Wild Love - Elsie Silver - E-Book

Wild Love E-Book

Elsie Silver

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Beschreibung

Die neue Reihe von TIKTOK-Star Elsie Silver

Ford Grant, »World’s hottest Billionaire« laut der Forbes und erfolgreicher Musikproduzent, staunt nicht schlecht, als ein fremdes Mädchen vor seiner Tür steht, das behauptet, seine Tochter zu sein. Völlig überfordert von der neuen Rolle als Vater und dem Umbau seines Tonstudios auf Rose Hill, nimmt er die Hilfe von Rosie Belmont an — auch wenn er weiß, dass dies keine gute Idee ist. Denn Ford ist schon immer in Rosie verliebt, obwohl sie als kleine Schwester seines besten Freundes absolut tabu ist ...

»Habe ich dieses Buch an einem einzigen Tag verschlungen? Und ob ich das habe! Ford und Rosie sind perfekt, ich liebe ihre Wortgefechte und ihre Chemie!« JEEVES READS ROMANCE

Band 1 der ROSE-HILL-Reihe von SPIEGEL-Bestseller-Autorin Elsie Silver

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 559

Veröffentlichungsjahr: 2025

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INHALT

Titel

Zu diesem Buch

Leser:innenhinweis

Widmung

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

Epilog

Danksagung

Die Autorin

Die Bücher von Elsie Silver bei LYX

Impressum

ELSIE SILVER

Wild Love

Roman

Ins Deutsche übertragen von Katia Liebig

ZU DIESEM BUCH

Ford Grant, frisch gekürt als »World’s Hottest Billionaire«, hat sein Leben komplett auf den Kopf gestellt. Er hat seine Wohnung und seine Unternehmen in Calgary aufgegeben und ist zurück nach Rose Hill gezogen, das Städtchen, in dem seine Familie früher die Sommerferien verbrachte und an das er seine schönsten Erinnerungen hat. Hier hat der Musikproduzent ein Anwesen gekauft und will sich ein Aufnahmestudio einrichten. Doch zwei unverhoffte Besucherinnen bringen seinen Plan komplett durcheinander. Da ist zum einen das fremde Mädchen, das vor seiner Tür auftaucht und behauptet, seine Tochter zu sein. Und dann ist da Rosalie Belmont, die kleine Schwester seines besten Freundes, die nach einem Vorfall ihren Job in einem großen Unternehmen für Baumaterialien verloren hat und in ihre Heimatstadt zurückgekehrt ist. Völlig überfordert von der neuen Rolle als Vater und dem Umbau seiner Scheune in ein Tonstudio, stellt er Rosie wider besseres Wissen ein, als sie ihn nach einem Job fragt. Schnell gerät Fords bisher sehr strukturiertes Leben aus seinem gewohnten Rhythmus, und lang unterdrückte Gefühle kommen an die Oberfläche. Denn schon immer hatte er eine besondere Beziehung zu Rosie, und als sie so eng zusammenarbeiten, bricht alles wieder hervor. Doch Ford darf der Anziehung nicht nachgeben, ist Rosie doch als Schwester seines Freundes und seine Angestellte absolut tabu!

Liebe Leser:innen,

dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte.

Deshalb findet ihr hier eine Anmerkung der Autorin und hier einen Contenthinweis.

Achtung: Diese enthalten Spoiler für das gesamte Buch!

Wir wünschen uns für euch alle

das bestmögliche Leseerlebnis.

Euer LYX-Verlag

Liebe Leser:innen,

ihr seid einfach der Wahnsinn. Eure Liebe. Eure Unterstützung. Eure Freude. Ich bin so ein Glückspilz, euch zu haben, jede und jeden Einzelnen von euch. Danke, dass ihr mir vertraut und mit mir nach Rose Hill reist. Ich hoffe, ihr werdet es dort genauso sehr lieben wie ich.

Ich habe es schon einmal gesagt, und ich werde es wieder sagen: Elsies Leser*innen sind die Besten!

Viel Spaß!

XO

Elsie Silver

Für alle Frauen, die erkannt haben, dass gut genug nicht wirklich genug ist.

Und für alle, die nach mehr suchen. Es existiert. Ihr werdet es finden.

Und wenn nicht, keine Sorge – es gibt ja immer noch Ford Grant.

1. KAPITEL

FORD

»Hey, Kumpel, laut Forbes bist du ›Der heißeste Milliardär der Welt‹.« Mein bester Freund Weston Belmont scheint mich ärgern zu wollen, denn aus seinem Mund klingt es, als wäre ich ein Stripper, dessen Auftritt er gerade ankündigt.

Ich gehe nicht darauf ein, sondern beginne damit, die Putzsachen aus dem Karton zu holen, der vor mir auf dem Boden steht.

»Ford.« Er wedelt mit dem Hochglanzmagazin vor meiner Nase herum. »Das ist echt verrückt.«

Ich bedenke West mit dem ausdruckslosesten Blick, den ich auf Lager habe. Er hat die Füße auf meinen Schreibtisch gelegt und lümmelt sich in dem hochlehnigen Sessel. Aus den Rillen seiner Stiefelsohlen lösen sich Erdkrumen, sodass es hier noch dreckiger und chaotischer aussieht als ohnehin schon.

»Jap. Total verrückt.« Ich richte mich auf, stemme die Hände in die Hüften und lasse den Blick durch die alte Scheune wandern, die von nun an meine neue Produktionsfirma mit Aufnahmestudio beherbergen wird. Ich nenne es eine Scheune, aber im Grunde ist es eher ein leer stehendes staubiges Nebengebäude.

Rostfarbene Löcher im Boden lassen vermuten, dass es vermutlich irgendwann mal als Stall gedient hat, aber jetzt ist es bloß noch eine gigantische chaotische Halle mit einer kleinen Küchenecke vorne am Eingang, die von einem langen, schmalen Korridor in zwei Bereiche geteilt wird.

Das Ding steht nur ein paar Meter vom Haupthaus entfernt auf einem weitläufigen hügeligen Grundstück am Rande des Städtchens Rose Hill. Und wenn man die alten Scheunentore öffnet, ist der Blick einfach nur spektakulär.

An die untere Grenze des Grundstücks schmiegt sich der See, und die Kiefern, die ihn umgeben, machen ihn zu einer kleinen privaten Oase. Bis auf die kleine Stadt nur fünf Minuten die Straße hinunter gibt es hier nichts als schroffe Berge, die in meilenweite unberührte kanadische Wildnis übergehen.

Das Gelände ist zwar ziemlich heruntergekommen, aber wunderschön und bietet unendlich viel Potenzial. Ich sehe es schon ganz genau vor mir. Gästehäuser für die Künstler. Mobiliar aus Antiquitätengeschäften. Internetempfang nur an wenigen Orten. Keine Paparazzi.

Rose Hill Records. Benannt nach der Stadt, in die ich mich verliebt habe.

Bislang habe ich ein erfolgreiches Album produziert, und jetzt will ich es noch einmal tun. Zu meinem Glück bekomme ich immer mehr Anfragen von Musikern, die es mit mir versuchen möchten. Ich freue mich darauf, jeden Tag kreativ sein zu können. Jeden Tag Musik zu hören. Jeden Tag neue Songs zum Leben zu erwecken.

Und das genau hier.

Rose Hill ist der perfekte Ort, um sich ein Heim zu schaffen und die Firma zu gründen, die ich immer schon haben wollte.

Ein privater Rückzugsort, an dem ich mich nicht in einen Anzug zwängen und Aktionären Bericht erstatten muss, die sich bloß für die Zahlen interessieren, und an dem ich nicht als der »heißeste Milliardär der Welt« von der Presse verfolgt werde, als wäre das irgendeine Leistung.

»Hier steht, du hättest es abgelehnt, das zu kommentieren.«

Wenn sie West zum heißesten Milliardär der Welt gekürt hätten, hätte er diesen Titel gnadenlos ausgenutzt.

Ich dagegen? Ich schweige und flüchte mich in eine kleine Stadt in den Bergen, wo ich ganz allein etwas Neues erschaffen kann. Ich hasse die Aufmerksamkeit.

»Stimmt nicht. Ich habe einen Kommentar abgegeben, bevor ich verkündet habe, dass ich es nicht weiter kommentieren würde.«

West schnaubt. »Oh, na hoffentlich war der wenigstens gut.«

Ich unterdrücke ein Grinsen. Er weiß es. Er kennt mich besser als jeder andere Mensch auf diesem Planeten.

»Ich habe ihnen gesagt, dass ich nur so gerade eben ein Milliardär bin und wohl einfach nur etwas attraktiver als die zweitausendfünfhundert anderen Leute auf der Liste. Sie wollten einen Artikel über den langweiligsten Aspekt meines Lebens schreiben. Deshalb nein, kein Kommentar, denn diese Leistung verdient keinen. Durchschnittlich gut aussehender, reicher Typ sagt Nein danke.«

»Komisch, dass sie deinen charmanten Einzeiler nicht drucken wollten, Ford. Dabei war er doch so raffiniert.«

Ich zucke mit den Schultern und ignoriere seine Bemerkung. Ich rede nicht gern über Geld. Mein ganzes Leben lang hatte ich mehr als genug davon, und in den vergangenen Jahren habe ich viel Zeit mit Leuten verbracht, die meine Kindheit sogar ziemlich armselig aussehen lassen. Reichtum hat noch nie zu den Dingen gehört, die ich an einem Menschen besonders eindrucksvoll gefunden habe. Im Gegenteil. Wenn du reich bist, verhalten sich die Leute dir gegenüber anders, und wer sich zu sehr von seinem Reichtum bestimmen lässt, kann sich in einen echten Drecksack verwandeln.

Warum sollte irgendwer einen Artikel darüber lesen wollen, wie reich ein Mensch ist?

Zudem mag ich es nicht, im Rampenlicht zu stehen. Zu viel Aufmerksamkeit führt dazu, dass ich unfreundlich und sarkastisch werde, oder, wie mir gesagt wurde, unhöflich beziehungsweise nicht fähig zu sozialer Interaktion. Auch wenn ich nicht sicher bin, ob ich so weit gehen würde. Ich würde mich eher als direkt bezeichnen und sagen, dass andere Leute manchmal ein bisschen zu empfindlich sind.

Anders als West komme ich selten besonders sympathisch rüber. Das ist mir bewusst, doch ich gebe mir keine große Mühe, daran etwas zu ändern. Die Leute, die mich kennen, wissen es besser, und die Meinung aller anderen interessiert mich nicht.

Ich beuge mich nach unten und greife nach dem Staubwedel. Meine schweren Schuhe hallen über den verkratzten Holzboden, als ich quer durch den Raum zu dem alten gusseisernen Kaminofen in der Ecke hinübergehe. Unter ihm liegen lauter halb abgebrannte Holzscheite, und ich frage mich, wie lange sie wohl schon dort sind, wer sie dorthin gelegt hat und was für Geschichten sie wohl erzählen könnten. Wenn sie nicht mit all den Spinnweben so einen unschönen Anblick bieten würden, würde ich sie einfach dort liegen lassen, denn ehrlich gesagt komme ich mir vor wie ein Yuppie, der hier eingedrungen ist und alles blitzblank und neu machen will.

Ich könnte jemanden dafür bezahlen, dass er oder sie hier Ordnung schafft, aber jemanden zu finden, dem ich vertraue, erscheint mir gerade schier unmöglich. Schließlich hat es einen gewissen Reiz, etwas mit den eigenen Händen zu machen. Ja, ich habe das Geld, aber ich muss es ja nicht ausgeben, wenn ich die Sache selbst erledigen kann. Zumal ich den nötigen Ehrgeiz und die erforderliche Hingabe besitze.

Harte Arbeit – dank ihr bin ich heute der Eigentümer einer der beliebtesten Bars und besten Livemusik-Locations in Calgary. Und habe eine Streaming-App für Musik gegründet, die mein Bankkonto in eine fast schon peinliche Stratosphäre katapultiert hat. Mein Dad hat jede Menge Geld und ist bestens vernetzt. Er hätte mich problemlos mit allem ausstatten können, was ich brauchte – hat er aber nicht, denn er bestand darauf, dass meine Schwester und ich den Wert von Geld zu schätzen lernten.

Doch wohin wird all mein Erfolg mich von nun an führen?

Geld. Verbindungen. Glück. Ich glaube nicht an Glück.

»Was ist das überhaupt für ein Foto von dir?« Am anderen Ende des Raums hält West die Zeitschrift hoch. »Du siehst aus, als würdest du dich hinter dem hochgeklappten Kragen deines Jacketts verstecken.«

»Tue ich auch.«

»Wieso?«

Gott segne ihn. Seine gerunzelte Stirn und der schief gelegte Kopf verraten ehrliche Verwirrung. Für jemanden wie ihn ergibt es keinen Sinn, dass ich mich nicht in einem solchen Ruhm sonne. Er ist einfach großartig, witzig, ein totaler Angeber – und ich liebe alles an ihm. Denn außerdem hat er auch ein großes Herz und ist absolut zuverlässig. Er ist einfach echt in einer Welt, in der so viele Menschen es nicht sind. Als Kind hat er mich irgendwann mal am See lesen sehen und einfach angequatscht, als würde er mich kennen – und seitdem sind wir Freunde, egal was für ein ungewöhnliches Gespann wir auch abgeben. Wir sind einfach … aneinander hängen geblieben.

Seit zwanzig Jahren.

»Weil ich nicht fotografiert werden wollte. Ich mag’s einfach nicht.«

»Warum nicht? Muss ich dir wirklich noch sagen, wie hübsch du bist?«

Ich schnaube abfällig. »Weil ich gerade die Straße langgegangen bin, um mich mit meiner Schwester auf einen Kaffee zu treffen und nicht um ein Fotoshooting zu machen.«

Er lacht leise in sich hinein. »Ich meine, wäre es wirklich so schlimm gewesen, ein bisschen zu lächeln?«

»Ja.« Mit dem Staubwedel in der Hand starre ich auf den Kaminofen und suche nach einer Antwort auf die Frage, wie zum Teufel ich nur all das schaffen soll, was ich mir vorgenommen habe.

»Für das Ding brauchst du eine Schaufel, keinen Staubwedel.«

»Danke, West. Ich bin so froh, dass du da bist, um mir deine Ansichten kundzutun.«

Er seufzt theatralisch. »Es wird wieder ganz so sein wie in alten Zeiten, nur du und ich, die irgendeinen Scheiß anstellen.«

»Du hast Scheiß angestellt. Ich hab nur zugesehen.«

»Ich erinnere mich noch daran, wie Rosie sich an uns drangehängt und dich die ganze Zeit mit irgendeinem Blödsinn vollgelabbert hat. Gott, ich war so stolz auf sie.«

Bei der Erwähnung seiner Schwester halte ich inne. Rosalie. Auch wenn ich sie seit mindestens zehn Jahren nicht mehr gesehen habe, verspannen sich meine Schultern. Ich drehe mich zu West um. »Hat sie nicht ihren Master gemacht und jetzt irgendeinen tollen Job in Vancouver?«

Das weiß ich bereits, denn manchmal google ich sie – nur um mich zu vergewissern, dass es ihr gut geht, natürlich. West erwähnt sie hin und wieder, aber spricht nur allgemein über sie und eher oberflächlich. Warum sollte er seinem besten Freund auch ausführlich von seiner kleinen Schwester erzählen, die mittlerweile in der Großstadt lebt?

Ich frage lieber nicht.

Er winkt ab, als wäre es die beeindruckendste Leistung seiner Schwester, als Teenager ohne Ende Blödsinn von sich zu geben. »Das waren echt die besten Sommer damals. Es hat mir jedes Mal das Herz gebrochen, wenn du wieder zurück in die Stadt zur Schule musstest.«

Ging mir ähnlich. Zurück in die Stadt, zurück in die Schule mit Kids, die mich – im Gegensatz zu West – so behandelten, als wäre ich anders als sie. Zurück zu dem Druck, dem man ausgesetzt ist, wenn man der Sohn des wohl berühmtesten Gitarristen der Welt ist. Als Kind war Rose Hill mein liebster Zufluchtsort, und wie es scheint, geht es mir heute mit zweiunddreißig noch immer so. Es ist, als würde die Zeit hier stillstehen. Niemand behandelt mich so, als wäre ich reich oder berühmt oder überhaupt irgendwie besonders. Nein, alle kümmern sich einfach um ihren eigenen Kram. Vielleicht liegt es an der frischen Bergluft, dass die Menschen hier einen anderen Blick auf die Dinge haben als die in der Stadt.

Doch meine Verbindung zu diesem Ort geht noch weiter. Die Gründe, die mich haben zurückkehren lassen, liegen tiefer. In den Erinnerungen, die dieser Ort für mich bewahrt.

»Nun, dieses Jahr brauchst du nicht zu heulen, West. Diesmal wirst du mich nämlich nicht los.«

Ich werfe den Staubwedel zurück in den Karton und überlege, dass ich mir vielleicht wirklich jemanden suchen sollte, der mir hilft, die Bude auf Vordermann zu bringen. Schließlich will ich hier in absehbarer Zeit Musik aufnehmen. Das Haupthaus ist mittlerweile bewohnbar – ich habe es selbst den Winter über renoviert –, aber die Scheune ist noch mal eine ganz andere Nummer.

»Ja, verdammt. Und ich werde zusehen, dass ich dich in mein Bowlingteam kriege.«

»Oh nein, das wirst du nicht. Du hast gesagt, das ist euer Dad-Abend, und ich bin kein Vater.« Mit der Schuhspitze trete ich gegen etwas, das ich zuerst für einen toten Käfer halte, aber jetzt bin ich mir ziemlich sicher, dass es Mäusekot ist. »Außer vielleicht von einer ganzen Herde Mäuse.«

»Wenn ich mich recht erinnere, leben Mäuse nicht in Herden.«

»Was auch immer es sein mag, jedenfalls denke ich nicht, dass mich deine Kumpel als Vater durchgehen lassen.«

»Kein Problem. Das Team besteht eh nur aus Sebastian und mir – sofern er überhaupt in der Stadt ist –, und dann hätten wir noch dich …«

»Nein, werdet ihr nicht.«

»Und Crazy Clyde.«

»Crazy Clyde? Ich glaube nicht, dass du heutzutage noch Leute ›crazy‹ nennen kannst.«

»Das ist der Typ, der wie ein Einsiedler auf der anderen Seite der Berge wohnt. Er glaubt an jede Verschwörungstheorie, die die Menschheit sich je hat einfallen lassen. Ich liebe diese Geschichten. Außerdem nennt er sich selbst Crazy Clyde, also kannst du ihm persönlich sagen, dass das nicht korrekt ist.«

Ich starre meinen Freund an und blinzle. Das klingt nach meinem ganz persönlichen Albtraum. »Ich werde ganz sicher nicht mit dir bowlen gehen, West.«

Er schnaubt und wischt meine Worte mit einer knappen Handbewegung beiseite. »Das sagst du jetzt. Aber als wir noch klein waren, hast du auch immer erst mal Nein gesagt, wenn ich eine gute Idee hatte. Und dann hast du trotzdem mitgemacht. Denk an die Emo-Frisur, wo einem die Haare bis in die Augen hängen, und diese riesige Brille, die du dir ständig die Nase raufschieben musstest.« Er grinst so breit, dass seine perfekten weißen Zähne inmitten der rauen Bartstoppeln leuchten. »Mürrisches Gesicht und garantiert irgendeinen obskuren Gedichtband unter dem Arm.«

Ich kann nicht anders, ich muss einfach über seine detailgenaue Schilderung lachen und schüttle den Kopf. »Fick dich, Belmont.«

»Und sieh dich jetzt an …«

Mein Zeigefinger schießt vor und zeigt auf ihn. »Kein Wort mehr.«

Er spricht weiter und gestikuliert dabei wild in der Luft herum. »Der heißeste Milliardär der Welt.«

»Ich hasse dich.«

»Nah. Du liebst mich. Ich bin der Sonnenschein in deinem finsteren Leben.«

Ich runzle die Stirn. »Was?«

»Das ist so ein Spruch in Liebesromanen …«

Ein Klopfen an der Tür lässt ihn verstummen. Wir drehen uns beide um und blicken quer durch den riesigen Raum den schmalen Korridor hinunter, von dem die winzige Küche abzweigt, bis zur klapprigen Holztür.

»Wer kann das sein?«, flüstert West, als würden wir jetzt Ärger bekommen.

Und vielleicht tun wir das auch. Ich bin noch nicht lange in der Stadt und habe meine Zeit hauptsächlich dafür genutzt, das Haupthaus instand zu setzen. Deshalb habe ich keine Ahnung, wer da geklopft haben könnte. Meine Schwester Willa wäre der Typ, der unangekündigt hereinschneien würde. Meine Eltern würden vorher anrufen. Mein bester Freund sitzt hier vor mir.

Die Wahrheit ist, es gibt sonst niemanden, dem ich wichtig genug bin, um den ganzen Weg hierher rauszufahren.

Ich will nicht zu viele soziale Kontakte haben, außerdem vertraue ich nur wenigen. Der Reiz an Rose Hill besteht auch darin, dass die Paparazzi keine Lust haben, sich für eine ganztägige Fahrt ins Auto zu setzen, nur um vielleicht ein Foto zu kriegen.

»Keine Ahnung«, antworte ich schulterzuckend, und Wests Augen sind so groß wie die einer Eule, als er einen Schritt nach hinten macht.

Wieder klopft es.

»Ich kann euch dadrin flüstern hören«, ruft eine mir fremde weibliche Stimme von der anderen Seite der Tür.

Zuerst denke ich an Rosie, aber die Stimme klingt zu jung. Also mache ich mich mit einem tiefen Seufzer auf den Weg und ziehe die Tür mit einem Ruck auf.

Vor mir steht ein Mädchen. Sie trägt schwarze zerrissene Jeans. Schwarze Chucks. Ein oversized »Death From Above 1979«-T-Shirt – eine meiner Lieblingsbands. Das Shirt ist löchrig, sicher mit Absicht. Ihr rabenschwarzes Haar ist seitlich zu zwei Zöpfen geflochten, dazu ein akkurat geschnittener Pony, der bis zu den Augenbrauen reicht. Und all das wird von einem vollkommen unbeeindruckten Gesichtsausdruck gekrönt. In der Hand hält sie den Griff eines JanSport-Rucksacks.

Ich kann nicht sagen, wie alt sie ist. Jung. In dieser verlegenen, verwirrenden Phase vor dem Teenageralter – jedenfalls der missmutigen Miene und dem dicken Pickel an ihrem Kinn nach zu urteilen. Sie verschränkt die Arme vor der Brust und lässt den Blick langsam an mir hinunter- und wieder hochwandern.

»Wer bist du?« Ich bemühe mich, nicht wie ein Arschloch zu klingen, als ich das frage. Immerhin ist sie noch ein Kind.

Sie presst die Lippen zusammen und blinzelt einmal. Langsam. »Deine Tochter, du Blödmann.«

Jetzt ist es an mir, langsam zu blinzeln. Ich höre Wests Stuhl über den Holzboden rollen und seine schweren Schritte, als er zu uns kommt.

»Wie bitte?« Ich habe ihre Worte sehr wohl gehört, aber mein Hirn ist unfähig, sie zu verarbeiten.

»Du bist mein Dad«, sagt sie und verdreht die Augen. »Biologisch betrachtet.«

Aber das kann nicht sein. Das ist unmöglich. Instinktiv schalte ich auf Abwehr. Das ist doch lächerlich.

Ein einziger dämlicher Forbes-Artikel über mein Bankkonto, und schon kommen die Kakerlaken aus den Ecken. Ich kenne diese Geschichte nur zu gut. Fast tut das Mädel mir leid. Sie ist zu jung, um selbst auf die Idee gekommen zu sein. Irgendjemand muss sie auf mich angesetzt haben.

»Hör zu, wie auch immer du heißt, ich weiß nicht, was genau du dir von mir erwartest, aber ich kann es mir denken. Und da hast du dir den Falschen ausgesucht.«

»Ich heiße Cora Holland. Du bist Ford Grant Junior, und du bist mein biologischer Vater.«

»Puh, lass den Junior lieber weg«, murmelt West hinter mir. »Er hasst das.«

Ich würdige meinen besten Freund keines Blicks. Stattdessen starre ich hinunter auf die patzige kleine Göre, die hier so einen totalen Bullshit vom Stapel lässt. Das Mädchen hat echt Nerven, das muss ich schon sagen. »Das kann nicht sein. Ich habe nie mit Morticia Addams gevögelt.«

Ein schief gelegter Kopf und ein Augenrollen sind ihre einzige Reaktion. »Wirklich sehr originell, Nepo-Baby. Den Witz kannte ich noch gar nicht.« Sie kramt in ihrem Rucksack – schwarz, natürlich – und zieht schwungvoll ein Blatt Papier hervor, auf dem ein mir wohlbekanntes Logo prangt.

Es ist die Firma, der ich meine DNA geschickt habe, um den Familienstammbaum zu vervollständigen. Ein Geschenk für meine Mom.

»Was ist mit einem Pappbecher?«, fragt sie. »Einer Petrischale? Einem Reagenzglas? Irgendwas davon irgendwann mal gevögelt?«

Ich spüre, wie auch der letzte Tropfen Blut zu meinen Füßen hinunterrauscht, und mir wird übel.

Denn ja, tatsächlich. Das habe ich.

West klopft mir auf die Schulter und drückt sie dann fest, während er sich an mir vorbei zur Tür hinausschiebt. »Wir sehen uns beim Bowling.«

Und dann stehe ich da.

Allein.

Und starre auf ein junges Mädchen hinunter, das möglicherweise meine Tochter ist. Mit dem Gefühl, der womöglich unvorbereitetste Vater der Welt zu sein.

2. KAPITEL

ROSIE

Ich lächle in den voll besetzten Konferenzraum hinein.

Mein Boss.

Der Boss von meinem Boss.

Der Boss vom Boss meines Bosses.

Ich wollte sie mit dieser Präsentation vom Hocker reißen. Glaube ich. Nein, ich weiß es. Aber den reglosen Gesichtern und dem geistesabwesenden Kopfnicken nach zu urteilen, hat das wohl nicht ganz geklappt. Zwar ist es nicht so, dass ich mit Jubel und Beifall gerechnet hätte, aber ein paar Schulterklopfer wären schon nett gewesen.

Stattdessen herrscht eine nahezu peinliche Stille.

»Nun, also …« Ich streiche mit den Händen über die Vorderseite meines Bleistiftrocks, ein deutliches Zeichen dafür, dass ich nervös bin. »Das sind meine Gedanken zu diesem Aufkauf, basierend auf meinen Recherchen.«

Noch mehr leere Blicke.

»Also, ähm, vielen Dank, dass Sie zu meinem TED-Talk gekommen sind.« Ich lache über meinen eigenen Witz, doch es klingt schrill und verzweifelt, sodass ich mich innerlich vor Scham winde.

Ich sehe zu Faye rüber, die Protokoll führt und mein absoluter Liebling im Admin-Team ist. Sie presst die Lippen zusammen, um nicht zu grinsen, und streckt diskret einen Daumen hoch.

Wenigstens Stan, der Firmenchef und ebenfalls mein Boss, hat genug Mitleid mit mir, um ein wenig zu lachen. Aber er lacht über so ziemlich alles, was ich von mir gebe. Und dann leckt er sich über die Lippen und starrt mir auf die Brüste.

Mit einem weiteren kurzen Lächeln schnappe ich mir den Stapel Unterlagen, der vor mir auf dem Tisch liegt, und kehre eilig an meinen Platz zurück. Mit einem leisen Seufzen lasse ich mich gegen die feste Rückenlehne des Stuhls sinken.

Als jetzt ein Typ aus der Buchhaltung übernimmt, lehnt sich Stan zu mir rüber, wahrscheinlich um darüber zu maulen, dass der Erwerb einer weiteren Kiesgrube seine Firma Geld kosten würde, ohne dabei zu berücksichtigen, dass sie ihr noch mehr Geld einbringen würde.

»Das war toll. So ein kluges Mädchen.«

Ich schiebe mir die Lippen zwischen die Zähne und unterdrücke ein angeekeltes Zucken. »So ein kluges Mädchen« weckt in mir den Drang, ihm auf seine sauteure beigefarbene Hose zu kotzen. Doch ich widerstehe ihm und zwinge mich zu einem Lächeln, als fühlte ich mich von seiner herablassenden Bemerkung auch noch geschmeichelt. »Danke, Stan.«

Das Meeting dehnt sich in einer endlosen, langweiligen Blase aus Vorträgen und Tabellenkalkulationen, während ich mir einzureden versuche, dass ich diesen Job irgendwann bestimmt einmal lieben werde. Wenn ich an die Rückzahlung meines Studiendarlehens denke, kann ich nicht anders, als daran zu glauben.

Das ist ein absoluter Traumjob!

Stumm wiederhole ich den Satz in meinem Kopf und denke an den ansehnlichen Gehaltsscheck am Ende des Monats. Wie erwachsen ich mich fühlen werde, wenn ich schuldenfrei bin. Ich besitze den höchsten Bildungsabschluss in meiner Familie und arbeite in der großen Stadt, für ein Unternehmen, das Baumaterialien produziert und zu den umsatzstärksten im Land gehört.

Ich lebe den Traum.

Bevor ich es richtig mitbekomme, ist das Meeting zu Ende, und die meisten Teilnehmenden haben den Raum bereits verlassen. Faye hat mir noch ein »Du warst super« zugeraunt, bevor sie rausgegangen ist. Da ich die neueste Mitarbeiterin in diesem Meeting war, muss ich anschließend alles aufräumen. Stan, der auch noch am Tisch sitzt, winkt mich zu sich.

»Ich brauche Sie einen Moment, Rosie.«

»Rosalie«, korrigiere ich ihn, denn Stan kennt mich nicht gut genug, um mich Rosie nennen zu dürfen.

Doch er lacht bloß, als hätte ich eine amüsante Bitte ausgesprochen.

Stan ist der beste Boss der Welt!

Wenn ich es mir nur oft genug sage, glaube ich es vielleicht auch irgendwann.

»Können Sie mir auf der Karte hier zeigen, von welchem Areal genau Sie eben gesprochen haben?«, fragt er. »Ist es das hier, das direkt an unsere aktuelle Grube grenzt?«

»Sicher.«

Ich gehe hinüber und stelle mich neben ihn. Er hat ein Satellitenbild auf dem Laptop aufgerufen und komplett rausgezoomt, als könne er nicht mal das richtige Land finden.

Ich ignoriere es und beuge mich vor, um das entsprechende Gebiet aufzurufen. Mit wenigen Klicks zoome ich näher heran und verschiebe den Ausschnitt, bis das Areal auf dem Bildschirm zu sehen ist.

»Hier.« Während ich darauf zeige, spüre ich plötzlich eine Hand oben auf meinem Po.

Seine Hand.

Schockiert von der Berührung und der Dreistigkeit dieses Mannes erstarre ich. Bislang hätte er noch behaupten können, meinen Rücken zu berühren oder irgend so einen Mist, aber jetzt gleitet seine riesige, fleischige Hand an meinem Po hinunter. Seine Finger wandern über die Mitte, bereit, zuzupacken, doch ich drehe mich ruckartig um und schlage seine Hand weg.

Und er besitzt doch tatsächlich die Unverschämtheit, mich mit großen, unschuldigen Augen anzuschauen wie ein kleiner Junge. Es macht mich so wütend.

Er macht mich wütend.

Augenblicklich verwandle ich mich von der freundlichen in die mörderische Rosie. Denn wenn du als die einzige Schwester von Weston Belmont aufwächst, hast du auch als Erwachsene noch ein paar Haare auf den Zähnen.

Meine Schultern straffen sich, und meine Stimme wird zu Eis. »Stan, wenn ich gewollt hätte, dass Sie mich anfassen, hätte ich es Ihnen gesagt.«

»Rosie …«

»Aber so werde ich es der Personalabteilung melden müssen. Sie sind ein Schwein.«

Er wirkt überrascht von meinen Worten und der plötzlichen Eile, mit der ich meine Sachen zusammenraffe und zur Tür stürme.

Man sollte denken, er würde sich entschuldigen, um Vergebung bitten, doch stattdessen sagt er: »Die Personalabteilung hat schon Feierabend. Sie werden also bis morgen warten müssen.«

Ryan kommt aus unserem Schlafzimmer geschlufft und schenkt mir ein benommenes Lächeln. Ich warte auf die Schmetterlinge, die in meinem Bauch zu flattern beginnen, aber es passiert nichts.

»Du siehst müde aus.«

»Bin ich auch«, sagt er und geht direkt weiter zur Kaffeemaschine.

Ich habe keine Ahnung, wo er letzte Nacht war. Die Wohnung war leer, als ich spät am Abend aus dem Büro zurückgekommen bin, nachdem ich noch stundenlang dort vor mich hingebrütet und ein paar Dinge abgearbeitet hatte. Die Leute aus der Personalabteilung waren tatsächlich schon weg gewesen – ich weiß es, weil ich mehrmals an ihren Büros vorbeigelaufen bin, was meine Nervosität nur noch gesteigert hat.

Zu Hause habe ich eine Flasche Wein aufgemacht und auf die Stadt hinausgestarrt. Unter dem stockdunklen, wolkenverhangenen Himmel schlängelten sich die Autos durch den stetigen West-Coast-Nieselregen. Das leise Summen der Reifen auf den nassen Straßen von Vancouver war beinahe tröstlich. Dann habe ich eine Schüssel Popcorn zum Abendessen vertilgt und über mein Leben nachgedacht.

Die meisten Frauen hätten sich sicher Sorgen gemacht, wo ihr Freund sich rumtrieb. Wahrscheinlich hätten sie sich die Finger wund telefoniert, um zu erfahren, wo und mit wem er unterwegs war. Doch dieses Bedürfnis hatte ich nicht.

Ich mochte Ryan. Hatte ihn immer gemocht. Gleich vom ersten Tag an, als er sich in einem Seminar zum Thema Finanzen auf den Stuhl neben mir fallen ließ und mich mit seinem typisch schiefen, jungenhaften Lächeln bedachte. Von da an war alles einfach. Zuerst Freunde und Kommilitonen, dann Mitbewohner in einer WG, und dann … mehr.

Und dann bin ich einfach bei ihm geblieben.

Manchmal frage ich mich, ob das alles vielleicht ein bisschen zu einfach gewesen ist. Der Schritt von WG-Partnern zu Lebenspartnern schien fast schon zu leicht und offensichtlich zu sein. Jetzt fühlt es sich wieder an, als würden wir in einer WG leben, und ich überlege, was sich verändert hat und warum ich es nicht schon früher gemerkt habe. Überlege, ob der süße, liebenswerte Ryan es ebenfalls merkt – oder ob ich das Problem bin.

Spüren wir, wenn wir uns entlieben? Oder wachen wir einfach eines Tages auf und erkennen es?

»Was hast du gestern Nacht gemacht?«, frage ich. »Ich habe dich nicht mal reinkommen hören.«

Er zieht den zweiten Barhocker unter dem Küchentresen in unserer schicken Zweizimmerwohnung heraus. »Ich war erst so gegen drei zu Hause, und du hast tief und fest geschlafen. Ein paar hohe Tiere aus der Zentrale haben die Jungs und mich nach der Arbeit noch auf ein Bier eingeladen, und eins führte zum anderen.«

Er lacht gutmütig und wuschelt mir durch die Haare. An einem anderen Tag hätte diese Geste süß sein können, nach meiner gestrigen Erfahrung allerdings fühlt sie sich … herablassend an.

Ich schenke ihm ein schwaches Lächeln und streiche meine Haare wieder glatt. Ryan ist ein netter Kerl. Das sage ich mir selbst immer wieder, wenn es um kleine Dinge geht. Denn ich fühle mich mies, weil diese kleinen Dinge mich nerven, und noch mieser, wenn ich darüber nachdenke, was das wohl bedeutet.

Ryan ist wie ein Golden Retriever. Fröhlich und relaxt, als würde ihn nichts wirklich tangieren. Und manchmal, wenn er mich aus Versehen vollsabbert oder meine schwarze Bluse vollhaart wie ein riesiger glücklicher Tollpatsch, will ich ihn anknurren. Aber er meint es ja immer nur gut, und deshalb tue ich es nicht.

Ich denke nicht weiter darüber nach, denn in unserem Leben ist gerade einfach zu viel los, um mir darüber Gedanken zu machen. Ryan ist alles, was ich mir wünschen sollte, und ich will eine langjährige Beziehung mit einem netten Mann nicht einfach aufgeben, bloß weil ich gestresst und überarbeitet bin.

Das wäre unbesonnen. Vielleicht ist es nur eine Phase, und ich würde es hinterher bereuen. In meiner Familie war ich immer das verantwortungsvolle Kind. Ich treffe keine unüberlegten Entscheidungen.

»Klingt nach Spaß«, sage ich emotionslos, denn ein paar Typen aus der Ölbranche, die nachts durch die Stadt ziehen, klingen nicht viel besser als ein paar Typen aus der Baustoffbranche, die das Gleiche tun.

Beides klingt nach Arsch-Grapschern.

Meine Wangen glühen, als ich wieder an Stans Hand auf meinem Po denke. Dabei hatte ich immer geglaubt, solche Dinge einfach abtun zu können. Im SkyTrain rempeln mich ständig irgendwelche Leute an. Aber bei ihm war es Absicht – der Weg, den seine Hand genommen hat.

Es hat sich falsch angefühlt. Ich habe noch lange wach gelegen und darüber nachgedacht. Und irgendwann erkannt, dass ich sogar gehört habe, wie er hinter mir scharf die Luft eingesogen hat, als seine Finger sich in meinen Hintern gruben.

Dieser leise Laut hat mich herumwirbeln lassen.

Und dieser leise Laut ist es auch, den ich wie in Dauerschleife im Ohr habe. Er bereitet mir eine Gänsehaut. Es sorgt dafür, dass ich nicht wieder ins Büro gehen will. Es sollte mir nicht so zusetzen, aber das tut es. Ich bin mir nicht sicher, ob ich überhaupt jemanden ins Vertrauen ziehen kann. Ich könnte es West erzählen, aber ich weiß genau, wie er reagieren würde, und ich will nicht, dass er im Gefängnis landet.

Also entscheide ich mich für Ryan. Den süßen, liebenswerten, berechenbaren Ryan.

»Ich brauche mal deine Meinung.«

Er hört kurz auf, auf seinem Handy zu scrollen, und wirft mir einen aufmunternden Blick zu. »Sicher, Babe. Worum geht’s?«

»Also, gestern, nach dem großen Meeting, auf das ich mich vorbereitet habe – du weißt schon …«

Sein Blick klebt wieder auf dem Display, aber er nickt. »Ja, sicher. Du bist die ganze Woche rumgelaufen und hast deine Präsentation vor dich hingemurmelt. Ich wette, du hast das Ding gerockt.«

»Richtig, die meine ich. Und ja, es lief gut. Aber …« Ich wringe die Hände in meinem Schoß. Meine Teetasse steht vergessen auf dem Tresen. Ich sehe Ryan an, während ich all meinen Mut zusammennehme, um es auszusprechen. Doch Ryans Aufmerksamkeit gilt einem Video, in dem ein Waschbär offenbar ein Schaumbad nimmt.

»Nach dem Meeting habe ich meinem Boss, Stan, noch etwas gezeigt. Und er hat mich angegrapscht. Also, er hat mir an den Hintern gefasst.«

Meine Kehle ist wie zugeschnürt, als Ryan den Kopf hochreißt und mich ansieht. »Oh Scheiße« ist das Erste, was er sagt, doch es klingt beinahe amüsiert. Als wäre es irgendwie lustig.

»Ja. Oh Scheiße.«

Mein knapper Tonfall lässt ihn sich aufrichten und ein wenig besorgter dreinblicken. »Denkst du, er hat das mit Absicht gemacht?«

Ich spüre ein Prickeln auf meiner Nase, als mir bewusst wird, dass das tatsächlich das Erste ist, wonach er fragt. »Ja, er hat es mit voller Absicht gemacht.«

»Au Mann. Geht es dir gut?« Er legt sein Handy weg und wendet sich mir jetzt ganz zu, was mir plötzlich gar nicht mehr so recht ist. Ich dachte, seine Aufmerksamkeit haben zu wollen, aber jetzt winde ich mich förmlich unter seinem Blick. Wie sich herausstellt, war es leichter, über diese Sache zu reden, als er mich nicht angesehen hat.

Ich nicke hektisch und entschlossen, um zu verbergen, dass ich mir nicht wirklich sicher bin, ob es mir gut geht. »Ich habe ihm gesagt, dass ich es der Personalabteilung melden werde, aber die Mitarbeiter dort waren schon weg. Also bereite ich mich gerade mental darauf vor, gleich dorthin zu gehen und es ihnen zu sagen.«

Ryan atmet hörbar aus, setzt sich auf seinem Hocker zurecht und legt eine Hand auf mein Bein, bevor er das Schlimmste sagt, das er jemals zu mir gesagt hat. »Mist, Rosie. Das tut mir leid. Ich weiß, wie wichtig dir dieser Job ist. Meinst du, es könnte nicht vielleicht besser sein, so zu tun, als wäre es nicht passiert? Diese Großkonzerne« – seine Finger streichen über meinen Oberschenkel, drücken ihn, und ich spüre, wie ich innerlich vor seiner Berührung zurückzucke – »wollen auf keinen Fall einen Skandal. Und du bist ja immer noch ziemlich neu da … Es wäre doch schrecklich, das aufs Spiel zu setzen.«

Ich bin sprachlos. Blinzelnd sehe ich den Mann an, mit dem ich seit zwei Jahren mein Leben teile, während eine Mischung aus Zorn und Verzweiflung in mir brodelt.

Mein Mund bewegt sich, und ebenso mein Körper, aber nicht im Einklang mit dem, was ich innerlich empfinde. »Ja. Sicher. Wir wollen nichts aufs Spiel setzen.«

Nickend tätschle ich seine Hand, die noch immer auf meinem Bein liegt. Aber ich bin mir gerade nicht sicher, wer hier wen tröstet.

Was ich allerdings weiß, ist, dass Ryans Antwort nicht das war, was ich von ihm hören wollte.

Weshalb ich jetzt seine Hand nehme und sie wegziehe.

»Ich bin froh, dass du es auch so siehst. Wenn ich du wäre, würde ich, glaube ich, einfach ganz normal weiterarbeiten.«

Wenn ich du wäre.

»Mm-hmm« ist alles, was ich herausbringe, während ich mich zurücklehne.

»Ich weiß, Babe. Ich weiß.« Er versucht mir beruhigend die Schulter zu drücken, und eine Welle des Unbehagens erfasst mich. Ich will nicht angefasst werden. »Wenn du mal so lange dabei bist wie ich, wirst du lernen, dass wir über ein paar Dinge hinwegsehen müssen, wenn wir erfolgreich sein wollen.«

Ich schnaube nur höhnisch und mache mir eine mentale Notiz, in Zukunft über sexuelle Belästigung hinwegzusehen. Diese Bemerkung ist besonders widerlich, wenn sie von jemandem kommt, der sich gerade die halbe Nacht lang von den Bossen seiner Firma hat einladen lassen. Ich weiß, dass Ryan es im Grunde nur gut meint und mir helfen will, aber ich möchte ihm dafür die Faust ins Gesicht donnern.

Doch die liebe, professionelle Rosie Belmont, die einen Master in Betriebswirtschaft hat, schlägt keine Menschen, und so unterdrücke ich den Impuls, murmle ein »Danke« und gehe aus dem Zimmer.

Die Diskrepanz unserer Erfahrungen sticht mir tief ins Herz, aber ich will es gerade nicht an Ryan auslassen. Ich kann es mir nicht leisten, unbesonnen zu handeln.

Aber dass er sich kein bisschen darüber aufregt? Das schmerzt.

Ich brauche niemanden, der losmarschiert und Stan die Visage poliert, aber es wäre gelogen, zu behaupten, dass es mir nicht gefallen hätte. Es hätte einfach gutgetan, zu wissen, dass der Mann, mit dem ich mein Leben teile, bereit ist, für mich zu kämpfen. Meine Ehre zu verteidigen – so lahm und altmodisch es auch klingen mag. Schon das kleinste Fünkchen Zorn angesichts dieses Übergriffs, dieser Ungerechtigkeit hätte genügt.

Verdammt, eine Umarmung hätte mir schon gereicht.

Doch ich bekomme nichts von alldem.

Als ich mich wenig später auf den Weg mache, zeigt Ryan mir hinter der gläsernen Duschwand ein Daumen hoch und sagt: »Mach sie fertig, Tiger.«

Die gesamte SkyTrain-Fahrt zur Arbeit ist mir übel.

Im Fahrstuhl hoch zu unserer Etage zittere ich.

Ich halte den Blick gesenkt, denn ich weiß, wenn ich es in die Sicherheit meines winzigen Büros schaffe und die Tür hinter mir schließe, kann ich meine Fassung wiedererlangen.

Doch ich werde von Linda aus der Personalabteilung abgefangen. Ihre ganze Miene schreit förmlich »Bitte entschuldige«, bevor sie überhaupt etwas sagt. »Guten Morgen, Rosalie. Könntest du gleich kurz in mein Büro kommen?«

»Ja, natürlich«, sage ich mit brüchiger Stimme und nicke.

Wir tauschen ein gezwungenes Lächeln, doch als ich mich abwende, kullert eine dicke Träne über meine Wange. Denn ich weiß genau, was jetzt kommt.

3. KAPITEL

FORD

Cora und ich haben die letzte Stunde auf den Stufen vor der maroden Scheune verbracht und sind die von Kindred gelieferten Ergebnisse ihres DNA-Tests durchgegangen. Während ich im Internet nach einer zuverlässigen Einschätzung von Kindreds Testverfahren gesucht habe, hat sie schweigend neben mir gesessen und gewartet. Ich habe gesehen, wie sie die Augen verdreht hat, als ich die gleiche Frage noch einmal, nur in anderen Worten getippt habe.

Zu meiner Entschuldigung sei gesagt, dass Wie akkurat sind die Testverfahren von Kindred? möglicherweise andere Ergebnisse liefern könnte als Liegen die Kindred-Testverfahren manchmal falsch?.

»Du bist dir also ziemlich sicher, dass ich dein biologischer Vater bin?« Die Frage klingt selbst in meinen Ohren seltsam, aber es fällt mir nicht leicht, diese Neuigkeit zu verdauen.

»Ziemlich sicher.« Cora zupft an ihren Schnürsenkeln herum, und ich starre auf das Gekritzel, das sie mit schwarzem Marker auf der weißen Spitze ihrer Turnschuhe verteilt hat. Genau wie ich früher. »Ich habe vor Kurzem erfahren, dass meine Eltern einen Samenspender hatten. Und das ist die Verbindung zwischen uns.«

Sollte ich sie jetzt in den Arm nehmen oder so was? Kommt mir irgendwie unheimlich vor, schließlich kenne ich sie überhaupt nicht. Deshalb beschließe ich, stattdessen lieber mehr über sie rauszufinden.

»Bist du … Hast du …« Frustriert über mein Gestammel, fahre ich mir mit der Hand durch die Haare. »Hast du ein Zuhause?«

Ihr Seufzer ist so übertrieben, so entnervt, dass meine Mundwinkel zucken. Sie erinnert mich an meine Schwester Willa.

»Und du hast dich also auf die Suche nach mir gemacht …«

»Jap. Und dich gefunden. Dein Name ist gerade überall in den Medien wegen deiner neuen Produktionsfirma und all dem Zeug. Die Kids heutzutage können ziemlich gut mit dem Internet umgehen.«

»Ich … Entschuldige. Es dauert einfach ein bisschen, das alles zu verarbeiten. Ich hatte so was nicht erwartet. Also, dich.«

Ihre eingerissenen, schwarz lackierten Fingernägel kratzen über die bekritzelte Gummikappe ihrer Chucks. »Du hast dein Sperma gespendet. Was hast du denn erwartet?«

»Das Gebäude mit einem dringend benötigten Hundert-Dollar-Schein in der Hand wieder zu verlassen.«

Unbehagliches Schweigen senkt sich zwischen uns herab. Und in mir steigt ein Gefühl von Schuld auf. Ich sollte mich einem Kind gegenüber nicht wie ein Arschloch verhalten. »Ich war neunzehn. Und hab’s nicht wirklich durchdacht. Ich habe mir nie vorgestellt, dass mal ein Kind daraus werden könnte.«

Sie schnaubt. »Hast du vergessen, dass du dein Sperma gespendet hast?«

Ich zucke mit den Schultern, die Ellbogen auf die Knie gestützt. »Mehr oder weniger, ja.« Mein Blick springt zu Cora. »Entschuldige.«

Wieder verdreht sie die Augen, doch dabei wandert einer ihrer Mundwinkel für eine Sekunde nach oben. »Schon okay. Ich dachte, du wärst betrunken gewesen oder so. Dein Dad ist ein berühmter Rockstar. Wieso brauchtest du hundert Dollar?«

Ich unterdrücke ein Lachen und lasse den Kopf sinken. »Ich wollte unbedingt zur Reunion Tour von Rage Against the Machine. Aber mein Dad, so reich und berühmt er auch sein mag, hat weder mich noch meine Schwester mit Geld überschüttet. Er hat uns nie verwöhnt, sondern wollte immer, dass wir ein paar Lektionen lernen, die ihm wichtig waren. Damals hatte ich gerade mit dem Studium angefangen und war komplett pleite. Das Studium selbst hatte er finanziert, aber ich habe in einer Bar gearbeitet, um die Miete, Essen und so was zu bezahlen.« Kopfschüttelnd denke ich an das damalige Gespräch mit meinem Dad zurück. »Er hat sich geweigert, mir die hundert Dollar für das Ticket vorzustrecken, und mir erklärt, dass man sein Geld erst mal für die notwendigen Dinge im Leben braucht und sich manchmal eben keinen Luxus leisten kann.«

Ihre Mundwinkel zucken, und sie wendet das Gesicht ab. »Wow. Da hast du’s ihm aber gezeigt.«

Ich antworte nichts darauf, denn plötzlich fällt mir ein – ich werde meinen Eltern von Cora erzählen müssen. Oder? Ich bin mir nicht sicher, warum sie hier ist und was sie eigentlich will.

»Es ist fast so, als hätte Zack de la Rocha Anteil an meiner Zeugung, und, ich meine, das ist echt cool. Seitdem waren sie nicht mehr auf Tour, wer könnte es dir also verübeln? Es war gut investiertes Geld.«

Ich lache, denn wie könnte ich nicht? »Ich weiß deine logische Schlussfolgerung in dieser Angelegenheit zu schätzen.«

Cora lächelt, aber es ist ein trauriges Lächeln. Sie hat mir gesagt, sie sei zwölf, aber sie wirkt sehr viel weiser und resignierter, als es eine Zwölfjährige eigentlich sein sollte.

Meine Stimme klingt heiser, als ich sage: »Okay, tun wir mal so, als wäre ich wirklich dein biologischer Vater. Was führt dich zu meinem Haus?«

»Haus? Das Ding ist ’ne Bruchbude«, murmelt sie missmutig. Ich schaue über die Schulter und stelle fest, dass sie recht hat.

»Tatsächlich ist das da das eigentliche Haus.« Ich zeige auf das im Craftsman-Stil errichtete Gebäude nicht weit entfernt von der Scheune. Es ist nicht perfekt, aber nah dran. Modern und rustikal zugleich. An der Scheune muss dagegen noch einiges gemacht werden.

Aber ich weiß, dass es die Mühe wert sein wird. Der Blick auf den See, der Duft der Kiefern im Wind. Frühling liegt in der Luft, und sobald alles um uns herum grün wird, ist es hier mehr als idyllisch.

»Mein Dad ist gestorben.«

Meine Gedanken machen eine Vollbremsung. Coras Finger sind immer noch mit ihren Chucks beschäftigt, sie hält den Blick gesenkt, während ich reglos dasitze und sie beobachte.

»Das tut mir leid.« Gott, das klingt so lahm. Der Vater dieses Mädchens ist tot, und ich verwandle mich in eine kitschige Beileidskarte.

Doch es scheint ihr egal zu sein, denn sie zuckt nur mit den Schultern. »Er war echt lange krank. ALS. Wir wussten also, dass es irgendwann passieren würde. Es war nicht wirklich eine Überraschung.«

Ich schlucke trocken und beschließe, sie weitersprechen zu lassen und mich nicht in eine Geschichte einzumischen, die mir nicht gehört.

»Meine Mom …« Sie seufzt so tief, dass ihr Oberkörper bebt. »Meine Mom kommt ohne ihn nicht gut zurecht. Sie waren seit der Highschool zusammen und haben mich erst spät bekommen. Sie hatten Schwierigkeiten, schwanger zu werden. Und jetzt haben wir niemanden, der uns hilft.«

Eine Druckwelle donnert gegen meinen Brustkorb. Es fühlt sich an, als hätte jemand seinen stiefelbewehrten Fuß auf mich gestellt, um mich am Boden zu halten, und lege immer mehr Körpergewicht auf meine Lungen. Es fällt mir schwer, gleichmäßig weiterzuatmen, aber Cora scheint es nicht zu bemerken.

»Ich glaube, sie sollte irgendwo leben, wo jemand … sie unterstützen kann.« Ihr Kopf wackelt, und ich kann sehen, wie sorgfältig sie ihre nächsten Worte abwägt. »Ich hab ein bisschen recherchiert und bin mir ziemlich sicher, dass sie Depressionen hat. So richtig … ernst. Also habe ich angefangen, nach einer Klinik für sie zu suchen, verstehst du? Vielleicht eine, in der sie eine Weile bleiben kann. Es gibt ein paar. Hab auch mit der Vertrauenslehrerin an meiner Schule darüber gesprochen. Aber weil ich noch minderjährig bin, meinte sie, dass ich dann vermutlich in ein Heim oder eine Pflegefamilie komme, es sei denn, wir finden einen Verwandten, der sich solange um mich kümmert. Sie tut mir gerade einen Gefallen, weil sie das Jugendamt noch nicht informiert hat.«

Jetzt bin ich es, der den Kopf sinken lässt und mit den Fingern über die Schuhe streicht, damit meine Hände etwas zu tun haben. Ich frage mich, was für einen Anblick wir beide wohl gerade bieten, hier nebeneinander in der exakt gleichen Haltung.

»Na ja, und wie es scheint, bist du mein einziger lebender Verwandter. Also, abgesehen von meiner Mom.«

Fuck.

»Keine Onkel oder Tanten oder Großeltern? Niemand, den du besser kennst als mich?«

Sie schnieft, und ich bin so höflich, nicht in ihre Richtung zu blicken. Ich kenne das Mädchen nicht, doch sie scheint nicht der Typ zu sein, der es mag, wenn man ihr beim Weinen zusieht.

Mir jedenfalls wäre es nicht angenehm. Vielleicht hat das mit den Genen zu tun.

»Nein. Meine Eltern waren beide Einzelkinder. Und meine Großeltern sind alle tot.«

»Okay.« Ich nicke, ohne den Blick von unseren Schuhen zu heben. »Okay.«

»Okay was?«

»Okay, ich schlage vor, dass ich dich jetzt nach Hause bringe. Vielleicht können wir ja mit deiner Mom sprechen.«

Aus dem Augenwinkel nehme ich wahr, wie sie sich zu mir dreht und mich anschaut. »Einfach so?«

Ich richte mich auf und lehne mich gegen die wackelige Treppenstufe hinter mir. Innerlich drehe ich gerade durch. Für so was bin ich nicht geschaffen. Ich weiß ja nicht mal, wie man sich um ein Kind kümmert. Welche Bedingungen erfüllt sein müssen. Aber wenn ich der Einzige bin, der zwischen diesem Mädchen und einem Heimplatz steht, dann scheiß drauf. Wie soll ich jemals wieder ruhig schlafen, wenn ich jetzt Nein sage? Tief in meiner Seele bin ich zu weichherzig für diesen Mist.

»Ja. Einfach so.«

Sie ist zwölf. Sie braucht sich keine Gedanken um die Details zu machen. Darum werden sich die Erwachsenen kümmern. Meine Anwältin. Meine Anwältin Belinda, die mich umbringen wird.

Ich kann sie schon hören. Ihre Stimme klingt, als würde sie jeden Tag eine Schachtel Zigaretten rauchen, und sie wird mich gehörig zusammenstauchen, weil ich sonst immer so ein ruppiger Arsch bin und mir dann den unpassendsten Moment aussuche, um großherzig zu sein.

Womit sie absolut recht haben wird.

Doch ich bin schon auf den Beinen, schließe die Tür zur »Bruchbude« ab und eile im Laufschritt zu meinem SUV. »Na los!«, rufe ich Cora über die Schulter zu. »Musst du vorher noch aufs Klo? Oder was essen? Wir können uns unterwegs einen Burger holen.« Ich muss mich bewegen. Etwas tun. Ich muss jetzt einfach weitermachen, damit ich nicht anfange, zu viel nachzudenken, und womöglich noch überlege, warum ich es nicht tun sollte.

Denn in meinem Herzen weiß ich, dass ich das Richtige tue. Egal wie verrückt es auch klingen mag. Ich vertraue auf mein Bauchgefühl.

Cora folgt mir auf dem Fuß. Sie steigt auf den Beifahrersitz, und ich spüre ihren Blick auf mir. Vermutlich weiß sie nicht recht, was sie von mir halten soll, wo ich sie doch eben noch indirekt mit Wednesday Addams verglichen habe und jetzt … keine Ahnung, was mache. »Burger geht immer.«

Während ich in meinen Taschen nach Geld und Papieren suche, frage ich: »Bist du eigentlich alt genug, um vorne zu sitzen?«

»Ich bin zwölf.«

Ich seufze und drücke den Startknopf. Das Brummen des Motors erfüllt den SUV. »Mir kommt’s so vor, als würden die Kids heutzutage so lange in Kindersitzen herumfahren, bis sie offiziell Alkohol trinken dürfen. Ich wollte also bloß sichergehen.«

Sie schnaubt und lässt ihren Gurt einrasten. Ich erwische mich dabei, wie ich ihr Profil betrachte und nach Ähnlichkeiten mit mir selbst suche. Die scharfzüngigen Kommentare sind ohne Zweifel von mir. Eventuell auch ihr grandioser Musikgeschmack. Die schwarzen Schnürsenkel. Vielleicht sogar die dichten Augenbrauen, die ihr immer den Anschein geben, als würde sie die Stirn runzeln.

Schweigend fahren wir los, und ich brauche bis zum Ende der langen, von Bäumen gesäumten Zufahrt, bis mir klar wird, dass ich gar nicht weiß, wo wir überhaupt hinfahren. »Moment mal, wo wohnst du eigentlich?«

Sie senkt den Blick und zuckt kurz mit den Schultern. »In Calgary.«

»Das … das sind über drei Stunden Fahrt.«

Sie kaut auf der Innenseite ihrer Wange und sieht dann auf. »Ja. Tut mir leid.«

»Wie bist du hierhergekommen?« Ich habe bereits den Blinker gesetzt, bin aber noch noch nicht abgebogen.

»Mit dem Bus. War die ganze Nacht unterwegs mit den Zwischenstopps.«

»Deine Mom hat dich über Nacht den ganzen Weg hierher mit dem Bus fahren lassen?«

Cora wendet sich ab und starrt aus dem Fenster. »Sie hat geschlafen, als ich gegangen bin, und wahrscheinlich liegt sie immer noch im Bett.«

Wir halten vor einem typischen Reihenhaus in einer Straße mit ähnlichen Häusern. Nur wenige hundert Meter weiter befindet sich eine Schule. Am Straßenrand steht ein Hockeytor. Schläger und Handschuhe liegen darauf, als wären die Kids mitten im Spiel zum Mittagessen gerufen worden.

Es sieht aus wie eine ganz normale Wohngegend für Familien, mit gepflegten Vorgärten und Einfahrten, in denen Mittelklasse-Wagen stehen.

Das Einzige, was Coras Haus von den anderen unterscheidet, ist der Rasen. Wie alle anderen ist er gemäht, aber die Linien verlaufen nicht ganz gerade. Das Haus wirkt unordentlicher als die anderen. Die halb zugezogenen Vorhänge mitten am Nachmittag lassen es irgendwie verlassen wirken, als wären seine Bewohner im Urlaub.

Aber ich weiß, dass sie es nicht sind.

Cora springt aus dem Wagen, schlägt die Tür deutlich kräftiger zu, als nötig wäre, und läuft zur Haustür. Ich folge ihr, wobei ich mich kurz umdrehe, um zu schauen, ob jemand uns beobachtet. Irgendwie wirkt es surreal, mit einem Kind, von dessen Existenz ich bis vor wenigen Stunden nichts wusste, zu einem Haus zu gehen, in dem ich noch nie war, um eine Frau zu treffen, die … mein Sperma verwendet hat.

Ich streiche mir über die Bartstoppeln und nähere mich der Tür.

»Sorry für die Unordnung«, murmelt Cora, während sie ein paar Zahlen in das Keypad neben der Tür eintippt und sie aufdrückt.

Sie hat nicht übertrieben. Vom Eingang aus lasse ich den Blick durch den offenen Wohnbereich gleiten. Mag ja sein, dass meine Scheune eine Bruchbude ist, aber dieses Haus hier ist wie eine dunkle, muffige Höhle. Im Fernsehen läuft eine Nachrichtensendung, gerade so laut, dass ich die Stimme des Moderators murmeln hören kann, während unten am Bildrand der Newsticker läuft. Die Küche müsste mal geputzt werden. Auf der vollgestellten Küchenzeile liegt ein Pizzakarton, daneben steht eine Flasche Milch, die eigentlich in den Kühlschrank gehört. Schmutziges Geschirr stapelt sich in der Spüle.

Es riecht – noch – nicht verrottet, aber abgestanden.

»Fühl dich wie zu Hause«, sagt Cora. »Ich geh rauf und hole Mom.« Und damit verschwindet sie um die Ecke und stampft die Treppe hoch. Ihre Schuhe hat sie immer noch an.

Ich bleibe im Eingangsbereich stehen und weiß nicht recht etwas mit mir anzufangen. Am liebsten würde ich putzen und die Fenster öffnen, aber das wäre wohl kaum angemessen.

Schon witzig, da ist man der heißeste Milliardär der Welt, aber auf so etwas ist man nicht vorbereitet. Ich fand die Auszeichnung von Anfang an albern, und jetzt hab ich den Beweis. Cora war während der Fahrt hierher nicht sonderlich gesprächig. Jedes Mal, wenn ich etwas über ihre Mom gefragt habe, hat sie sich abgewandt, aus dem Fenster gestarrt und dann eine möglichst ausweichende Antwort gemurmelt. Sie scheint nicht über sie reden zu wollen. Ich habe das Gefühl, dass sie ihre Mutter schützen und mich wiederum in gewisser Weise abschirmen will.

Ihre Reaktion ist mir vertraut, denn ich mache es ähnlich. Aber diesmal bringt es mich in eine Situation, die sich in unzählige Richtungen entwickeln – und uns auch spektakulär um die Ohren fliegen – kann.

Ich ziehe mein Handy aus der Tasche und sehe nach, wie spät es ist. Dann warte ich zehn Minuten und sehe erneut nach.

Irgendwann höre ich leise Stimmen und Schritte, und nur wenige Sekunden später stehe ich einer Frau gegenüber, die gut Ende fünfzig sein könnte, nicht viel jünger als meine Mutter. Aber hier enden auch schon die Gemeinsamkeiten. Ich fand ja schon, dass Cora erschöpft aussah, aber ihre Mutter wirkt ernsthaft krank.

Mit einem benommenen Ausdruck im Gesicht kommt sie auf mich zu und zwingt sich zu einem Lächeln, während sie mir eine schlaffe Hand entgegenstreckt. »Hi, ich bin Marilyn.«

»Hi Marilyn. Ich bin Ford«, sage ich sanft und betrachte ihre weiten Klamotten, die zerzausten Haare und die Falten auf ihrer Wange – wahrscheinlich vom Schlafen. Da ich gerade noch auf die Uhr gesehen habe, weiß ich, dass es gegen zwei Uhr ist, also nicht unbedingt eine Zeit, zu der man an einem Dienstag im Bett liegt und schläft.

Und wo ich jetzt so darüber nachdenke – Cora sollte eigentlich in der Schule sein.

»Es freut mich, Sie kennenzulernen«, füge ich noch hinzu und trete einen Schritt zurück.

Sie nickt und bedenkt mich mit einem weiteren, diesmal nur schwachen Lächeln. Es passt zu ihrer brüchigen Stimme und der einzelnen Träne, die über ihre Wange rinnt. Und zu dem, was sie jetzt sagt: »Cora sagt, Sie sind hier, um uns zu helfen.«

Ein einziger Blick auf Cora, die nun die Hand ihrer Mutter umklammert, reicht aus, um zu wissen, dass ich einen Pfad betreten habe, auf dem ich nicht mehr umkehren kann. Mittlerweile sollte ich mich eigentlich besser schützen können, aber offenbar habe ich meine Lektion immer noch nicht gelernt, denn ich weiß jetzt schon, dass ich hier nicht einfach wieder abhauen werde.

»Ja, Marilyn. Ich möchte Ihnen helfen, wie auch immer ich kann.«

4. KAPITEL

ROSIE

Meine Zähne zupfen an meiner Unterlippe wie ein Plektron an einer Gitarrensaite, und meine Hände umklammern das Lenkrad, während ich auf das Haus meines Bruders starre, dasselbe Haus, in dem wir groß geworden sind.

Nachdem ich mich zwei Wochen lang ohne Job und ohne die geringste Ahnung, wie es weitergehen soll, in Selbstmitleid gesuhlt habe, bin ich nun wieder zurück in Rose Hill. Der Stadt, in der ich aufgewachsen bin. In die ich nur selten zurückgekehrt bin. Von der ich gar nicht wusste, dass ich sie vermisst habe, bis ich plötzlich dringend das Gefühl brauchte, nach Hause zu kommen. Einen sicheren Hafen, um dort meine Wunden zu lecken und mir zu überlegen, was ich nun machen werde.

Gerade eben bin ich die steile Schottereinfahrt hochgefahren, auf der ich als kleines Kind mal gestürzt bin. Mit aufgeschürften Knien und lauter Blut auf meinen brandneuen weißen Turnschuhen habe ich heulend dagestanden, während mein Bruder mich mit dem Schlauch abgespritzt hat wie ein Pferd. Damals war ich am Boden zerstört, doch heute muss ich bei der Erinnerung daran lächeln.

Schon witzig, dass mich eine Situation, in der ich mich so furchtbar gefühlt habe, irgendwann lächeln lässt.

Mein Blick wandert über die Farm, die am westlichen Rand der Stadt liegt. Oberhalb des Grundstücks sind ein paar Felsen, dahinter ist der Highway. Die Hauptverbindungsstraße ist vor vielen Jahren buchstäblich in die Berge gesprengt worden, und jetzt verhindert ein Maschendraht an den Felsen, dass lose Bruchstücke auf die Straße fallen – oder auf uns.

Zu meiner Linken sehe ich den wunderschönen See, und ich denke daran, wie wir uns als Teenager im Sommer den ganzen Tag mit dicken Luftreifen hinter dem Boot haben herziehen lassen und am Ufer Partys gefeiert haben. Und wie wir im Winter Schlittschuh gelaufen sind, in Eislöchern geangelt und mit den Snowmobilen Gas gegeben haben.

Ich blicke nach rechts, wo das Haus meiner Eltern ein Stück weiter oben auf dem Hügel steht. Nur der Dachfirst lugt über den Bäumen heraus. Als West die Farm übernommen hat, haben sich die beiden »zurückgezogen«, wie sie es nannten.

In Wahrheit haben sie ihr gesamtes Leben damit verbracht, sich Sorgen um West zu machen, und ich bin mir nicht sicher, ob sie es ertragen könnten, ihn nicht länger unter ihrer Aufsicht zu haben.

Mein Blick wandert zurück zum Haus meines Bruders, und ich atme tief ein, um den Mut zu finden, da reinzuspazieren und so zu tun, als wäre alles absolut super.

Bevor ich ihn frage, ob ich eine Weile hierbleiben kann.

»Verdammt, Rosie, jetzt beweg endlich deinen Hintern«, murmle ich, während ich aussteige und zum Haus hinübergehe. Den Wagen brauche ich nicht abzuschließen. Falls es jemand wagen sollte, hierher rauszukommen, um mein Zeug zu klauen, dann applaudiere ich ihm für seinen Mumm.

Im Ernst: Ich würde ihn sogar fragen, wo er ihn hernimmt, denn meiner ist gerade restlos aufgebraucht.

Ich glaube, seit meinem tiefen Atemzug eben im Auto habe ich nur noch ein einziges Mal Luft geholt. Jetzt jedenfalls halte ich den Atem an, während ich die Hand hebe, um an die Tür zu klopfen und es endlich hinter mich zu bringen. Doch kurz bevor meine Knöchel das Holz berühren, wird sie schon aufgerissen, und all die Luft, die ich angehalten habe, wird mir aus der Lunge gesaugt.

Von Ford Grant.

Mir rutscht das Herz in die Hose.

Ich muss den Kopf in den Nacken legen, um seinen smaragdgrünen Blick zu erwidern. Er war immer schon groß, aber jetzt ist er … riesig.

»Ford.«

Er sieht mich auf eine Weise an, dass mein Herz wild zu klopfen beginnt.

»Hi.«

Er zieht die dunklen Brauen zusammen, und mein Blick wandert unwillkürlich zu seinen Haaren, die früher eher rotbraun waren und im Laufe der Zeit nachgedunkelt sind. Sie glänzen jetzt in einem tiefen Dunkelbraun und nur noch vereinzelt in einem rötlichen Ton.

Ein gepflegter Dreitagebart ziert sein Gesicht unter den hohen Wangenknochen, und seine gebräunte Haut dehnt sich, als sein Adamsapfel über dem V-Ausschnitt seines khakifarbenen T-Shirts hüpft.

Gott, es muss mindestens zehn Jahre her sein, dass ich ihn das letzte Mal gesehen habe. Man hätte erwarten können, dass er seine Schüchternheit abgelegt hat, aber es sieht nicht so aus, denn er steht stocksteif da und starrt mich an, als sähe er mich zum ersten Mal.

Also strecke ich ihm die Hand entgegen und ziehe einen Mundwinkel leicht nach oben. »Ich bin mir nicht sicher, ob du dich noch an mich erinnerst. Ich bin Rosalie Belmont. Wir haben früher die Sommerferien damit verbracht, uns irgendeinen Scheiß zu erzählen, während wir meinem Bruder hinterhergedackelt sind – Weston Belmont.«

Er schüttelt den Kopf und verzieht keine Miene, als er zu mir auf die Veranda tritt und mit seiner warmen Hand meine umschließt. »Richtig. Rosalie. Ich muss so gut darin geworden sein, dich auszublenden, dass ich dich komplett vergessen habe.«

Ein Lachen befreit sich aus meiner Brust, und ich bekomme prompt feuchte Augen.

Geneckt zu werden hat sich noch nie so gut angefühlt. So tröstlich.

»Ach ja, die gute alte Zeit.« Die Worte kommen nur flüsternd, während ich seinem intensiven Blick ausweiche und mir über die Nasenspitze reibe.

Ich will ihn lieber nicht ansehen, denn ich weiß genau, dass Ford hinter seinen etwas barschen Worten und der gelangweilten Fassade ein guter Mensch ist, der mich sofort durchschauen würde.

Er war da, als Travis Lynch mir das Herz gebrochen hat. Hat mich auf der anderen Seite des Sees damals von einer Party abgeholt und nach Hause gebracht. Auf der Fahrt hat er aus den Augenwinkeln zugesehen, wie ich wie ein kleines Mädchen bitterböse Dinge über Travis in mein Tagebuch gekritzelt habe. Und er hat schweigend zugeschaut, als ich das Seitenfenster runtergekurbelt und das Buch dann auf der dunklen, kurvenreichen Straße in den Wald geschleudert habe.

Wir haben nie über diesen Abend gesprochen. Es gab nicht viel dazu zu sagen. Der beste Freund meines Bruders, der mich bei jeder sich bietenden Gelegenheit geärgert hat, wurde Zeuge meines Komplettzusammenbruchs wegen eines Typen, für den die Zeit in der zehnten Klasse der Höhepunkt seines Lebens war, bevor er mich wortlos zu Hause abgesetzt hatte.

Aber. Ich weiß, dass er meinen abgrundtief verletzten Blick an diesem Abend gesehen hat – weiß, dass er mir ein bisschen zu lange in die Augen geschaut hat. Und ich weiß genau, dass er es wieder sehen wird, wenn ich seinen Blick jetzt erwidere.

»Tante Rosie!«