte und die Strudelstücke mit Puderzucker anrichtete, den sie in einer kleinen Metalldose im Korb mittrug. Eine kurze, ehrfürchtige Stille, ehe man den ersten großen, unersättlichen Bissen nahm. Aus Hunger, aus Lust, aus Gier, aus Liebe … was auch immer. Es schmeckte fantastisch und ist unvergesslich.

Leider ist es Lissy nie gelungen, dieses Gefühl nachzukochen. Nicht für sich selbst und auch nicht für Jelenka, denn die Großmutter ging nach dem Ende des Jugoslawienkrieges in ihre Heimat zurück.

Eine Umarmung also?, schreibt Lissy.

Ja, eine richtig feste hätte ich gern. Ich kann auch warten, bis Sie wieder offen haben. Auf coole Sachen kann ich immer warten.

Dann lasse ich mir gerne etwas für Sie einfallen.

Und was kostet das? Ich hab noch zwei Euro von meinem Taschengeld übrig. Reicht das?

Dafür bekommt man nicht einmal mehr einen Apfelstrudel in der Bäckerei, denkt sich Lissy.

Erzählen Sie als Dank einfach einer Freundin von meinem Service, wenn Sie mit meiner Küche zufrieden waren. Ich schicke Ihnen später etwas vorbei.

Sie können Du zu mir sagen. Ich bin nämlich erst zehn.

Lissy lächelt; manchmal fühlt sie sich auch wie zehn und springt mit einer Arschbombe und ihrer besten Freundin an der Hand in die Fluten des Lebens.

~

Am frühen Abend tröpfeln die Bestellungen wie ein Latte macchiato, der stockend aus der Maschine rinnt, im Kummerkasten ein. Eine angenehme Arbeitsatmosphäre herrscht, sodass Lissy und Pierre nebenbei Musik hören können, ohne Gefahr zu laufen, die kreative Kontrolle über ihre Kochkunst zu verlieren. Heute ist der Sous-Chef mit der Songauswahl dran, was Max mit einem Murren quittiert, denn er weiß, was gleich kommen wird. Pierre ist mit Leib und Gaumen Franzose und steht auf alte Chansons, die viele Jahre vor Max’ Geburt das Licht der Welt erblickten. Ein Klassiker trällert aus den Boxen, zu dem Pierre fröhlich mitpfeift.

Überrascht hebt Lissy eine Augenbraue und stellt die Pfanne mit den gerösteten Mandelsplittern zur Seite, denn Pierre gepaart mit Fröhlichkeit ist wie Gulasch mit Avocado – eine besorgniserregende Kombi, die so gut wie nie zusammen auftritt. Es sei denn, der Koch ist verliebt und wüsste nicht so recht, wo ihm der Kopf steht. Normalerweise ist Pierre ein beständiger Dramatiker, nie offiziell fröhlich, als hätte er irgendwann beschlossen, als dramatischer Küchengott in seine eigene Lebensgeschichte einzugehen. Er besteht auf dem süßen Schmerz in seinem Alltag, der ihm zart wie Panna cotta die Kehle runtergleitet. Ein paar Flocken gut designte Theatralik, garniert mit einer gewissen Schwermut, die er sich frühmorgens nach dem Aufstehen auf die Schultern packt, ist das ideale Frühstück, um mit einem ausgedehnten Seufzen in den Tag zu starten. Lissy hätte das perfekte Rezept für ihn parat, doch er ist noch nicht bereit loszulassen. Max setzt sich seine geräuschreduzierenden Kopfhörer auf, die er sich von seinem letzten Lehrgeld gekauft hat, und erklärt, dass er jetzt nur noch über sein Handy erreichbar sei. Dann wendet er sich gewissenhaft dem Abwasch zu, während seine Lieblingssongs an seine Ohren klopfen und seinen Fingern eine beneidenswerte Geschwindigkeit verleihen, mit der er in Windeseile das dreckige Geschirr in den Spüler räumt.

Irgendeine scheußlische Rapperrr aus Deutschland oder Österreisch, der stillose Musik macht, sagt Pierre immer, wenn Max seine Auswahl trifft und seine Chefitäten dazu verdonnert, Texte und sonderbare Klänge zu inhalieren, die Lissys Kreativität gerne auf stürmische See schicken. Doch Lissy lässt ihrem Max (fast) alles durchgehen, immerhin war sie selbst mal jung. Gut, damals hörte sie Kelly Clarkson mit sinnvollen Songs wie Since U Been Gone, zu denen man hemmungslos schmachten und liebeskummerbedingt weinen konnte, aber Max wurde ja noch nie von jemandem sitzengelassen. Zurzeit zieht er mit der hübschen Lena um die Häuser oder schreibt ihr Dutzende Nachrichten – einen undurchsichtigen Buchstabensalat an Abkürzungen –, als wäre er zu busy, um einen ordentlichen Satz in sein Handy zu tippen. Die süße Lena mit den langen blonden Haaren und der kleinen Stupsnase hat Max vor wenigen Wochen am Karlsplatz den Kopf verdreht. Mit unzähligen anderen Jugendlichen haben sie dort Party gemacht, obwohl es wegen Corona strikt verboten war. Max hat dann seine Lena vor der Polizei und einer Hundestaffel gerettet und ist mit ihr Hand in Hand in die nächste öffentliche Toilette geflüchtet, um sich mit ihr auf dem Damenklo zu verstecken. Dort hockten sie eine Weile auf dem Klodeckel beisammen und teilten eine Dose Bier, die er auch vor der Polizei gerettet hatte. Klar, dass man sich auf so einer brenzligen Tour, bei der man quasi schon die Handschellen klicken hört, ineinander vergucken muss. Das schweiße halt zusammen, hat Max seiner Chefin bei einem leckeren Butterkipferl erzählt. Von Dienstag bis Freitag frühstücken sie nämlich immer gemeinsam, ehe sie beschwingt mit der Arbeit loslegen. Während sie Spiegeleier und Hörnchen verdrücken, hält ihr Max gut gelaunt sein Handy unter die Nase und spielt sein Best-of an Tik-Tok-Videos ab, bei denen er sich am Vorabend in den Schlaf gelacht hat. Meist muss Lissy dann auch lachen, denn Max’ und ihr Humor sind vorbildlich kompatibel. Geradezu klassisch kompatibel, wie Vanilleeis und Schlagsahne.

Der leise Glockenton ertönt. Lissy sieht zum Computer, und ein Grinsen verankert sich auf ihren Lippen.

Liebes Fräulein Lieselotte, der Fisch gestern war ein Gedicht. Ich hatte doch tatsächlich das Gefühl, in einem herrlichen Restaurant an der französischen Riviera zu sitzen und eine köstliche Dorade zu verspeisen. Und erst diese delikate Beilage! Was Sie sich immer für mich einfallen lassen! Jeder Bissen war wie eine sanfte Meeresbrise, die sachte mein Gesicht streifte. Herzlichen Dank für dieses kulinarische Vergnügen, Ihre Frau Siebenstern.

Mrs. Sunshine-Reggae. Zufrieden schließt Lissy die Nachricht. Dankesworte sind Balsam für ihre Seele, genau dafür kocht sie. Für dieses Glücksgefühl steht sie beinahe täglich in der Küche und tüftelt an ausgefallenen und treffsicheren Gerichten, an die sich ihre Kunden auch am Tag darauf erinnern wollen.

Erneut ertönt der leise Glockenton. Dann gleich noch einmal.

Kein Wunder, denn gegen neunzehn Uhr trudeln die meisten Bestellungen ein. Ab zwanzig Uhr flacht das Geschäft langsam ab. Neugierig guckt sie auf das Display. Doch dieses Mal zieht eine heftige Gewitterwolke in Lissys Kopf auf. Ihre Mundwinkel kippen wie die Enden eines Kipferls nach unten. Sie hält einen Augenblick die Luft an, denn das macht sie immer, wenn im Betreff das gefürchtete Unwort auftaucht. Jener Begriff, den wohl kein Unternehmer gerne liest.

Beschwerde! steht da mit einem dicken fetten Rufzeichen, als wäre das Ausrufezeichen wichtiger als das Wort selbst. Absender: Matthias H. – Mr. Crunch.

Sehr geehrtes Pizzakummerkasten-Team,

ich habe bei Ihnen bestellt, weil ich von Ihrem Lieferservice in der Zeitung gelesen habe, doch leider kann ich mich den überschwänglichen Worten der Redakteurin – die anscheinend eine herbe Geschmacksverirrung hat – in keiner Weise anschließen. Was Sie mir geschickt haben, ist so unpassend, dass ich dieses Experiment nach dem dritten Bissen kopfschüttelnd beenden musste. Wie kommt man auf die Idee, einem Mann einen leichten Salat zu schicken? Einen so exotischen noch dazu, wo so gar nichts zusammenpasst? Hätte ich so etwas gewollt, dann hätte ich gleich beim Thailänder ums Eck bestellt.

Ich bin übrigens1,89 m groß und wiege sportliche81 kg … Gut, das konnten Sie aus meiner Beschreibung nicht herauslesen, aber ein Mann mit dieser Statur … oder wahrscheinlich ein jeder Mann … benötigt eine satt machende Draufgabe auf so einem mickrigen Salat. Schade, ich hätte mir weniger Einfallsreichtum, mehr Portionsgröße und vor allem eine schnörkellose Bodenständigkeit erwartet.

Mit freundlichen Grüßen

Matthias Hübner,MSc.

Lissy liest die Nachricht ein zweites Mal. Matthias Hübner,MSc. Als müsste er einen Titel anhängen, damit man seine Beschwerde ernst nimmt. Die Worte versetzen ihrem Herzen einen Stich, denn Lissy enttäuscht nicht gerne. Lieber wird sie enttäuscht, als anderen dieses beklemmende Gefühl zuzumuten.

»Ziemlisch unverschämt, diese Kerl, dabei hast du dir so viel Mühe gegeben. Arme petite Lissy«, bemerkt Pierre, der seiner Chefin im richtigen Moment über die Schulter geschaut hat. Pierre hat einen besonderen Riecher für das Eintrudeln von Kritik, als hätte er einen inneren Alert für diese Art von Nachrichten eingerichtet. Er spürt sie alle auf, egal, ob in Zeitungen oder im Internet, und er fordert sie manchmal auch face to face heraus, um dann, mit beiden Beinen fest am Boden verankert, seinem Gegenüber Kontra zu geben. Pierre steckt nicht gerne ein, dafür saugt er Positives wie ein trockener Schwamm auf. Das gesamte Umkleidezimmer hat er mit Lobeshymnen auf den Kummerkasten und seine Kunst plakatiert, als würde er jedes Mal in seiner Hall of Fame ein Schokoladenbad nehmen, wenn er in seine karierte Kochhose und die schwarze Kochjacke mit der dezenten Stickerei Pierre Dubois schlüpft.

Sehr geehrter Herr Hübner,MSc, schreibt Lissy zurück und markiert seinen Mastertitel fett, damit ihm klar ist, für wie lächerlich sie die Betonung des ihm so wichtigen Titels hält. Einige Male formuliert sie die Nachricht um, damit die Sätze nicht wie eine schwere Keule auf sein Haupt einschlagen, wenn sie erst mal raus sind.

Wir bedauern, dass wir Ihren Geschmack nicht treffen konnten. Wir versuchen immer, das passende Gericht für unsere Kunden zu kreieren. Aufgrund ihrer kurz ausgefallenen Beschreibung ist uns das anscheinend nicht zu Ihrer vollen Zufriedenheit gelungen. Vielleicht geben Sie uns dennoch eine zweite Chance und bestellen wieder einmal bei uns, damit wir Sie von unserer Küche überzeugen können.

Als Wiedergutmachung würden wir Ihnen gerne ein paar süße Grüße vorbeischicken.

Ihr Pizzakummerkasten

Lissy wird dem Fahrradlieferanten ein paar Marillenknödel einpacken, mit ordentlich vielen Bröseln und einem kleinen Staubzucker-Häubchen, das dem Kunden die schlechte Laune vertreiben wird. Ihr Zeigefinger verweilt auf der Returntaste, denn sie ist sich plötzlich nicht sicher, ob Mr. Crunch ihre Marillenknödel überhaupt verdient. Immerhin hat er seine Beschwerde ziemlich unhöflich formuliert. Himmel, eigentlich hat er ihr mit seinen Worten einen Tritt in ihren Allerwertesten verpasst. Erbost löscht sie die letzte Zeile wieder, auch wenn dann der Teil mit der Kompensation entfällt. Aber warum soll sie überhaupt etwas kompensieren? Sie ist sich sicher, für ihn das passende Gericht entworfen zu haben, um ihm aus dem Gully zu helfen.

Postwendend kommt eine Antwort zurück.

Ich habe was von Matsch in meinem Leben geschrieben. Jemand, der sagt, er sei von Kinderfüßen in das Abflussgitter getreten worden, braucht bestimmt nicht ein paar Blättchen Salat, um sich nicht mehr wie Gatsch zu fühlen. Da will man doch was Aufbauendes, in etwas richtig Fleischiges beißen. Und nicht den Fisch zwischen seinen Zähnen suchen müssen!

Eine Garnele ist ein Krebstier, erklärt Lissy ihrem Bildschirm und möchte die Belehrung am liebsten in die Tastatur knallen, aber da sie keine acht mehr ist und mittlerweile gelernt hat, dass man anderen auch nicht mit Worten die Zunge zeigt, verhält sie sich vorbildlich erwachsen, wie es sich für die Inhaberin eines gehobenen Lieferservices gehört.

Was hätten Sie denn genau erwartet?, schreibt sie zurück, was Pierre mit einem Augenrollen quittiert, denn er hätte Mr. Crunch virtuell mit dem Geschirrtuch zum Teufel gejagt. Aus diesem Grund übernimmt Lissy übrigens die Posteingänge im Pizzakummerkasten. Man weiß ja nie, welche Bomben tagtäglich eintrudeln und welche Pierre davon zündet.

Ein ordentliches Schnitzel, Cordon bleu oder ein zartes Roastbeef. Das hätte ich mir vorgestellt. Ich meine, da waren Cornflakes auf meinen Garnelen! Wer isst denn so was?

Lissy. Lissy isst so was. Sie liebt Garnelen im Cornflakesmantel. Pierre findet sie auch nicht schlecht, was so viel heißt wie prima, und Max verschlingt sowieso alles in doppelter Portion, was man ihm hinstellt.

Das war eine kreative Interpretation, Herr Hübner. Das ist unsere Arbeitsweise. Wir bedauern, dass wir Ihren Erwartungen nicht gerecht werden konnten, tippt sie, denn sie will nicht länger ihre Fingerfertigkeit dazu verschwenden, bei einem Typen, der ihre ausgefallene Küche nicht zu würdigen weiß, zu Kreuze zu kriechen. Stattdessen könnte sie an die Arbeit gehen und sich ein neues Gericht für die Toblerone-Mum ausdenken, von der gerade eine Bestellung eingetrudelt ist und die ihre Fertigkeiten wirklich verdient.

Da muss ich Sie leider enttäuschen. Das war eine kreative Fehlinterpretation. Egal, vielleicht klappt es ein anderes Mal.

Ein nächstes Mal wird es nicht geben. Dieser Typ wird nie wieder bei ihr bestellen, das ist so sicher wie das Salz im Meerwasser. Und Lissy ist sauer auf ihn. Das hat Gewicht, wie der Speckrand auf einem Schweinsbraten.

Sollten Sie wieder mal eine kreative Fehlinterpretation wünschen … oder ein wenig Fisch zwischen Ihren Zähnen suchen wollen … dann schreiben Sie uns einfach. Und wenn ich Ihnen einen kleinen Tipp geben darf, bestellen Sie sich ein Schnitzel beim Wirt ums Eck, dann geht’s bestimmt gleich besser!

Pierre klatscht in die Hände. »Senden«, befiehlt er und schickt sich an, selbst auf die Returntaste zu drücken. Doch Lissy ist feige … nein, vielmehr professionell … und löscht die Nachricht wieder.

Wir danken Ihnen für Ihr Feedback und wünschen Ihnen einen angenehmen Abend, schreibt sie stattdessen zurück.

»Oh, süße Lissy, deine Freundlischkeit wird dir noch das Herz breschen!«, sagt Pierre enttäuscht und widmet sich wieder dem Teig in der Schüssel, den er in der Aufregung vernachlässigt hat. Lissy presst ihre Lippen zusammen und sucht sich einen gedanklichen Rettungsanker, indem sie sich auf die nächste Bestellung konzentriert. Sie hat jetzt keine Zeit, sich auf ihre Gefühle einzulassen.

SOS! Chaos im Hause Fischer!

Bea hat heute einen Euro verschluckt. Großes Drama. Dann hat Timo versucht, den Euro aus ihr herauszuschütteln, und die große Emma hat nur gerufen: »Timo bringt die Bea um!« Bin wie eine Raubkatze ins Wohnzimmer gesprintet, um ein Kind nach dem anderen zu retten. Im Endeffekt ist nichts passiert, außer, dass die Bea jetzt ein Sparschwein ist und mir der Würsteleintopf angebrannt ist. Aber mein Mann hatte darauf ohnehin keine Lust, hat er mir vorhin am Telefon gesagt, weil er zu Mittag nur eine schnelle Eitrige beim Würstelstand hatte. Woher soll ich das wissen? Bin ich Superwoman? … Oder Supermum? Meine Kinder schreien gerade »Mamaaaaaaaa, Hunger!« in einer Lautstärke, als wollten sie eine Blaskapelle übertönen, und plündern die Naschlade, wodurch sie sich demnächst wie auf Speed verhalten werden. … Seufz! Und alles, was mein Kühlschrank hergibt, sind Ketchup und Nudeln von gestern. Das kann ich meinen Kindern nicht schon wieder antun. Bitte um rasche Hilfeleistung, damit ich die Raubtierfütterung vornehmen kann! … Und mein Mann mir weiterhin die Treue hält.

Grüße, Carina (Fischer)

Lissy schmunzelt, als sie die Nachricht von der Toblerone-Mum liest, und beneidet Carina ein klein wenig um das süße Chaos, das ständig bei ihr herrscht. Manchmal hätte sie auch gerne ein kunterbuntes Treiben in ihrer kleinen Wohnung, in der nicht mal eine faule Katze gähnt. Vorausschauend hat sie heute Nachmittag einen Stefaniebraten gemacht. Sie gibt Pierre ein Zeichen, damit er das Püree mit Butter finalisiert. Das Abendessen werden Carinas Kids lieben. Kinder mögen Dinge, die irgendwo versteckt oder eingeschlossen sind, dann fühlen sie sich wie Goldgräber, die einen Schatz entdeckt haben. Wenn die drei Racker auf die besondere Füllung stoßen, werden sie genüsslich schmatzen. Als Draufgabe packt Lissy ihrer Kundin eine kleine gekühlte Flasche Prosecco in die Tüte, denn sie weiß, dass sich die Toblerone-Mum, sobald die Kinder in ihren Bettchen schlummern, erschöpft mit ausgestreckten Beinen in ihren bequemen Ohrensessel fallen lässt und ab und an ein gekühltes Glas Prosecco trinkt und ein paar Seiten in einem Buch liest.

Am Abend, nachdem das Hauptgeschäft vorbei ist, schickt Lissy Max nach Hause, damit er die erlaubte Stundenanzahl für die Woche nicht überschreitet. Den Abwasch hat er wie immer in Bestzeit erledigt und sich selbst eine imaginäre Medaille dafür verliehen. In der letzten halben Stunde lag er seinen Vorgesetzten mit seinen Plänen für das Wochenende in den Ohren. Richtig nice illegal ausgehen wird er, danach mindestens zwölf Stunden ausschlafen und am Sonntag mit seinem besten Freund Playstation spielen … und ganz viel mit der Lena knutschen, weil die so süße Lippen hat. Als Lissy ihm das Go für sein aufregendes Wochenende gibt, packt er in Nullkommanichts die Essensreste in seinen Rucksack und düst mit seinem Flitzer hinaus in die abendlich vibrierende Stadt.

Hello, mein Dreamteam! erscheint als nächste Bestellung im Posteingang.

Heute habe ich so was wie Hummeln im Arsch, und ich spür den Fahrtwind schon in meinem Gesicht, denn … Trommelwirbel … ich werde mit der feschen Hanni später mit dem Cabrio auf den Kahlenberg düsen. Das wird eine Hammer-Ausfahrt. Die Hanni wird neben mir jauchzen, und ich werde meine Finger an das Lenkrad klammern müssen, damit ich keinen Mist im Straßenverkehr baue, denn die Hanni hat ja immer so ein aufregendes Dekolleté zu bieten, was mich ganz Wuki-Wuki macht. Die weiß halt, wie sie mich glücklich machen kann. Nach dieser Spritztour habe ich ihr ein super-romantisches Candlelight-Dinner im beheizten Whirlpool in meinem Schrebergarten versprochen, »das ich extra für sie kochen werde«. Dazu muss eine Flasche Beaujolais-Villages passen. Oder vielleicht auch zwei. Den Wein habe ich natürlich schon. Was eure Aufgabe ist, wisst ihr ja.

Das, was ihr bei der Beate fabriziert habt, war echt geil. Würde wahrscheinlich auch für die Hanni passen. Bitte pünktlich um20.50Uhr liefern, damit die Hanni das nicht checkt.

Servus, Kurt

Don-Juan-Quitte. Der kleine schlimme Finger, der jedes Wochenende Damenbesuch hat. Die Abwechslung, die er sich dabei nicht nur kulinarisch gönnt, ist sündhafter als eine dreistöckige Sahnetorte. Die Dekolleté-Hanni wird ihr eigenes Gericht bekommen, so viel ist sicher, und Don-Juan-Quitte seine heiße Nacht mit ihr. Kurts Charme scheint verführerischer zu sein als Sprühsahne mit Eierlikör.

»Pierre, Alarmstufe Liebe!«, flötet Lissy und guckt über ihre Schulter zum Sous-Chef, der gerade in sein Handy vertieft ist. »Übernimmst du das? Wir brauchen was Französisches. Vier Gänge mit einem explosiven Dessert und einem kleinen Frühstück … Nein, vergiss es, das Frühstück lassen wir weg, wir wollen keine falschen Erwartungen schüren.« Nicht, dass ihr wieder ein Fehler passiert wie bei Mr. Crunch, denkt sich Lissy und druckt Pierre die Bestellung aus. Die Rotweinmarke unterstreicht sie mit Leuchtmarker. »Kummerkasten an Pierre! Hallo, ist mein Sous-Chef noch anwesend, oder galoppiert er durch die Normandie?«, ruft sie, da sie keine Antwort erhält und Pierre hin und wieder gedanklich abdriftet.

»Merde! Das solltest du dir ansehen! Was für ein Crétin! Dass er sisch gleisch online auskotzen muss. So schlescht war deine Essen nisch!«, sagt Pierre und hält Lissy verärgert sein Handy unter die Nase.

Und da steht es.

Eine neue vernichtende Bewertung auf Google.

Was für eine herbe Enttäuschung!

Der Pizzakummerkasten konnte mich weder mit seiner Kreativität noch mit der Portionsgröße zufriedenstellen. Falsche Interpretation meiner Empfindung inklusive unangemessener Entschädigung seitens des Lieferservices. Nicht zu empfehlen. Werde zukünftig wieder anhand einer Speisekarte meine Auswahl treffen, denn da weiß ich, was ich bekomme. Matthias H.

Was hat dieser Herr Hübner für Vorstellungen?, fragt sich Lissy verärgert. Dass sie ihm ein Schnitzel paniert und mit einer vergoldeten Entschuldigungskarte im Schnelltempo an seine Adresse liefert? Zu kochen, was ihr in den Sinn kommt, ist die Freiheit der Interpretation. Ihre Freiheit. Und Fehler passieren. Vor allem bei dieser Art von Bestellsystem. Nicht immer trifft sie ins Schwarze, und mit den spärlichen Informationen, die ihr vorlagen, hat sie halt mal einen Pfeil ins Nirwana verschossen.

Da macht sie sich so viele Gedanken, und dann geht es schief. Das kommt selten vor, holt Lissy aber zielsicher von ihrer rosaroten Zuckerwattenwolke, auf der sie gerne schwebt.

Kurz nach einundzwanzig Uhr verabschiedet sich Pierre von ihr. Lissy desinfiziert die letzte Oberfläche, zieht ihre Kochjacke aus und lässt sich müde in einen Sessel plumpsen. Großzügig schenkt sie sich ein Glas Rotwein ein und geht noch einmal die Order von Mr. Crunch durch. Hm … vielleicht hat dieser Matthias doch recht gehabt. Eine Sache, die versteckt in seinen Worten liegt, hat sie nämlich übersehen.

Kapitel 2

In den letzten Tagen hat es die meiste Zeit geregnet. Dafür wirkt es an diesem Samstagmorgen, als hätte sich die Sonne endlich dazu entschlossen, ihre Ärmel hochzukrempeln, sich durch die Wolken zu boxen und zu rufen: »Lasst mich durch, das ist ein Notfall!« Einsatzfreudig strahlt sie auf Lissys Haupt nieder, was diese beim Verlassen ihres Wohnhauses noch mit einem dankenden Stoßgebet Richtung Himmel quittiert hat, mittlerweile aber, seit sie schwitzend auf dem Fahrrad sitzt und zum Brunnenmarkt radelt, mit einem schwerfälligen Keuchen zur Kenntnis nimmt.

Wie jede Woche ist sie mit ihrer Mutter auf einen Kaffee verabredet, denn Lissys Eltern betreiben dort einen feinen Stand, an dem sie Obst aus biologischem Anbau und Spezialitäten aus der Wachau anbieten. Vom elterlichen Marktstand aus begibt sie sich samstagvormittags immer auf eine ausgedehnte Shoppingtour, denn der Pizzakummerkasten sperrt an diesem Wochentag erst am Abend auf. Natürlich kauft Lissy keine schwindelerregenden High Heels, elegante Röcke oder hippe T-Shirts mit Print, sondern Gewürze und frisches Gemüse, die aus allen Regionen der Welt importiert werden.

Lissys Lieblingsplätze in Wien sind die Märkte, die gerade im Frühjahr zu einem wahren Erlebnis für Kulinarikbegeisterte werden können. In ihrer Freizeit spaziert sie am liebsten stundenlang an den vielen Ständen vorbei, atmet die andersartigen Düfte ein und denkt sich dabei in phantasievolle Sphären.

Dichtes Gedränge, Geplapper und ungleiche Gerüche bündeln sich, als sich Lissy dem ersten Stand nähert. Eine exotische Aura stülpt sich plötzlich über sie, und eine faszinierend bunte Welt tut sich vor ihren Augen auf, die Neues und Gewohntes bereithält, die einen neugierig staunen oder wissend voranschleichen lässt. Ein strahlend blauer Himmel, der weder ein kleines Wölkchen noch einen grauen zarten Streifen als Unterbrechung duldet, dehnt sich über den Sonnendächern der Stände aus.

Einige Menschen zwängen sich durch den engen Marktgang, Verkaufsläden stehen verbündet Seite an Seite, und ein wenig Chaos strömt wie ein Wind durch die Luft und manifestiert sich am Boden in Form von unordentlich gestapelten Kisten, herumliegenden Früchten und undefinierbaren Abfällen in Plastiksäcken. Das authentische Chaos gibt Lissy jedes Mal das besondere Gefühl, plötzlich in einer fremden Welt und in einem andersartigen Leben angekommen zu sein. Hier zu sein, das fühlt sich für Lissy an wie ein Stück Nach-Hause-Kommen.

Früher, als sie noch ein Kind war, hat sie immer auf dem Marktgang gespielt, während ihr Vater mit melodischer Stimme seine Waren angepriesen hat. »Frische Marillen aus der Wachau! Kostprobe gefällig, verehrtes Fräulein oder gnädiger Herr?«, hat er immer gerufen und hielt Stammkunden und solchen, die es noch werden sollten, seine mundgerechten Probierhäppchen hin. Während andere Kinder Sandburgen schaufelten, baute Lissy Türme aus Äpfeln und Birnen. Während Gleichaltrige Skizzen von Monstern und Prinzessinnen anfertigten, malte sie sich aus, was sie alles mit Fenchel, Paradeisern und Erdäpfeln anstellen könnte. Während Freunde von ihr davon träumten, eines Tages Rennfahrer, Meeresbiologin oder Tierärztin zu werden, wollte sie einen Gewinn für den Gaumen einfahren, Fische aus dem Meer auf heißer Flamme grillen und keine Tiere retten, sondern Menschen vor schlechtem Essen bewahren.

Und dieses Vorhaben ist ihr als Erwachsene gelungen. Manchmal werden Träume, die man in der Kindheit schmiedet, eben wahr.

Mit ihrer Mutter holt sie sich Baklava und Coffee to go von ihrem Lieblingstürken. Die beiden setzen sich auf eine Parkbank und plaudern über ihre Reisepläne für den Sommer, als Lissys Handy vibriert. Eine neue E-Mail. Normalerweise würde sie ihr Telefon ignorieren und die Nachricht später lesen, denn die Mails, die sie geschickt bekommt, eilen nicht. Meist ist es Post von Lieferanten, ihrer Hausbank oder Newsletter, die sie kurzerhand in den Spamordner verfrachtet.

Doch diese hier hat den seltsamen Betreff Fluffiges Zeug.

Guten Morgen, lieber Pizzakummerkasten :-)

Ich bin gerade aufgestanden, und da ist mir eingefallen, dass ich noch gar nicht Danke gesagt habe. Und meine Ethiklehrerin hat uns gestern im Unterricht gesagt, dass man sich immer bedanken soll, wenn einem was gefällt. Also, das fluffige Zeug, das ihr mir geschickt habt, das war echt toll. Das hat mir so richtig gut geschmeckt. Macht ihr das eigentlich auch für Erwachsene? Also, glaubt ihr, dass das auch meinem Papa schmecken könnte? Der bräuchte nämlich auch so eine Umarmung. In letzter Zeit ist er soooooo anstrengend geworden. Er muss sich konzentrieren und irgendwas kontrollieren, sagt er immer. Und dann hat er da so eine Excel-Liste mit ganz vielen Rechnungen drauf. Warum schaffen es Zahlen, dass sich mein Papa so schlecht fühlt?

Auf jeden Fall bräuchte er auch so ein fluffiges Zeug. Könnt ihr das auch mit richtig viel Schokolade machen? Dann nehme ich bitte eine normale Umarmung für meinen Papa und eine ganz schokoladige für mich.

LGeure Jennifer

Somlauer Nockerl – das fluffige Zeug. Lissy schmunzelt über die Bezeichnung und freut sich, dass ihr die Überraschung für das kleine traurige Herz geglückt ist.

Liebe Jennifer,

aus Erfahrung weiß ich, dass auch Erwachsenen diese Art von Umarmung gefällt und dabei hilft, ein wenig zu entspannen. Die Zahlen, die dein Papa da kontrollieren oder berechnen muss, sind bestimmt eine Herausforderung und ziemlich anstrengend für ihn. Hab ein wenig Geduld, wahrscheinlich wird es bald wieder besser. Zur Unterstützung schicke ich dir am späten Nachmittag eine Portion vom normalen fluffigen Zeug und eine mit extra viel Schokolade für dich. In der Zwischenzeit genieße den schönen, sonnigen Tag.

Herzliche, fluffige Grüße,

Deine Lissy vom Pizzakummerkasten.

~

Wetterbedingt ist es wärmer in der Küche geworden, und die Bestellungen trudeln im Schnelltempo wie krasse Überholmanöver auf einer Autobahn im Pizzakummerkasten ein. Auf dem Kreuzfahrtschiff, wo Lissy früher als Köchin gearbeitet hat, ging es auch immer heiß her, und sie schwitzte routinemäßig ihre Küchenmontur nass. Fühlte sie sich auf dem Schiff anfänglich wie Hulk in seiner ersten Schlacht, verließ sie es am Ende wie ein gefallener Avenger. Sechzehn-Stunden-Arbeitstage konnten einen ganz schön fertigmachen. Nun arbeitet sie zwar auch lange Stunden, und die geistige Arbeit, die sie dabei verrichtet, ist nicht zu unterschätzen, aber es stimmt sie jeden Tag aufs Neue glücklich.

Professionell arbeiten Lissy und Pierre die Bestellungen ab, von denen heute Abend einige in Parks geliefert werden, denn bei schönem Wetter treffen sich die Leute gerne auf Picknickdecken, um zu essen, zu trinken und zu plaudern. Ein letztes Mal ertönt der leise Glockenton, denn in wenigen Sekunden ist Sperrstunde.

Ahoi,

ich weiß, ich bin spät dran, aber ich hoffe, meine Bestellung geht noch durch. Im Moment weiß ich nämlich echt nicht, wo mir der Kopf steht. Warum habe ich mich auch für so ein beschissenes Thema entschieden? Seit Wochen sitze ich vor meiner Bachelor-Arbeit, die ich am liebsten in den Müllkorb verfrachten würde. Abgabe ist schon in einem Monat, und ich stehe noch immer am Anfang beziehungsweise fange gerade wieder von vorne an. Meine Betreuerin meinte bei der Themenauswahl, dass das ein gaaaanz tolles Thema sei, drückte mir einen Stapel wissenschaftlicher Artikel in die Hand und meinte, dass ich da elegant die Kurve zu einer aussagekräftigen Schlussfolgerung kriegen würde. Die ist echt bescheuert. Ich meine, weiß die überhaupt, was sie mir damit angetan hat? Wer schreibt schon über die Immunologie einer südostasiatischen Fledermaus? Und wie zum Teufel soll ich dazu primäre Daten erheben? Soll ich die Fledermäuse etwa interviewen? Hätte ich doch was Klassisches genommen, wozu es viel Literatur gibt. Das kotzt mich echt an. Außerdem ist mir eingefallen (und das erst jetzt), dass ich seit heute Morgen nichts mehr gegessen habe. Und das war eine aufgewärmte Käsekrainer, die ich mir gestern nach einem Umtrunk mit Freunden, der etwas ausgeartet ist, von einem grindigen Imbiss geholt habe. Eigentlich wollte ich nicht verkatert vor meiner Bachelorarbeit sitzen. Immerhin geht’s hier um Leben und Tod! … Okay, das geht jetzt zu weit. Ich labere einen Lieferservice zu, der nicht mal was mit einer richtigen Therapie zu tun hat. Ach, was soll’s, ich sende diesen Mist jetzt einfach mal. Kann ja nichts passieren.

Grüße von meinem Schreibtisch, an dem ich vermutlich in den nächsten Wochen vergammeln werde. – Barbora.

PS: Sorry für den langen Text.

Traubenzucker-Babsi, fällt Lissy spontan ein. Ziemlich geladen, Batterien entladen. Braucht einen Schubs in die richtige Richtung und ordentlich Futter für ihr Gehirn. Ein wenig besänftigen soll sie das Ganze auch. Da müssen zwei Gänge ran, um Barboras Kräfte wieder aufzubauen. Erst ein feiner Tafelspitz, von dem Lissy exakt noch eine Portion übrig hat und der sich mühelos mit der Gabel zerteilen lässt. Er wird auf der Zunge ihrer neuen Kundin zergehen, dazu ein wenig Apfelkren und ein cremiger Spinat als Beilage. Zum Nachtisch wird sie der Traubenzucker-Babsi etwas Saftiges mit Nüssen kredenzen, zwecks der B-Vitamine, um ihrem Gehirn einen neuen Schwung zu verleihen.

Sie wärmt den Tafelspitz und die Beilagen auf, verfrachtet alles in die Wärmebox und packt ein saftiges Nussbeugerl obendrauf. Gutes Gelingen für Ihre Bachelorarbeit!, schreibt Lissy als Notiz auf ein pinkes Post-it, denn Barbora hat pink verdient. Vorausschauend legt sie gleich den ganzen Stapel bunter Post-its in die Papiertüte. Die kleinen Zettelchen helfen ihr selbst auch immer beim Nachdenken.

Et voilà … die letzte Lieferung geht per Fahrradkurier raus. Genau genommen ist es die vorletzte für heute Abend, denn die allerletzte wird Lissy persönlich überbringen.

Kapitel 3

Mithilfe von Google Maps biegt sie mit ihrem Fahrrad in den Neunten, in das Servitenviertel ein. Das französisch geprägte Grätzel ist bei den Wienern als Klein-Paris bekannt und wartet mit einer hohen Dichte an Baudenkmälern und Kulturbetrieben auf. Das Sigmund-Freud-Museum und das Schauspielhaus sind hier beheimatet, und in der beliebten Servitengasse, dem pulsierenden Herzschlag des Grätzels, reihen sich Cafés und Geschäfte mit schönen Holzfassaden aneinander. Lissy ist hier schon einige Male auf wahre kulinarische Schätze gestoßen. Handgeschöpfte Schokolade, Feinkostläden, klassische Altwiener Küche und ein Spezialitätenmarkt, der einmal wöchentlich stattfindet, zeichnen das Angebot aus. Rund um die Servitenkirche aus dem 17. Jahrhundert herrscht ein dörfliches Ambiente, und die Schanigärten laden bei Schönwetter zum Verweilen ein. Französisches Flair, eine wunderbare Architektur, die in vielen Fällen auf den bekannten Architekten Otto Wagner zurückzuführen ist, und eine belebte Gasse mit Lokalen und kleinen Geschäften verleihen der Gegend ihren besonderen Charme. Zeitlos elegante Biedermeier- und Jugendstilhäuser aus dem 19. und 20. Jahrhundert prägen das Grätzelbild und wechseln sich mit Parks, Alleen und Grünflächen ab. Auch der älteste jüdische Friedhof Wiens, der versteckt im Innenhof eines Seniorenwohnheims liegt, befindet sich in der Seegasse, die früher einmal Judengasse hieß.