Willi von Weitem - Martin Becker - E-Book

Willi von Weitem E-Book

Martin Becker

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Beschreibung

Willi von Weitem und weitere, wundersame Welten. Erzählungen Erzählbuch von 8 bis 88. 34 liebevoll und humorvoll erzählte Kurzgeschichten über kleine und große Helden. Zum Vorlesen und zum Selberlesen. Dieses Buch stärkt das Selbstbewusstsein, hebt den Blick und erzählt über Liebe, Glück und Mut. Man darf ruhig klein sein, um Größe zu zeigen. "Wenn du es nicht versuchst, wirst du es auch nicht erreichen." (Der alte Herr Dachs)

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Martin Becker

Willi von Weitem

und weitere, wundersame Welten

 

 

 

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

1.Inhaltsverzeichnis

2.Der Flug der Hummel

3.Willi von Weitem

4.Bruno gräbt sich durch die Welt

5.Piepsis Nest

6.Senet – Das Spiel des Lebens

7.Amelies bunte Welt

8.Ritter Kunibert und das Zollhäuschen

9.Der tote Briefkasten

10.Eines Tages gehört das Universum dir

11.Seiltänzer Klaus

12.Dragomirs neuer Freund

13.Die Walversammlung

14.Die kleine Raupe

15.Lenni kehrt zurück

16.Der alte Sumpfgeist

17.Der Wetterhahn

18.Pünktchens Entscheidungen

19.Das Spinnennetz

20.Die kleinen Klopper

21.Burrito und Perro Tonto

22.Das Graffiti

23.Der große Sprung

24.Trampas und Hiker

25.Der Löwe auf dem Kirchendach

26.Das schwarze Loch

27.Walter trifft sich selbst

28.Walter und sein Glücksminister

29.gustaf fan der felde

30.Das Schloss über dem Nebel

31.Major Tom reist in Lichtgeschwindigkeit

32.Das Langzeit- Phänomen

33.Der Stein

34.Bruder Felix

35.Der Regen in London

Impressum neobooks

1.Inhaltsverzeichnis

Willi von Weitem

und weitere, wundersame Welten

von 8 bis 88 Jahren

Erzählbuch

von

Martin Becker

Impressum

Texte: © Copyright by Martin Becker 2021Umschlag: © Copyright by Martin Becker 2021Verlag: MB-Projekt Final Design UG

Münchner Straße 2782256 Fü[email protected]

Druck: epubli, ein Service der

neopubli GmbH, Berlin

Printed in Germany

2.Der Flug der Hummel

„Warum leuchten die Glühwürmchen?“, fragte Jessica.

„Oh, sie leuchten, weil sie es können“, antwortete der alte Herr Dachs.

„Können sie auch summen?“

„Ich glaube nicht, aber wenn sie summen könnten, würden sie es mit Sicherheit tun. Bienen können summen, also tun sie es.“

„Hummeln fliegen ganz langsam“, sagte Jessica und zeigte auf die Blume, auf der sich eine dicke Hummel niedergelassen hatte.

„Die Hummel fliegt so schnell, wie sie denken kann“, sagte der alte Herr Dachs.

„Und wie schnell kann die Hummel denken?“, fragte Jessica

„Etwa so: B r r r u u m m m “, antwortete Herr Dachs. „Sie fliegt nur 130 Meter pro Stunde.“

„Die Hummel kann vielleicht nicht so schnell denken, aber das ist gar nicht schlimm“, sagte Jessica. „Sie tut das, was sie kann.“

„Ja, richtig, jeder tut das, was er kann“, antwortet Herr Dachs. „Und jeder tut das Beste, so gut er kann.“

„Wie die Hummel“, sagte Jessica. „Dafür kann sie schön brummen.“

„Wenn sie schneller fliegen könnte, würde sie es auch sicherlich tun“, sagte Herr Dachs. „Und weil sie ihr Bestes gibt, ist es für sie auch das Allerbeste auf der Welt. Du kannst also niemanden für das beschimpfen, was er nicht kann.“

„Und was kann ich?“, fragte Jessica.

„Was du kannst?“ Herr Dachs stupste Jessica mit dem Finger an die Nase. „Alles“, sagte er. „Alles, wenn du es nur willst.“

„Ich kann alles werden, was ich will?“

„Alles.“

„Auch Astronautin oder Erfinderin?

„Alles, du musst es nur wollen, und dann musst du es tun.“

„Ich will Astronautin werden.“

„Na gut, dann mache es. Wenn du den Willen hast, etwas zu tun, dann tue es. Lasse alle Zweifel hinter dir und mache es. Verfolge deinen Wunsch, und eines Tages wirst du in der Rakete sitzen und fliegen.“

„Einfach so?“

„Wenn du es nicht versuchst, wirst du es auch nicht erreichen“, sagte Herr Dachs. „Willst du ein paar Geschichten hören?“

„Au ja!“, rief Jessica setzte sich unter den Baum in den Schatten.

Herr Dachs rückte seine Brille zurecht, rieb sich an seinem Kinn und fing mit geheimnisvoller Stimme an zu erzählen:

3.Willi von Weitem

„Manche Menschen,“ sagte der alte Herr Dachs, „tun es sich besonders schwer, ihren eigenen Willen durchzusetzen. Wenn sie es aber annehmen würden, was um sie herum passiert, dann hätten sie es viel leichter.“

Es war einmal ein kleiner Planet. Er war rund und schön. Auf dem Planeten standen ein Apfelbaum, ein Haus und eine Parkbank. Überall rundherum wuchs ein schöner Rasen. Der Planet war wirklich sehr klein. Würde er auf der Erde landen, könnte er in den Garten von Bürgermeister Friederich passen. Allerdings würde er dabei die Salatköpfe zerdrücken, das sollte er natürlich nicht.

Zum Glück war der kleine Planet ziemlich weit weg von der Erde. Ungefähr so weit wie zum Mond und zurück und noch mal hin.

Auf dem kleinen Planeten wohnte Herr Wilhelm von Weitem. Wir dürfen ihn ruhig Willi nennen.

Willi war der einzige Bewohner dieses Planeten. Er fühlte sich dort richtig wohl.

Jeden Morgen, gegen halb acht, stand Willi auf und pflückte sich einen Apfel vom Apfelbaum. Mmm, der Apfel war lecker. Er konnte ihn roh essen oder ihn braten oder einen Apfelkuchen machen oder Apfelmus. Er freute sich jeden Tag wieder aufs Neue über einen neuen, frischen Apfel.

Gegen drei Uhr kam immer eine Wolke vorbei und regnete. Der ganze Planet wurde nass. Deshalb gab es auch das ganze Jahr über Äpfel, und der Rasen war wunderschön grün. Willi stellte einen Eimer vor die Tür und wartete, bis er voll war. Mit dem Wasser konnte er sich einen Apfelblütentee machen, sich die Zähne putzen und duschen.

Willis Arbeit bestand darin, einmal im Monat den Rasen zu mähen. Er nahm sich dabei viel Zeit, denn Zeit hatte er ja. Dabei ging er mit seinem Rasenmäher um den ganzen Planet herum, zick, und dann wieder zurück, zack. Und dann immer zickzack. Er konnte auch im Kreis herumgehen, als würde er einen Apfel schälen, oder auch im Schachbrettmuster, so lange, bis der Rasen wieder schön kurz war.

Zur Pause nahm Willi die Zeitung aus dem Briefkasten und ging auf die andere Seite zur Parkbank. Dort las er gemütlich die Zeitung, vor allem die Autoannoncen und die Heiratsanzeigen. Wenn seine Pause zu Ende war, ging er zurück, steckte die Zeitung wieder in den Briefkasten und mähte weiter den Rasen.

Eines Tages aber passierte etwas Schreckliches: Es rauchte und qualmte am Himmel, und dann ruckelte der ganze Planet. Es zischte und dampfte, und dann war es still.

Willi war gerade dabei, sich einen Apfelblütentee zu brühen, da klopfte es auch schon an seiner Tür.

Draußen stand ein kleiner Außerirdischer mit großen Augen, einem silbernen Raumanzug und einer Antenne auf dem Kopf.

„Guten Tag“, sagte der Außerirdische. „Entschuldigen Sie die Störung, mein Name ist Kapitän Brzklck. Ich bin hier notgelandet, weil mein Benzin ausgegangen ist. Haben Sie zufällig einen Liter Milch? Dann kann ich sofort weiterfliegen.“

„Ich habe keine Milch“, brummelte Willi und machte die Tür wieder zu. Er hatte wirklich keine Milch, woher sollte er sie auch haben? Er hatte ja noch nicht mal eine Kuh.

Was Willi überhaupt nicht leiden konnte, war, wenn er gestört wurde. Es klopfte wieder. Willi öffnete die Tür.

„Was ich überhaupt nicht leiden kann, ist, wenn ich gestört werde“, sagte er grob.

„Es ist mir außerordentlich peinlich“, sagte Kapitän Brzklck, „aber ohne Milch sitze ich hier fest.“

„Dann funken Sie um Hilfe mit Ihrem Raumdings, und lassen Sie mich in Ruhe.“ Er machte die Tür wieder zu.

„Das habe ich schon gemacht“, hörte er den Außerirdischen von außen. „Meine Botschaft braucht ein Lichtjahr bis zu meinem Planeten, und dann ein weiteres, bis Hilfe kommt.“

Willi öffnete wieder die Tür.

„Zwei Jahre?“, rief er erschreckt. „Das geht nicht. Nein!“

Willi war völlig außer sich. Sein schöner, kleiner Planet, seine Ruhe, seine Zufriedenheit, sein Rasen, sein Apfel. Nichts war schlimmer, als in seinem Glück gestört zu werden.

„Es tut mir wirklich leid“, sagte der Außerirdische von draußen.

Am nächsten Morgen klopfte Willi an die Tür vom Raumschiff. Es war eine fliegende Untertasse, ganz glatt und rund, und es glänzte wunderschön. Aber das kümmerte Willi nicht.

„Sie machen meinen Rasen kaputt“, rief er, „wenn Ihr Raumdings draufsteht. Dann kriegt das Gras kein Licht, und es wird ganz gelb.“

„Oje“, sagte Kapitän Brzklck, „wie kann ich das verhindern?“

„Indem Sie entweder wieder wegfliegen oder das Raumdings verrücken. Jeden Tag an eine andere Stelle.“

„Das ist eine gute Idee“, sagte Brzklck. „Das mache ich.“ Er stieg aus und schob seine fliegende Untertasse ein Stück weiter weg.

„Und dass Sie mir nicht von meinem Apfelbaum essen“, forderte Willi weiter. „und dass Sie keinen Dreck machen und nicht auf meiner Parkbank sitzen.“

„Das mache ich ganz bestimmt nicht“, sagte Brzklck. „Ich habe erst vor fünf Jahren gegessen. Für die nächsten zehn Jahre habe ich gar keinen Hunger.“

Willi ging wieder in sein Haus und schmollte. Jeden Tag, wenn er aus dem Haus ging, sah er zu dem Raumschiff hinüber, das immer einen neuen Standort hatte, und ärgerte sich.

Brzklck war sehr freundlich und grüßte ihn jeden Morgen, doch Willi wollte ihn nicht wahrnehmen. Selbst als er auf der Parkbank saß und die Heiratsannoncen las, war er nur darauf konzentriert, sich zu ärgern.

Brzklck hingegen saß gerne auf seiner Untertasse. Er blickte in das weite Universum, sah den Sternenhimmel an und summte dabei leise einige Lieder. Diese Lieder waren sehr schön und klangen weit in die Nacht hinaus.

Anfangs konnte Willi es nicht leiden, dass Brzklck summte, dann machte er extra laute Geräusche und ließ die Pfeife an seinem Wasserkessel besonders lange pfeifen. Aber er konnte doch nicht verhindern, dass er die Lieder mochte. Fast kam es ihm so vor, als würde ihm dabei jemand eine Geschichte erzählen, obwohl er keine Worte hören konnte. Aber dann ärgerte er sich über sich selbst, weil es ihm gefiel, und er dachte sich schlechte Dinge über Brzklck aus.

Und dann, eines Abends, machte Willi sein Schlafzimmerfenster einen kleinen Spalt auf, damit er bei Brzklcks Liedern besser einschlafen konnte. Er konnte bei den Liedern so wunderschöne Geschichten träumen. Natürlich bemerkte Brzklck das, und er freute sich darüber.

Einmal im Jahr war Winter. Dann regnete die Wolke ein bisschen Schnee auf den Rasen. Willi baute sich dann immer einen Schneemann. Er musste sich dabei etwas beeilen, denn am nächsten Morgen war der Winter schon wieder vorbei. Dieses Mal machte er auch einen schönen Schneemann. Doch er formte die Augen und die Nase so, dass sie vom Raumschiff wegzeigten, sodass der Schneemann auf die andere Seite schaute.

„Der ist wirklich sehr schön“, rief Brzklck und stieg von seinem Raumschiff.

„Mmm“, brummelte Willi. Er hatte ein Problem mit der Nase des Schneemanns, die nicht stecken bleiben wollte.

„Wenn man etwas nicht akzeptiert“, sagte Brzklck, der plötzlich neben dem Schneemann stand, „dann hat es nicht die geringste Chance, zu bestehen.“

„Wie meinen Sie das?“, fragte Willi und schaute die schiefe Nase des Schneemanns an.

„Ich meine nur, stellen Sie sich vor, wir würden uns miteinander unterhalten und wir hätten Spaß daran, uns auszutauschen.“

„Ich will keinen Spaß“, brummelte Willi.

„Wenn man jemanden nicht akzeptiert“, sagte Brzklck, „dann hat er nicht die geringste Chance, anerkannt zu werden.“

„Mmm“, brummelte Willi.

„Ich würde mich freuen, wenn Sie akzeptieren könnten, dass uns die Situation zusammengeführt hat“, sagte Brzklck. „Akzeptanz ist der Sieg über einen Konflikt.“

„Mmmh“, brummelte Willi.

Brzklck kletterte geschickt auf den Schneemann und steckte die Nase oben auf seinen Kopf. Jetzt hatte er eine ähnliche gleiche Antenne wie Brzklck.

Willi ließ es gelten und wehrte sich nicht dagegen.

Am nächsten Morgen war der Schneemann wieder geschmolzen. Willi pflückte sich einen Apfel.

„Guten Morgen, Herr von Weitem“, winkte ihm Brzklck von seinem Raumschiff zu. Er hatte den Namen auf dem Briefkasten gelesen.

„Mm, ja, guten Morgen“, brummte Willi.

„Darf ich heute den Rasen mähen?“, fragte Brzklck.

„Mmm, ja, okay“, brummelte Willi wieder.

Brzklick holte eine kleine Laserlampe aus seiner Werkzeugkiste und legte sie aufs Gras.

„Sie müssen hochspringen“, rief er.

„Hochspringen?“, wunderte sich Willi.

„Ja, einfach hochspringen.“

Willi sprang in die Luft. In diesem Moment kippten alle langen Grashalme zur Seite und übrig blieb der exakt geschnittene Rasen.

Willi staunte. Dann drückte Brzklck noch einmal auf den Knopf, es machte „Flupp“, und das lose Gras war perfekt eingesaugt und zu einer kleinen Tablette gepresst.

„Da kann man drei Jahre davon leben“, sagte Brzklck und schluckte die Tablette.

Jetzt staunte Willi aber wirklich. Er hielt noch seinen Apfel in der Hand.

„Und wie lange könnten Sie von einem Apfel leben?“

„Ungefähr sechs“, antwortete Brzklck.

„Wow!“ Willi überlegte. „Wollen Sie einen?“

„Nein danke“, sagte Brzklck. „Ich muss auf meine Linie achten.“ Beide lachten.

„Ich heiße Willi“, sagte Willi.

„Und ich heiße Brzklck“, sagte Brzklck.

Jetzt freuten sich beide darüber, dass Willi nicht mehr grantig war. Willi sah ein, dass es besser war, Brzklck zu akzeptieren und ihn anzunehmen, anstatt gegen ihn anzukämpfen. Plötzlich fühlte er sich viel leichter und besser dabei.

Alle seine unfreundlichen Gedanken waren verschwunden, und er fühlte sich genauso wohl, wie früher, als er noch allein war. Ja, eigentlich fühlte er sich jetzt sogar noch wohler, denn er hatte jemanden, mit dem er sich unterhalten konnte.

„Da, wo ich herkomme“, erzählte Brzklck, „erzählen wir uns Geschichten, indem wir einfach nur eine Melodie singen. Willst du eine hören?“

„Ja“, antwortete Willi. Er kannte ja bereits viele Geschichten aus Brzklcks Liedern und aus seinen Träumen. Er kletterte zu Brzklck auf das Raumschiff.

Brzklck begann zu summen, und Willi schloss die Augen. Er sah viele Planeten und Sterne. Auf einem Planeten sah er Häuser und Flüsse und Wasserfälle. Er sah Außerirdische. Sie sahen genauso aus wie Brzklck. Und er sah einen König und einen General, und er sah Brzklck. Der General war der Chef aller Raumschiffpiloten. Als Willi die Augen öffnete, wusste er genau, wie Brzklck zu Hause lebte, und dass er als Nächstes ziemlich hoch befördert werden sollte.

„Und jetzt du“, sagte Brzklck.

Willi traute sich anfangs nicht, denn er hatte noch nie eine Geschichte gesummt. Doch dann probierte er es. Er dachte an seinen kleinen Planeten und malte sich aus, dass er mit diesem eine Reise begann, direkt am Mond vorbei zur Erde, und dass er im Garten vom Bürgermeister Friederich landete. Und weil er die Salatköpfe schonen wollte, schnitt er sie mit Brzklcks Laserdings ab, saugte sie zu einer kleinen Tablette ein und brachte sie Frau Bürgermeister zum Abendessen. Diese brauchte nur noch ein bisschen Öl und Essig dazu zu tun. Das schmeckte dem Bürgermeister ausgezeichnet.

Brzklck lachte, als er die Augen wieder öffnete.

„Und jetzt wieder ich“, sagte er.

Stundenlang, tagelang und nächtelang saßen beide auf dem Raumschiff und summten Lieder. Es war sehr schön, und sie hatten viel Spaß dabei. Sie merkten nicht, wie die Zeit verging.

Und als der nächste Winter kam, da bauten sie einen großen Schneemann, mit einer Nase vorn und einer Antenne oben auf dem Kopf.

Eines Tages schwebte ein Raumschiff über dem Haus von Willi. Zwei Außerirdische beamten sich herab mit einer Tüte Milch in der Hand.

„Seid gegrüßt“, sagten sie. „Hier Kapitän Brzklck, wir bringen dir die Milch. Wir sollen dir schöne Grüße vom General übermitteln, er freut sich schon darauf, dir dein neues Raumschiff zu zeigen.“

Brzklck freute sich und sagte: „Danke, das ist wirklich sehr lieb von euch, dass ihr euch auf so einen langen Weg für mich gemacht habt.“

Er lud seine Freunde ein, sich auf sein Raumschiff zu setzen und sich die Geschichte anzuhören, die Brzklck zusammen mit Willi erlebt hatte. Die Freunde schlossen die Augen, und Brzklck und Willi summten gemeinsam ihre Geschichten. Die Außerirdischen mussten immer wieder lachen und staunen. Es war sehr lustig.

Dann stand Willi auf und holte vier Gläser aus dem Haus.

Er schenkte jedem ein volles Glas Milch ein. Brzklck rief „Prost“, und gemeinsam tranken sie die Milch aus.

4.Bruno gräbt sich durch die Welt

„Wenn du etwas nicht versuchst“, sagte der alte Herr Dachs, „dann wirst du es auch nicht erreichen. Du hast keine Garantie auf Erfolg, aber du hast dein Bestes getan, und dann kannst du dir nichts vorwerfen, wenn es nicht funktioniert.“

Heute will Bruno ein tiefes Loch graben.

„Heute will ich ein tiefes Loch graben“, sagte Bruno.

Bruno war der beste Lochgräber unter allen Maulwürfen.

„Wie tief soll das Loch werden?“, fragte Gustl, der Gockel.

Gustl konnte auch Löcher graben. Aber nur so tief, dass er sich hineinsetzen konnte.

„So tief, wie noch nie einer gegraben hat“, antwortete Bruno.

„Hundert Meter?“, fragte Micha, die Maus.

Auch Micha konnte Löcher graben. Aber nur so tief, dass sie ein Nest in die Erde bauen konnte.

„Noch tiefer“, sagte Bruno.

„Einen Kilometer?“, fragte Micha.

„Noch tiefer“, sagte Bruno. „Denn mein Großvater hat schon mal einen Kilometer tief gegraben.“

„Durch die Welt durch?“, fragte Klipper, der Klepper.

Klipper konnte überhaupt keine Löcher graben, deshalb kannte er sich nicht so gut aus.

„Genau“, sagte Bruno. „Durch die Welt durch. Das hat noch keiner geschafft.“

„Oh!“, staunte Klipper. „Bis du wieder am anderen Ende rauskommst?“

„Ja, bis ich wieder rauskomme“, antwortete Bruno.

„Wo kommst du denn dann wieder raus?“, wollte Micha wissen.

„In China“, antwortete Bruno.

„Und wenn du im Meer rauskommst?“, gackerte Gustl?

„In welchem Meer denn?“, fragte Bruno.

„Na, im Chinesischen Meer“, sagte Gustl.

„Dann werdet ihr nass“, behauptete Bruno.

Denn wenn man in ein Meer ein Loch gräbt, dann läuft das Meer aus. Und am anderen Ende wird man nass.

„Das weiß doch jedes Kind“, rief Bruno.

Bruno verabschiedete sich von seinen Freunden.

Er hatte seine Gräber-Ausrüstung dabei.

Da war zuerst seine Schaufel mit kurz gesägtem Stiel. Damit konnte er besser um die Kurven schaufeln.

Dann hatte er seinen Helm mit einer Grubenlampe. Normalerweise brauchen Maulwürfe keine Lampen. Aber diese Lampe brauchte er, um von seinem Gabelkompass abzulesen.

Damit er nicht in die falsche Richtung grub, hatte er nämlich seinen Spezial-Gabelkompass dabei.

Es war eine Gabel an einem Stück Faden. Alle guten Maulwürfe haben einen Gabelkompass.

„Was ist denn genau ein Gabelkompass?“, fragte Klipper.

Da Klipper nicht graben konnte, kannte er sich eben nicht so gut aus.

Wenn ein Maulwurf nach unten graben will, dann hält er die Gabel am Faden genau vor die Augen. Hängt die Gabel in Richtung Grubenhelm, dann geht es hinunter. Und zeigt die Gabel zu den Füßen, dann geht es hinauf.

„Wie werden wir wissen, dass du am anderen Ende der Welt warst?“, fragte Gustl.

„Ich werde Fotos schießen“, versprach Bruno und zeigte seinen Fotoapparat.

Bruno fing an zu graben. Er grub einen Monat, eine Woche und einen Tag, bis zur Mitte der Welt.

Und als er wieder weitergrub, hielt er den Gabelkompass genau vor die Augen. Die Gabel zeigte in Richtung Füße.

„Jetzt geht es wieder nach oben“, sagte Bruno und grub noch einen weiteren Tag, eine Woche und einen Monat.

Es wurde immer heller. Plötzlich wurde Bruno nass.

„Ich glaube, ich bin im Chinesischen Meer gelandet“, überlegte Bruno.

Dann wurden auch seine drei Freunde nass.

„Ich glaube, Bruno ist im Chinesischen Meer gelandet“, sagte Gustl.

„Oh, weia“, rief Micha. „Kommt jetzt das ganze Meer durch das Loch zu uns geflossen?“

„Wie viel Wasser hat denn so ein Meer?“, fragte Klipper.

„Ich weiß nicht“, antwortete Gustl. „Es wird das Beste sein, wenn wir das Meer wieder in das Loch zurückschütten.“

Bei Bruno war das Wasser bereits ausgelaufen.

Dann sah er eine große, schwarze Kuh, die ihn anglotzte.

„Was bist du denn für eine große Kuh?“, fragte Bruno.

Doch die Kuh sagte nur: „Muh“.

Sie war ganz traurig, und eine dicke Träne kullerte ihr von einem Auge herunter.

„Kannst du mir sagen, wo wir hier sind?“, fragte Bruno.

Doch die Kuh sagte wieder nur: „Muh“.

Bruno zog seinen Fotoapparat hervor und schoss ein Foto von der Kuh.

„Ich glaube, sie kann mich nicht verstehen“, sagte sich Bruno.

„Doch, ich kann dich verstehen“, muhte die Kuh traurig.

„Ach, du kannst ja doch sprechen“, rief Bruno aus.

„Natürlich,“ antwortete die Kuh.

„Was bist du denn für eine Kuh?“, wollte Bruno wissen.

„Ich bin keine Kuh, sondern ein trauriger Büffel“, sprach der Büffel.

„Warum bist du ein trauriger Büffel?“, fragte Bruno.

„Normalerweise bin ich ein lustiger Wasserbüffel, weil ich gerne im Wasser stehe“, antwortete der Büffel. „Aber jetzt stehe ich nicht mehr im Wasser, deshalb bin ich nur noch ein trauriger Büffel.“

„Ach so“, sagte Bruno. „Ich heiße Bruno, und wie heißt du?“

„Bung Kreis Herum“, antwortete der Büffel. „Sage einfach Bung zu mir.“

Bruno gab Bung die Kralle. Bung gab Bruno die Klaue.

„Was bist du denn für ein Tier?“, fragte Bung.

„Ich bin ein Maulwurf“, erklärte Bruno.

„Das ist lustig.“ Bung lächelte wieder ein wenig. „So etwas wie dich haben wir hier sonst nicht.“

Da kam ein Mensch vorbei. Es war ein Chinese. Der Chinese hatte einen langen Schnurrbart und einen großen runden Strohhut auf. Er war sehr aufgeregt.

„Da kommt Fleiss Man“, flüsterte Bung. „Er ist mein Bauer, und er ist sehr aufgeregt, weil sein Reisfeld ausgelaufen ist.“

„Oh“, lächelte Bruno. „Ich dachte, es wäre das Chinesische Meer.“

„Jetzt sind alle Reispflanzen trocken, und ich bin traurig.“

Der Chinese lief eilig hin und her und überlegte sich was.

„Dein Bauer überlegt sich was“, flüsterte Bruno. „Dem fällt bestimmt eine Lösung ein.“

„Ja“, antwortete Bung. „Aber das ist besonders schwierig, weil er sich das alles auf Chinesisch überlegen muss.“

Bruno schoss ein Foto von dem chinesischen Bauern.

In der Zwischenzeit, auf unserer Seite der Welt, holten Gustl, Micha und Klipper einen Eimer. Damit schöpften sie das Wasser wieder zurück in das Loch.

In China kam das Wasser wieder hinaus, und das Reisfeld war wieder gefüllt.

Bung stand erneut im knöcheltiefen Wasser.

„Juhuu“, rief Bung. „Ich bin wieder ein lustiger Wasserbüffel!“

Er freute sich und lachte. Auch der chinesische Bauer freute sich und lachte, denn er konnte aufhören, sich was zu überlegen.

Doch plötzlich machte der Chinese ganz große Augen, denn er sah, dass ihm sein Reisfeld wieder auslief.

Fleiss Man jammerte ganz fürchterlich. Da hatte er eine tolle Idee.

Er nahm schnell seinen großen, runden Strohhut vom Kopf und deckte damit das Loch zu.

Bruno schoss noch ein Foto vom Bauern Fleiss Man.

Doch der Strohhut war nicht dicht, und das Wasser lief trotzdem aus.

„Muh“, brummte Bung, der wieder nur ein trauriger Büffel war. Eine große Träne kullerte ihm von einem Auge herunter.

„Wenn ich nicht im Wasser stehe, werde ich immer ganz traurig“, sagte er. „Viel lieber wäre ich jetzt wieder ein Wasserbüffel.“

Das Wasser war wieder weg, und die drei Freunde Gustl, Micha und Klipper, auf unserer Seite der Welt, wurden wieder nass.

„Das Meer ist ganz schön hartnäckig“, rief Micha.

„Langsam habe ich genug“, gackerte Gustl.

„Wir wollen das Wasser hier nicht haben“, piepste Micha.

„Komm“, rief Klipper. „Wir schöpfen es wieder zurück. Aber das ist das letzte Mal.“

„Und wie verhindern wir, dass es wieder zurückfließt?“, fragte Gustl.

„Ich habe eine gute Idee“, antwortete Klipper. „Lasst mich nur machen.“

Zum Glück für Bung und dem chinesischen Bauern kam das Wasser zurück in das Reisfeld.

Bung rief „Juhuu!“ Und Fleiss Man strahlte vor Freude.

Doch der Bauer machte sich Sorgen, was passieren würde, wenn das Wasser wieder auslief.

Da hatte Bung eine tolle Idee.

„Ich setze mich einfach auf das Loch“, lachte er. „Dann bleibe ich für immer ein lustiger Wasserbüffel.“

Bruno schoss ein Foto von Bung.

„Aber vorher musst du mich schnell wieder in das Loch hinein lassen“, rief Bruno. „Dass ich wieder nach Hause kommen kann.“

Das durfte er auch.

„Auf Wiedersehen, Bruno“, sagte Bung.

„Auf Wiedersehen, Bung. Auf Wiedersehen, Fleiss Man“, rief Bruno.

Bruno benutze seinen Gabelkompass, um ganz sicher wieder nach Hause zu gelangen.

Unterwegs machte er eine interessante Entdeckung:

„Das ist aber merkwürdig“, sagte er.

Denn mitten in der Erde, genau am Mittelpunkt, da konnte sich der Gabelkompass nicht entscheiden, ob er nach oben oder nach unten zeigen sollte. Er schwebte.

„Mein Gabelkompass schwebt“, überlegte Bruno, „Warum?“

Es war schwer für ihn, eine Antwort zu finden.

„Die Erdanziehung macht alle Körper schwer. Wenn ich auf der Erde stehe, dann werde ich von der Erde angezogen und kann stehen.

Das geschieht daher, weil die Erde ganz besonders schwer ist, und ich bin so leicht und mein Gabelkompass auch. Und Schweres zieht Leichtes an.

Aber im Mittelpunkt der Welt ist alles Schwere wieder ausgeglichen. Da sind alle Seiten rundherum schwerer und ziehen nach außen und nur halb so stark wie an der Oberfläche. Im Inneren wirkt keine Kraft mehr, die mich nach innen zieht. Alles zieht mich nach außen. Und dann schwebe ich. In der Mitte der Welt ist also nicht die größte Anziehungskraft, sondern die geringste.“

Bruno ging weiter, und als er an seinem Einstiegsloch ankam, sah er einen riesengroßen Pferdepopo, der das Loch verstopfte.

„Jetzt zeige ich euch“, sagte Bruno, „was man mit meinem Gabelkompass noch machen kann.“

5.Piepsis Nest

„Jeder Mensch hat seine Wahrheit“, sagte der alte Herr Dachs. „Jeder betrachtet seinen eigenen Standpunkt als richtig und hält ihn für wahr. Doch wer hat wirklich recht? Kann ich sagen: Ich habe recht, und du hast unrecht? Nein, denn jeder Standpunkt ist gleichberechtigt.“

„Hört, ihr Leut‘, und lasst euch sagen …!“

Der Stadtschreiber Maximilian von Finkenbein stand auf dem Marktplatz des kleinen Städtchens Tiefenstein und rollte ein großes Schreiben aus, an dessen unterem Ende ein Siegel des hiesigen Barons baumelte. Der Name dieses Barons war Bruno von Tiefenstein, genau wie die Stadt. Und seine Tochter hieß Marita von Tiefenstein, und sie hatte einen Hund, Beso, mit einer schwarzen Pfote. Aber das tut jetzt nicht viel zur Sache. Und die andere Pfote war hellbraun, falls das noch jemand wissen will.

„Hört, ihr Leut‘, und lasst euch sagen …!“, wiederholte Maximilian, der Stadtschreiber.

Der Stadtschreiber eines so kleinen Städtchens wie Tiefenstein hatte nicht sehr viele Aufgaben, und daher war sich Maximilian von Finkenbein seiner jetzigen Aufgabe voll bewusst. Die ganze Nacht hatte er an seinem Schriftstück gearbeitet und sich aus diesem Anlass das edle, amtliche Gewand angezogen, mit dem amtlichen, städtischen Siegelring am Finger, und mit dem städtischen Amtshut. Dieser Hut leuchtete in der Sonne wunderschön rot, und die aufgesetzten Glasperlen glitzerten wie Morgentau.

Die Menschen waren neugierig und hielten an oder kamen herbei und wollten wissen, was heute wohl für Neuigkeiten berichtet würden.

Direkt oben im dritten Stockwerk des Hauses neben der Bäckerei wohnte Frau Pudelwohl. Sie war überall ziemlich rund und auch ziemlich neugierig. Emma Pudelwohl wollte auch gerne wissen, was der Stadtschreiber Finkenbein zu berichten hatte und lehnte sich weit aus dem Fenster. Dabei schob sie den Blumentopf vom Fenstersims, und dieser flog vom dritten Stockwerk krachend auf das Pflaster, direkt neben die Füße von Gärtner Apfelkern.

„Schon wieder ein Blumentopf, Emma Pudelwohl!“, schimpfte Gärtner Apfelkern, nachdem er sich von seinem Schreck erholt hatte. „Eines Tages landet er jemandem auf dem Kopf, und dann ist er kaputt, der Topf, äh, der Kopf, und derjenige muss sich einen neuen kaufen! Ach, was sag ich…!“

Er wackelte mit seinem Zeigefinger, aber Emma Pudelwohl war nicht einsichtig, denn sie liebte Blumen. Und weil sie einen anderen Blumentopf in der Küche hatte, viel größer und schöner als der erste, welcher im Übrigen ein richtig schwerer Steintopf war, mit blauer Glasur und mit einem Rosenstock darin, der drei rosa Blüten hatte, stellte sie diesen wieder auf den Fenstersims.

„Hiermit lässt unser guter Patron der Stadt, Baron Bruno von Tiefenstein, folgende Botschaft an sein untertäniges Volk verkünden“, begann der Stadtschreiber Maximilian von Finkenbein mit einer etwas heiseren, aber lauten Stimme.

Dann hörte er auf zu lesen und blickte entnervt zu Gärtner Arthur Apfelkern hinüber. Dieser hatte einen alten Hand-Leiterwagen mit quietschenden Rädern und mit einer kaputten Achse. Die Achse war mit einer Schnur befestigt, die mit ihrem langen Ende hinter dem Leiterwagen herschleifte. Und weil der Marktplatz mit Kopfsteinpflaster ausgelegt war, und der Leiterwagen kräftig holperte und quietschte, fühlte sich Herr Finkenbein in seiner Rede gestört.

„Tschuldigung…“, lächelte Gärtner Apfelkern und hatte bereits sein Ziel erreicht, nämlich ein Bäumchen aus Italien, das er letzte Woche vom Baron überreicht bekam mit der Aufgabe, es auf den Marktplatz zu pflanzen.

Das Bäumchen musste jetzt täglich gegossen werden, und dafür hatte Arthur Apfelkern sein Leiterwägelchen dabei mit einigen Eimern Wasser und einer riesengroßen Forke. Eine Forke hat vier lange spitze Zacken, und man gebraucht sie normalerweise, um Mist auf eine Schubkarre aufzuladen. Doch Gärtner Arthur wollte damit das Vögelchen vertreiben, das sich sogleich, nachdem das Bäumchen auf den Marktplatz gepflanzt worden war, ein kleines Nestchen in die Spitzen der Zweige gebaut hatte.

„Grummel, grummel“, dachte Arthur Apfelkern. „Ein Vogel in meinem Baum... und dann auch noch ein Nest bauen… und alles kaputt machen! Das kann ich nicht leiden.“

Die Menschen in der Stadt hatten dem Vögelchen auch schon einen Namen gegeben. Es hieß Piepsi. Dieser Name ist nicht sehr bedeutungsvoll und spielt jetzt auch keine große Rolle.

Doch wer kann darüber entscheiden, was bedeutungsvoll ist und was nicht? Ist es nicht für Piepsi von Bedeutung, dass ihm von den Menschen der Stadt ein Name gegeben wurde? Ist nicht für die Menschen das Vögelchen bedeutungsvoll, weil sie ihm ihre Aufmerksamkeit schenken? Alles, was Aufmerksamkeit bekommt, ist bedeutungsvoll. Nichts ist bedeutungslos.

Nur die Forke des Gärtners Arthur Apfelkern, die ist doch nun wirklich egal. Diese Forke steckte nämlich in einem der Wassereimer, und die vier Spitzen ragten gefährlich nach oben. Wenn da bloß keiner mit der Nase daran hängen blieb. Ganz schön leichtsinnig! Aber wollen wir unsere Aufmerksamkeit anderen Dingen zuwenden, nicht dieser albernen Forke.

Da war nur noch Marita von Tiefenstein. Für sie war das Thema noch nicht ganz beendet.

„Sie werden es nicht wagen“, zischte Marita mit spitzer Stimme aus dem Publikum zu Gärtner Apfelkern hinüber, denn sie ahnte, was er mit seiner Forke und dem Vögelchen vorhatte. „Wehe, Sie vertreiben Piepsi, dann werde ich Ihnen mit Ihrer eigenen Forke in den Hintern pieken.“

Zur Bekräftigung ihrer Worte machte ihr Hund Beso „Wau!“

„Ähemm!“, meldete sich jetzt wieder der Stadtschreiber Maximilian von Finkenbein zu Wort, dem das alles zu viel wurde. Er rückte seinen glitzernden Hut zurecht und las weiter aus seiner Rolle:

“Um großes Unheil von unserem Volke abzuwenden, das durch das Erscheinen eines schrecklichen, bösen Drachen in der Höhle der Tiefenschlucht bedroht wird, wird hiermit angeordnet, dem Drachen die schönste, blonde Jungfrau der Stadt zu opfern. Sie soll noch heute vor seiner Höhle an einen Pfahl angebunden werden.“

Die Menschen auf dem Marktplatz riefen: „Ohhh!“

Maximilian rieb sich die Nase und las weiter: „Unser guter Baron, Bruno von Tiefenstein, hält dieses Opfer für dringend notwendig und rechnet damit, den Drachen auf diese Weise besänftigen zu können, sodass dieser die Gegend wieder für immer verlässt und die Bürger dieser Stadt fürderhin von seinem Zorn verschont bleiben.“

Die Menschen auf dem Marktplatz riefen wieder „Ohhh“ und „Ahhh“ und eilten wie Ameisen in einem Ameisenhaufen hin und her, in den man mit einem Stöckchen hineinstochert.

Aber Marita von Tiefenstein legte ihre Stirn in eine senkrechte Falte. Sie war ärgerlich.

„Und was passiert, wenn der Drache nicht zufrieden ist? Hä?“, rief sie aus. „Was ist, wenn der Drache noch mehr Opfer haben will? Und dann noch mehr? Und noch mehr?“

Marita war die Tochter des Barons und hatte ein freches Mundwerk. Die Entscheidung ihres Vaters zu kritisieren, ziemte sich nicht für ein Mädchen in der damaligen Zeit, und alle Menschen in der Stadt schauten betreten zu Boden.

„Es schickt sich nicht, für eine junge Dame, in dieser Weise zu sprechen“, rief Stadtschreiber von Finkenbein mit heiserer Stimme. Und alle Menschen blickten neugierig auf das Mädchen.

Heutzutage ist es für junge Mädchen und Buben nicht unziemlich, die Entscheidungen des Vaters oder der Mutter zu hinterfragen. Im Gegenteil: Jeder Mensch, ob groß oder klein, hat seine Ansichten, aber die können für den einen richtig sein und für den anderen falsch. Wichtig ist, dass beide darüber nachdenken können und dann klug handeln.

Emma Pudelwohl zum Beispiel liebte Blumen und stellte immer wieder die Blumentöpfe auf den Sims, auch wenn sie den Leuten vor die Füße krachten. Diese Handlung war entweder klug oder nicht. Gärtner Apfelkern liebte auch Blumen und sein Bäumchen, aber er wollte nicht, dass das Vögelchen in seinem Baum ein Nestchen baute. Er war auch nicht bereit, über seine Meinung weiter nachzudenken. Baron von Tiefenstein wollte gerne sein Volk beschützen, aber er ordnete ein Opfer an. Das hört sich klug an oder dumm. Er hatte keine Ahnung, was danach passieren würde. Auch er konnte im Moment noch nicht weiter darüber nachdenken. Zuerst einmal behielt er recht.

Jeder Mensch hat seine Wahrheiten und fühlt sich im Recht. Ist es nicht so? Und ein anderer denkt etwas anderes und lacht den Ersten aus. Alle beide liegen entweder falsch oder richtig, oder sie handeln entweder klug oder dumm. Wer kann das sagen? Wer hat nun wirklich recht?

Wir werden das nicht mehr herausfinden, wer in dieser Geschichte nun wirklich recht behielt, wessen Wahrheit die richtige Wahrheit war, und wer klug oder dumm gehandelt hat, denn es passierte Folgendes:

Maximilian, der Stadtschreiber fürchtete jetzt eine unangenehme Diskussion aufkommen. Er versuchte eine schlaue Antwort zu finden, aber ihm fiel keine ein. In diesem Moment verfinsterte sich der Himmel über den Köpfen der Menschen, und der große, schreckliche Drache aus der Tiefenschlucht landete furchterregend auf dem Marktplatz. Er fauchte eine dunkle Rauchfahne aus seinem Maul und hatte dabei ziemlichen Mundgeruch.

Der Drache war im Vorüberflug vom leuchtend roten Hut des Stadtschreibers mit den glitzernden Glasperlen angelockt worden und wollte sich diesen Hut näher betrachten. Er näherte sich mit seinem Maul dem Stadtschreiber, der, wie zur Säule erstarrt, stehen blieb und sich nicht zu rühren wagte, während er sich gleichzeitig überlegte, was nun schlimmer war, der Drache oder die Diskussion mit Marita.

Im gleichen Moment flog das kleine Vögelchen Piepsi erschreckt von seinem Nestchen auf.

Beso, Maritas Hund, sah Piepsi auffliegen und jagte dem Vogel hinterher. Dabei verhedderte er sich mit seiner schwarzen Pfote in die lange Schlaufe des Leiterwagens von Gärtner Apfelkern und zog den Wagen hinter sich her.

Der Drache blickte sich um, und Frau Emma Pudelwohl schob sich weiter vor, um vom Fenster aus alles besser sehen zu können. Sie hatte zwar sowieso den besten Platz, aber vor lauter Neugierde wollte sie nichts verpassen, und schon wieder kippte der neue, blaue Blumentopf über den Rand des Fenstersimses.

„Meine drei Röschen“, seufzte sie leise.

Beso, Maritas Hund, veranstaltete mit dem quietschenden Leiterwagen einen großen Lärm. Er geriet mit der Leine zwischen die Vorderbeine des Drachens. Dieser stolperte, fiel vornüber und landete mit seinem ganzen Körper und mit seinem vollen Gewicht direkt auf dem Leiterwagen des Gärtners Apfelkern, aus dem die Forke mit den vier spitzen Zacken ragte.

Und in diesem Moment, als der Drache mit dem Kopf auf das Pflaster neben der Bäckerei landete, traf ihn der blaue Blumentopf mit den drei Rosen von Frau Emma Pudelwohl genau auf die Stirn.

Das Siegel des Barons Bruno von Tiefenstein baumelte still an der großen Papierrolle des Stadtschreibers Maximilian von Finkenbein, ganz leicht, als käme gerade ein frischer Wind auf.

Und dann, kaum dass man es hörte, ganz leise, da machte Piepsi einen kleinen „Pieps“.

Man erzählt sich, dass der Drache nach ungefähr drei Stunden wieder erwachte und dabei stöhnte. Er wusste nicht, wo er war und auch nicht, wer er war und warum. Seine Milz hatte vier neue Löcher und konnte endlich ein wenig durchlüften. Und so verließ der Drache das Städtchen Tiefenstein und wurde nie wieder gesehen.

6.Senet – Das Spiel des Lebens

„Kleine Dinge können sehr bedeutungsvoll sein“, sagte der alte Herr Dachs. „Alles ist von Bedeutung. Du bist derjenige, der dies erkennen und diese Bedeutung annehmen kann, und dadurch erweckst du das Kleine zum Leben und machst es groß.“

Sir Reginald Attenborough beugte sich über die steinerne Tafel. Seine Lupe machte nicht viel Sinn, denn in dieser Grabkammer war es sehr dunkel. Mit einem Pinselchen versuchte er, die Gravuren im Stein von Staub zu befreien, der seit vielen Jahrhunderten hier festsaß.

„Licht, Licht!“, brummte er.

„Hier“, keuchte Sergey. Die feuchte Luft machte ihm zu schaffen, und er wischte sich mit einem staubigen Tuch den Schweiß von der Stirn. Sergey war ein russischer Archäologe und hatte sogar einen Doktortitel. Doch er war nicht ernsthaft genug, als dass ihm die archäologische Gesellschaft eine wichtige Arbeit allein übergeben hätte. Also war er Sir Reginalds Assistent und hielt die Petroleumlampe und beleuchtete unaufmerksam den Stein des Forschers. Immer wieder verschwand der Kegel des Lichts von dessen Arbeitsfläche.

„Wie kann ich arbeiten, wenn du das Licht nicht gerade halten kannst“, schimpfte der Lord.

„Entschuldigung“, bat Sergey. Doch es dauerte keine drei Minuten, bis der Lichtkegel wieder weiterwanderte.

„Nein, nein“, sagte der Lord. „Hier ist auch nichts.“

Sir Reginald war unruhig, fast aufgeregt. Vor einem halben Jahr war die Grabkammer des jungen Pharaos entdeckt worden. Nichts durfte angefasst werden, alles wurde katalogisiert, vermessen, abgezeichnet. Unzählige Wissenschaftler, Museen und Institute drängten die archäologische Gesellschaft von London und den Chefarchäologen Howard Carter, nun endlich die Schätze freizugeben. Drüben, in der Kammer des Sarkophags waren die Wissenschaftler bereits weiter. Die goldene Maske der Königsmumie verweilte bereits im archäologischen Museum von Kairo und wurde in allen Zeitungen der Welt abgedruckt.

Doch das alles kümmerte Sir Reginald wenig. Er war auf einer anderen Spur, viel größer, viel wertvoller, viel weitreichender. Für ihn war es der Schatz, der alle anderen Goldschätze weit übertraf. Es war die kleine Spieltruhe des Pharaos. Schwarz, aus Ebenholz. Ein länglicher Kasten mit Schublade und auf Löwenfüße gestellt. Oben, die Spielfläche: dreißig Felder aus Elfenbeinplättchen. Zehn Felder nebeneinander in drei Reihen. Auf dem Spielfeld standen vier Spielfiguren und vier Türmchen aus Türkis. Fünf der Felder enthielten Symbole, eins in der Mitte und vier am Rand, wie zufällig angeordnet.

„Warum?“, fragte Sir Reginald. „Warum legt man einem Pharao ein Spiel mit ins Grab?“

„Zum Zeitvertreib?“ Sergey verstand es nicht besser.

„Nein, nein, mein Lieber. Es ist weit mehr, weit größer. Es ist das Spiel der Götter. Es ist das Spiel des Lebens.“

„Ach, es ist doch nur ein Spiel.“ Sergey konnte den Eifer des Lords nicht verstehen.

„Oh, du begreifst es nicht besser, mein russischer Gelehrter“, sagte der Lord. „Dieses Spiel ist das zentrale Relikt des gesamten Pharaonenschatzes. Es wurde von den allerhöchsten Priestern des Pharaonenreiches in das Grab gelegt. Es führt den Toten in das Leben der Götter. Nur wenn er es spielt und gewinnt, kann er zu den Göttern aufsteigen.“

„Mein Lord“, antwortete Sergey. „Deine Interpretationen in allen Ehren, aber ich glaube, dass du das ein wenig zu hoch bewertest. Dies ist auch die Meinung der wissenschaftlichen Akademie in London.“

„Papperlapapp! Alles Ignoranten“, schimpfte Sir Reginald.

Und dann tat Sir Reginald das, was offiziell auf das Strengste verboten war. Er streckte seine Hand aus und berührte eine Spielfigur.

„Twt nh Jmn hq Jwnw smj?“, kam es plötzlich aus der Sarkophagkammer.

Sir Reginald und Sergey erschreckten sich sehr, denn plötzlich stand die Mumie des Pharaos in der Türöffnung.

„Nb hpw r twt“, antwortete Sergey und lächelte dabei hilflos.

„Was sagte er?“, fragte Sir Reginald.

„Er fragt, was du mit seinem Spiel machst“, antwortete Sergey.

„Du verstehst ihn?“